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6.

Im Hause Strahlecks sah man inzwischen ungeduldig dessen Rückkehr entgegen. Es waren Briefe abgegeben worden, von denen einer durch seine Form die Aufmerksamkeit Justine's erregte. Da sie eine sehr eifrige Zeitungsleserin war, wußte sie bereits eine Menge Adressen der aufgefundenen Briefe, und so vermuthete sie denn, in dem neuen, großen Couvert, das noch dazu das Postsiegel trug, möge sich einer jener so allgemeines Aufsehen machenden Findlinge verbergen.

Das junge, fröhliche Mädchen theilte der Mutter ihre Vermuthung mit. Diese widersprach nicht, warnte aber die Tochter vor unzeitiger Neugierde.

»Wenn der Vater wirklich eins jener leider so spät entdeckten Schreiben erhält,« sagte sie, »kann es sich nur auf geschäftliche Angelegenheiten, deren ihm ja so viele anvertraut sind, beziehen. Von Geschäften aber spricht der Vater mit uns nicht gern. Du wirst Dich also gedulden müssen.«

»Es ist ein Ausnahmefall, Mama,« meinte Justine, »und da an diesen gewissermaßen herrenlos gewordenen Briefen eigentlich Jeder Antheil nehmen muß, wird man die Frage eines Mädchens wohl entschuldigen. Das Fragen, Mama, mußt Du mir also diesmal erlauben. Thätest Du es nicht, so müßte ich wirklich wider Willen ungehorsam sein.«

Laura lächelte.

»Laß dem Vater wenigstens Zeit,« sagte sie. »Vielleicht drängt es ihn, uns aus eigenem Antriebe zu erzählen, was in dem dicken Schreiben Seltsames enthalten ist.«

Justine versprach, diesem Verlangen der Mutter nachzukommen, auch hielt sie ihr Versprechen, obwohl ihr die Zeit lang ward, welche zwischen der Rückkehr des Vaters und dessen Eintritt in das Familienzimmer lag. Die zufriedene Miene Strahlecks, die gute Nachrichten vermuthen ließ, ermuthigte die Tochter zu einer halben Frage, die sie jedoch hinter eine Bemerkung versteckte, um der Mutter gegenüber nicht geradezu wortbrüchig zu erscheinen.

»So emsig wie heute habe ich die Briefträger lange nicht gesehen,« sagte Justine, durch's Fenster blickend. »Die Posten müssen merkwürdig stark gewesen sein, daß sie so haften. Ist denn in der politischen Welt etwas Ungewöhnliches vorgekommen?«

Der Justizrath berührte mit leichtem Finger die Schulter seiner Tochter.

»Die guten Leute haben es auch eilig,« erwiderte er, »denn wenn es Briefe zu bestellen gibt, die mehr als fünfzig Jahre lang unterwegs gewesen sind, thut es wirklich Noth, sich zu rühren.«

»Sind einige von diesen Spätlingen ausgegeben worden?« sprach Justine mit blitzenden Augen. »Hat man denn die Adressaten aufgefunden?«

»Ersteres kann ich bejahen, liebes Kind, das Zweite scheint mir zweifelhaft.«

»Minna ist außer sich, wenn sie nichts erfährt von dem Inhalt des einen oder andern dieser altgewordenen Briefe! Ich wünschte, daß sich einer darunter befände, der an die Thür ihrer Wohnung klopfte.«

»Du kannst Deiner Freundin damit viel Böses wünschen, mein Kind,« erwiderte Strahleck. »Nicht jeder Empfänger eines so spät ihm zugekommenen Briefes wird das ramponirte Siegel desselben so ruhig erbrechen, wie ich es gethan habe und thun konnte.«

»Hörst Du, Mama?« rief Justine triumphirend. »Meine Ahnung hat mich doch nicht getrogen!«

»Wenn Dir die namhaft gemachte Liste der aufgefundenen Briefe nicht entgangen ist,« fuhr Strahleck fort, »konntest Du leicht auf die Vermuthung kommen, daß ich mich unter den Auserwählten befinden würde, an die sich die Postbehörde zu wenden habe, sei es auch nur, um die wirklich zum Empfange berechtigten Adressaten kennen zu lernen. Für diesmal halte ich mich für den Alleinberechtigten. Der Brief, den ich so eben durchstudirt habe, kommt von Java oder ward von dort vor einigen fünfzig Jahren nach Europa abgesendet. Seitdem lag er neben einer Menge anderer Schreiben unter dem schadhaften Briefkasten. Er ist an die Geschwister Ehrlich gerichtet, rührt von Josua Ehrlich, dem ausgewanderten Zimmergesellen her, und enthält die Nachricht von dessen Glück, wie die Mittheilung, daß er die Hälfte seines Vermögens seinen etwa noch lebenden Geschwistern und deren Kindern, allen zu gleichen Theilen, vererbe, sobald Gott ihn abrufen werde. Dieser Brief ist demnach für mich von unberechenbarem Werth. Schon jetzt würde ich meine Bemühungen belohnt sehen, könnte ich mit Bestimmtheit behaupten: hier sind die Nachkommen der Familie Ehrlich! Es fehlt Keiner; ihnen, ihnen ganz allein gehört die reiche Erbschaft! Leider aber,« setzte er mit leichtem Aufseufzen hinzu, »leider bin ich mit allen meinen Nachforschungen noch nicht so glücklich gewesen! Wie unablässig ich mich auch mühte und sorgte, die Ehrlich gingen mir bis auf die letzte Spur verloren; statt ihrer fand ich die Honest, die, soll ich fernerhin Glück haben, vielleicht durch eine erlaubte Rückübersetzung in's Deutsche wieder in Ehrlich sich verwandeln lassen.«

Der Justizrath warf bei den letzten Worten einen scharfen Blick auf seine Gattin, die dem Vernommenen keine besondere, Theilnahme schenkte.

»Es ist sonderbar,« fuhr er fort, »und mich hat es nicht wenig überrascht, als ich Kunde davon erhielt, die erwähnte Familie Honest hat sich auch hier in der Umgegend angesiedelt. Möglich, daß deren Vorhandensein mir jetzt förderlich in meinen ferneren Bestrebungen wird, obwohl ich noch gar keinen Anhaltepunkt besitze, auf den ich meine Beweisführung stützen kann. Ich muß sehr vorsichtig zu Werke gehen und möchte, um alles Aufsehen zu vermeiden, am liebsten ganz im Stillen ermitteln, ob nicht auch in der Residenz ein ehrlicher Honest sich irgendwo eingenistet hat. Dabei ist mir eingefallen, daß Deine Freundin, die Mutter unseres trefflichen Legationsraths, das Recht besitzt, sich Delft-Honest zu schreiben ...«

Die Justizräthin konnte ein ungläubiges Lächeln kaum unterdrücken.

»Auf dieser Fährte weiter zu spüren, lieber Franz,« sagte die besonnene, leidenschaftslose Frau, »halte ich für völlig überflüssig. Ich glaube so ziemlich in die kleinen Geheimnisse der guten Livia eingeweiht zu sein, und kann Dir daher die Versicherung geben, daß Rudolphs Mutter eben so wenig den Ehrlichs verwandt ist, wie wir.«

»Frau Livia hat also doch kleine Geheimnisse?« erwiderte Strahleck. »Sieh' da; das macht sie mir noch interessanter.«

»Wer hätte sie nicht!« sagte die Justizräthin. »Uebrigens ist es nicht nöthig, davon zu sprechen. Sie betreffen ja nur Livia selbst und die Familie, zu der ihr verstorbener Vater gehörte, ohne mit derselben verwandt zu sein.«

Der Bediente trat ein und überreichte der Justizräthin ein zierlich gefaltetes Billet.«

»Wird Antwort begehrt?« fragte sie den Domestiken.

»Der Ueberbringer hat sich bereits wieder entfernt, gnädige Frau,« versetzte dieser, sich ebenfalls zurückziehend. Justine zeigte einige Unruhe.

»Nun, ich will nicht stören,« sagte Strahleck. »Du bist so freundlich, meines Wunsches zu gedenken, wenn Du mit Deiner Freundin, was kaum unterbleiben kann, auf die alten Briefe und ihre Adressen zu sprechen kommst. Die Geheimräthin Mandelsdorf wird die Sache interessiren, und wer weiß, ob sie Dir dann nicht doch noch ein kleines Geheimniß mittheilt, das seither unbeachtet im Hintergrund ihrer Erinnerung schlummerte. – Wirst Du heute Abend die italienischen Sänger hören?« wendete sich der Justizrath fragend an seine Tochter. »Legationsrath Mandelsdorf bot mir seine beiden Plätze an, da er durch wichtige Geschäfte abgehalten ist, die Oper zu besuchen« Sie stehen also Dir und einer Deiner Freundinnen zu Gebote.«

Justine dankte erröthend und eilte sogleich in ihr Boudoir, um zuerst ein Billet an Minna Orlemann zu schreiben und sodann Toilette zu machen.

Mit der Tochter zugleich entfernte sich auch Strahleck. Die Justizräthin blieb allein zurück. Nichts ahnend öffnete sie das Billet, dessen Inhalt sie in die größte Bestürzung versetzte. Livia Mandelsdorf schrieb:

»Beste Freundin, ich bin in Verzweiflung! – – Ein Brief, ein entsetzlicher Brief liegt vor mir! – – Dieser Brief zerstört alle unsere Hoffnungen, vernichtet alle Pläne, die wir so sinnig uns ausgedacht haben! – – O dieser abscheuliche Brief! – – Hätte ich ihn doch ungelesen, unberührt verbrannt! – – Aber ich konnte ja das Furchtbare nicht ahnen! – – Wenn mein armer Rudolph das wüßte – heute Abend noch wäre er eine Leiche! – – Es ist zu gräßlich! – – Verlassen Sie mich nicht in meiner Angst! – – Kommen Sie meinem Schmerz zu Hülfe, damit ich mich an Ihrem Busen ausweinen kann! – – Sie sollen Alles, Alles erfahren, wenn ich das Leben ertrage! – –

Ihre
aufrichtige, unglückliche Freundin
Livia Mandelsdorf, geb. Delft (Honest?).«

Laura Strahleck saß wie gelähmt. Was sollte das bedeuten? Was konnte der Freundin zugestoßen sein, daß die Verzweiflung sie fortriß selbst bis zu dem Gedanken an Selbstmord?

Ein Brief hatte diese plötzliche Verwandlung der in glücklichen Verhältnissen lebenden Frau hervorgebracht, die hoffnungsfroh in jeder Stunde die Ernennung ihres Sohnes zum Gesandtschafts-Attaché am Hofe der Tuilerien erwarten durfte.

»Ein Brief!« rief die Erschrockene aus und finstere Ahnungen erfüllten ihr bang klopfendes Herz. Wenn Livia doch nicht ganz offen gegen sie gewesen wäre? Wenn ein ihr selbst nicht ganz klar gewordenes Geheimniß sich jetzt erst in seiner wahren, erschütternden Gestalt zeigte?

»Ich darf nicht säumen!« rief sie sich ermuthigend zu. »Die Arme in dieser aufgeregten Stimmung sich selbst zu überlassen, wäre Frevel, ja Verbrechen! – Ich muß zu ihr – auf der Stelle, damit sie ihr Herz gegen mich ausschüttet und ich Einsicht erhalte in den Brief, der ein so schönes, stilles Dasein mit Blitzesschnelle zerstören, den Himmel selbst in die Hölle verwandeln kann!«

Laura zog die Schelle, weniger stark, als sie es sonst zu thun pflegte.

»Ich habe einen wichtigen Auftrag zu besorgen,« sagte sie zu dem Bedienten. »Der Justizrath arbeitet und will nicht gern gestört sein. Sorge, daß ich einen Miethwagen an der nächsten Straßenecke vorfinde! – Ist meine Tochter schon ausgegangen?«

»Noch nicht, gnädige Frau.«

»Eile dann! – Ich wünsche ebenfalls ungestört zu bleiben.«

Der Bediente entfernte sich, um ungesäumt die Befehle seiner Gebieterin zu vollziehen. Wenige Minuten später lehnte die Justizräthin Strahleck in der Ecke einer Droschke, die sich ziemlich langsam über das Pflaster fortbewegte, um vor der Wohnung des Legationsraths Mandelsdorf Halt zu machen.


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