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Untrennbar

Wenn man so beisammen sitzt und redet von diesem oder jenem, den man kennt – »wie alt mag er wohl sein?« fragen oft die Leute. »Wie alt mag er wohl sein?« Bin ich dabei, so möcht' ich statt dessen fragen: »Wie viel Tote hat er?« Denn nicht die Jahre, deucht mir, sollte man zählen, sondern die teuren und notwendigen Menschen, die man verlor; ihre Zahl macht uns jung oder alt. Wenn im Winter der Dämmerung die Nacht gefolgt ist und ich allein in meinem Zimmer sitze, in traulich-trauriger Freude an der Finsternis, die der rote Flammenschein aus meinem Ofen durchflackert, dann fühl' ich, wie alt ich bin. Ich bin nicht mehr jung; denn in den schattigen Winkeln sitzen so viele Unvergeßliche, Unersetzliche umher. Jeder sitzt allein; um jeden schlingt es sich wie ein magischer Kreis, bleich und nebelhaft: der Zauberkreis seines Ich. War er nun groß oder klein – in jedem dieser Kreise hab' auch ich gelebt. Wie sich um den Kern des Baumstamms die wachsenden Jahresringe legen, so legen sich mir alle diese Kreise ums Herz. Ich bin nicht mehr jung ... Doch still und feierlich ist es um mich her; und schön ist es, bei seinen Schatten zu sein. Und in die rote Flamme blickend, die so leise singt, so tief glühend warm in die Winkel leuchtet: holde Lebensflamme, sag' ich, die du mich noch wärmst, die du mir gibst und nimmst, die du nach und nach, unter tausend Freuden, auch diesen Stamm mit all seinen Ringen verzehrst – erneue mir nur, solange du willst, den Tag! Daß ich mit denen lebe, denen du noch leuchtest; daß ich mich verjünge mit denen, die noch werden und wachsen; daß ich eine Stätte des Lebens bleibe für die Stillen und Kalten, die du schon verließest. Bis auch für mich die lange Dämmerung beginnt, wo ich nur noch in denen lebe, die an mich gedenken; wo mich niemand mehr fragt: Wie alt bist du? wo mir keine Abendstunde mehr zuraunt: Zähle deine Toten! – –

Doch nicht jeder von ihnen sitzt für sich allein: Zwei seh' ich beisammen, Hand in Hand, wie untrennbar. Eins dem anderen so ähnlich; und so rührend schön diese verschieden-gleichen, diese zusammenklingenden Gestalten. Oder rühren sie nur mich so sehr? Und wenn ich von ihnen erzähle, wie sie zusammenwuchsen und zusammenblieben, wird es den anderen nicht so sehr das Herz ergreifen? Werden sie sich da befremdet fühlen, wo mir das Innerste aufgeht, wo mich wie ein süßer Schauer die Nähe des Lieblichsten, Göttlichsten berührt? Ist es nur diese geisterhafte Dämmerstunde, die mich so ganz erweicht, so in Mitfühlen auflöst? – – Ich zünde die Lampe an. Die Dämmerung flieht, der Schauer bleibt. Ich sitze am Tische nieder, über dem weißen Papier; mich verlangt so sehr, von diesen beiden zu sagen, wie sie lebten, litten, triumphierten. Ja, was mich rührt, wird auch andere rühren; was mich in der Dämmerung umschwebt, wird auch andere umschweben, die dann der beiden gedenken. Und wenn ich hinter dem Schleier der Erdichtung verhülle, was heilig und unenthüllbar ist, – das Aehnliche wirkt gleich dem Aehnlichen. Die Wirklichkeit, nicht die Wahrheit werde ich verlassen. So wie ein Maler, den der Geist einer Gegend ganz erfüllt hat, sie in freier Nachbildung auf die Leinwand hinträumt; nicht jede Linie läuft, wie sie dort verlief, nicht den einzelnen Baum würdest du erkennen; aber wie die Natur dort sprach, so spricht sie aus der Leinwand zu dir, und ihre lebendige Stimme wird dich noch ergreifen.

*

Laßt mich sagen, daß sie Franz und Susanne hießen und Geschwister waren; und daß Susanne einige Jahre älter war als er, doch von gleicher Jugend. Denn ihre zierliche, ebenmäßige, elastische Gestalt schien dazu geschaffen, der Zeit zu widerstehen; aus den reinen Formen des Gesichts leuchtete eine so wohlgestimmte Seele, eine so frische Kraft, mit dem Leben zu kämpfen, daß ich schon damals, als ich sie zum erstenmal sah, bei mir sagte: »Die wird mit dreißig Jahren sein, wie jetzt mit fünfundzwanzig; und mit vierzig nicht anders, als mit dreißig!« – Sie lebte damals in B.; die Mutter hatte sie schon lange, den Vater vor kurzem verloren; Franz, der einzige Bruder, war seit Jahr und Tag in der Fremde, als junger Gefährte eines älteren Naturforschers, der durch Südamerika zog. Schon damals, wie mir schien, hatte ihr liebevolles Herz sich mit einer gewissen schwärmerischen Innigkeit an diesen Bruder gehängt. Seine Reisebriefe lagen in einem zierlichen Täschchen, das sie fast nie verließ; sein Bild trug sie im Medaillon auf der Brust. Und so gern sie allen Menschen gefiel, jede Bewerbung wußte sie leise von sich zu entfernen. Da sie bei einer Tante wohnte, die die Geselligkeit liebte, sah sie unzählige Menschen; jedem that es wohl, in diese großen, mattblauen, etwas träumerischen Augen voll Heiterkeit und Güte zu sehen und der stillen Anmut ihrer Bewegungen zu folgen; – mehr ward keinem zu teil. Wenn ich sie zuweilen beobachtete, mitten in großer Gesellschaft, von Männern und Frauen umgeben, die alle ihrer Schönheit und Liebenswürdigkeit den Vorzug gaben, und sie nun so recht gegenwärtig schien, glitt plötzlich ihr Blick hinaus, in die leere Luft, mit einem so abwesenden und klagenden Ausdruck, als sagte sie heimlich zu einem, der in der Ferne war: Sieh her, lieber Franz, wie allein ich bin! – – Eines Tages kam ich in das Haus (als alter Freund des Bruders und der Tante war ich gern gelitten) und fand niemand, als Susanne; in dem dunklen Kleide, das sie liebte, eine tiefviolette Schleife um den Hals, über dem Medaillon. Sie hatte den Kopf schräg nach vorn geneigt, so daß ihr zwei ihrer schönen, dunklen Locken über die Wange fielen, und auf ein offenes Buch hinunterblickend, so wie jemand, der sich müde gelesen hat und dem Sinn nicht mehr folgt, machte sie ein wehmütig klagendes Gesicht.

»Was haben Sie, Fräulein Susanne?« fragte ich.

»Ich bin sehr unglücklich,« sagte sie, etwas mühsam lächelnd. »Nehmen Sie mir das Buch da weg; ich versteh es doch nicht. Franz zuliebe wollte ich es lesen; über die Tierwelt, die Fauna, in Amerika; – mein Gott, wozu hat man denn so viele Tiere geschaffen! – Ich habe gar kein Talent, den amerikanischen vom afrikanischen Löwen zu unterscheiden; ich interessiere mich nicht für den Kuguar, und für den Jaguar auch nicht. Nehmen Sie es weg – –«

Ich gehorchte und nahm das Buch. »Wenn Sie wirklich keinen anderen Kummer haben,« fing ich an –

»Ach, die Tante hat recht,« fiel sie mir ins Wort. »›Wir armen Kinder haben keine Wissenschaften.‹ Ihr altes Citat, das sie so oft wiederholt! – Was ist mir der Jaguar. Ich hasse ihn. Und Franz, dieses Kind, das nun schon ein Gelehrter ist; und auf mich herabsieht. O wir Frauenzimmer, was für elende, überflüssige Geschöpfe sind wir!«

Ich konnte nicht umhin, laut und herzlich zu lachen. »Lassen Sie doch Ihrem Bruder Franz die Wissenschaften,« antwortete ich dann, »und bleiben Sie, was Sie sind!«

»Was ich bin? Was bin ich,« sagte sie mit unschuldig tragischem Gesicht. »Hab' ich denn Kenntnisse? Gar keine. Hab' ich Talente? Nicht ein einziges. Ich sollte einmal Klavierspielen lernen; es hat nichts geholfen. Ich habe wenig Gehör; und eine schwache Stimme. Andere können wenigstens zeichnen oder malen; ich kann nicht einmal das. Wenn ich noch wenigstens wie Emilie wäre, die junge Professorin: daß ich eine ganze Gesellschaft unterhalten, daß ich sie durch meinen Geist entzücken könnte! Ich habe keinen Geist; – bitte, schweigen Sie. Noch nie in meinem Leben hab' ich einen Witz gemacht! Wenn ich noch ein großes, weites Herz hätte, das viele Menschen auf einmal lieben könnte; – auch das hab' ich nicht. Ich habe hier (sie deutete auf ihr Herz) nur für ein paar Menschen Platz; und kaum für ein paar! – Wenn nun Franz zurückkommt, wird er sich verlieben, selbstverständlich; wird eine Frau nehmen, natürlich; und dann hab' ich meinen einzigen Zweck, meinen einzigen Menschen verloren – –« ein wirklicher Schauder überlief sie – – »und wozu dann leben!«

Wie dieses Gespräch verlief, könnt' ich nicht mehr sagen; vermutlich endete es in Humor und Scherz, für den sie (wenn sie auch in der That keine Witze machte) immer Sinn und Gefühl hatte; doch ihre tragische Stimmung war sehr ernst gemeint. Gutes Fräulein Susanne, dachte ich, wie manche wünschte sich wohl, so »talentlos« und dabei so liebenswert und geliebt zu sein! Und wie unaussprechlich gut muß es dem einen ergehen, dem einmal der ganze Platz in deinem Herzen gehört! – – Nicht lange nach diesem Gespräch kam Franz zurück. Die stille, strahlende Vorfreude Susannes auf diesen Tag war rührend und unbeschreiblich. Wo sie ging und stand, lachten ihr die Augen; die verkehrten Antworten, die sie gab, waren nicht zu zählen. Zuweilen sah sie mit einem so seligen, gefüllten Blick in die Ferne, gleichsam ihm entgegen, daß mich dieser Ausdruck bis in den Traum verfolgte ... Wir waren drei, die wir auf den Bahnhof gingen, um ihn zu empfangen: Susanne, eine ihrer Freundinnen – jene »geistreiche« Emilie – und ich. Noch seh' ich sie in der Halle, an einem Pfeiler, neben dieser hochgewachsenen Frau Emilie stehen. Susanne, die Zierliche, hell gekleidet, ein leuchtendes rotes Band im dunklen Haar, die Arme in der Freude der Erwartung ineinander gelegt und an die Brust gedrückt. Die andere – eine Jugendgespielin der Geschwister, seit einem Jahr vermählt – mit niederhängenden Armen und unruhigen Fingern, sonderbar erregt; die Augen halb eingedrückt, die vollen, stark geröteten Lippen fest zusammengeschlossen. Ich bemerkte dies alles, weil man mir vor Zeiten gesagt hatte, diese schöne Frau – deren Junogestalt mich begeistert hatte – sei dem jungen Franz sehr geneigt gewesen und habe ihren Gemahl vermutlich ohne Liebe genommen. Franz war jünger als sie, und noch in den Lehrjahren; ihr Mann schon ein angesehener Gelehrter, Professor – der vergleichenden Anatomie, wenn ich nicht irre – und von großem Vermögen. Nun stand sie hier auf dem Bahnhof, den Jugendfreund zu erwarten, der in ihrem Hause wohnen sollte, um mit ihrem Mann gemeinsam zu arbeiten, ihm bei einer großen Untersuchung wie ein jüngerer Bruder an die Hand zu gehen. Sie war erregt, und verbarg es nicht. Die sonderbaren Widersprüche in ihrem Gesicht, die mir schon früher aufgefallen waren – wilde, leidenschaftliche Bewegungen, dann wieder etwas sanft traurig Schmachtendes – wechselten rasch und ganz unverhüllt. Wie das enden wird, mußt' ich bei mir denken – –

»Ich freue mich, ich freue mich,« sagte Susanne leise.

»Wissen Sie, welches die glücklichsten Momente sind?« sagte Frau Emilie und wandte sich zu mir.

Ich sah das eigentümlich Verzehrende, melancholisch Verlangende, das in ihrem halbverschleierten Blick lag, und dadurch verwirrt schüttelte ich nur den Kopf.

Sie lächelte, ich kann nicht sagen wie. »Wenn man den Zug –« fuhr sie fort – »mit dem man einen geliebten Menschen erwartet, eben hereinfahren sieht. Das ist der schönste Moment.«

»Warum?« fragte Susanne.

»Weil man nun die Gewißheit hat: da kommt er; – und weil diese Empfindung glücklicher, idealer ist, als alles, was dem noch folgen kann – –«

Sie brach ab.

»Das weiß ich nicht!« murmelte Susanne, den Kopf schüttelnd. Sie schüttelte ihn noch einmal und lächelte, als sähe sie alle die anderen glücklichen Augenblicke, die da kommen würden: ihren gebräunten Reisenden ans Herz zu drücken, ihn anzuschauen, ihn erzählen zu hören, an seinem Arm durch die Straßen zu gehen. Sie warf mir einen strahlenden Blick zu. Ein langer Pfiff meldete den Zug. Das dumpfe Rollen der Wagen ward vernehmbar. »Franz! Franz!« rief Susanne aus, sobald sie nur den Rauchfang der Lokomotive entdeckte. In diesem Augenblick drückte Frau Emilie die Augen zu, und mit der ganzen Gestalt gegen den Pfeiler gelehnt, den Kopf zurückgebogen, öffnete sie die vollen Lippen, die sie leise zuckend bewegte, als atme und sauge sie das Glück dieses Moments. Mich überlief ein unheimliches Gefühl. Ich mußte sie beständig betrachten, bis der Zug herein war; – dann erst blickte sie auf und starrte die lange Reihe der Wagen an. Susanne stand schon vor der Thür eines Coupés, in dessen Fenster die hohe, helle Stirn, das verbrannte Gesicht ihres Franz erschien. Seine graublauen Augen, ganz den ihren gleich, leuchteten sie an. Er sprang aus dem Wagen und in ihre Arme.

»Bist du es? Im Ernst? Du? Du?« stammelte sie, ihn so recht umschlingend. Sie reichte ihm nur bis ans Kinn, dem stattlichen jungen Mann; ihre zarte, elfenbeinern gelbliche Farbe mischte sich sonderbar mit seinem bräunlich blühenden Gesicht. Doch aber klangen die Formen, von den hohen Stirnen bis zum sanften Kinn, so verwandt zusammen, daß wohl jeder gesagt hätte: Das ist ein Bruder, der seine Schwester umarmt! – – Endlich begrüßte er auch mich – mit einem übermütigen Scherz, wie gewöhnlich – und trat dann vor Frau Emilie hin, die sich kaum bewegte. Er fing an zu lächeln. Irgend ein heiteres, unbefangenes Wort schien er sagen zu wollen, das er vermutlich während der Fahrt überlegt hatte, und in dem gewiß viel Vernunft war. Doch als er nun in diese vom »Glück des Moments« gesättigten, leidenschaftlich ernsten Züge sah, brachte er nichts hervor. So braun er war, sah ich ihn doch erblassen. Es schien ihn ein plötzlicher Schreck zu überfallen, daß in ihm selber etwas vorging, was er nicht erwartet; daß in diesem Augenblick niemand lächeln konnte, weder er noch sie ... Ich stand beklommen da. Wie wird das enden, dachte ich unwillkürlich von neuem. Nur Susanne, wie in die Nebelwolke ihres Glückes eingehüllt, schien nichts zu bemerken. Sie nahm ihr Tuch und wischte ihm ein Kohlenstäubchen von der edlen Stirn. »Wir müssen ihn waschen!« sagte sie, in Thränen lachend. »Komm, Jaguar, komm!« – Gott mag wissen, wie in diesem Augenblick dieses Wort ihr einfiel; – doch große Freude hat selten große Worte. Sie hängte sich in seinen Arm, zog ihn zum Ausgang fort. Und so endete dieses Wiedersehen, das mir in ein paar flüchtigen Sekunden einen offenen Abgrund gezeigt hatte, dessen Tiefe ich nicht zu ermessen wagte.

Bald darauf verließ ich die Stadt; was sich weiter am Rande dieses Abgrunds begab, erlebte ich nicht mehr. Später hab' ich's erfahren ... Franz zog sogleich in des Professors Haus. Er begann seine Sammlungen zu ordnen, daneben die gemeinsame Arbeit mit jugendlichem Feuereifer anzugreifen. Aber es schien, als reiche seine Gesundheit für diese neue Anspannung nicht aus; denn die frische Blüte seiner Hautfarbe fing an zu welken, und der Glanz seiner Augen ward nach einiger Zeit so unstät und übermäßig, daß es die Freunde besorgt machte. Sogar sein phantasievoller Humor nahm ab; er brütete oft still vor sich hin. Susanne sagte nicht viel, ging aber mit heimlich traurigen Blicken um ihn herum. Frau Emilie redete ihm zuweilen lebhaft zu, von der Arbeit zu lassen, warf einmal den Gedanken hin, daß er dieses nordische Klima wieder meiden sollte, widerrief es aber noch in derselben Stunde. Eine sonderbare Unruhe war über sie gekommen; auch sie schien zu leiden. Doch wenn ihr Mann – der in seinem arglosen Gelehrtenstolz nur der Arbeit lebte, und das Innere eines Kaninchens oder eines Frosches besser kannte, als das einer Frauenseele – wenn er zerstreut-zärtlich fragte, ob nicht ärztlicher Rat für sie nötig sei, so schüttelte sie ablehnend den Kopf ...

Der Herbst verging, man geriet allmählich in den Winter hinein. Die Gesellschaften, die Hausbälle begannen. Eines Abends sollte Susanne in den Wagen steigen, zu einem dieser sogenannten »Zauberfeste« zu fahren. Sie hatte sich gesträubt, weil ihr die Freude an vielen Lichtern und Menschen jetzt so ganz versagte; doch die lebenslustige Tante ließ sie nicht gewähren. »Thörichtes, sentimentales junges Volk!« war ihr gewöhnlicher Vorwurf, der auch diesmal nicht fehlte. »Auch Emilie will lieber das Haus hüten, ebenso wie du – ich möchte wohl wissen, warum; aber ihr Mann, der sonst ein alter Dachs ist, hat sie heut aufgerüttelt, und so fahren sie hin – und du auch, mit mir! –« Susanne widersprach nicht mehr; sie schüttelte nur den Kopf. »Ich fahre noch erst zu Franz,« sagte sie, und ging. Die Tante schwieg. Eine stille Sehnsucht zog Susanne, vorher den Bruder zu sehen, der, körperlich und geistig ermattet und menschenmüde, in seinem Zimmer blieb; der nun einsam dasaß, vielleicht wieder über die Bücher gebeugt, die er meiden sollte, vielleicht mit Gedanken beschäftigt, die er noch mehr hätte meiden sollen ... Sie stieg ein und fuhr in die Vorstadt am Park, in der er wohnte. Ihr Seidenkleid rauschte die Treppe hinauf, und durch die leeren Zimmer – Emilie schien nicht mehr zu Hause zu sein – bis an die letzte Thür. Hier war es dunkel; doch Franz' Thür konnte sie nicht verfehlen. Nach leisem Klopfen trat sie leise ein. Es befremdete sie, daß Franz im Finsteren saß. Als er das Rauschen ihres Kleides hörte, stand er auf, ihr entgegen. »Emilie!« hörte sie ihn flüstern. Dann fühlte sie sich von seinen Armen umschlungen, an sein Herz gedrückt, und von leidenschaftlichen Küssen bedeckt, die ihr die Augen schlossen und die Worte erstickten.

»Franz!« rief sie endlich voll Entsetzen aus. Der Unglückliche hörte ihre Stimme und ließ sie aus den Armen. »Franz! Franz!« wiederholte sie. Doch im nächsten Augenblick fuhr ihr schon der Gedanke, was denn nun zu thun sei, durch den Kopf. Sie trat wieder an die Thür und drehte den Schlüssel im Schloß. »Ich bin nur Susanne,« sagte sie dann leise. »Franz! O mein Gott!«

Er schwieg.

Die lange Schleppe eines anderen Kleides rauschte heran, bis zur Thür. Leises Klopfen folgte. Susanne stand neben Franz und legte, im Dunklen, eine ihrer zitternden Hände auf seinen Arm. Darauf schwieg er denn wie sie, und sie rührten sich nicht. Frau Emilie klopfte noch einmal, und wieder. Das Herz der armen Susanne schlug so stark, ihr Atem ging so laut, daß sie dachte: Muß sie es nicht hören! – Doch Emilie hörte nichts. Nach einer Weile rauschte sie endlich stumm hinweg, wie sie gekommen war. Die nächste Thür fiel ins Schloß. Bald darauf konnte man auch Schritte auf der Treppe hören, und des Professors Stimme, die sich entfernte und zuletzt verhallte. Der Wagen mit ihm und ihr fuhr die Straße hinab. Nun endlich fühlte Susanne, daß die Kniee ihr zitterten, und sie suchte mit den Händen einen Stuhl, sank hinein und begann zu schluchzen.

»Emilie!« murmelte Franz verstört. Dann, sich verbessernd: »Susanne! – Ach, verdamme mich nicht. Glücklich bin ich nicht. Warum weinst du, Susanne. O, verdamme mich nicht!«

Sie richtete sich auf, wieder Kraft gewinnend. »Du hast recht,« sagte sie; »warum weine ich. Muß ich dir nicht helfen, statt zu weinen. Franz! Unglücklicher Franz! – –« Sie trat an den Tisch. »Wo ist dein Licht?« fragte sie. Doch da er schwieg, dachte sie: ihm ist besser, wenn er mich nicht sieht, und sie fragte nicht mehr. Nachdem sie das Schluchzen und Zittern ihrer Stimme ganz überwunden hatte, suchte sie seine Hand und zog ihn sanft mit sich fort, auf den Diwan nieder.

»Ich gehe mit dir, wohin du willst,« sagte sie. »Fort mußt du; nicht wahr?«

Er antwortete nicht. Erst nach einer Weile sagte er: »Für was für einen Verbrecher magst du mich wohl halten. Wie du mich wohl verachtest. Susanne – wie soll ich es dir sagen. Ich bin ein großer Sünder; aber du weißt das Schlimmste. Du weißt alles. Verstehst du!«

»Desto besser,« antwortete sie. »Aber du mußt, mußt fort. O wie blind wir sind; nie hätt' ich gedacht, daß mein Bruder, daß du –! – – Doch ich sage nichts; wozu Vorwürfe; die retten dich nicht. Ach, wie weit ist es schon gekommen: wie blind muß deine Leidenschaft sein, daß du mich, die kleine Susanne, für diese da nehmen konntest« – – Ein Schauder schüttelte sie, eine jungfräuliche Empörung, gegen die sie mit aller Kraft der Schwesterliebe kämpfte. »Wir gehen also fort,« wiederholte sie. »Eh alles verloren ist; eh du ihren Mann, der dir so vertraut, der gegen euch ohne Schuld ist – eh du ihn und sie zu Grunde richtest! Morgen, morgen fort –«

»Ja, ich will; ich muß,« sagte er verzweifelnd. »Doch wie kann ich! Wie kann ich denn!« setzte er, in seiner Not aufspringend, hinzu. »Du kennst sie nicht! Sie läßt mich nicht fort. Sie will mit mir sterben, lieber als mich lassen! Was liegt ihr am Leben; nichts. Sie will glücklich sein. Sie will mich haben, behalten, oder sterben. Wie ist ihr das gekommen, mich, gerade mich – – ich weiß nicht. Nun ist es so, und sie läßt mich nicht. Und du – du – wie willst du mich retten!«

Von diesem Ausbruch, diesem Bekenntnis erschüttert, saß Susanne wie verzagend da. »Und du liebst sie?« fragte sie nach einer Weile.

»Hilf mir, Susanne!« gab er nur zur Antwort. In jugendlicher Fassungslosigkeit warf er sich auf den Diwan hin.

»Ja, ich helfe dir,« sagte sie wieder mutig. »Du bist jung: sollst noch lange, lange leben. Du mir sterben! O Gott! – – Wir werden nicht bis morgen warten: nicht bis sie zurückkommt! noch heute nacht gehen wir fort. Wenn sie dich dann nicht mehr findet, muß sie dich ja lassen – – Wir aber, lieber, lieber Franz – –« Sie sprach nicht aus, sondern sie stand auf, suchte Licht und zündete es an. Nur mit einem halben, schonenden Blick auf ihn, der sich die Hand vor die Augen legte, fuhr sie lächelnd fort: »Hab' ich dir nicht deine Sachen durchgesehen, geordnet; weiß ich nicht von jedem Stück, wo es liegt. Was du brauchst, pack' ich dir zusammen. In zwei Stunden zur Bahn, und hinaus in die Welt!«

Sie sah in einer Ecke einen Koffer stehen, öffnete ihn und begann zu packen. Er sah ihr verwundert, bestürzt eine Weile zu. Endlich schüttelte er hoffnungslos den Kopf.

»Ach, es hilft ja nichts,« murmelte er. »Laß, laß.«

»Warum hilft es nichts?«

Er zögerte mit der Antwort. »Ob ich sie liebe?« stieß er dann hervor. »Ich bin ja von Sinnen, Susanne. Ich will sie nicht lieben, denn es ist nur Qual; Glück ist es nicht; – aber wer fragt mich, ob ich will. Ihr sagt, ich sei krank. Sie ist meine Krankheit! Wenn ich an sie denke – wenn es über mich kommt – dann verlier' ich Verstand, Willen, Fassung, alles. Wie wenn eine Kraft von ihr ausginge – wie wenn die Atome, sag' ich dir – – Laß mich hier, Susanne; laß mich sterben! Ich werde aus dem Wagen springen, wenn du schläfst, um wieder her zu kommen; sobald ich allein bin, werd' ich dich verlassen. Denn wenn dies kommt, hab' ich keine Vernunft ... Verachte mich nicht! Laß mich daran sterben!«

Susanne kniete vor dem Koffer, ohne die Hände zu rühren, und weinte still vor sich hin. Wenn es so stand – was konnte sie thun! – – Doch sie weinte nicht lange; dann erhob sie sich, setzte sich neben ihn und sah ihm mit den nassen Augen still und fest ins Gesicht. »Und ich helfe dir doch,« sagte sie. »Als du damals für tot in deinem Bettchen lagst, und ich, auch noch ein Kind, heimlich zu dir hineinschlich, weil mir so schrecklich ums Herz war, und ich meine beiden Arme um dich legte und rief: ›Franz, du darfst nicht tot sein! Franz, Franz, flieg' mir nicht fort!‹ – und du nun aus dem Starrkrampf erwachtest und mich so sonderbar ansahst: da dacht' ich, durch mein Rufen und Flehen hätt' ich dich aufgeweckt, und lief durch die Zimmer und rief: ›Ich hab' ihn wieder lebendig gemacht! Franz ist wieder da! – – ‹ Nun sind wir große Leute, Franz, aber ich komme wieder, dich zu wecken; und du sollst mir auch aufwachen – großes Kind, das du bist! Kümmere dich nicht darum, daß ich wieder weine. Ich habe doch Mut, und sterben lass' ich dich nicht! – Morgen sind wir fort, niemand weiß wohin; und wo wir auch sind, nie verlass' ich dich, meinen Gefangenen« – – sie streichelte ihn, sie umschlang ihn, sie drückte ihren Kopf an den seinen – – »bis du mir sagst: ›Nun bin ich gesund!‹ Denn du hast nur mich, und ich nur dich, und ich muß dich retten. Sag mir nichts mehr, Franz! Schwöre mir nur: du gehst mit mir. Sieh mich an und schwör mir's!«

»Noch heute nacht?« fragte er, durch ihre Liebe, ihre Stimme, ihre Worte erschüttert.

»Ja, noch heute nacht.«

»Und was sagt dann die Welt? Wenn ich so verschwinde? – Was wird man denken, Susanne?«

Sie sann eine Weile nach. »Einer muß uns helfen,« sagte sie dann vor sich hin.

» Wer muß uns helfen?«

»Der Doktor F.,« sagte sie getrost. »Der ist ein alter, kluger Arzt, und ein kluger Mann; der weiß, wie es hier steht. Nun versteh' ich erst, was er mir neulich sagte: ›Unser blasser Patient, Ihr Bruder, hat so eine Art von Leiden, dem ich nicht beikommen kann. Ein anderes Klima – recht, recht weit von hier – könnte da nur helfen – – ‹ Ja, er wußte es wohl. Er kennt dich und sie! – – Wenn ich hier fertig bin, schließe ich dich ein – sie lächelte liebevoll und umarmte ihn – und fahre zu ihm. Wie schnell wird er begreifen ... Morgen soll er dann den anderen sagen, um deiner Gesundheit willen hätt' er dich fortgeschickt, in den Süden – nach Italien, oder wohin du willst; und so in aller Stille hätt' er es gethan, damit nicht irgend eine Einrede dich wieder wankend mache und zur – zur Arbeit zurücklocke; zur geliebten Arbeit, die dich zu Grunde richtet – – oder wie der weise alte Herr es dann ausdrücken will. So wird es gehen; denn es muß. Sag nun nichts mehr, Franz; du gehörst nun mir. Süßer, lieber Bruder, ich sag' dir heute noch einmal: ›Franz, Franz, flieg' mir nicht fort!‹« – –

Er lag in ihren Armen, willenlos, in Thränen. Was erzähl' ich weiter; – es geschah, wie sie wollte. Noch an diesem Abend fand sie den Arzt, fand ihn mit ihr einig; noch in der Nacht reisten sie ab. Wie man es der Tante beibrachte, weiß ich nicht zu sagen; – auf ihren nicht viel denkenden Kopf war leicht zu wirken. Wie Emilie, die an Mann und Haus Gekettete, es ertrug, sagt jeder sich selbst. Aus Venedig kam Susannens erster Brief; dann aus Mailand, Genua und so fort; von jedem Ort schrieb sie, doch immer erst, wenn sie ihn verließen, und ohne zu melden, wohin.

Er war ihr Gefangener, wie sie ihm gesagt hatte; und kein Kerkermeister hätte ihn besser als diese kleine Susanne bewacht. Doch auch keiner so lieblich, so schmeichelnd ... Wenn sie sich trennen mußten, wenn sie ihn in seinem Zimmer allein ließ, schmiegte sie sich an ihn, liebkoste ihm ein wenig, mit irgend einem heiteren Wort, dem er nicht widerstand; und dann ging sie hinaus und verschloß die Thür. Wenn sie durch die Städte, durch die Straßen zogen, hing sie an seinem Arm; ihr sonst so gern nach innen träumendes Auge schien jetzt nur dazu geschaffen, in die Welt zu schauen, alles zu genießen, über alles zu staunen und zu denken, und ihre fröhliche Empfänglichkeit steckte ihn an. Sah sie dann, mit diesem heimlich tastenden Frauenblick, daß es wieder »über ihn kommen« wollte, so ward sie auch träumerisch und still; und mit ihrer lieben, weichen Stimme kam sie endlich: »Sag mir von ihr! Du hast Kummer, Franz. Ich versteh' dich, Franz. Wie ein Gewitter ist es über euch gekommen ... Lassen wir die Galerien und die Fische und die Blumenmärkte; sag mir nur von ihr

Oft erreichte sie dann, was sie wollte; sein jugendlich weiches, frisch blutendes Herz entlud sich, und der »Magnetismus der Atome« verlor, unvermerkt, allmählich, seine dunkle Kraft. Oft mißlang es auch. Sie sah dann in stiller Angst, daß es heftiger, wilder an ihm nagte; daß er stumm dahinging, daß aus seinen freundlichen blauen Augen ein Blick des Hasses auf sie fiel, der sie schaudern machte. Dann lenkte sie etwa heim, ohne daß er es wahrnahm, und in seinem Zimmer mit ihm angelangt, sagte sie wohl zuweilen: »Da ist Feder, Tinte und Papier! Willst du ihr schreiben, nun mein Gott, so thu's. Ich lasse dich allein. Willst du ihr sagen, daß du nicht verzichtest, daß du wiederkommst, daß du nicht leben kannst ohne sie – ich kann dich nicht hindern. Wenn dein Gewissen dich nicht hindert, so thu's!« – – Zweimal schrieb er nicht, raste sich nur aus, bis er stille ward. Das dritte Mal nahm er sie beim Wort und warf einen Brief aufs Papier, in dem er Zukunft, Glück und Leben an Emilie hingab. Susanne trat wieder ein und sah den Brief, dessen Inhalt sie erraten konnte. Ihr geheimes Zittern überwindend, sagte sie: »Wir miteinander tragen ihn zur Post. Das Wetter ist schön. So komm!« – Sie gingen hinaus. Es war in Genua. Sie führte ihn über einen Platz, den er besonders liebte; von dem er aufs Meer hinaus und zum Monte fino hinübersah. Die feierliche Schönheit des Anblicks und die frische, abendliche Luft kühlten sein blutüberfülltes Hirn. Er begann zu seufzen, ihre Hand zu drücken ... Als sie das wahrnahm, führte sie ihn weiter; dann unter einem Vorwand nach Haus. Sie zündete seine Kerzen an, legte stumm den Brief auf seinen Tisch und ging leise hinaus. Ihr Schwesterherz täuschte sie nicht. Schwarze, zarte Asche lag umher, als sie wiederkam; er hatte den Brief verbrannt. Etwas Feuchtes im Aug', fiel er ihr um den Hals: »Verachte mich nicht, Susanne!« rief er aus. »Verzweifle nicht an mir; hilf mir!«

So zogen sie durch Italien weiter; ein so seltsames Paar, wie man wohl je eines gesehen. Sie zogen an der Küste fort, über Florenz nach Rom; – der Genesung zu. Seine edle, reine Jugend, ihre gläubige Kraft, sich wie Geschwister aneinander stärkend, gewannen endlich den Sieg. Das Bild der leidenschaftlichen Frau mit den melancholischen Augen, dem verzehrenden Blick ward in Franz' Seele blasser, undeutlicher; die rührende Gestalt, die jeden Morgen an seinem Arm hing, den andächtigen Gang durch das alte Rom mit ihm anzutreten, dieses heiter zu ihm auflächelnde Gesicht schien ihm endlich fast wie ein Teil von seinem eigenen Ich. Eines Tages saßen sie oben auf den Ruinen des Kolosseums. Das Forum unter ihnen lag in bläulichem, kühlem Schatten, die Sonne leuchtete über den Palatin. Milde, erwärmte Februarluft wehte sanft dahin. Es war sehr still um sie her, und sie sprachen nicht. Franz hatte mit den klaren, ablesenden Forscheraugen, die ihn älter scheinen ließen, als er war, die ganze Runde durchwandert: er war dessen müde geworden und sah vor sich hin, auf die Quadersteine; doch etwas Finsteres beschäftigte ihn nicht, denn er lächelte still. Susanne bemerkte es wohl. Ein heiteres, übermütiges Gefühl gab ihr ein, wieder einmal, wie vordem, zu sprechen: »Franz! sag mir von ihr

»Von wem?« fragte er zerstreut.

Sie lächelte.

»Du dachtest eben nicht an Emilie?« fragte sie zurück.

»Laß mich!« sagte er. Dann nach einer Weile: »Ich weiß sehr gut, was du willst. Triumphieren willst du. Das ist eure Art!«

Sie schüttelte den Kopf. Beide schwiegen wieder. Es war ihm, als träume er, und als steige eben Frau Emilie die steinerne Treppe neben ihm herauf und stelle sich vor ihn hin. Doch sie machte ein fremdes, nordisch kaltes Gesicht. Ihre zu vollen Lippen verzogen sich auf eine unliebliche Art, und es war noch etwas, das ihm nicht gefiel. Wie unglücklich wär' ich mit ihr geworden, dachte er; oder gleichsam nicht er, sondern jemand in ihm. Auch wenn ihr Mann nicht wäre! dachte dieser stille Jemand weiter; – Franz saß da, als hörte er nur zu. – Auch wenn ihr Mann gestorben und begraben wäre. Auch wenn alle sagten: Nimm sie; sie ist dein! – – Er drückte die Augen zu, ohne zu wissen, warum; und Emiliens Bild verschwamm in dem roten Schimmer, der durch die Lider drang, und er versuchte auch nicht, es festzuhalten. Was für eine Frau könnte ich denn lieben? dachte er beklommen. Es schwebte ihm etwas vor der Seele, doch ohne Form und Gestalt; etwas rührend Zartes, Feines, süß Beruhigendes. Ihm war, als fühle er es, ohne es zu sehen; als streichle ihn eine körperlose, liebevolle Hand, als wehe ihn die beschwichtigende Musik eines seelenvoll sanften Lachens an. Auf einmal trieb es ihn, wieder aufzublicken. Er sah Susannens große, strahlende Augen auf sich gerichtet; doch sowie sie seinen Blick bemerkte, schaute sie vor sich hin.

Wie sonderbar rührend saß sie da auf den Steinen. Der Hut beschattete ihre hohe Stirn; die zarte Gestalt war nach vorn geneigt, ein verhaltenes, süßes Lächeln hob die runden Wangen und verband sie mit den sanften, etwas schmalen Lippen. Um die Augen, die sonst so mitleidig und mitfühlend blickten, hatte sich ein heiterer Ausdruck selbstloser Freude verbreitet; es lag wie ein stiller Feiertag auf dem ganzen Gesicht – und die Glocken, die eben aus der Tiefe und aus der Ferne heraufklangen, schienen die rechte himmlische Musik zu diesem himmlischen Ausdruck ihrer Züge zu sein. Er betrachtete sie froh und tief bewegt. Dieses zarte Wesen, dachte er, hat nicht nachgelassen, bis sie mich gerettet ... Wie war das möglich ... »Nur so eine wie Susanne könnt' ich lieben!« setzte er dann, unwillkürlich leise murmelnd, hinzu.

Sie blickte auf. »Sagst du etwas zu mir?« fragte sie.

»Nein,« antwortete er. – – »Doch nun sag' ich etwas zu dir. – Ich bin genesen, Susanne.«

»Bist du es wirklich? – –« Ein feuchter Schimmer trat ihr vor die Augen. Sie legte sich beide Hände auf die Brust.

Um seine eigene Rührung zu verbergen, machte er ein satirisch-lustiges Gesicht, wie in alten Zeiten. »Ich war ein recht jammervoller Narr, Susanne,« setzte er hinzu.

»Du warst wohl etwas dergleichen,« sagte sie und nickte.

»Und wie alle Narren war ich unausstehlich,« fuhr er fort. »Mich überkommt eine gewisse Uebelkeit, wenn ich an mich denke. Homo insipiens, Linné! – – Wie hast du es ausgehalten, meine arme, zappelnde Seele aus diesem tiefen Sumpf heraufzuziehen, nicht an mir zu verzweifeln, Susanne!«

»Zuweilen verzweifelte ich,« gab sie ihm zur Antwort.

»Und worin äußerte sich das? Ich hab's nie bemerkt.«

»Dann dachte ich: ›ich kann nicht mehr‹, ging in mein Zimmer und weinte. Doch ins Taschentuch, daß du mich nicht hörtest. Hatte ich mich dann ausgeweint, so sagte ich dir in Gedanken, was für ein Narr, was für ein Kind du seiest – und daß du mich doch nicht besiegen solltest – und daß ich ja sterben müßte, wenn es nicht gelänge – – und mir kam wieder Mut.«

»Und woher kam dir immer wieder dieser Mut, Susanne?«

»Aus der Liebe, denk' ich! – –«

Er sah sie wieder still von der Seite an, und sie vor sich hin. Es fiel ihm auf einmal ein, daß ein Bruder und eine Schwester oben auf der Höhe des Kolosseums säßen und von einer Liebe sprächen, die so wenig begehrt und so viel dahingibt; die kein »Magnetismus der Atome« in verlangende Arme zieht, und die doch Uebermenschliches vollbringt; – und all seiner jungen Mannheit zum Trotz kam ihm die Versuchung, vor tiefer Freude zu weinen. Doch er zuckte nur mit den Wimpern und es ging vorüber. »Arme Susanne!« sagte er, als er fühlte, es werde ihn nun nicht mehr übermannen.

»Warum arme Susanne?« fragte sie und sah ihn glückselig an.

»Warum? – Weil du mit so viel Liebe im Herzen – so viel unbegreiflicher, unaussprechlicher – – weil du niemand hast als einen Bruder; als mich.«

»Findest du das so bedauernswert? – Glaubst du, nur die andere Liebe kann uns glücklich machen? Hältst du nicht viel von Geschwisterliebe, Franz?«

»Doch!« antwortete er. »Ich kann dir nicht sagen, wie viel ich von ihr halte. Ich kann dir nicht sagen, Susanne – –« Er unterbrach sich, und es dauerte wieder eine Weile, bis er weiter sprach. – »Mir kommt's heute vor, Susanne, als wäre Geschwisterliebe – Bruder und Schwester mein' ich – als wäre das die beste, sonderbarste, feinste, menschenwürdigste auf der Welt. Als wäre die ganz genug! Als müßte man irgend einem Schöpfer danken, daß – – als gäb' es nichts, das so edel ist – –«

Er setzte sich neben sie auf ihren Stein und drückte sie stumm an seine Brust.

»Denkst du wirklich so, Franz?« sagte sie, an seinem Halse hängend, und nun flossen ihr die langen Thränen. »Ich will niemand, als dich! – Ich hab' dich mir erkauft, Franz. – Ich will ja niemand, als dich!«

*

Wer von uns kennt sich ganz? Wer weiß im voraus, was er übers Jahr, in einem Monat, in der nächsten Woche, morgen fühlen und wollen wird? Wir sagen: ich bin so oder so, ich will nur dies oder das – und irgend ein Schicksalswind weht um eine Ecke und bläst eine dunkle Glut in uns, die wir nicht kannten, zu leuchtender Flamme an. Wir glauben unser Thun zu bestimmen, und wir nehmen eigentlich nur in unserem Bewußtsein wahr, was in uns geschieht. Wir lesen uns, während eine unsichtbare Hand uns schreibt; wir erleben uns; und wie auch unsere erworbene Vernunft, unser geläuterter Wille auf unser Thun und Leiden einzuwirken vermag – woher nahm unser Bewußtsein diese Vernunft, diesen Willen? Woher denn anders, als aus dem Wechselspiel der lebendigen, unsichtbaren Kräfte – in uns und außer uns – die unser Dasein sind, die uns alle erschaffen, entwickeln und verzehren?

»Ich will ja niemand, als dich!« sagte Susanne an jenem Abend auf dem Kolosseum. Gute Susanne, auch du kanntest dich nicht ganz! – – Die Zeit in Rom ging zu Ende; die beiden Geschwister, einig, zufrieden und glücklich, zogen nach Neapel weiter und suchten hier dem regnerischen März jede schöne Stunde, jeden heiteren oder bedeutenden Augenblick abzugewinnen. Wenn ein kalter Wind sauste, frischer Schnee auf den Vesuv herab und Hagel in die Straßen von Neapel fiel, dann blieben sie in ihren Gemächern, lasen italienische Bücher miteinander – notdürftig genug, denn seine wie ihre sprachlichen Talente waren gar gering – feierten mit einigen Gleichgesinnten, die sie fanden, poetische, halbantike Symposien, und genossen noch wie Studenten diese letzten Wochen ihrer Freiheit: denn sobald Franz' »Genesung« sich hinlänglich bewährt hatte, riefen ihn und sie die alten Pflichten zurück. Franz hatte beschlossen, sich an einer süddeutschen Universität – fern von Emilien – niederzulassen und seine amerikanischen Forschungen zu verarbeiten; nach Susanne seufzte die Tante; und auch Susanne seufzte, aber nicht nach ihr ... Zu jenen Gleichgesinnten, die mit ihnen künstlerisch lustig lebten, gehörte außer einigen Malern und Bildhauern auch ein vornehmer junger Mann, ein Deutscher wie sie; nicht ohne Vermögen, aber noch ohne Beruf. Er war nicht eigentlich schön; aber er hatte diese aristokratische Gestalt und Haltung, diese Poesie der Formen, die zumal ästhetisch gesinnte Frauen so sehr bezaubert. Auch war in ihm eine unwiderstehlich anziehende Mischung von heroischer Leidenschaftlichkeit und kindlicher Hingebung; von vornehmer Denkart und demokratischer Verachtung aller Vorrechte der Geburt. Er war auf dem Wege nach Aegypten, wie er sagte; doch die Schönheit Neapels hielt ihn fest. Er kam von B., wo Franz und Susanne gelebt hatten; er erzählte von Frau Emilie, die er sehr gut zu kennen schien, und die nach seiner scheinbar unbefangenen Schilderung nicht sowohl schwermütig, als aufgeregt und von Extrem zu Extrem lebte; bald voll auffallender Freigeisterei, bald in ebenso auffallender abergläubischer Mystik; heute lebenssatt und mit sich allein, morgen im Fieber und Wirbel der Zerstreuung.

Bei diesen Berichten fühlte Franz noch einige Beklemmung; aber es bedurfte nicht mehr der Künste seines lieblichen »Kerkermeisters«, ihn davon zu befreien. Seine eigene Kraft reichte hin. Ihn beunruhigte mehr, daß der junge Freiherr – ich nenne ihn Ferdinand – der ihm anfangs sonderbar kühl und forschend, fast konnte man sagen feindselig, entgegengetreten war, sein Benehmen auf einmal geändert hatte, als er eines Abends Susanne in all ihrer poetischen Heiterkeit, ihrem innigen Mitgenießen kennen lernte. Von da an schloß er sich den Geschwistern, mit feinster Rücksicht und ohne jede Zudringlichkeit, aber voll Feuer an. Er überraschte Susanne täglich mit zarten Aufmerksamkeiten, auf die kein anderer verfiel. Er war rührend beglückt durch jede Aeußerung ihrer Dankbarkeit. Sein ganzes Wesen erhöhte, veredelte sich in ihrer Gegenwart; man konnte nichts Liebenswürdigeres sehen. Auch seine Kenntnisse, seine Talente setzten in Erstaunen. Er zeigte eine Fähigkeit, die ästhetischen Genüsse dieser kleinen Gesellschaft mitzugenießen, die in eine wirkliche Künstlerseele blicken ließ. Er zeichnete Susanne, er besang sie in deutschen und italienischen Versen; und in die stille Poesie ihrer Seele drang er so feinfühlig ein, daß er dazu geboren schien, sie zu begreifen.

Franz erschrak; vor der Wirkung dieser Bewerbungen auf Susanne, und vor sich selbst. Denn je mehr er Susanne dadurch beglückt sah, desto mehr fühlte er sich unglücklich: eine schwermütige Eifersucht befiel ihn, die er kaum zu verbergen wußte. »Was geht denn in mir vor?« fragte er sich verwundert und beklemmt. »Ein liebevoller Bruder ist anfangs eifersüchtig auf den Geliebten, sagt man; daß auch ich es sein würde, hab' ich immer gewußt. Aber dieser Kummer, den ich fühle – ist denn darin Vernunft? Sie liebt diesen Ferdinand; oder wenn sie ihn noch nicht liebt, wird sie ihn bald lieben; – warum sollte sie nicht? Verdient er's nicht? Soll sie einsam bleiben, nur weil mir's besser gefiele? Wenn ich einmal ein Mädchen finde, das ich noch lieber haben kann, als sie, werd' ich dann fragen, ob ihr das gefällt? Werd' ich dann nicht um dieses Mädchen werben und kämpfen, bis es mein wird – ob nun Susanne sich darüber freut oder nicht? – –« Mit solchen Gedanken sprach er sich zur Ruhe; sie gingen ihm nach bis in Schlaf und Traum. »Bruderliebe ist selbstlos!« sagte er sich, gleichsam auf Schritt und Tritt. »Bruderliebe ist edel, ist opfermütig, ist ein feines Ding. Gönne Susannen ihr Glück!«

Es kam, wie er fürchtete: Baron Ferdinand erklärte sich, und Susanne – nachdem sie an Franz' Brust sich ausgeschüttet, sich seiner Zustimmung versichert hatte – willigte ein. »Ach, es ist seltsam, Franz!« sagte sie, als es geschehen und sie mit dem Bruder allein war; »mehr als dich kann ich ihn nicht lieben; – nie, Bruder, nie; – – doch ich muß ja auch nicht,« setzte sie hinzu. »Du warst mein alles, Franz! – Ich habe geweint, daß ich dich verlasse! – Doch wie kindisch ist das von einem so alten Mädchen: dich verlass' ich ja nicht. Er hat mir gelobt, geschworen, dich wie ein Bruder zu lieben. Er ist gut, edel, zart! – Doch wie komm' ich dazu, ihn vor dir zu rühmen ...« Sie schloß den Bruder in ihre zitternden Arme: »Franz! Immer mein Franz!«

Ferdinand hatte aus eigenem Antrieb erklärt, daß er sein bis dahin zweckloses Reisen und Studieren, seinen »edlen Müßiggang« aufgeben, daß er »zu seinen Kenntnissen ein Amt suchen« wolle. Die Vermählung sollte so lange aufgeschoben werden; und um den Ernst und die Festigkeit seines Vorhabens zu zeigen, riß er sich schon nach wenigen Tagen los und ging nach Deutschland zurück. Hier wollte er in M., wo er günstige Anknüpfungen hatte, sich um eine Stelle bewerben, die seinen Wünschen entsprach. Eh er Abschied nahm, klagte er sich in seiner liebenswürdig beredten Weise vor Susannen an, daß er, durch die Leichtigkeit seiner Eroberungen verführt, sein Herz oft vergeudet und dem weiblichen Geschlecht mehr gehuldigt habe, als gut war. Doch nachdem er sie durch dieses Bekenntnis betrübt habe (sie war blaß geworden und litt sehr), werde er sie nie mehr betrüben; sie habe jeden seiner Blutstropfen treu und rechtschaffen gemacht! – Er schien ihr noch etwas bekennen zu wollen; doch das peinliche Gefühl, das ihre jungfräulichen Züge verstörte, schreckte ihn offenbar ab. Er verließ sie, ohne darauf zurückzukommen. Wenige Tage nach seinem Abschied brachen auch die Geschwister auf. Sie wollten nur noch Capri, Amalfi und die Rosen von Pästum sehen, und dann die Heimreise antreten; beide als Verwandelte: er von der Liebe geheilt, sie von ihr gefangen.

Franz hatte seinen Koffer gepackt und stand in seinem Zimmer am Fenster, um noch einmal den Molo und den Golf von Neapel sich recht ins Gedächtnis zu prägen, wie es seine Art war. Ein trauriges Vorgefühl lag ihm auf der Seele; er vermied es, sich zu fragen, warum. Man brachte ihm einen Brief, der soeben noch gekommen war, für Baron Ferdinand. »Ich werd' ihn ihm nachschicken,« sagte Franz, und behielt den Brief. Einen verlorenen Blick auf die Aufschrift werfend, erstaunte er: er erkannte Emiliens Hand. Es durchfuhr ihn ein sehr sonderbares Gefühl. Das erste Mal, daß er wieder diese Handschrift sah; denn nach einigen Fehlversuchen, seinen immer wechselnden Aufenthalt zu erfahren, hatte die tiefgekränkte Frau sich, wie er, in tiefes Schweigen gehüllt. Nun hielt er einen Brief von ihr zwischen seinen Fingern; doch der Brief war nicht für ihn, sondern für Ferdinand. Wie kam sie dazu, an Ferdinand zu schreiben? Nie hatte dieser gesagt, daß er in so vertraulichem Verkehr mit ihr sei; im Gegenteil hatte er einmal angedeutet, daß er auf den Umgang mit ihr verzichtet habe. Warum jetzt dieser Brief? – –« Es rührte sich einen Augenblick der mißtrauische Gedanke in Franz: Wenn ich ihn öffnete! – Doch er ward rot, daß er das denken konnte. Er warf ihn aus der Hand, auf den Tisch. Dann siegelte er ihn in ein neues Couvert, schrieb Ferdinands Adresse darauf und schickte ihn ab.

Die letzten Reisetage gingen schnell dahin; die Rückkehr nach Deutschland kam, und danach die Trennung. Franz war stiller geworden mit jedem Tag; Susanne erschien oft mit verweinten Augen, doch eine gewisse äußerliche, aufgeregte Heiterkeit blieb ihr meist getreu. Als sie Abschied nahmen, wollte Franz – sonst der männlich Härtere – sie nicht aus den Armen lassen; er nannte sie mit einem Kosenamen, den er ihr als Kind gegeben hatte, und drückte ihr die Hand so sehr, daß sie »Wehe« seufzte. Sie schien ruhiger; erst im letzten Augenblick flüsterte sie ihm zu: »Liebster, liebster, liebster aller Menschen!« – – Susanne allein fuhr nach B., dort zu bleiben, bis ihr zukünftiger Gatte zur Vermählung komme. Franz zog seinem »gelehrten Nest«, wie er es nannte, seinem »Bienenkorb« zu. Er kam an, packte aus, warf sich auf die Arbeit. Ihm war wie einem Knaben, der ein wunderbares Märchen gelesen, mit Prinzessinnen, Zauberern, singenden Schwänen gelebt hat und nun abgerufen wird, um zur Schule zu gehen. Die Wirklichkeit, die »Schule des Lebens« gähnte ihn an. Unbedeutend war ihm die nordische Natur, und keiner der Menschen wollte ihm gefallen. »O Italien! O Susanne!« seufzte er; überall einsam – ob nun unter Menschen, oder allein – und überall betrübt.

Doch wie viel tiefer noch sollte er sich betrüben, als ihm nach und nach aus M. über Ferdinand seltsame Nachrichten zugingen. Sie waren so unglaublich für seinen hohen Begriff von diesem Manne und für seinen Bruderstolz, daß er sich sträubte, ihnen Gehör zu schenken. Eine Frau von abenteuerlicher Existenz – man nannte sie Verena – die dem Baron bei einem früheren Aufenthalt in M. zu gut gefallen, habe ihn jetzt wieder anzulocken gewußt; er gerate mehr und mehr in ihre Netze, und versäume darüber, die Sache zu betreiben, die ihn nach M. geführt. Traurige Nachrichten über Susanne folgten nicht lange darauf: sie hatte von diesen Dingen erfahren, wollte nicht glauben, zweifelte, härmte sich heimlich ab. Endlich kam durch einen zuverlässigen Freund, einen Augenzeugen, zu Franz die Kunde: man habe diese Verena, ein Wesen von verführerischer Schönheit, aber von durchaus unwürdiger Vergangenheit, öffentlich an Ferdinands Arm gesehen. Auf einen Brief, den Franz hierauf an den Verlobten seiner Schwester schrieb, ward ihm keine Antwort. Dagegen meldete Susannes Tante aus B.: Baron Ferdinand sei so tief gesunken, daß er, wegen seines treulosen und unedlen Benehmens zur Rede gestellt, in der sinnlosen Aufregung des Rausches mit beleidigenden Aeußerungen über seine Braut geantwortet habe. Gleich darauf freilich habe er es bereut und zurückgenommen; Susanne aber, der man dies alles sofort zu Ohren gebracht habe, sei dabei in Ohnmacht gesunken.

Was Franz empfand, brauche ich nicht zu sagen. Seine friedfertige, ästhetische Natur ward nur noch von dem einen wilden Gefühl beseelt, Susannes Rächer zu sein. In der nächsten Nacht fuhr er nach M. Er drang bei Ferdinand ein und erklärte ihm, er sei gekommen, um ihn zur Rechenschaft zu ziehen, um ihn zu töten. Baron Ferdinand – ohne Furcht, doch nicht ohne Scham – ward beim Anblick von Susannes Bruder wieder von Reue ergriffen. Er klagte sich seiner unglückseligen, unbegreiflichen Schwäche mit plötzlicher Leidenschaft an. Er verdammte sich; es sei unwürdig, unfaßbar; – wie ein Fieber sei es über ihn gekommen. Er beteuerte, daß Susanne der gute Engel seines Lebens sei, und erklärte sich bereit, alles gut zu machen. Doch in jedem Wort fühlte Franz eine Beleidigung. »Zu einer bürgerlichen Versöhnung,« sagte er, »bin ich nicht gekommen. Wer hier von ›gut machen‹ spricht, der hat nie gewußt, was für eine Gnade von Gott ihm in der Liebe meiner Schwester zugefallen war! Diese Schwester haben Sie mir auf den Tod verwundet ... Wenn Sie Ihrem ehrlos gewordenen Leben nicht selber ein Ende machen, nun so muß ich es thun!«

Ein Zweikampf, auf Pistolen, war das Ende. Ferdinand hatte sich als Schütze einen Namen gemacht; Franz, dem leicht das Blut zu Gesichte schoß, dem jede Aufregung die Ruhe und Sicherheit der Hände nahm, war das Gegenteil eines guten Schützen. Dennoch traf er tödlich; unmittelbar nachdem ihn selber Ferdinands Kugel in der Brust verwundet hatte. Beide sanken hin, und beide verließ das Bewußtsein.

Als Franz wieder zu sich kam, sagte man ihm – den man inzwischen verbunden hatte – daß Ferdinand ihn vor seinem bevorstehenden Ende noch zu sprechen wünsche. Er ließ sich hinführen, wo Ferdinand, mühsam atmend, unter einem Baum im Gehölze lag; es war früher Morgen. »Ich muß Ihnen noch etwas sagen –« fing der Unglückliche an – »das mich sehr bedrückt. Sagen Sie's Ihrer Schwester, wenn Sie mich überleben; – und wenn ich bei diesem pfeifenden Atem so undeutlich spreche, daß Sie mich nicht verstehen, so fragen Sie! – Dieses Duell war Ihnen eigentlich schon in Neapel zugedacht; und nun kam es so! – – Als Sie Frau Emilie verlassen hatten, lernte ich sie kennen. Ich hielt sie für die Krone der Frauen. Ich bewarb mich um sie; doch ich erreichte wenig ... Endlich sagte sie mir: ›Schaffen Sie diesen Menschen aus der Welt, der mich so unerhört beleidigt, so schmachvoll verlassen hat; dann gehör' ich Ihnen!‹ – Ich war sinnlos vor Leidenschaft. Ich reiste Ihnen nach; fand Sie in Neapel. Meine Absicht war, Sie in einem gelegenen Augenblick in einen Streit zu verwickeln, der so enden sollte, daß – – Ohnehin waren Sie mir von vornherein verhaßt ... Da lernt' ich Susanne kennen. Ach! – Franz, ich schwör' es Ihnen, meine Liebe zu Susanne war rechtschaffen, edel, gut. Ich vergaß, was ich wollte; ich trachtete nur noch, ihrer würdig zu werden! Damals beim Abschied wollt' ich ihr alles gestehen; doch ich fand nicht den Mut. Nun erst find' ich ihn, hier, in der letzten Stunde! – Treulos war ich Emilien geworden um Susannens willen; sie erfuhr es und marterte mich mit vorwurfsvollen Briefen; – so einen Brief, den letzten, schickten Sie mir noch aus Neapel nach. Und nun hab' ich Susanne – ich Unbegreiflicher, ich zur Charakterlosigkeit verdammter Mensch – nun hab' ich den Engel um dieses Weib da verlassen. Vielleicht nur, weil diese Phrynen, diese Laisse – – ein gewisses Etwas – – Ach, ist das das Leben? Franz! geben Sie mir die Hand! Suchen Sie mir zu verzeihen!«

Franz reichte ihm erschüttert die Hand. Dann verlor er diese und jede andere Empfindung, und mit ihnen die Sinne. – –

Es war ihm seltsam und fremd zu Mut, als er ins Leben zurückkam. Ein unsicheres, gleichsam flackerndes Gefühl sagte ihm, er sei der und der, weiter wußte er nichts; er erkannte nur, daß er sich in einem nie gesehenen Zimmer, unter einem Betthimmel befand, und daß eine weiße Decke heiß und schwer auf ihm lag. Da er sich noch so fremd schien, und da eine von ihm abgewandte Gestalt sich in der Nähe bewegte, fiel ihm endlich ein, zu sprechen und einen Spiegel zu fordern, damit der Klang der Stimme und der Anblick des Gesichts ihm sagten, ob dieses Ich so beschaffen sei, wie es ihm ungefähr vorschwebte. Die Gestalt verschwand und kam mit einem Spiegel zurück. Als er hineinsah, erschrak er; denn das Gesicht war wie die Stimme, dünn, hohl und farblos. Er betrachtete diese traurigen Züge fort und fort. Es war ihm ein grausames Vergnügen, mit dem wiederauflebenden Naturforscherblick die ganze Verwüstung zu studieren, die irgend jemand hier angerichtet hatte; sich in den fleischlosen »Säulenheiligen«, den »Büßer« und »Märtyrer«, der da lag, hineinzusehen. Doch ein Tropfen störte ihn, der ihm auf die Stirn fiel. Er versuchte ihn wegzuwischen; aber der Arm blieb müde auf der Decke liegen. Ein zweiter Tropfen fiel ihm auf die Wange. Nun sah er auf, und ein Gesicht, dessen traurig-frohe Lieblichkeit ihm plötzlich das Herz bewegte, lächelte schwach, doch süß, auf ihn herab. Er erkannte Susanne, deren Thränen flossen.

Wie blaß sie ist, dachte er. Dann hörte er sich mit seiner klanglosen, hohlen Stimme sprechen: »Daß du so schön wärst, hätt' ich nie gedacht ... Wie kommst du hierher, unter diesen Baum? – –« Nun fiel ihm erst wieder ein, daß er ja nicht im Gehölz, sondern unter einem Betthimmel lag. Doch das grünliche Gesicht des sterbenden Ferdinand, unter jenem Baum, tauchte in ihm auf. »Wo ist er?« fragte er mit Zögern.

»O Franz! Franz!« rief Susanne aus und sank schluchzend über sein Bett.

Ein Mann trat vor – der Arzt – und zog Susanne flüsternd und sanft zurück. Bald darauf verwirrten sich wieder die Bilder in Franz' Gehirn; er bemühte sich nicht mehr, zu sprechen und zu denken. So verging die Nacht, die unterdessen hereingebrochen war. Erst als das erste rosige Licht durch die Vorhänge hindurchfloß und die Lider des Schlafenden mit unhörbarem Wellenschlag umkreiste, rührte sich in ihm ein deutliches Gefühl, daß um ihn her etwas sei. Er ließ die Augen geschlossen, doch er hörte Töne, und es ward ihm bewußt, daß sie von außen kamen. Ein Gewand rauschte leise; eine Stimme, die ihm wohlthat, flüsterte über ihm. Sie hatte einen traurigen, doch seinen Sinnen schmeichelnden Klang, so daß ihn ein süßer Frost überschauerte. Endlich verstand er auch die gehauchten Worte. »Franz! Franz!« hörte er's leise klagen; und auf einmal wußte er, daß Susanne sprach. Er horchte auf. – »Ach!« flüsterte sie. »Ach! warum hast du mir das gethan! Ach, warum hast du ihn umgebracht! Wie kann man so grausam sein. Franz! Du mein Franz!«

Er riß die Augen auf, bis ins Herz erschrocken; richtete sich halb empor und starrte ihr in das wehklagende Gesicht. Plötzlich stand ihm alles, was geschehen war, was er gethan, vor der Seele. Er wollte ihr etwas zurufen; ihm versagte die Stimme. Gleich darauf faßten ihn ihre beiden Hände und drückten ihn wieder auf sein Kissen zurück.

»Franz! Was ist dir?« fragte sie bestürzt, mit nicht mehr weinender, sondern besorgter Stimme. »Warum fährst du so auf?«

»Du hassest mich,« sagte er mit Mühe.

»Ich dich hassen? Träumst du?«

»Er ist also tot; und du sagst, ich war grausam – –« Weiter sprach er nicht.

»Franz!« flüsterte sie nach einer Weile, jammervoll; »was hast du gehört?«

»Alles,« antwortete er.

»Ich dich hassen, Franz?« sagte sie und bedeckte ihn mit Küssen. »Würd' ich dich wohl so küssen,« setzte sie dann hinzu, »wenn ich etwas gegen dich im Herzen hätte? – Was hab' ich gesagt, Franz? Kümm're dich darum nicht!« – Und mit schwerster Anstrengung, mit zitternder, doch gehorchender Stimme fuhr sie fort: »Ich muß dir ja danken für das, was du gethan hast –«

»O, Susanne! Schwester!«

Bei diesem Ausbruch des Schmerzes aus seiner matten Brust besann sie sich wieder, was für ein Kranker da lag. Sie faßte sich und legte ihm ein kühlendes Tuch auf die heiße Stirn. »Guter, lieber Franz!« sagte sie leise, ruhig, und kauerte an seinem Bette nieder; »wovon reden wir? Was für eine pflichtvergessene barmherzige Schwester bin ich. Still; ach, sei still. Träume wieder; schlafe. Denk an etwas Liebliches, schlafe dabei ein. Nur gesund werden, Franz!«

»Ach, Susanne –«

»Still! – –«

»Gesund werden,« fing er nach kurzem Schweigen wieder an. »Ich hab' eine Wunde, nicht wahr?«

»Ja. Sei nun still.«

»Hier auf der Brust, nicht wahr?«

»Ja.«

»Wie lange lieg' ich denn hier? – Wo bin ich? – Wie kamst du her?«

»Auf diese drei Fragen will ich dir noch antworten,« sagte sie mit ihrem lieblichsten Lächeln, als hätte sie nie und über nichts geklagt; – »dann geh' ich ins andere Zimmer und du fragst nicht mehr! – In diesem Hotel hab' ich dich gefunden, als ich kam; und ich kam aus B., weil sie mir telegraphierten, daß – – daß du mich nötig hättest; und du liegst hier schon eine Woche lang. Doch du bist ›durch‹, sagt der Arzt; und die Brust wird gesund und alles gut werden, wenn du nichts Unnützes denkst, sondern ruhst und fromm und still und gut bist – – und mich lieb hast, Franz! Und nun geh' ich; – doch noch ein Wort. Hier habe ich deine Hand. So wahr ich sie küsse, Franz – ich will nie mehr klagen; weder daß er starb, noch daß er lebte, noch daß ich ihn liebte. Immer nur, morgens und mittags und abends, will ich mich freuen und denken, daß ich dich behalten habe, mein Bestes. Du nun wieder mein Alles! Auf ewig! – Nun aber lieg still wie ein Philosoph; gute Nacht!«

*

Franz genas; es blieb zwar eine gewisse Schwäche in der Brust zurück, die immer der Schonung bedurfte, aber er setzte sich, wie er es nannte, »wieder an den Tisch, an dem die Lebendigen sitzen«. Man verurteilte ihn wegen des Duells zu Gefängnishaft; doch durch königliche Gnade ward er frei, noch eh er die Strafe angetreten hatte. Damals erhielt ich, als erstes Lebenszeichen von ihm seit langer Zeit, eine Photographie, die den Genesenen darstellte. Er war nicht schöner als früher, aber auffallender, bedeutender; die Formen des Kopfes, schien mir, hatten sich vergrößert, die hohe Stirn sich noch mehr gewölbt. Der Blick war eher träumerischer als lebhafter geworden, und um die Lippen – nicht voll, sondern fein und schmal wie die Susannens – glaubte ich einen Zug von leiser Melancholie zu bemerken; der schöne, energische Bart aber und das Haar, das sich plastischer und kühner lockte, gaben diesem frühreifen Gesicht den Charakter voller Männlichkeit. Bald darauf kam noch ein Bild, das mir mehr erzählte, als lange Briefe vermocht hätten. Susanne und Franz saßen Hand in Hand; sie mit den großen innigen Augen dem Beschauer zugewandt, und mit einem kaum wahrnehmbaren Anflug von glückseligem Lächeln; er sie in stiller Versunkenheit, in rührender Hingebung, gleichsam dankbar, betrachtend. In ihrem dunklen, einfach anliegenden Kleide, das die feinen Formen sprechen ließ, und mit der dunklen, offenbar violetten Schleife über dem Spitzenkragen, erinnerte sie mich an jenen Tag in B. – nicht lange vor Franz' Rückkehr aus Südamerika – als ich sie am Fenster sitzend fand und sie mir klagte, daß sie ohne Kenntnisse und ohne Talente sei. Glücklich und zufrieden – so schien es – saß sie nun auf dieser Photographie, neben dem Bruder, da. Aber viel zu tief lagen die großen Augen; und irgend etwas heimlich Zehrendes hatte ihr die Rundung der Wangen weggepflückt ...

War es zu verwundern? War sie nicht zart und fein? – Diese zweite Photographie stand vielleicht zwei Tage auf meinem Schreibtisch, als ich hörte, daß eine hitzige, lebensgefährliche Krankheit in Susanne ausgebrochen sei. Der nagende Kummer um Ferdinands Verschuldung und Untergang, der rastlose Kampf um Franz' Leben, an seinem Siechbett, hatten zu lange gewühlt; als sie sich endlich wieder glücksfähig fühlte, brach sie zusammen. Da begann denn nun des Bruders Dank; da begann denn seine ins Grenzenlose gewachsene, von allen edlen Gefühlen genährte Bruderliebe sich in reinster Opferfreude zu bewähren. Wenn je ein Mensch einem Menschen vergalt – – Doch das nicht zu Schildernde zu schildern, soll man nicht versuchen. Wie sie ihn gepflegt hatte, pflegte er nun sie; wie sie ihm und sich sein Leben gerettet hatte, rettete er das ihre, ihr und sich. Nur auf Viertelstunden bracht' er es über sich, sie zu verlassen ... Seine erneute Jugendkraft hielt dieser Aufgabe stand. Ihn belohnte das Glück. Susannens so recht zum Ausharren geschaffener Lebensgeist, der sich in der zarten Gestalt geheimnisvoll bewegte, steuerte durch alle Stürme hindurch. Man konnte sie endlich aufs Land bringen; unter Bäumen, auf einer Wiese, konnte sie die letzte Zauberkraft der Herbstsonne genießen. Das ferne Gebirge sah, wie das Land der Hoffnung und Verheißung, herüber. Dort gedieh sie, langsam, doch mehr und mehr. Eines Tages kam er dorthin zu ihr zurück, nachdem er den Arzt bis zur Landstraße an den Wagen begleitet hatte; in der Gewißheit des Sieges lächelnd, heiter lächelnd, ihre Hände streichelnd, immer streichelnd und küssend; endlich kniete er wie ein Verliebter vor ihr hin.

»Was hast du nur?« sagte sie, wie verwundert lächelnd. Doch sie heuchelte, denn von Franz verwunderte sie nichts mehr.

»Du bist nun ›entlassen‹,« antwortete er. »Vom Doktor, mein' ich. Als geheilt entlassen. Dein Krankheitsfall interessiert ihn nun nicht mehr.«

»Wirklich?« fragte sie.

»Wirklich.«

»Ich wäre gestorben, Franz – das weiß ich gewiß – wenn mich dieser barmherzige Bruder hier nicht behütet hätte! Und wenn ich nicht gewußt hätte,« fuhr sie fort, »daß du mich durchaus behalten wolltest, wär' ich gern gestorben. – Doch nun leb' ich gern, gern!« setzte sie hinzu.

»In einigen Wochen,« erwiderte er, mit einem sonderbar übermütigen Gesicht, »in einigen Wochen kannst du wieder thun, was du willst. Gehen, wohin du willst.«

»Gehen? Wohin?«

»Nun, jedenfalls wohin es dir beliebt!«

»Wohin es mir beliebt?«

»Nun, du wirst dich doch wieder von mir trennen wollen, sobald die Kraft dazu da ist. Entweder zur Tante zurück; oder an irgend einen Ort, wo ich nicht lebe – –«

Es überlief die Arme plötzlich, während er das sagte. Doch sie antwortete nichts.

»Warum so still?« fing er, noch immer in scheinbarem Gleichmut, wieder an. »Du wirst dir ja schon überlegt haben, wie du nun dein Leben ohne mich gestalten willst –«

Sie wandte den gesenkten Kopf zu ihm und blickte ihn wie hilflos an. »Ach!« sagte sie nur; dann war sie wieder still.

»Du hast dir's noch nicht überlegt?«

»Warum bist du nur so grausam,« antwortete sie endlich. »Was willst du. Laß mir doch diese schöne Zeit. Darüber hinaus – – Großer Gott! was für ein Gedanke!«

»Nun, was für ein Gedanke?«

»Mich wieder trennen! von dir! Mich noch einmal trennen – – Franz!«

Sie legte ihre beiden Hände auf seine Schultern und brach in solches Weinen aus, daß es sie schüttelte.

Doch auch das rührte ihn, wie es schien, nicht gar so sehr. Er stand auf, rieb seine Hände aneinander und sah nur strahlend auf die kleine Hilflose herab.

»Was hast du, Franz?« sagte sie endlich. »Mein Kopf ist wohl noch sehr schwach, ich verstehe dich nicht –«

»Ich will dir etwas sagen,« antwortete er. Und sich auf den Tisch setzend, der vor ihrem Lehnsessel stand: »Suse! Suse!« sagte er. »Du bist nun sechsundzwanzig Jahre alt, und dafür noch sehr unbedacht; und ich bin dreiundzwanzig, und dafür wunderbar gescheit! – Wir uns wieder trennen? Dachtest du wirklich, daß es so kommen könnte? – Das müssen wir uns nun abgewöhnen, Suse; denn ich glaube, ohne einander halten wir's nicht mehr aus. Wer kann mir das sein, was du mir bist. Wenn ich an die Frauen oder Mädchen denke, die ich kannte, wie von einem anderen Stamm kommen sie mir vor; aus irgend einem unbekannten Erdteil an unserer Insel gelandet, auf der du und ich miteinander wohnen. Die Patagonierinnen waren mir nicht fremder, als mir jetzt meine sogenannten Landsmänninnen sind! – Wo du bist, kleine Susanne, da ist mein Glück; meine Lebenslust, mein Humor, mein Drang, etwas zu werden, meine guten Gefühle und Gedanken. Du bist die Luft für mein Ich; wo ich Atem hole. Und du! du!« setzte er mit übermütigem Glücksgefühl hinzu, »was bist du ohne mich?«

Sie antwortete nicht auf diese Frage. »Ach! Guter, thörichter Franz!« sagte sie nur, mit einem Blick voll Liebe.

»Muß denn jeder heiraten?« sprach er weiter, seine Füße schaukelnd. »Wie viele große Männer blieben ledig; – ich will keinen nennen, damit ich die nicht beleidige, die ich nicht nenne. Einsamer Junggeselle bleiben, ist vielleicht eine Dummheit; aber viel Verstand ist schon darin, wenn zwei Junggesellen miteinander leben; und das Ideal scheint mir zu sein, wenn diese beiden Bruder und Schwester sind!«

»Was du alles redest!« sagte sie, im Herzen doch ganz glückselig. »Und du denkst also wirklich, Franz –«

»Daß wir uns nie mehr trennen, das denk' ich. Will die Tante die dritte sein, nun so sei sie die dritte; will sie nicht, so bleiben wir du und ich. Susanne! Ich glaube, du bist auch erst dreiundzwanzig wie ich, und nur eine halbe Stunde vor mir auf die Welt gekommen. Zwillingsschwester! Wirkliche bessere Hälfte! – – Ich bin höchst überaus glücklich! – – Ich nehme mein Kreuz auf mich!« rief er plötzlich aus, hob den Lehnsessel samt der darin sitzenden leichten Last empor, drückte ihn an sich und trug ihn über den Rasen ins Haus. – –

Dieser Tag war gewissermaßen der Geburtstag des geschwisterlichsten Zusammenlebens, das ich je gesehen; das über tiefe Not hinweg so jugendlich froh begann, und so traurig-schön mit ihnen enden sollte. Nach Susannes Genesung reisten die beiden noch einmal dem Süden zu, die Wiederherstellung ihrer Kräfte zu vollenden; kamen dann über die Alpen zurück, blieben aber in W., wo sie sich für die nächsten Jahre niederließen; denn Franz hatte seinen Gedanken, die akademische Laufbahn einzuschlagen, wieder aufgegeben und teilte nun sein Leben, wie seine Seele geteilt war, zwischen Natur und Kunst. Das Bedürfnis nach Schönheit und nach der inneren Harmonie, die die Kunst gewährt, war in ihm – vielleicht durch das Zusammenleben mit der zarteren »Zwillingsseele« – ebenso mächtig herangewachsen, wie vordem sein Drang, die Natur zu beobachten, zu erkennen. Doch daß er sich nun zersplittert hätte, könnte man nicht sagen; ein sehr feiner, vermittelnder, zusammenfassender Sinn leitete ihn vom einen zum anderen, und seine Naturkenntnisse wuchsen ebensosehr wie sein Schönheitskultus, mit dem sie für ihn denselben Mittelpunkt hatten: jene unbekannte Sonne, die man die Weltseele nennt. Von den bedeutenden Ergebnissen seiner Studien zu reden, ist hier nicht der Ort; ich kehre nach W. und zu den Geschwistern zurück ... Das Vermögen, das sie besaßen, reichte hin, sorgenfrei zu leben. Der Reiz ihres Umgangs machte ihnen Freunde, wohin sie kamen; sie waren beide sehr empfänglich für ausgewählte, schöne Geselligkeit, bei der sie sich selbst nicht verloren. Da die Tante (die schon nach einigen Jahren starb) sich nicht entschließen konnte, ihre gewohnten »Kreise« zu verlassen, blieben sie zu zweien, als »du und ich«. Um so reiner vielleicht war ihre Eintracht, ihr Zusammenklang. Doch die eigentlichste Poesie dieses Zwillingslebens begann, wenn der Sommer kam und sie in die Berge oder ins Vorland des Gebirges zogen; wenn ihre Fähigkeit, miteinander wie Zwillingsblumen aufzugehen, gleichsam in der Glut des Sommers sich sonnte, unter dem erwärmten Himmelsblau, an lieblich kühlenden Gewässern aufblühte; – am schönsten und am liebsten in jener Gegend, wo Susanne genesen war, wo er »sein Kreuz auf sich genommen«, und das sonderbare Märchen ihrer »Zweieinigkeit« sich vollendet hatte.

Dort sah ich sie wieder, einige Sommer danach. Wo die flache Hochebene von M. sich den Bergen nähert und gleichsam in Wellenbewegung gerät, liegt der Ort, der ihnen so gefiel; eigentlich nur ein Wirtshaus und ein paar Landhäuser, auf die Höhe gebaut und mit weitem Blick. Die lange Kette des Gebirgs lag am Horizont, nah und fern zugleich, so daß sie den reinen Genuß ihrer Schönheit gab und zugleich leise Sehnsucht weckte; diese Kette durchbrechend zog ein Fluß heran, führte sein klar grünes Alpenwasser durch heitere Thalbreiten zwischen den Vorbergen hin, schäumte an Felsen auf, die aus dunklen Fichtenwäldern vorsprangen, und verschwand endlich im Norden, wie er von Süden kam, hinter grünen Höhen, die alte verwitternde Kronen von Burggemäuer oder Wallfahrtskapellen trugen. Durch lichten und dunklen Wald stieg man von dem Berge, auf dem die Geschwister in ihrem »Schlößchen« thronten, an den rauschenden Fluß und zu einem schweigsamen Nonnenkloster hinab. Rückwärts aber sammelten sich andere Hügel zu ungleichen Wellenreihen, hinter denen ein großer, villenreicher See sein schönes Geheimnis verbarg. Die Gegend gefiel mir sogleich, durch den Doppelreiz, der aus Nähe und Ferne wirkte; wie abwechselnde Winde wehten uns Frieden und Verlangen, Genügen und Wanderlust an. Das »Schlößchen«, das wir gemietet hatten – ich mit ihnen – war im Geiste einer gewissen kindlichen Romantik gebaut, die wenigstens Franz' Humor vielfach beschäftigte. Er hatte es »Lautereck« getauft, weil es mit seinen Türmen, Vorsprüngen und Winkeln wirklich wie eine dieser geometrischen Figuren auf Vorlegeblättern aussah, an denen die zeichnen lernende Jugend sich übt. Inwendig aber schoben sich die Räume lustig und fast malerisch durcheinander; und es waltete darin ein holder Geist, vielleicht der holdeste, beruhigendste, den ich je gekannt: die »Zwillingsseele« Susanne.

Sie war älter geworden, wenn man an die Erfahrungen des Herzens denkt; man sah es ihr wohl an, daß sie »Tote hatte«; aber ein stiller Glanz unzerstörbarer Jugend lag auf ihr, wo sie ging und stand. Man mußte sie lieben, da war keine Frage; auch verlieben mußte man sich in sie, wenn man ein freies Herz hatte; meins aber war nicht frei, und so konnte ich sie mit der Unbefangenheit des Freundes betrachten und ihre Nähe so rein beglückt genießen, wie man die sanft schwärmerische Verklärung einer warmen Mondnacht genießt. Sie ward mir schwesterlich zugethan, wie ich bald der Bruder ihres Bruders war; – soweit man bei ihm und ihr noch von geschwisterlichen Gefühlen für einen dritten reden darf. Naturstudien mit Franz, Kunsttreiben mit Beiden, weite Wanderungen, bei denen sie unternehmend voranzog, Träumen im Gras, thränenlachende Heiterkeit, Poesie und Gesang füllten unsere Tage. Dann kam auch die Zeit, wo sie mir alles erzählten, was ich hier erzählte. Ich sah auf den Grund ihrer Herzen; man konnte nichts Reineres sehen. Sie verdienten ihr Glück – denn sie waren glücklich.

Als der Herbst kam, fiel ein Schatten hinein: die Nachricht von Emiliens Tod ... Ein Brief an Susanne brachte diese Nachricht. Sie zeigte ihn mir stumm, und ging dann damit, leise und still, zu Franz; – an diesem Tage sah ich ihn nicht mehr. Doch am anderen Morgen erschien er wieder in der »Frühstückslaube«, gefaßt und ruhig; ging dann, meinen Arm nehmend, in das nahe Wäldchen und setzte sich auf eine Bank, von der man ins Weite sah. »Ist es nicht sonderbar,« fing er ruhig an: »so zufrieden ich war, – ich glaube, ich – oder der Teil von mir, der in die unglückliche Emilie verliebt war – der hat sie eigentlich noch bis zu dieser Stunde geliebt. So zusammengesetzt sind wir! – – Ich habe diese Nacht darüber nachgedacht; ich glaube« – fuhr er mit einem trüben, feinen Lächeln fort – »diesem Teil von mir hat es geschmeichelt, daß sie mich damals durch Ferdinand wollte töten lassen: denn verachtet oder gehaßt hab' ich sie darum nicht! – –« Er wurde ernsthaft: »Sie war auch nicht schlecht; ich weiß es. Irgend ein irgendwie vererbter diabolischer Wahnsinn war in ihr, der ihr von Zeit zu Zeit über den Kopf wuchs; der einen verrückten Zauber hatte über sie und andere; doch das meiste in ihr war von edler Herkunft! – Auch ihr Verlangen nach Liebe ... Schwärmerisch und übersinnlich war es; leidenschaftlich vom Vater her, übersinnlich-zart von der Mutter; – ewiger Widerspruch! Sie lechzte immer nach Liebe; und den eigentlichen Urtrieb der Liebe hatte sie doch offenbar nicht. So ging es ihr mit mir, so mit Ferdinand. Sie zog an, stieß ab. Sie erweckte das glühendste Verlangen; dann wollte sie lieber mit dem Geliebten sterben, als mit ihm leben ... So verlor sie alles. Das ertrug sie nicht. Ihr starker Geist zerrüttete sich; – Wahnsinn, Krankheit – und Tod!«

Er gab mir einen zweiten Brief, der an ihn selber gekommen, in dem dieser Verlauf ihres Schicksals umständlicher erzählt war. Während ich ihn las, mußte ich bei mir denken: Was für ein frühreifer Geist wohnt in diesem fünfundzwanzigjährigen Franz, der seine Geliebte nachträglich so ergründen, so begreifen konnte! – – Er stand auf und schnitzte Buchstaben in einen Baum; dann kam er zurück. Mich mit seinen blauen Forscheraugen anblickend, sagte er langsam: »Wir Menschen denken wunder was wir sind. Jeder ein Gedanke eines Schöpfers; eine Einheit, ein Kunstwerk. Zusammengewürfelt sind wir; alle! alle! Und die sogenannten harmonischen Naturen sind nur eben die, bei denen es am wenigsten auffällt, daß Vater Hinz, Mutter Kunz, Großväter und Großmütter und Ahnen und Urahnen im Würfelbecher getanzt haben! – Diese unglückliche Emilie war zusammengesetzt aus Widersprüchen; doch jeder von uns hat in der großen Familienstube, seinem Gehirn, so und so viele Ichs, die sich besser oder schlechter vertragen, je nachdem. Du verstehst mich nicht falsch; darum sag' ich dir: ich zum Beispiel, ich habe von Zeit zu Zeit Stunden – nein, nicht Stunden; aber Augenblicke – wo ich Susanne verdenke, ihr fast feind darum bin, daß sie mich nicht damals mit Emilie im Rausch der Leidenschaft zu Grunde gehen ließ ... Und Susanne – – ich glaube, zuweilen klagt sie mich noch im stillen Kämmerlein an, daß ich ihren Ferdinand getötet habe; zuweilen denkt sie wohl noch – –«

Er brach ab und ging. Ich glaube, ich erwiderte nichts; wir kehrten nach Hause zurück.

Es schien seit diesem Tage in Franz etwas vorzugehen, das freilich an und für sich nicht überraschen konnte: eine allmählich wachsende Neigung, sich dem anderen Geschlecht wieder zu nähern. Wie wenn ihn bis jetzt eine letzte geheime Einwirkung Emiliens an dem »toten Punkt« festgehalten hätte, wo er, gleichgiltig gegen die andern Evaskinder, nur in dieser brüderlichen Kameradschaft lebte: so trat er nun wieder auf den unsicheren Boden, wo der Kampf zwischen dem Mann und dem Weib beginnt, wo die »Elemente« einander locken. Noch bis tief in den Spätherbst blieben wir in »Lautereck«, aber nicht zu dreien: Besuche kamen und gingen. Auch Freundinnen Susannes erschienen, darunter sehr jugendfrische, liebenswürdige. Franz huldigte ihnen ritterlich; zuerst mit stetem Humor, dann ernsthafter, eifriger. Eine besonders schien ihm zu gefallen. Ich weiß noch, wie wir eines Tages in's Thal hinabwanderten; Franz ging mit dieser Dame – einem jungen Mädchen – voran und unterhielt sie mit seinen phantastischen Possen, daß ihr Lachen durch den Wald erschallte: ich mit Susanne folgte. »Sehen Sie wohl, was da vorgeht?« sagte Susanne zu mir. »Ach! – – Verzeihen Sie, wenn ich seufze. Wir werden wohl bald Verlobungsanzeigen drucken lassen; und dann wird Franz sich sein Nest bauen; und dann werd' ich allein sein ... Doch er soll bauen! Nur zu! Dazu hab' ich ja diese Mathilde kommen lassen. Ihr gönne ich ihn! Nur zu!«

Doch Susanne irrte; wir ließen nichts drucken und er baute nicht. Eine Woche später reiste Fräulein Mathilde wieder ab; wir drei waren wieder allein. Wir saßen um den Kamin, in dem ein Feuerchen brannte – denn es wehten schon winterliche Lüfte – und sahen einander mit komischer Zurückhaltung, alle schweigend, an. Franz streckte seine langen Beine recht mit Behagen aus, ließ seine Schuhsohlen von der roten Glut beleuchten, und beobachtete das Spiel der flackernden Lichter auf unseren stummen Gesichtern. Endlich sagte er heiter: »Kinder, was für ein angenehmes Reisewetter sie hat! – Ein vortreffliches Mädchen! – – Gott sei Dank, damit bin ich durch!«

»Womit bist du durch?« fragte ich.

»Ich habe meine Schuldigkeit gethan,« antwortete er. »Ich habe mich verliebt. Ich hab' es so weit getrieben, daß ich eine schlaflose Nacht hatte; wenigstens bis zwei Uhr habe ich gewacht: dann dachte ich aus Versehen einmal an etwas anderes und schlief darüber ein ... Aber so wahr ich hier sitze, ich war wirklich verliebt! – Mehr, denk' ich, könnt ihr nicht von mir verlangen. Heiraten kann ich sie nicht!«

»Warum kannst du nicht?« fragte Susanne.

»Sie ist doch auch eine Patagonierin,« antwortete er.

»Das soll heißen –?«

»Daß sie nicht von der Susannen-Rasse ist; und daß ich nur mit einer von dieser Rasse leben kann; aber die find' ich nicht. – Ja, mein Teurer!« fuhr er fort, zu mir gewandt und mit tragikomischem Gesicht: »das ist das Unheimliche, das tief Erschütternde in meinem Leben, daß dieses Mädchen da (er deutete auf Susanne) mir die anderen Weibsen immer wieder verleidet; daß sie mir eine richtige, lebenslängliche Verliebung unmöglich macht; daß ich nie so dumm, blind und taub werde, wie man sein muß, um ein niedliches Entchen für einen Phönix zu halten! – – Aber gutes Reisewetter hat sie!« setzte er hinzu.

So verging diese »flüchtige, angenehme Verdummung«, wie er es nannte. So vergingen noch manche ähnliche nach ihr, in den folgenden Sommern oder Wintern; denn von Zeit zu Zeit kam immer wieder dieses Gelüst über ihn, »sich unter den Patagonierinnen eine Landsmännin zu suchen.« So oft ich ihn wiedersah, war so ein Versuch vorbei, oder ein neuer im Werden. Zuletzt gewöhnten wir alle uns daran, wie man sich an Mondfinsternisse und an Sternschnuppen gewöhnt. Immer blieb er für Susanne von der gleichen Liebe; wie bei allen wechselnden Erscheinungen des Weltraums die Kraft der Anziehung fortdauert, die die Sonnensysteme in ihren Geleisen hält und ihre Bahnen rundet.

Ich war dann, nach mancher neuen Begegnung, ihnen wieder jahrelang fern; lebte dann sommerlang mit ihnen, wuchs mit ihnen in die »reifen Jahre« hinein: denn auch Franz, der jüngste, hörte endlich auf, »junger Mann« zu sein. Die Winkel seiner Stirn zogen sich höher hinauf, der Blick der Augen ward schärfer, die Wangen schmäler. Nur Susanne veränderte sich nicht. Hatten sich etwa einmal ihre Formen etwas behaglicher gefüllt, so fand ich sie beim Wiedersehen in das alte Ebenmaß zurückgekehrt: sie »blieb stehen«, wie Franz tragikomisch von ihr behauptete: »die einzige große Lüge in der Natur, in der sich sonst alles fort und fort verändert! –« Eine Sorge nur bedrückte ihr edles Herz: daß Franz sich um ihretwillen nicht beweibte. Sie, die jede Bewerbung, die ihr nahte, gleich im Keim erstickte, als gehöre sie nicht zu denen, die man freien kann, sie wollte ihm seinen Einwand nicht gelten lassen. »Trag' ich denn wirklich die Schuld!« sagte sie einmal klagend, als ich bei ihr (in »Lautereck«) in ihrem Turmzimmer saß. »Wer ist denn dieser Jemand, der mir so unbemerkt eine Schuld aufgebürdet hat, von der ich nichts wissen will? Was hab' ich denn gethan, oder was thu' ich, ihn zu hindern, daß er glücklich wird?«

»Ich wüßte nicht, daß er nicht glücklich wäre,« gab ich ihr zur Antwort.

»Aber er soll Weib und Kind haben, wie die anderen Menschen! Er soll nicht als Hagestolz enden! Er soll noch glücklicher sein!«

»Glücklicher? – Wenn er nun ein Exemplar von der Susannen-Rasse nirgends finden kann –«

»Wollen Sie auch noch so reden?« fiel sie mir ins Wort. »Schämen Sie sich!«

Sie stand auf. Sie trat zurück ans Fenster. Wer sie nicht gekannt hätte, wie ich – diese zierliche Frau, mit dem drollig strafenden Ausdruck im Gesicht – sicherlich hätte der nicht geahnt, was für ein tragischer Heldenmut sich hinter diesen Reden verbarg. Doch ich ahnte es; denn ich kannte sie. »Susanne!« sagte ich, und erhob mich auch. »Warum reden Sie so! Wen wollen sie täuschen, sich, oder mich?«

Sie sah mich betroffen an. – »Täuschen? – Was meinen Sie?«

»›Er soll noch glücklicher sein!‹ sagen Sie – zu mir. Zu mir, der ich besser weiß als irgend ein anderer Mensch, wie glücklich Franz all die Jahre her ist; der ich auch weiß, Susanne, daß er glücklicher gar nicht werden kann! – Widersprechen Sie nicht. Wenn Sie es thun, so ist jemand in Ihnen, der wiederum Ihnen widerspricht. Und Sie selbst, Susanne? Was würde aus Ihnen, wenn Ihr Bruder ein Weib nähme, und Sie allein blieben, ohne Franz, ohne Zweck?«

Sie wollte etwas erwidern, doch mein Blick entmutigte sie, brachte sie außer Fassung. Plötzlich überlief es sie, daß sie zitterte. Sie ward totenbleich.

»Ich kenne Sie ja doch, Susanne,« sagte ich bewegt. »Warum heiraten Sie nicht? Oder wenn Ihr Blick mir sagen soll, die Jahre seien vorbei – warum thaten Sie es nicht? Warum durfte kein Mann auch nur durch die stummste Bewerbung fragen, ob er hoffen dürfe? – Weil Franz Ihr Leben, Ihr Glück ist. Weil Sie nur für ihn auf der Welt sind. Weil Ihr Schöpfer Sie dazu geschaffen hat, seine Zwillingsseele zu sein. Keine Verehrung, keine Anbetung, keine Leidenschaft könnte Sie so beglücken, wie diese brüderliche Freundschaft Ihres Franz, der Sie so still vergöttert. Hab' ich recht, so gestehen Sie es; so nicken Sie mit dem Kopf!«

Sie sah mich an, mit tiefem, offenem, schwärmerisch ernstem Blick, und nickte.

»Ich frage Sie noch etwas, Susanne; Sie können ja antworten, was Ihnen beliebt. Wenn Sie nun Franz verlieren, hergeben müßten – so oder so – was würde aus Ihnen werden?«

Sie blickte hinaus, gen Himmel. Dann schloß sie die Augen, als thäte das Licht ihr weh. – »Ich stürbe,« antwortete sie.

»Sie könnten nicht leben –«

»Nein! Nein!« sagte sie zitternd.

»Und doch wollen Sie ihn von sich treiben – in ein sogenanntes Glück, das es für ihn nicht gibt? Geben Sie acht. Das ist zu erhaben. Das ist Unvernunft. Geben Sie acht!«

»Aber ach, mein Gott! Sind wir allwissend?« gab sie mir zur Antwort. »Wenn mir nun doch eines Tages jemand sagen könnte – oder ich mir selbst –: Du, du hast ihn um das beste betrogen! du bist daran schuld!? – Lieber sterben! Eh ich an dem Liebsten, das ich habe, solches Unrecht thue – – Lassen Sie mich! Ich habe meine Pflicht – ich fühle sie hier im Herzen. Quälen Sie mich nicht. Lassen Sie mich!« – –

So endete dieses Gespräch. Sie vermied ein zweites. Aber sie ruhte nicht. Diese stille Sorge, daß sie den Bruder vielleicht zu selbstisch an sich gefesselt habe – sie, die selbstloseste der Frauen! – trieb sie immer wieder, auf ihn einzuwirken, daß er sich entschließe. In Scherz und Ernst hielt sie ihm vor, daß er sehr in die Jahre komme; daß er seine Bürgerpflichten versäume; daß sie eines Tages sterben werde und ihn dann einsam zurücklassen. Hätte sie geahnt, wie dies enden werde! – In reiner, opfernder Liebe trieb sie ihn und sich dem Verhängnis zu – –

Eines Tages erhielt ich, der ich die beiden lange nicht gesehen, einen Brief von ihm: Ich solle nun endlich wieder kommen, und womöglich sogleich. Es sei alles gut und schön: er habe sich verlobt. Mit wem? Mit einem Mädchen, das mir hinlänglich bekannt sei, ja dessen Dasein er meinen Ahnen verdanke; denn es seien noch ein paar verwandte Blutstropfen in ihren und meinen Adern; kurz, Ottilie St ... Und er erwarte mich; und er bitte um meinen Segen; – – und so weiter. Ich weiß nicht, warum mich diese Botschaft nicht erfreute; ich glaube, weil es mir ein Schmerz war, an die Auflösung dieses schönsten Zwillingslebens zu denken; vielleicht auch weil die Fassung des Briefes mir nicht gefiel. Gegen die Wahl an sich konnte ich nichts sagen. Diese Ottilie, eine entfernte Verwandte von mir, und schon seit Jahr und Tag mit den Geschwistern bekannt, hatte etwas Ungewöhnliches, Frühreifes, Gewinnendes; ein interessantes Gesicht und eine volle, junonische Gestalt, die sehr an Emilie erinnerte. Auch sonst waren einige auffallende Aehnlichkeiten da. Etwas Emilienhaftes, dacht' ich, sollt' es also doch sein ...

Es dauerte einige Wochen, eh ich reisen konnte. Endlich kam ich nach »Lautereck«, wo die Geschwister wieder einmal wohnten; es war Sommer, und große Glut. Das »verrückte Haus« lag wie in einem heißen Duft auf seiner Höhe. Als ich von der Fahrstraße hinaufstieg, sah ich in dem Eckturm zur Rechten, den allemal Susanne bewohnt hatte, ihre liebliche Gestalt oben im offenen Fenster; links, wo dieser Turm seinen Zwilling hatte, tauchte Ottilie, auch oben am Fenster, auf und sah in die Ferne. Mir war's sonderbar, so im ersten Blick vor Augen zu haben, was sich hier zugetragen hatte ... Ottilie, die mit einer älteren Schwester gekommen war, wohnte in dem Türmchen links; diese Schwester in der Mitte, Franz zu ebener Erde. Franz war der erste, der mir entgegenkam. Er schwenkte sein Taschentuch, statt etwas zu sagen, und umarmte mich.

»Du bist ja blaß, Franz,« waren unwillkürlich meine ersten Worte.

»Das hat seine Richtigkeit,« antwortete er mit einem Lächeln, das nicht recht gelang. »Ich kann dir auch den Grund sagen: weil ich nicht ganz wohl bin. Wahrscheinlich geschieht mir das nach dem Gesetz der Ausgleichung; wem es sonst sehr gut geht, dem stellt das Schicksal ein Bein, damit die Welt hübsch gleichmäßig miserabel bleibt. Komm hinein! Wir geben dir zu essen. Da ist Ottilie!«

Er nannte sie nicht seine Braut ... Ottilie erschien mit ihrer Schwester, einer heiteren, nicht mehr jugendlichen Blondine. Sie selber stand hoch und majestätisch in der Thür, fiel mir aber gleichfalls durch ihre Blässe auf und hatte etwas Gespanntes, Unruhiges zwischen den schön gewölbten Brauen. Zuletzt kam Susanne; stiller als gewöhnlich. Obwohl es so heiß war, reichte sie mir eine kühle Hand. Als sie sah, daß ich sie und die anderen nachdenklich betrachtete, sagte sie rasch, als errate sie meine Gedanken: »Die große Glut, lieber Freund! Wir kriechen alle wie matte Fliegen herum. Muntern Sie uns etwas auf! – Auch sind wir traurig, weil Franz – – Seine alte Wunde – oder was ist es. Seine Lunge wird so empfindlich, sag' ich Ihnen; er schläft auch schlecht – – Aber er will keinen Arzt. Wie die Männer sind; – doch wem sag' ich das, wer ist eigensinniger als Sie. Kommen Sie, helfen Sie uns essen. Und alles, was Sie trinken, trinken Sie auf Franz' Gesundheit!«

Sie nahm meinen Arm und wir traten in den gemeinschaftlichen Salon, der der kühlste Raum war. Wie immer, wenn Susanne eine »Festtafel« deckte, war der Tisch mit poetischer Phantasie geschmückt; Blumen in eigentümlichen Arabesken geordnet, Rosen in unseren Bechern, Farnkräuter und wilde Gewinde, die den Nachtisch malerisch verdeckten. Dennoch ging es nicht festlich her. Wir waren bald still, bald gezwungen lustig. Ich sollte »aufmuntern« und fühlte selber die Schwüle, die in jedem Sinn auf diesem Hause lag. Was geht hier vor? dachte ich. Nur daß Franz nicht wohl ist? Weiter wär' es nichts? – – Wir saßen da wie gebildete Menschen, die sich zusammennehmen; nicht wie froh gestimmte, die sich gehen lassen. Endlich kam der Schluß, und die Zeit der Nachmittagsruhe. Man ging auseinander.

Ich sah Ottilien nach, die sich still entfernte; nachdem Franz ihr mit einem geflüsterten Wort, und mit einem auffallenden Erröten der bleichen Wangen, die Hand gedrückt hatte. Sie trug sich nicht aufrecht, sondern etwas gebeugt, als sie hinausging; den Kopf zur Seite geneigt, wie wenn eine Last ihn drückte. Franz kam zu mir und zog mich sacht durch die andere Thür hinaus. »'s wird nun doch frischer draußen,« sagte er; »auf der Wiese, im Schatten. Fünf Uhr; – wir saßen lange ... Oder willst du schlafen?«

»Nein,« sagte ich.

»So komm!« – Wir traten zunächst auf den Hof; dort blieb er stehen. Es schien ihm etwas an der Mauer aufzufallen, die den Hof umfaßte; dann schweifte er davon offenbar zu anderen Gedanken ab, denn er starrte in einen Winkel, rieb sich mit einem unbewußten Seufzer die Stirn und hatte ohne Zweifel vergessen, was er wollte. Mir kam er so verändert vor, daß es mich beklemmte. Ich beobachtete ihn still. Endlich sah er mich an. »Ich war ein Narr,« sagte er.

»Warum?«

Er antwortete nicht. Der Klang seiner eigenen Worte schien ihn erschreckt zu haben. Er errötete wieder so auffallend, wie vorhin. »Ach!« seufzte er nach längerem Schweigen, faßte meinen Arm und zog mich mit hinweg.

Wir kamen ins »Wäldchen« hinaus, und von da zur Wiese. Es war der Platz, wo Susanne in ihrer Genesungszeit so gerne gesessen hatte. Unter einer Eiche – einem schön entwickelten Baum – stand ein Tisch, mit Stühlen. Nicht weit davon war eine Laube, dicht von mächtigen Kürbisblättern überwachsen, so daß man von dieser Seite nicht hineinsehen konnte. Das noch in Duft gehüllte Gebirg blaute über die Wellen des Vorlandes herüber.

Franz setzte sich auf den Tisch. Es fiel mir noch mehr als bei Tafel auf, wie tief seine Augen lagen. Das Gesicht schien sich gestreckt, zugespitzt zu haben; so viel magerer war es geworden. »Franz! Franz!« sagte ich endlich, durch diesen Anblick betroffen und geängstigt.

»Hm!« murmelte er fast befriedigt, als hätte er das erwartet. »Nicht wahr,« sagte er dann, »ich gefalle dir nicht.«

»Was geht mit dir vor, Franz?«

»Wir müssen einmal darüber sprechen,« sagte er mit scheinbarer Ruhe. »Damit du mich nicht falsch beurteilst; nur darum; denn helfen kannst du mir nicht.« Er wiederholte diese Worte vor sich hin; es war der Ton stiller Verzweiflung. »Helfen kannst du mir nicht!«

»Wer weiß,« sagte ich und suchte mich zu fassen. »Bist du körperlich so leidend, Franz, weil du unglücklich bist, oder hältst du dich nur für unglücklich, weil es dich körperlich drückt?«

Er lächelte trübsinnig: »Du willst mir, wie es scheint, einen Trost anbieten. – Ich werde dir also kurz sagen, wie es ist! – Sonst sagt' ich Susannen alles; dies kann ich ihr nicht sagen. Und es fort und fort ganz allein zu tragen, das halte ich offenbar nicht aus! – – Ich verliebte mich in Ottilie. Ich sah, daß ich ihr gefiel. Susanne sagte mir: ›Heirate! heirate, eh es zu spät ist!‹ – Ferner weißt du, sie hat Aehnlichkeit mit Emilie. Mir kamen wieder Gefühle – uralte Gefühle – – und eine Art von Aberglauben – – Kurz, sie ward meine Braut. – Und nun bin ich ein unglücklicher Mensch! Ich bin verloren!«

Die dumpfe Ruhe dieses Bekenntnisses hatte etwas Verwirrendes; ich starrte ihn nur an. Zugleich aber verstörte mich, daß ich in der Kürbislaube ein Geräusch zu hören glaubte. Jetzt fiel mir erst ein, daß man ja dort jedes unserer Worte hören könnte. Wenn etwa jemand dort war – –

»Vor allem sprich leise,« flüsterte ich ihm zu; »oder laß uns gehen. Solche Bekenntnisse – –«

Doch er hörte mich nicht. Das Herz war ihm zu voll. Indem er an meinem Rockärmel zerrte, offenbar ohne es zu wissen, fuhr er fort: »Glaube nicht, daß ich ihr mein Wort nicht halten werde. Ich werd' es halten! Ich hab' sie mit hineingerissen, hab' ihr Herz gewonnen und gestohlen; ich würde mich verachten, wenn ich nun sagen wollte: ›Mir ist wieder anders zu Mut, heiraten kann ich dich nicht.‹ Nein, ich werd' es halten! Ich werde sie heiraten – – und dann gibt es ja nur einen Unglücklichen mehr, weiter nichts. Ich hatte ja Glück genug! Nun tret' ich ab, und ein anderer kommt dran!«

»Franz!« sagte ich. »Was sind das für Worte. Warum ein Unglücklicher –«

»Mensch! Mensch!« gab er mir zur Antwort. »Und wenn ich auch vom Morgen bis zum Abend wie ein Verzweifelter mich bemühen werde, ihr nur Liebe zu zeigen – – es ist aus. Ich hab's nicht. Kann sie so lächeln, so trösten, so verstehen, so unsäglich gut sein, so voll himmlischer Liebe und Treue sein, wie Susanne ist? Es gibt nur eine Frau: das ist meine Schwester. Ich bin zur Ehe verdorben; rettungslos verdorben. Und doch hab' ich's gewagt; und es ist ein Frevel ... Darum schwind' ich so hin; darum wird meine Lunge wieder schlecht; darum schlaf' ich nicht! – – Nun? Kannst du mir helfen?« setzte er nach einer Pause hinzu. – »Was blickst du da hinüber? Was siehst du?«

Ich hatte wieder meine Augen auf die Laube gerichtet; doch es rührte sich nichts. – Also hatte ich mich getäuscht!

»Ich blickte nur so in die Luft, ohne etwas zu sehen,« antwortete ich. »Doch vor allem laß mich hoffen, Franz, daß du übertreibst – –«

In diesem Augenblick sah ich Susanne in dem Wäldchen erscheinen, und sprach meinen Satz nicht aus. Sie spähte mit Unruhe, wie mir schien, zu uns herüber. Franz bemerkte sie nun auch und stand plötzlich auf. »Ach!« sagte er leise: »und vor ihr zu heucheln! Ihr zu verbergen, was hier vorgeht! Sie zu belügen!« – Er seufzte tief; es war überaus traurig zu hören. Dann nahm er sich zusammen und ging auf die Schwester zu. Langsam folgte ich nach.

Was sollte geschehen? Was konnte hier geschehen? – –

Susanne setzte sich am Rande des Wäldchens auf die Erde nieder; dichtes Gebüsch gab ihr Schatten. Sie legte die blau geaderten, sammetweichen Hände ineinander, warf die dunklen Locken zurück und blickte mit ihrem unbeschreiblichen Blick zu Franz hinauf. Er stand neben ihr. Sie sprach zu ihm. Ich hörte die Worte, ohne sie nachzudenken: mich beschäftigte, bewegte nur der Ton ihrer Stimme. Es war die freundlichste, seelenvollste Stimme, die man hören konnte. »Hat der Unglückliche nicht recht?« sagte ich zu mir. »Wenn eine Schwesterseele, wie diese, all ihre Liebe und Holdseligkeit, all ihr Fühlen und Denken dir gegeben hätte, könntest du dann eine andere recht von Herzen lieben?« – – Es schien mir in diesem Augenblick unwahrscheinlich, undenkbar. Ich schüttelte den Kopf.

Plötzlich sah ich einen langen Schatten am Boden, und Ottilie stand neben mir. Sie hatte ihr Taschentuch in der Hand, so zusammengedrückt, daß man es kaum mehr sah. Völlig wachsfarben war sie im Gesicht, und ihre Augen gingen ohne Blick an mir vorbei. Woher kam sie so plötzlich? Vom Hause her konnte sie nicht kommen; dann hätte ich sie gesehen. Hinter mir, von der Wiese? Dann hätte ich sie vorhin bemerken müssen. Denn auf der freien Wiese konnte sie nichts verdecken – – Nur die Kürbislaube, fiel mir auf einmal ein. Indem ich das dachte, stockte mir das Herz.

»Woher und wohin?« fragte Susanne arglos, da Ottilie nicht stehen blieb, sondern weiter wollte.

»Ich komme wieder!« gab sie rasch zur Antwort. Dann beschleunigte sie ihre Schritte und die hohe Gestalt verschwand bald in dem Thor der Hofmauer, das zum »Schlößchen« führte. Franz hatte, wie es schien, von ihrer Verstörtheit nichts bemerkt. Er sah ihr nur mit müden, halb geschlossenen Augen nach. Seine mehr als je gelockten dunklen Haare strebten von den Schläfen hinweg und ringelten sich fast bis in den Nacken hinab. Nie waren die Geschwister sich so ähnlich! mußte ich denken.

»Du bist heute noch nicht gewandert,« sagte Susanne endlich.

»Ja, ja, ja, du hast recht!« erwiderte Franz sogleich. »Doch heute verlasse ich meine drei Grazien« – er lächelte ein wenig – »und halte mich an den da! – Nämlich von meinen neuen Forschungen muß ich dir erzählen,« sagte er zu mir. »Ich bin unter die Philosophen gegangen; ich spekuliere heftig. Ich sage dir, ich habe zu den Atomen seit einiger Zeit ein zarteres Verhältnis; diesen geheimnisvollen Geschöpfen such' ich ein wenig hinter die Schliche zu kommen – so spröde sie auch sind. Wir gehen an den Fluß hinunter; zum Abendessen kommen wir zurück. – Adieu, Zwilling!« rief er noch im Gehen. Er nahm meinen Arm; wir entfernten uns.

Als wir zur Straße kamen, blickte ich noch einmal rückwärts über die Schulter. Susanne war aufgestanden und sie schien zu weinen ... Oder täuschte ich mich? War ich heute in so sonderbarer Stimmung, daß ich überall mehr sah, als wirklich war? – – Wir stiegen durch den Wald in das Thal hinab. Der Fluß rauschte heran; Kiesgeröll und Weidicht bedeckten das flache, trockene Gebiet, das ihm noch unterthan war, dann kam steiles Ufer rechts und links, das ihm nicht mehr gehörte. »Verlassen wir endlich die Straße!« murmelte Franz und zog mich dem Weidicht zu. Dünne Stämmchen, wie Bettler, denen kaum eine Streu gehört, krochen aus dem unfruchtbaren Boden hervor. Gerölle knirschte oft unter unseren Füßen. Franz schien das Oede, Unliebliche dieser Wanderung wohlzuthun. Er hatte von Ottilien noch kein Wort gesprochen; als sei das abgethan und nichts mehr darüber zu sagen und zu klagen, vertiefte er sich in seine Grübeleien, in die Ur-Atome, »die Freunde seiner schlaflosen Nächte«, wie er sagte, und baute sein Weltgebäude vor mir auf. Ueberraschend helle, neue Gedanken leuchteten hinein; dann wieder kamen labyrinthische Gebiete, denen »das Licht noch fehlte«, wie er selbst bemerkte. Er sprang darüber hinweg und sprach hastig weiter; hastiger, als sonst. Zuweilen überstürzten sich die Worte; als dürfe keines dem anderen Zeit lassen, eine andere Gedankenreihe zu wecken. Dazu rauschte der Fluß unruhiger, lauter; denn sein Bett ward eng, die steilen Ufer traten hart an ihn heran. Endlich schwand uns gleichsam der Boden unter den Füßen; alles war Fluß und Fels, weiter konnten wir nicht mehr.

»Wir müssen umkehren,« sagte ich.

Er schüttelte den Kopf.

»Dort hinauf!« murmelte er und deutete auf den Fels.

»Hinaufklettern?«

»Ja.«

»Guter Franz! Du kannst nicht. Höre, wie kurz du atmest. Schon dieses rasche Gehen hat dich außer Atem gebracht –«

»Ja, wir gingen rasch,« antwortete er. »Diese verwünschte Schwäche. Diese Lungen! Ach! – –« Er seufzte gequält und lehnte sich plötzlich an mich, mit ganz farblosem Gesicht.

»Du wirst schwach!«

Er schwieg.

»Franz!« sagte ich, nach einer traurigen Stille. »Was helfen dir die Atome, was hilft alles Denken. Du bist elend; krank. Du zerstörst dich.«

»Ach was!« sagte er matt.

»Du mußt ein Ende machen, Franz: entweder mit dieser unglückseligen Furcht vor dem neuen Leben, oder mit diesem neuen Leben selbst, das dich, Ottilie, Susanne, euch alle zu Grunde richtet, wenn dein Herz nicht dabei ist. Deine Gesundheit ist ja schon dahin! Du warst immer zart; – solange du glücklich warst, schadete es nicht. Unglück hältst du nicht aus. Raffe dich heraus, Franz: so oder so!«

Er antwortete nicht, hatte nur ein Lächeln.

»Fühlst du nicht, daß du Susannen deine Gesundheit, dein Leben schuldig bist? – Glaubst du, daß sie dich überleben könnte?«

Er sah mich mit seinen tiefen Augen wunderbar an (ich sehe noch diesen Blick); doch er erwiderte nichts. Er wandte sich, um zu gehen.

»Laß mich!« sagte er endlich. »Es wird dunkel; und die Nebel steigen. Woher kommt dieser rote Schein da oben? So ein Abendrot hab' ich nie gesehen.«

»Und doch wird es wohl – –« Ich sprach nicht aus. »Und es ist wohl auch keins,« verbesserte ich mich. »Es sieht wie Feuerschein aus.«

»Ja, ja, ja,« sagte er und nickte. »Nun, wo brennt's denn? Wo sind wir? –« Er sah nachdenkend umher, um sich zurechtzufinden; ich desgleichen. Das Flußbett hatte hier eine Biegung gemacht und lief nicht von Süden nach Norden, sondern fast von West gegen Ost. Hinter uns mußte das Feuer sein; oben auf der Höhe. Was lag denn dort? »Lautereck« und noch zwei, drei Häuser; weiter nichts. Wir sahen uns an; wir hatten denselben Gedanken. Plötzlich rief er aus: » Bei uns! – – Susanne

»Warum denn gerade bei uns?« antwortete ich. »Uebrigens, wenn man hier auf die Höhe steigt, kann man ja wohl Lautereck sehen. Bleib' hier; laß mich hinauf – –«

Doch in diesem Augenblick fing er schon an zu klettern. »Franz!« rief ich. »Franz! Du nicht! – Deine Lungen, Franz! – –« Ich sprach umsonst. Er kletterte hastig eine Weile fort, wie um unmöglich zu machen, daß ich ihn zurückzöge; dann rief er, schon keuchend, zurück: »Ich muß selber sehen!« – Die Wand war steil, und fast nirgends ein Vorsprung oder Gebüsch, sich daran zu halten. Der Atem schien ihm auszugehen, denn er klammerte sich an eine alte Baumwurzel an. Doch sowie er sah, daß ich ihm folgte, kletterte er weiter. Ueber uns wuchs der Feuerschein, und rötete nun auch die Wand, die wir erstiegen. Endlich war ich oben; und er auch. Sich gegen einen Baum lehnend, der am Rande aufstieg, und von der Anstrengung zitternd, deutete er auf den dunklen Rauch, der mit Flammen gemischt zwischen den Ecktürmen unseres Schlößchens in die Höhe wallte. »Siehst du?« stammelte er.

Ich rang selber nach Atem. Franz war leichenblaß. »Ich beschwöre dich,« keuchte ich hervor, »bleib' hier. Geduld. Ich voraus – – ich thue, was ich kann! –« Damit setzte ich mich wieder in Bewegung. Er aber rastete nur noch einen Augenblick; dann rief er mit so viel Stimme, als er hatte: »Susanne! Ich muß sie retten!« und lief mit überraschender, unbegreiflicher Geschwindigkeit auf das Schlößchen zu.

Die Entfernung war nicht mehr groß, denn der Fluß krümmte sich hier fast bis an unsere Höhe zurück; aber auf dem unebenen, von Gestein durchwachsenen Boden stürzte man mehr, als man lief. Einmal sah ich ihn fallen; darüber erschrocken glitt ich selber aus und rollte eine Strecke zurück. Als ich wieder aufstand, flog er schon wieder über das Erdreich hin; eine dunkle Gestalt, die in rot glühende Luft hineinzufliegen schien. Seine Haare flatterten; sein Hut war ihm entfallen. In wachsender Angst stürzte ich ihm nach ... Endlich kamen wir zugleich auf die letzte kleine Anhöhe, auf der das brennende Haus stand. Einige Leute aus der Nachbarschaft hatten sich dort gesammelt und liefen ratlos umher. Wie weit die mächtige Flamme schon um sich gegriffen hatte, konnte man von unten nicht sehen; man sah nur, daß sie den linken Turm und das Dach des Mittelstücks umhüllte. Ottiliens Schwester stürzte uns entgegen: »Helft! helft!« rief sie aus. Sie wies zu den Türmen hinauf. »Ottilie und Susanne – beide sind verloren!«

Ein erschütternder Schrei kam aus Franz' Brust. »Susanne!« rief es aus ihm. Gleich darauf verschwand er in der Thür des Hauses. Schwärzlicher Qualm brach schon daraus hervor. Eine Stimme schien ihn zu durchdringen, von oben her; doch bei dem wüsten Geschrei der Menschen – denn sie stiegen nun auch von der Straße und vom Thal herauf – wußte das Ohr nicht mehr, was es hörte. Ich dachte nur, Franz zu helfen; wollte ihm nach. Ottiliens Schwester hielt mich am Arme fest. »Ottilie ruft!« sagte sie und horchte. »Aber nicht im Turm! Dort! Dort!«

Sie wies hinter sich.

Sie hatte recht; nicht aus dem Hause, sondern vom Freien her kam ein matter Ruf, und es schien Ottiliens tiefe Stimme zu sein. Was bedeutete das? War es Hilferuf? – Ich eilte der Richtung zu. Der Ruf wiederholte sich, und führte mich. Um die Ecke des brennenden Turms, an der Hofmauer und am Wäldchen hin, kam ich auf die Wiese, die nun düster rötlich leuchtete. Unter dem Baum, an dem mir Franz am Nachmittag sein trauriges Bekenntnis gemacht hatte, lag Ottilie, halb aufgerichtet und gegen den Tisch gelehnt. Wie aus einem Traum erwacht, wie eben zu sich gekommen, starrte sie den Feuerschein und mich mit ihren sonderbaren Juno-Augen an. »Feuer!« rief sie. »O Gott!«

»Wie kommst du hierher?« fragte ich verwirrt.

»Feuer in meinem Turm! – Alles brennt! – Ich, ich hab' die Schuld!«

Ich richtete sie auf. »Was ist geschehen? Was hättest du denn gethan?«

Sie sah mir eine Weile mit starrem Blick, fremd und abwehrend, ins Gesicht; dann aber sank sie mir an die Brust. »Ich muß fort!« sagte sie. »Du warst immer gut zu mir. Hilf mir fort! Ich muß fort! – Ich hab' heut alles gehört; in der Laube war ich ... Dann bin ich in meinen Turm, auf mein Zimmer gegangen; hab' zu packen begonnen; – hab' die Briefe verbrannt, die er mir im Frühjahr schrieb – – eh ich kam ...«

Sie stockte: sie ließ mich los; ihre Thränen wollten wieder fließen. »Ottilie!« sagte ich, von tausend Gefühlen zugleich bestürmt, und auf das Feuer deutend. »Unglückliche, und wie kam's dann –«

»Dann hielt ich es nicht aus – lief hierher. Und an diesem Platz, so scheint es, verließen mich die Sinne. Und wie ich erwache, brennt's ... Ich hab' die Blätter fallen lassen, als sie loderten – hab' das Feuer nicht ausgetreten. O, wie sinnlos war ich. Wo ist Susanne! Wo ist meine Schwester! Ihr habt sie gerettet, nicht wahr? Sag mir, sag mir! ihr habt sie gerettet!«

Ottiliens Schwester eilte zum Glück herbei, und schwenkte schon von weitem ihr Tuch. »Wir haben sie!« rief sie aus, als sie näher kam. »Er hat sie heruntergetragen, auf seinen Armen. Sie wußte nichts mehr von sich! der Qualm – – aber sie lebt!«

»Und Franz?« fragte ich in geheimer Angst; doch ich konnte Ottilie dabei nicht ansehen.

»Er liegt jetzt da, wie betäubt; und du mußt kommen ... Ach wie sieht er aus. Doch es wird ja vorübergehen – –«

Es durchzuckte mich. Ich warf einen flüchtigen Blick auf Ottilie, die zu zittern anfing und über diesen neuen Schreck sich selbst zu vergessen schien; ich flüsterte ihr zu, daß jetzt ihre Pflicht sei, sich zu fassen. Dann eilte ich zu der Unglücksstätte zurück.

Das Haus war nicht zu retten; die Flamme, der diese hilflosen Menschen nicht zu wehren vermochten, loderte ruhig fort. Ich fand Susanne und Franz, fast taghell beleuchtet, auf den Stufen, die von der Straße bis zum Schlößchen führten. Die blasse, doch wieder belebte Susanne saß auf einer der Stufen, und Franz' Haupt lag in ihrem Schoß. Er hatte die Augen geschlossen, doch er atmete heftig, stürmisch. Ueber sein Gesicht floß der Schweiß herab. Sie sah mit einem Blick zu mir auf, der mir durchs Herz ging. Dann deutete sie durch eine stumme Neigung des Kopfes auf ihren Franz.

»Du wirst mir doch nicht schon sterben, Franz?« sagte sie, als ich näher trat.

Ich stammelte irgend ein beruhigendes Wort; ich weiß nicht was.

»Ach, noch nicht, noch nicht!« fuhr sie fort, zu Franz. »Oder ich mit dir – –«

Er schlug nun die Augen auf. Als er das holde Gesicht über sich sah, und auch mich erblickte, kam ihm sogleich das Bewußtsein zurück. Ein schwaches Lächeln gelang ihm. »Siehst du,« murmelte er mit heiserer Stimme. »Ich habe sie gerettet ... Wo ist Ottilie ... Uebrigens, mich friert. Tragt mich ins Haus – –«

Ins Haus! In welches Haus? – Die Glut brach schon aus der Thür hervor.

Ein paar Männer traten herzu; wir nahmen ihn von Susannes Schoß und hoben ihn auf. Das nächste Haus stand hundert Schritte entfernt. Dorthin trugen wir ihn. Susanne folgte.

Ich hörte hinter mir ihren leisen Schritt. »Wenn er stirbt,« flüsterte sie – – Sie sprach nicht aus. Aber sie weinte auch nicht; ruhig ging sie hinter mir her. Ich wußte, was sie dachte.

*

Welt der Widersprüche! der grausamen Schönheit, der erbarmungslosen Herrlichkeit! – Ich sehe noch das Bild dieser nächsten Tage. Goldenes Licht zittert über der erwärmten Erde; es spielt an dem umrankten Fenster des Gemachs, in dem ich sitze, und wallt, empfindungslos verklärend, über das ausgebrannte, geschwärzte, tote Gemäuer da draußen, das einst »Lautereck« hieß. Holde Kühle schleicht aus dem angrenzenden Zimmer zu mir herein; durch die offene Thür kommt beruhigende Dämmerung, die die Augen streichelt; dort sitzt eine zarte Gestalt an einem Krankenbett, darin der fieberheiße Atem eines nach Leben Ringenden fliegt. Sie liebt ihn zu sehr, um zu klagen; so oft er die Augen öffnet, lächelt sie ihn an. Doch was ist ihr das goldene Licht, wenn er nicht genest. Was soll ihr die holde Kühle, wenn er ins Kühlere hinuntersteigt ... Und sie fühlten beide so tief, wie schön das Leben doch ist. Mit herrlicher Sinnen- und Seelenkraft haben sie's genossen. Und ich, der ich nebenan regungslos sitze und horche, wie verächtlich thöricht finde ich die Erde, die sich so kummerlos von so edlen Geschöpfen trennt. Wie eine alberne Mücke kreist sie weiter um das »goldene Licht,« dem sie gehorcht. Sie rollt durch den Aether dahin, ein sternbeschienenes Siechenhaus, ein besonnter Friedhof. Was ist ihr ein Todesseufzer aus edler Brust; lachende Thoren wachsen dafür nach und sonnen sich über den Gräbern. Und wo die Flamme der Erde ein »Lautereck« verzehrte, senkt sich die Flamme der Sonne, die immer neues Spielzeug schaffende, neue Lust entfachende, herab! – –

Susannes Rettung ward hoch bezahlt; eine furchtbare Entzündung hatte Franz' Brust ergriffen, es ging auf Leben und Tod. Durch Zufall fügte es sich, daß die Bewohner des Nachbarhauses eben im Begriff waren, auf Monate zu verreisen; sie traten uns für den Rest des Sommers ihre Wohnung ab, und so gut es ging, richteten wir uns ein. Susanne, mit dem Kranken und mir, wohnte im Erdgeschoß; über uns die Schwestern ... In diesem Elend war Ottilie weich, aufgelöst und gut. Sie klagte sich an, daß sie an allem schuld sei; sie litt mit Franz, den sie für seine heroische Liebe zur Schwester so leiden sah; sie verzieh ihm alles, und konnte ihn jetzt nicht verlassen. »Ich will ihn nicht sehen,« sagte sie zu mir; »ach, mein Anblick könnte ihn nur schmerzen. Aber bleiben muß ich, von ihm hören muß ich, bis ich weiß, es wird wieder gut!« – – Scheinbar ward es auch gut. Die Entzündung wich. Die Kräfte, die sich bis zur Neige erschöpft hatten, kamen langsam wieder. Es überraschte den Arzt und uns, wie schnell dies geschah. Susanne, die sich während der tiefsten Not wunderbar still in sich verschlossen hatte, fing wieder an, mit den Menschen zu leben. Man ließ auf Franz' Verlangen die Sonne zu ihm hinein. Ottilie saß draußen im Garten; sie weinte vor Freude und Weh, da der Arzt ihr versichert hatte, »Alles werde gut.« »Morgen kann ich fort!« sagte sie zu mir. »Morgen muß ich fort!«

Am nächsten Mittag kam sie, Franz zu sehen und von ihm Abschied zu nehmen. Susanne – die längst Eingeweihte – und ich standen an seinem Bett. Er blickte voll Unruhe und errötend auf die hohe Gestalt, die im vollen Sonnenlicht über die Schwelle trat. Er wußte schon durch mich, daß sie alles wußte. Als sie, nach einer unwillkürlich zuckenden Bewegung, seine durchsichtig magere Hand ergriffen hatte und schweigend drückte, zog er die ihre an seine Lippen und küßte sie fort und fort. »O, genug, genug!« sagte sie endlich gerührt.

»Nie kannst du mir verzeihen,« flüsterte er. »Niemals. Niemals.«

»Doch!« sagte sie leise und löste ihre Hand aus der seinen. Und wie um ihm zu sagen, daß sie ihm verzeihe, weil sie ihn begreife, nahm sie Susannes Hand, schien sie küssen zu wollen, legte sich dann aber an Susannes Brust und küßte sie auf den Mund.

»Ich danke dir!« flüsterte seine matte Stimme.

Ottilie kam noch einmal zu ihm zurück. »Ich bleibe dir gut, schwesterlich gut,« sagte sie laut und mit fester Stimme. Es klang, als hätte sie wirklich alles überwunden; – wie ich sie kenne, glaub' ich auch, daß es so war. Sie hatte die Ruhe und Kraft, nun auch ihn zu küssen. Seine tief eingesunkenen Augen füllten sich mit Thränen, als sie sich wieder aufgerichtet hatte. »Ihr Frauen seid viel zu gut,« murmelte er. »Ach! doch wenn du wüßtest –!«

»Ich weiß,« flüsterte sie. Dann sah sie ihm noch einmal in die Augen, und ging still hinaus.

Dieser Abschied hatte ihn getröstet, doch auch tief erregt; mit oft geschlossenen Augen und zitternden Wimpern lag er den Nachmittag da. Was mochte er fühlen? Er, dem es schon weh that, dem letzten aller Wesen weh zu thun ... Doch er vermied es, von Ottilie zu sprechen. Sie war fort; über ihm tiefe Stille; sein geschärftes Ohr hatte sonst zuweilen ihre Tritte gehört. Das Leben begann wieder seinen alten Kreislauf; Tage, Wochen vergingen. Langsam, allmählich schien er zu gedeihen. Er verließ das Bett, vertauschte es mit dem Diwan; ging zuweilen ein wenig hin und her. Zwar seine Stimme blieb schwach; sein Lächeln kam wieder, aber nicht sein Lachen. Zuweilen legte er sich eine Hand auf die Brust und verzog schmerzvoll das Gesicht ... »Werd' ich ihn behalten?« fragte mich Susanne.

Ich nickte; doch ich glaubte es nicht mehr, und ich wußte, warum. Der Arzt hatte, auf mein Verlangen, offen zu mir gesprochen. Der gefährliche Rest jener Entzündung, ihre Hinterlassenschaft, wollte nicht mehr weichen; unaufhaltsame Zerstörung hatte die Lunge ergriffen. Täglich kam das Fieber zurück, das ihm am Leben nagte. Andere schmerzliche Leiden gesellten sich dazu. Langsames Hinsiechen konnte ihm noch bevorstehen; doch Genesung nicht. Und nun waren wir uns die liebsten Freunde auf dieser Erde; und er sollte sterben ...

Eines Nachmittags, schon gegen Abend, war ich mit ihm allein; Susanne hatte sich entfernt, er horchte noch auf ihre leisen Schritte. Als ich schon nichts mehr vernahm, sah ich ihm noch an, daß er – den Kopf ein wenig vom Diwan aufgerichtet – weiter horchte; denn dieser eine seiner Sinne war krankhaft feinfühlig geworden und »um eine halbe deutsche Meile verlängert«, wie er einmal im Scherz beteuert hatte. »Bitte, rück ein wenig näher!« sagte er auf einmal. »Es wird endlich Zeit, daß wir uns über die Hauptsache aussprechen.«

»Ueber welche Hauptsache?«

»Ueber meinen Abschied vom Leben,« antwortete er.

»Warum denkst du daran

»Weil ich weiß, was hier steckt,« sagte er und legte seinen mageren, fast weiblich zart gewordenen Zeigefinger an die Brust. »Und weil ich die bekannten langen Ohren habe. Ich hörte neulich ein paar Worte, die der Doktor dir sagte; ihr ahntet nicht, daß ich's hören könnte. Uebrigens, auch ohne das hätt' ich's bald erraten!« setzte er mit einem herzergreifenden Lächeln hinzu. »Sieh mich an und höre meine Stimme!«

»Es steht schlecht, Franz,« gab ich ihm zur Antwort. »Wir Menschen sind aber unwissende Geschöpfe, und unsere Pflicht ist, zu hoffen –«

Er unterbrach mich, indem er, auf italienische Art verneinend, seinen Zeigefinger hin und her bewegte. »Nichts da von Hoffnung,« sagte er; »ich weiß alles; das ist abgemacht. Gräßlicher Gedanke: immer noch zu hoffen und zu hoffen, bis man sich in den tiefsten Abgrund der Entkräftung hineingehofft, bis man die Kraft verloren hat, sich über die lange Qual hinwegzuhelfen; bis man zur Karikatur eines Menschen geworden ist, und den Liebsten, Teuersten, die man auf Erden hatte, monatelanges Grauen und Elend geschaffen hat! – Kann man von uns verlangen, daß wir so unwürdig endigen? Daß wir nach rastlosem Ringen, unserem Dasein eine edle, würdige, schöne Gestalt zu geben, uns so wurmartig in unserer Qual winden und wälzen? ein so verzerrtes Bild von uns zurücklassen? – Wenn ich sterben soll, gut, ich bin bereit. Aber monate-, jahrelang sterben – – nein das nicht, das nicht!« rief er aus und richtete sich auf. »Das ist unmenschlich, entwürdigend! Das hab' ich nicht unterschrieben, als ich ins Leben eintrat! Dazu zwingt man mich nicht!«

Ich war still; was sollte ich erwidern. Fühlte ich doch wie er. Immerhin aber überschauerte es mich ...

»Bruder!« sagte er nach einer Weile, mit der dumpfen Stimme.

»Was?« murmelte ich.

Seine Augen leuchteten so tief, daß es mich bewegte. »Wie schön wär' es,« fuhr er fort, »wenn man als Mann, als Philosoph sich faßte und unter sein Leben ruhig ›Ende‹ schriebe, – mit einer Anmerkung dazu: ›Das Buch war nur kurz; doch der unbekannte Verfasser meinte offenbar, es sei lang genug; mög' es euch so gefallen!‹ Und wenn man dann zu seinen Freunden sagte: ›Adieu; geh' es euch gut;‹ – und man stieße noch einmal mit ihnen an, und tränke sich dann mit einem festlichen Trunk in den Schlaf hinüber! – Am anderen Morgen läge man friedlich und unzerstört, wie ein Abgerufener, da; und wie viel ekelhafte Pein hätte man sich und euch erspart ... Ja, euch, euch!« rief er aus, und mit einem Blick voll Liebe sah er mich an.

»Wozu sagst du das alles?« fragte ich erschüttert; da ich erriet, was er wollte.

Er dämpfte seine Stimme. »Wenn Susanne nicht wäre,« flüsterte er fast, »so hätte ich's schon gethan! Denn was dich betrifft – mit dir würd' ich wohl einig. Aber sie ist eine Frau ...« Er dachte offenbar mit ganzer Seele an sie; denn die blauen Augen umschleierten sich feucht, und flüchtige rote Sterne erschienen auf seinen Wangen. »Sie wird mich behalten wollen,« murmelte er, »bis zur letzten Stunde. Und ich ertrag' es nicht! Ich kann so nicht leben! – – Sag du's ihr! Sag Susannen, sie soll mich freigeben, sie soll mich sterben lassen! Sag ihr, sie soll fühlen, was ich fühle, soll mich nicht halten, mir nicht diese Hölle des langen Hinschwindens zur Pflicht machen! Sie soll mich wie einen Menschen sterben lassen!«

Er drückte die Augen ein und die Lippen zusammen – ein Bild des Leidens; dann legte er sich erschöpft in die Kissen zurück.

Ich war stumm, und wir schwiegen beide. Mir war elend zu Mut, wie ihm. Endlich, da er sich nicht rührte, stand ich leise auf und ging durch das Zimmer. Er hörte mich gewiß, aber er regte sich nicht. Die Zimmerluft, der enge Raum lagen schwer auf mir. »Nur ein paar Atemzüge unter dem hohen Himmel!« dachte ich und ging still hinaus.

Als ich vor die Thür trat, sah ich nicht weit davon, auf einer Bank unter längst verblühtem Flieder, die in sich versunkene Susanne sitzen. Sie blickte in ihren Schoß, oder auf die Erde. Ein abgepflücktes Blatt hielt sie zwischen den Lippen; doch diese öffneten sich, und von einem leichten Winde gefaßt, flatterte das Blatt langsam ins Gras hinab. Susanne sah ihm nach, lächelte und seufzte. Mich bewegte ihr Anblick so, daß es mir unmöglich schien, jetzt mit ihr zu reden. Ich wollte leise zurücktreten. Doch bei dem ersten Geräusch, das ich machte, fuhr sie auf und sah mich.

Mit einem langen Blick überlas sie alle meine Züge. »Sie sind auch nicht froh!« sagte sie dann langsam.

Ich schüttelte nur den Kopf.

»Franz hat mit Ihnen gesprochen. – Ich will Ihnen auch sagen, wovon. Daß er sterben möchte. Daß ich ihn nicht halten soll.«

Ich blickte sie auf diese überraschenden Worte wohl sehr verstört und betroffen an. Sie lächelte; so, wie nur Susanne lächeln konnte. »Denken Sie, Ihr Gesicht wäre so ganz verschlossen?« sagte sie. »Und denken Sie, wenn man so lange mit seinem Bruder gelebt hat, wenn man jeden seiner Atemzüge bewacht hat, könnte man ihm seine Gedanken nicht nachdenken? –« Sie erhob sich und die zarte Erscheinung stand wie vergrößert da. Die Augen hatten etwas Unsagbares, das mit so schmerzlicher Gewalt auf mich wirkte, daß ich fortfuhr zu schweigen; und daß ich alles, was in mir vorging, von mir ablesen ließ. Sie trat endlich auf mich zu und nahm meine Hand. »Wollen Sie mir etwas versprechen?« fragte sie.

»Was?«

»Wollen Sie mir auf das, was ich Sie nun frage, ehrlich die Wahrheit sagen? Nicht wie sonst die Männer mit den Frauen reden, die sie wie Kinder behandeln?«

»Susanne! Hab' ich Sie jemals so behandelt?«

»Wie kann ich das wissen? – Heut aber werden Sie mir die Wahrheit sagen; oder Sie waren nie mein Freund.«

Ich nickte. – In diesem Augenblick mußt' ich denken: Wie unzerstörbar doch ihre Anmut ist! Und nach so viel Gram, und bei solchen Gedanken ...

Sie atmete tief; dann erst fragte sie: »Er kann nie, nie mehr gesund werden, nicht wahr?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Doch noch lange leiden!«

»Ja, Susanne.«

»Und nur ich hindere ihn, dem Elend ein Ende zu machen – – Antworten Sie. Sie haben keine Achtung vor mir, wenn Sie so lange zögern.«

»Sie allein hindern ihn, Susanne,« antwortete ich.

Eine Weile schwieg sie. Aber ein unbeschreiblich süßer, gramvoll, doch tröstlich süßer Ausdruck lag auf ihrem Gesicht. »Ich danke Ihnen, Lieber, Guter,« sagte sie dann. »Wollen Sie noch ein wenig draußen bleiben? Ich möchte mit Franz noch reden, eh es dunkel wird; ehe er schlafen soll. Ich weiß einen anderen Ausweg, als er denkt; einen besseren ... Lassen Sie ihn heute. Gute Nacht!«

Sie gab mir ihre weiche Hand, und ging ins Haus.

*

An diesem Abend sah ich die Geschwister nicht mehr. Ich durchirrte die Gegend, die sich umnachtete; kam dann still zurück und verbrachte in meinem Zimmer eine schlaflose Nacht. Erst am Morgen entschlief ich. Als ich dann erwachte, war es hoher Tag. Mein Kopf war heiß und voll wüster Träume. Ich kleidete mich an, trat auf den Vorplatz und hörte vom Garten her Susannes Stimme. Sie rief mich. Es klang so hell und fast so heiter, wie in alten Tagen. Ich ging verwundert hinaus und sah sie, wie sie über den Rasen wandelte. Sie war frisch wie der Tag. Nur unter den Augen lag es wie ein dunkler Halbmond leise hingeschattet; im Blick aber war ein lebensvoller, sonntäglicher Glanz, der mich überraschte.

»Wie kann man diesen goldenen Morgen so verschlafen!« rief sie mir entgegen.

»O Susanne!« sagt' ich – –

Sie fiel mir ins Wort; als sei mein Ton nicht der rechte, der von dieser Stunde an zu gelten habe. »Kommen Sie zu Franz!« sagte sie; »frühstücken Sie dort. Er verlangt nach Ihnen!« – Sie nahm meinen Arm, um mich hinzuführen. Im Gehen sagte sie leiser: »Und nun noch ein Wort. Sprechen Sie mit ihm und mir nicht mehr von der Zukunft ... Wir leben nun nur noch in der Gegenwart; freuen uns an ihr. Sie geloben mir das!«

Ich drückte ihr die Hand. Doch noch verstand ich sie nicht. Was war ihr geschehen? Was für einen »besseren« Ausweg hatte sie gefunden? – – Wir kamen zu Franz; er lag wieder auf dem Diwan, doch – wie soll ich sagen – mit sichtbarerer Sorgfalt als gewöhnlich gekleidet, und ein Gefäß mit Blumen stand neben ihm auf dem Tisch. Auch lag er nicht, wie sonst, abgewandt vom Licht, sondern ihm zugekehrt und atmete mit einer Art von »Wollust«, wie er sagte, die besonnte Luft, die durch die Fenster hereinfloß. Ich sah ihn betroffen an, denn er hatte denselben freudigen Glanz im Blick, wie seine Schwester, so daß die Aehnlichkeit seiner und ihrer Augen fast gespenstisch ward. Nur hatte dieser Glanz bei ihm etwas Fieberhaftes; es schien dahinter die Lebensflamme schonungslos zu brennen und zu leuchten, gleichgültig, was sie verzehre, wenn nur das volle Gefühl des Lebens sich entzünde.

»Mir ist heute besser,« sagte er mit einem seltsamen, rührend freundlichen Lächeln. »Darum diese festlichen Blumen; und dieser Lichtgenuß, dieser Sonnenkultus! –« Susanne hatte draußen noch einige Rosen gepflückt; sie steckte jedem von uns, auch sich, eine blaßgelbe Rose an die Brust. Es fielen ihr die zierlichen gelben Röslein ein, die zuweilen in öden Straßen Roms plötzlich zu tausenden über einer halbverfallenen Gartenmauer sichtbar werden, in dichten Gebüschen gedrängt, und den stillen Wanderer berauschend. »Erinnerst du dich,« sagte sie zu Franz, »als wir an jenem Abend vom Kolosseum kamen und an den Thermen des Titus vorbei durch jene wüste Straße gingen, deren Namen ich nie behielt; da hobst du mir auf einmal das Kinn, und nun sah ich über mir so ein Rosenmärchen, von einer Terrasse herab; und ich freute mich wie ein Kind – – denn ich war so glücklich – –«

Sie sah still vor sich hin.

»Es war jener Abend,« flüsterte Franz mir zu, »als ich ihr auf dem Kolosseum für ihre Liebe dankte – als ich genesen war ... Was hätt' ich ihr nicht zu danken,« fuhr er lauter fort. »Alles – alles – alles –«

Er sagte ihr durch einen Blick, was er dachte. Ein allzu weiches Gefühl schien ihn und sie übermannen zu wollen; Susannes Lippen bewegten sich und ihr Busen hob sich. »Erweichen wir uns nicht!« sagte sie, sich fassend. »Essen und trinken Sie! Es wird hohe Zeit. Und während Sie so Ihre Pflicht thun, geh' ich in Ihr Zimmer, wenn Sie mir's gestatten, um unter Ihren Büchern eins auszusuchen, daraus Sie heute vorlesen sollen; denn Franz bittet darum, und Sie dürfen ihm nun nichts mehr abschlagen – – wissen Sie das wohl!« setzte sie mit scheinbarer Heiterkeit hinzu. »Wir wollen recht edel leben; ganz im Schönen – ganz ›menschenwürdig‹ – –«

Sie brach ab, und in ihrer stillen Anmut schwebte sie hinaus.

»Wie gern las ich sonst Susannen vor!« sagte Franz; »das ist nun vorbei ... Doch ich verstehe auch zuzuhören; das weißt du. Ich hab' eine Sehnsucht nach Shakespeare, Goethe und Sophokles, daß ich's nicht sagen kann. Kennst du das Gefühl, wenn einem eben nur das Beste gut genug ist; wenn alles andere so klein wird, das Erhabene so natürlich, das Höchste so selbstverständlich – –«

»Viele wunderbare Gaben sind uns doch gegeben!« murmelte er, wie dankbar, vor sich hin.

Seine Gedanken kehrten zum Kolosseum zurück, und Rom, Italien, unser altes Lieblingsgespräch, das unerschöpfliche, war sogleich im Gange. Wir plauderten eine Weile; endlich fiel mir auf, daß Susanne nicht wiederkam. Ich sah, daß Franz ermüdet die Augen schloß, und ging ihr nach in mein Zimmer. Da saß sie, ein Buch im Schoß, in dem sie, mit sanft geneigtem Kopfe, las. Leise bewegten sich ihre blassen Lippen.

Ich trat hinzu; es war Goethes »Faust«. Einige Thränen waren auf die Blätter gefallen. Ein großer Tropfen zerfloß eben auf der Stelle, wo der alte Faust, von der »Sorge« angehaucht und erblindet, spricht:

»Die Nacht scheint tiefer tief hereinzudringen,
Allein im Innern leuchtet helles Licht;
Was ich gedacht', ich eil' es zu vollbringen – –«

»Susanne!« sagte ich. »Was haben Sie vor? Wollen auch Sie, Sie mit Franz hinweg – –«

»Fragen Sie mich nicht,« erwiderte sie. Sie trocknete ihre Thränen. – »Versprechen Sie mir, mich nach nichts zu fragen; seien Sie hold und gut!«

Ich schwieg. Sie stand auf und legte das Buch in meine Hand. »Nicht wahr, den ›Faust‹ lesen Sie uns vor; – es war sein Lieblingsbuch, seit der Knabenzeit ... Ich blickte eben so zufällig in den zweiten Teil, den ich nie verstand. Heute aber war mir, als verstünd' ich ihn. Und da kam es wohl über mich, zu weinen ... O, was für ein Buch!«

»Was für eine Frau!« dachte ich.

Sie wollte gehen; doch ehe sie zur Thür kam, stand sie noch einmal still. Mir ernst in die Augen blickend, fragte sie: »Lieber Freund! haben Sie je etwas Krankhaftes, Ueberspanntes an mir bemerkt?«

»An Ihnen? Welche Frage! Sie waren immer gesund an Geist und Herz –«

»Und wenn ich nun etwas thäte, das nicht gewöhnlich, nicht alltäglich ist, würden Sie mich dann auch, wie die anderen, überspannt oder krankhaft nennen?«

»Ich? Susanne! Niemals! – – Doch was wollen Sie – –«

»Sie haben mir schweigend versprochen, mich nach nichts zu fragen,« fiel sie mir ins Wort. »Sie wollten hold sein und gut!«

*

Es kamen noch drei, vier Tage, die ich nie vergesse. Das »goldne Licht« leuchtete herein; Blumen schmückten unsere Tafel, wie in alten Zeiten. Die Spätsommerluft schmeichelte so mild; Franz genoß sie von seinem »Freudenlager«, wie sein Heroismus es nannte, mit verjüngten Sinnen, mit erschütternder Dankbarkeit. Einige verspätete Sänger zwitscherten noch draußen in den Bäumen ihr dreitöniges Lied. Wir saßen zuweilen still beisammen und lauschten, als spräche in ihnen jener stumme Geist, der sonst nicht spricht; – oder ernste, heitere, tiefsinnige Gespräche, die nicht enden wollten, schweiften über Vergangenes, Unvergängliches, und übertönten lieblich den Flügelschlag der entfliehenden Zeit. Wenn der Nachmittag kam, riefen wir die »Alten«; ich las ihnen vor, was sie begehrten, – Faust, König Lear, Romeo und Julie, Antigone, Elektra. Mit strahlenden oder feuchten Augen und erglühten Wangen saßen sie, diese wunderbar bewegten, aus tiefer Brust genießenden Menschen, da. Höher und höher wuchsen unsere Gefühle; alles blieb unter uns, was in diesem Aether nicht mehr leben konnte; eine reine, edle, innige Heiterkeit verklärte uns alles, ohne daß wir's dachten. Nur wenn ich dann plötzlich hinsah und mir sagte: »da sitzen sie, diese Teuren, und eine Stunde wird kommen, wo dies nicht mehr ist« – – dann umschnürte es mir das zu volle Herz. Ich stand auf, ging umher; ging hinaus, warf mich in meinem Zimmer aufs Bett, still für mich zu leiden ...

In der letzten Nacht lag ich schlummerlos da; vor den geschlossenen Augen stand mir immer wieder Franz' bleiches Gesicht, das mir zum »Gute Nacht« so brüderlich abschiednehmend gelächelt hatte, und Susannes überirdisch groß verklärte Augen, die mir noch gefolgt waren, als ich sie verließ. Das stumme Grauen der Ahnung lag auf mir. Eine rätselhafte Macht überwältigte mich, als müsse ich ruhig dulden und erwarten, was da kommen werde; als verbiete mir etwas Heiliges, mich zu widersetzen. Und doch sträubte sich ein qualvolles Gefühl in mir ... Endlich kam der Tag. Ich stand auf, ich wandelte durch die Morgenstille. Ich hoffte wieder; – auf was? Auf alles, was Hoffnung weckt; auf den Geist des Lebens, den ich in mir selber suchte; auf das Unbekannte. So saß ich lange auf der Wiese, unter jenem Baum. Sprühender Nebelregen durchfröstelte mich endlich bis ans Herz; ich kehrte zurück.

Als ich die Thür zu dem Zimmer öffnen wollte, in dem wir diese Tage verlebt hatten, fand ich sie verschlossen. Ein zusammengerolltes Papier steckte im Schlüsselloch. Ich zog es heraus, riß es auf. Es enthielt folgende Worte, von Susanne geschrieben:

»Lieber, lieber Freund! Wenn Sie dies lesen, atmen wir nicht mehr, und alles ist gut. Ich kann meinen lieben armen Franz nicht verlassen. Leben Sie denn wohl!

» Sie verkennen mich nicht; werden mich nicht verdammen! – Er muß sterben, und er stirbt um mich, und ich nicht mit ihm? – Wenn ich ihn nicht mehr habe, wofür leb' ich dann noch? – Wirklich wie Zwillingsseelen haben wir miteinander gelebt; uns glückte es nicht da draußen in der Welt, mit der anderen ›Liebe‹, die die Menschen so nennen; da fanden wir in unserer Bruder- und Schwesterliebe den Fels, der uns beide trug. Und wir wurden einander Stab und Schirm und Leben; und haben einander nie betrübt, als wenn wir litten; und nun ließe ich ihn fort und bliebe hier allein? – Ach, ich kann nicht, ich kann nicht! – – Er hat nicht gewollt, daß ich mit ihm ginge, aber ich hab' ihn besiegt, und ich werde gehen. Edel und schön soll er sterben; nicht mehr leiden ... Gute Nacht! – Noch in dieser Stunde, an dem Tisch, an dem Sie uns ›Antigone‹ und ›Elektra‹ vorlasen – – o, ihr Schwesterseelen! – – da werden wir den Abschiedstrunk miteinander trinken, und noch Ihrer gedenken.

»Ach, verkennen Sie die arme Susanne nicht! – Friedlich wird er sterben, wenn er weiß: seine Susanne bleibt nicht allein, ohne Zweck, in Verzweiflung zurück! – – Gern, gern haben wir gelebt; – aber ein schaurig süßes Gefühl ist es mir nun auch, so den Gram zu betrügen, der bei mir bliebe, wenn ich meinen Franz überlebte – und so heimlich, heimlich ihm davonzugehen. Ich glaube, ich that meine Schuldigkeit, solang' ich lebte! Nun aber laßt mich nicht im Elend der Einsamkeit verschmachten, ohne Lieb' und Pflicht; laßt mich fort, laßt mich mit meinem Franz den Becher des Friedens trinken! –

»Wie er noch leidet um Ottilie ... Sie ist kräftig und lebensfroh; sie wird noch glücklich werden; das ist meine Hoffnung. Seien Sie es auch, wie wir es waren! – – Was für ein wunderbarer Gedanke ist das nun, so in stiller Nacht sich hinwegzustehlen; und während die anderen schlafen, um zu erwachen, einschlafen auf immer!

»Franz soll nicht mehr schreiben ... Armer, blasser, todesmatter, süßer, geliebter Franz. – – Lieber Freund, gute Nacht!«

Darunter noch, wie ein Echo, von Franz' Hand:

»Gute Nacht!« – – –

Als der Gärtner und ich die Thür erbrochen hatten, sahen wir die beiden; jeder in einer Ecke von Franz' Diwan; in den Kleidern von gestern, Susanne mit einer Rose an der Brust. Sie schienen beide zu schlafen. Freundlicher, ernster, kummerloser Schlaf! Ein holderes Bild des Friedens konnte man nicht sehen.

Auf dem Tisch vor ihnen stand der Becher, aus dem sie diesen Frieden sich getrunken hatten.

Ich besitz' ihn noch. Niemand trinkt aus ihm; doch solang' ich lebe, will ich ihn behalten.

Ich verkenne dich nicht, holde Schwester Susanne! – – Aber ach, ich habe euch nicht mehr!

 

Ende.

 


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