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Der Wille zum Leben

I.

Nach vielen frostigen, regenschweren Tagen, nach dem unerquicklichen Wechsel von Sonnenglut, Gewittern, Landregen und Märzkälte, den wir – da der Kalender es verlangt – »deutschen Sommer« nennen, war endlich ein erster goldener Septembertag gekommen, der so rein heraufstieg, als müßten ihm nun viele seinesgleichen folgen. Die Luft war hell, jeder Hauch erfrischend; die Sonne wirkte noch mit großer Kraft, aber ihre Strahlen gingen wie durch gereinigten Aether hin, alle elektrische Spannung schien aus der Welt verschwunden. Die Landhäuser, die sich von der Stadt Salzburg her zwischen Kapuzinerberg und Geisberg im Aigener Winkel hinziehen, leuchteten im Morgenlichte, durch das ebene Thal verstreut; die alte Citadelle von Salzburg sonnte sich, in die Ferne schimmernd, auf ihrem Fels; nur über dem Geisberg flatterte eine kleine weiße Wolke wie ein losgerissenes Fähnchen und schwebte langsam, sich rundend und verkleinernd, wie ein Luftballon in die zarte Bläue hinauf. Der alte Grabow, der seit einem Jahr als »Haushofmeister« der Fürstin Raffaela diente, kam aus ihrer Villa, die eigentlich ein altes, doch unansehnliches Schloß war, grau, mit wenigen Fenstern und aufstrebenden Dächern, durch einen runden Turm vor den neuen Lusthäusern ausgezeichnet; ein schwarzer Dohlenschwarm zog darüber hin. Grabow sah zu diesen dunklen Schatten in der hellen Luft etwas mißvergnügt auf, er liebte sie nicht, weil sie für ihn »nordische Vögel« waren, die ihn an das kalte Land erinnerten, mit dem er seinen geliebten Posilipp und das »Paradies am Vesuv« vertauscht hatte. Er drückte das linke Auge zu, wie um ihnen seine Mißachtung auszudrücken, dann ließ er sie ziehen und ging in den Garten hinaus, der das Schloß umgab. Einige Spätrosen blühten noch am Wege. Er lächelte ihnen zu und suchte die schönste, um sie abzupflücken. Sehr behutsam trug er sie dann zwischen den braunen Fingern und wanderte langsam auf dem Kiesweg weiter, die lange, hagere Gestalt etwas vorgebeugt, die weiße Binde untadelhaft geknüpft, aber das graue Haar fiel ihm ungekürzt, wie in seinen »freien« neapolitanischen Zeiten, bis zur Binde herab. Notenhefte unter dem Arm, eines seiner alten Liedchen aus Neapel summend, bog er um die Ecke, wo er unter dem großen Lindenbaum, bei der Fernsicht, die Fürstin zu finden hoffte; sein leiser und wie immer distonierender Gesang brach aber plötzlich ab, als er statt ihrer den »Russen« dort sitzen sah. Der ihm verhaßte Mensch hatte sich unter der Linde auf der Bank gelagert und blies den Rauch seiner Cigarette in die Luft, auf dem Tische neben ihm standen eine halbgeleerte Weinflasche und ein gefülltes Glas. Die kleinen grauen Augen des Russen sahen in die Ferne, aber offenbar ohne das herüberleuchtende Gebirg oder die Wälder, die den Fluß umlagerten, oder sonst irgend etwas zu sehen; sie blickten schläfrig und kalt wie in den leeren Raum, ins Nichts, nur ein Anflug von gedankenlosem Lächeln spielte um die Lippen.

»Schönes Wetter heute!« sagte der alte Grabow, um etwas zu sagen.

Der Russe wendete langsam den Kopf. »Soll man auch noch dankbar sein,« murmelte er, »daß es nicht wieder regnet?«

Grabow drückte wieder das linke Auge zu. Nach einer Weile nahm er jedoch einen neuen Anlauf, denn seine Gutmütigkeit verbot ihm, sogleich ganz zu verstummen. »Aber wenn Sie gefälligst hinausschauen wollten, Herr Onegin,« fing er wieder an. »Sehen Sie, einen so schönen, so exorbi – exorbi – –«

Den Rest des Wortes konnte er nicht finden. Es war seine alte Schwäche, daß er sich wohlklingender und vornehmer Fremdwörter zu bedienen liebte, die ihn aber öfter, als billig war, im Stich ließen. Er wurde rot und brach sehr verlegen ab. Onegin wartete ruhig, ohne zu lächeln, aber mit kalter Ironie in dem farblosen Gesicht. Endlich sagte Grabow resigniert: »Einen so ausgesucht schönen Morgen, mein' ich, haben wir lange nicht gehabt.«

»Das ist eben die Gemeinheit der Natur,« antwortete der Russe. »So einen Morgen sollte sie uns täglich servieren, damit es der Mühe verlohnte, jeden Morgen wieder aufzustehen. Statt dessen wird uns zuweilen so einer ›ausgesucht‹, so ein ›schöner Morgen‹; und dann kommen die guten Narren, die Dankbaren, und staunen, wie wunderschön doch im allgemeinen die Welt ist. – Sancta simplicitas!« murmelte er, und nahm das Glas, um es langsam auszutrinken.

Von diesen ihm unbekannten Fremdwörtern angezogen, trat der Alte etwas näher. »Wie meinen Sie? Sancta – –?« fragte er schüchtern.

»Ich meine, daß Sie gewiß ein ausgezeichneter Mensch sind, der zu leben weiß, der sich mit Vergnügen die Butter vom Brot nehmen läßt – und was sonst noch dazu gehört. Ist die Post gekommen?«

»Noch nicht,« antwortete Grabow.

Onegin sah nach seiner Uhr. »Wieder verspätet,« sagte seine klare, kalte Stimme.

Der Alte zuckte gutmütig die Achseln. »Die Arbeit ist groß bei den vielen Fremden,« sagte er, um den Briefträger zu entschuldigen. »Allerdings sind die postalischen Verhältnisse in Aigen wohl noch etwas irregu – –«

Er suchte wieder hilflos den Schluß. »Sind noch nicht recht in Ordnung,« setzte er nach einer Weile hinzu.

»Wie die Natur ist, so sind auch die Menschen,« antwortete der Russe. »Aber Sie, Sie sind dankbar und zufrieden ...« Er warf den Rest seiner Cigarette fort und stand auf. »Ich gehe zum Fürsten,« sagte er, nach dem Schlosse deutend. »Da haben Sie mir richtig mit Ihrer ›Dankbarkeit‹ wieder den Morgen verdorben; ich danke Ihnen, Herr Grabow. Schmücken Sie sich mit Ihrer Rose und – –«

Er sprach nicht aus, sondern lächelte und setzte seine noch junge, kräftige, etwas zu sehr gedrungene Gestalt in Bewegung, nach dem Schlosse zu. Mit einem vernehmbaren Gähnen schlenderte er um die Ecke. »Sie können den Wein noch stehen lassen,« rief er zurück. »Ich komme wieder.«

Grabow sah ihm nach. »Hm!« brummte er endlich. »Wenn er statt dessen einmal sagte: ›Ich komme nicht wieder‹ – damit könnte er mir eine rechte Freude machen. – Aber die macht er mir nicht. – Wein am hellen Morgen. Und allein! – Es heißt zwar in dem italienischen Sprichwort: ›Wer allein trinkt, der stirbt allein.‹ Aber wenn man so eine Schlingpflanze ist, wie der Herr Onegin – und wenn der Baum, um den man sich schlingt, so geduldig ist ...« Resigniert schüttelte er den Kopf: »Der stirbt nicht allein!«

Vom Hause her kam seine ersehnte Fürstin Raffaela; die zarte, kleine, zierliche Gestalt leuchtete in einem hellen Morgenkleide zwischen den Bäumen auf. Jung und frisch kam sie wie der Tag; ihre Haut schimmerte in so warmem, lichtem Gelb, wie griechischer Marmor, aber eine leichte rosige Färbung überhauchte sie. Es lag aber auch ein gewisser Schleier träumerischer Müdigkeit auf den schönen Zügen, derselbe Schleier, den der Alte nun schon so oft gesehen und still beseufzt und verwünscht hatte. Die dunkelbraunen Augen waren aufgeschlagen, aber ohne den lebhaften Glanz, das Feuer, das sie früher ausstrahlten (»zu nordisch!« dachte Grabow); die Lippen, die Wangen, alles, was sonst an ihr so kindlich ruhelos gelebt hatte, war wie in einen traumhaften Frieden eingebettet; ihm kam es wie versteinert vor. Die Gestalt bewegte sich kaum, als sie so daherging: und doch gab es eigentlich nichts Beweglicheres. Sie bemerkte Grabow erst, als sie an den Tisch kam. Dann sah sie ihn mit dem freundlichen Lächeln an, dem sein altes Herz nie widerstehen konnte, und sagte mit ihrer hellen, weichen Stimme: »Guten Morgen, Alter!«

Er ging auf sie zu und küßte ihr die Hand. »Möchten Sie recht, recht wohl geruht haben, meine teure Fürstin! Und genehmigen Sie, wie gewöhnlich, diesen Morgengruß –«

Er überreichte ihr die Rose, die er für sie gepflückt hatte.

»Ich danke Ihnen,« sagte sie mit einem so herzlichen Lächeln, als sei sie durch diese Aufmerksamkeit freudig überrascht, und steckte sich die Rose an die Brust. »Sie vergessen aber schon wieder die Abrede. Wenigstens wenn wir allein sind, sollen Sie sich die ›Fürstin‹ abgewöhnen.«

»Also schönsten guten Morgen, Donna Raffaela!« verbesserte er sich. »Was für ein Wetter heute! Einen so schönen, so exorbi – –«

Es war eine Thorheit, daß er denselben Versuch zum zweitenmal machte, und sie rächte sich: er kam wieder nicht zu Ende. Die Fürstin wartete geduldig, mit einem kaum bemerkbaren, menschenfreundlichen Lächeln, bis er aus dem fremden Gebiet, auf das er sich begeben, den Fuß wieder zurückgezogen hatte und mit Entsagung fortfuhr: »Ein ausgezeichnet schöner Morgen, Donna Raffaela!«

»Ach ja!« erwiderte sie und setzte sich auf die Bank. »Heute friert mich nicht, Grabow. Heute wird mir hier endlich einmal neapolitanisch zu Mute; der Salzburger Regen hat sich abgeregnet –«

»Sehen Sie, das sag' ich!« fiel er ihr ins Wort. »Ein verfluchtes Klima; zu nordisch – aber heut, alle Achtung! Das ist schöne, warme, frische, gesunde Herbstluft; wie wenn man darin fliegen könnte; wie wenn man sich aufschwingen könnte und – und – –«

Sie lächelte wieder freundlich, da er das Bild nicht fand, das er suchte, und ganz umsonst mit den Schultern zuckte. »Sie haben nun einmal kein Glück mit den Vergleichen, armer Grabow,« sagte sie, ihre feinen Finger auf dem Schoß ineinanderfaltend. »Wenn Sie das lassen könnten!«

»Sie haben recht; na ja, sollt' es lieber lassen!« murmelte der Alte. »Es ist nur so ein Bedürfnis – wie wenn man – –«

»Schon gut,« unterbrach sie ihn. »Ist Fürstin Olga im Garten?«

»Noch nicht, Donna Raffaela. Hat gestern Abend, wie ihre Kammerjungfer mir gesagt, wieder lange aufgesessen, tief in die Nacht hinein; hat sehr viel Thee getrunken und sich mit den seligen Geistern schriftlich unterhalten.«

»Durch den Psychographen?« fragte Raffaela gleichgültig.

»Ja, und überhaupt. Die Geister haben ihr wieder allerlei geschrieben – das ich auch schreiben könnte, wenn man mich dazu invi – invi – – das ich ihr auch hätte schreiben können. Aber über diese ganze Geisterschreiberei der Frau Fürstin Schwiegermutter soll ich ja nichts sagen.«

»Nein,« erwiderte sie kurz. »Und mein Schwager?«

»Na, Fürst Alexander liegt wohl auch noch im Bette. Der ist noch nicht gar so lange drin; hat mit dem Herrn Onegin bis gegen Morgen geraucht und getrunken und über das Elend des Lebens philosophiert. Unsere Herren Pessimisten haben dann immer einen schweren Kopf, schlafen lange – wenigstens der Fürst –«

»Still,« sagte die Fürstin. Mit einem verstohlenen Seufzer blickte sie dann um sich her wie eine Gefangene, die durch ihr Gitter in die Welt hinausblickt, und entdeckte die Notenhefte, die der Alte unterdessen auf den Tisch gelegt hatte. Sie nahm sie in die Hand und blätterte darin. »Was sollen die Noten hier?« fragte sie etwas verwundert, doch ohne Interesse. »Die Mandolinata. › La vera Sorrentina.‹ Meine alten neapolitanischen Lieder. Warum bringen Sie die hierher?«

Etwas schüchtern versuchte Grabow zu lächeln. »Warum? – Na ja – wahrscheinlich zum Singen, Donna Raffaela ... Es ist nämlich merkwürdig,« fuhr er mit verhaltener Traurigkeit in der Stimme fort, »wie lange Sie nicht mehr gesungen haben; ganz und gar nicht mehr – –«

»Ich hab's verlernt,« sagte sie, indem sie die Augen schloß. »Ich kann nicht mehr singen.«

»Das ist nun doch – – Sie können nicht mehr?«

» No, no, no,« sagte sie vor sich hin. Der alte Grabow zog seine dünnen, grau angelaufenen Augenbrauen auf und nieder und schwieg. Da es so still war, blickte sie endlich wieder auf, nahm ein Notenheft auf den Schoß und wendete das erste Blatt. Mit einer fast kindlich hellen Singstimme fing sie leise an:

» La vedetti a Piedigrotta – –«

Hier brach sie schon wieder ab. »Das ist viel zu lustig,« sagte sie, und mit einer plötzlichen Bewegung der Kniee ließ sie das Heft auf die Erde fallen. Grabow hob es auf und wollte es ihr zurückgeben. Sie schob es zurück. »Gehen Sie mit Ihren Noten; nehmen Sie sie wieder mit!«

»Alle?« fragte er.

»Ja.«

»Hm! – Sie wollen nicht singen?«

»Nein, ich will nicht singen,« sagte sie leise, müde.

Grabow spielte wieder sein düsteres Spiel mit den Brauen und nickte vor sich hin: »Immer lesen – lesen! Immer diese dicken, gelehrten, tiefsinnigen Bücher, die Ihnen Fürst Alexander und der Herr Onegin geben und die Ihnen das Leben verleiden ... Ich bitte tausendmal um Exküse, daß ich mich da hineinmische; aber da Sie Ihren neuen Haushofmeister noch immer Ihren alten Freund nennen – –« Er versuchte es wieder mit einem schüchtern angeflogenen Lächeln: »Und ich war ja ›beinahe Ihre Amme‹', wie Sie sagen.«

Fürstin Raffaela gab ihm stumm ihre kleine Hand. Er küßte sie. »Sehen Sie! Sehen Sie doch!« sagte er dann und deutete zum Himmel hinauf.

»Was soll ich da sehen?«

»Die Sonne – und den blauen Himmel! – Wandern sollten Sie; auf die Berge steigen; bei dem schönen Wetter! Denn, erlauben Sie mir, Ihre Sanitätsverhältnisse sollten viel besser sein; in früheren Zeiten waren Sie wie Quecksilber, und jetzt schleichen Sie manchmal schon so feierlich, so majestätisch wie die Fürstin Schwiegermutter; bitte um Exküse! Und zu stubenbleich, Donna Raffaela – wenn auch in diesem Augenblick nicht – aber für gewöhnlich ... Und dann auch, was die Lustigkeit betrifft –«

Er zog eine kleine Photographie aus der Tasche. »Sehen Sie gefälligst!«

Sie blickte hin, ohne sich zu rühren. »Meine Photographie,« sagte sie erstaunt.

»Ja, Ihre Photographie – aus der Kinderzeit. Aus Neapel. Die hab' ich heute morgen lange observiert; in alten Erinnerungen ... Sehen Sie gefälligst die Rückseite; da können Sie noch lesen, was Sie mir damals schrieben – ganz deutsch, aber noch nicht ganz richtig: ›Diese meine Bild schenke ich an meine Vater Grabow; und will bleiben bis an mein Tod seine vergnügte, lustige Raffaela.‹ Na ja,« fuhr er fort, mit seiner Rührung kämpfend, »damals war es so! Da haben wir manchmal von Orangen gelebt, wenn Sie heimlich Ihre Mahlzeit an arme Kinder verschenkt hatten; und den Blumenkohl haben wir manchmal roh gegessen, weil er Ihnen so schmeckte: aber dann ward gesungen und gesprungen – und die Augen blitzten, und die Hände flogen herum, und die raschen Thränchen, wenn die Frau Mutter schalt, die trockneten so geschwinde wie ein paar Regentropfen in der Sonne! – Na, die Witwenthränen, die sind nun wohl auch getrocknet – bitte um Exküse – aber das lustige Lachen, so wie die kleine Raffaelina lachte, das kommt gar nicht wieder. Und die neapolitanische Gebärdensprache, die ich von Ihnen lernte – wenn Sie mir zum Beispiel sagen wollten: ›Grabow, das ist eine gute Sache!‹ und Sie machten so – –«

Er ahmte es etwas ungeschickt nach: mit der rechten Hand machte er an der Oberlippe eine ruckweise kurze Drehung, wie wenn er den Schnurrbart drehen wollte, doch dann innehielt. Die Fürstin, die ihm mit einem Blick von der Seite zusah, mußte lächeln.

»Ja, nun lächeln Sie ... Ach, wenn Sie es machten, das sah so putzlustig aus; das stand Ihnen so gut! – Das sieht man nun nie mehr. Alles, alles nicht mehr. Höchstens arri – – arriviert es Ihnen noch zuweilen, wenn Sie mutlos sind und etwas Gutes aufgeben, daß Sie so machen –«

Er hielt die Hand unter dem Kinn und warf sie so leicht und kurz, wie er konnte, vom Hals weg hinaus. Die Neapolitaner sagen durch diese Gebärde: »Damit ist es nichts.«

»Wie Sie mich beobachten!« sagte die Fürstin mit einem schwachen Lächeln.

»Ich hab' ja doch Augen im Kopf,« erwiderte Grabow traurig. »Sehen Sie, manchmal denk' ich – Gott verzeih' mir's – hätten Sie mich doch lieber als alten eingewurzelten deutschen Gärtner in Neapel gelassen, statt daß ich hier nun als großmächtiger Haushofmeister mit zusehen muß, wie Sie sich verändern ... Da Sie mir einmal so geduldig zuhören, meine allerbeste Donna Raffaela – nehmen Sie's mir nicht übel, gar so nordländisch ruhig sind Sie jetzt geworden. Das kommt von den tiefsinnigen, pessi – –«

Er stockte. – »mistischen,« sagte sie, ihm aushelfend.

»Ja, von diesen pessimistischen Büchern,« fuhr er fort; »und von dem Stillesitzen – und von der Einsamkeit. Sie leben hier ja wie eine alte Frau, eine halbe Meile draußen vor dem Nest, dem Salzburg – na, und die Herren, die zu uns herauskommen, die schüchtert ja der Fürst Alexander, der Herr Schwager, alle wieder fort – mit oder ohne Duell –«

Die Fürstin stand auf. »Grabow!« sagte sie streng, ihm das Wort verbietend. Er machte eine um Vergebung bittende Verbeugung und legte eine seiner faltigen Hände auf die Brust.

»Sie reden zu viel, versteh'n Sie,« setzte sie nach einer Weile ruhiger und milder hinzu. »Ueber Dinge, die – – Ich verstehe auch ohne so viele Worte alles, was Sie meinen. Ich sollte wandern, ausfliegen –«

Er nickte.

»Sollte Reisen machen –«

Er nickte noch eifriger.

»Mehr mit Menschen leben – in einer großen Stadt –«

Er nickte, und seine beiden Hände stimmten zu.

»Nun ja, ich bin Ihrer Meinung, und es soll auch werden; und nun lassen Sie's gut sein!«

Damit lehnte sie sich, leise seufzend, gegen die Bank zurück und schloß wieder die Augen.

»Sie ist meiner Meinung,« dachte Grabow. »Das nutzt nichts. Dann kommen wieder die anderen, die Russen, und dann hat sie wieder die Meinung der Russen!« – Der Alte konnte sich eines Seufzers nicht erwehren und murmelte ein unverständliches, ärgerliches » Mamma mia!« vor sich hin.

»Was stöhnen Sie noch?« fragte sie.

»Nehmen Sie mir's nicht übel, Donna Raffaela,« antwortete er, um sich Luft zu machen: »ich bin heute morgen so – – es geht heute mit mir durch! Ich hab' die Photographie da zu viel angeseh'n – und wenn ich dann an die – die russische Luft und die russischen Ideen denke, die Ihnen jetzt – –«

»Sie wollten ja schweigen, Grabow!« fiel sie ihm ins Wort. Sie gab ihm dann mit einer müden Bewegung die Photographie zurück: »Da haben Sie Ihre ›lustige Raffaela‹ wieder – und über die ›russischen Ideen‹ wollen wir nicht streiten. Vielleicht daß wir beide nicht viel davon verstehen; aber,« setzte sie sanft hinzu, »Sie gewiß nicht, das weiß ich!«

»Dann bin ich ja auch ganz still,« sagte er mit vollkommener Resignation.

Fürstin Olga kam vom Schlosse her, auf den Arm ihres Sohnes, des Fürsten Alexander, gestützt; Onegin folgte. Die Fürstin, eine stattliche Matrone von vornehmer Erscheinung, aber etwas gebeugt, war dunkel gekleidet wie immer; es lag eine doppelte Koketterie darin, wie die Welt ihr nachsagte: Koketterie mit ihren Toten – ihrem Gatten und dem älteren Sohn – und mit den Geistern, von denen ihr Mitteilungen aus dem dunklen Jenseits zu teil wurden. Unter der schwarzen Spitzenhaube, die ihr silbergraues Haar bedeckte, trat die auffallend wachsbleiche Farbe ihres Gesichtes um so mehr hervor; es war eine leichenhaft gelbliche Blässe, wie man sie zuweilen bei unverbesserlich leidenschaftlichen Hazardspielern sieht, die eigentlich nur noch in dieser Aufregung leben. Die an sich schönen, blaßblauen Augen der Fürstin waren etwas zu tief in ihre Höhlen gesunken und wie von Nachtwachen gerötet; auch lagen die Lider schwer und tief herab, so daß sie die Augensterne oft fast zur Hälfte verdeckten. Diese Eigentümlichkeit hatte Fürst Alexander geerbt; auch seine Augen waren selten ganz geöffnet, so daß ihr Blick noch müder erschien, als er war; nur der Affekt riß sie auf. Die zarte, wohlgebaute, aristokratisch feinknochige Gestalt des Fürsten war in ein elegantes Morgenkostüm völlig eingeschlossen, denn trotz der Sommerwärme dieses schönen Morgens hatte er sich bis zum Halse zugeknöpft. Er trug die eben gekommenen Briefe und Zeitungen in der Hand, die in duftendem Handschuh steckte, und legte sie auf den Tisch, nachdem er Raffaela begrüßt und ihr mit etwas feierlicher Devotion die Hand geküßt hatte.

»Ich komme als Sieger vom Schlachtfelde,« sagte er mit einem Anflug von Heiterkeit, »will sagen: vom Scheibenstand. Mit dem neuen amerikanischen Revolver hab' ich soeben, nach dem Frühstück, eine Wette gewonnen. Onegin, bestätigen Sie mir, daß ich zwölfmal hintereinander ins Schwarze getroffen habe!«

»Ich bestätige es,« sagte Onegin; »so wahr und so weiter.«

»Die einzige Kunst,« dachte Grabow, »die er wirklich kann!«

Mittlerweile hatte Fürstin Olga ihre Schwiegertochter, die wieder früh auf sei wie die Lerche (es war fast elf Uhr), auf die Stirn geküßt und sich in einen weichen Armsessel niedergelassen, den der Alte ihr hinschob. Nach einem flüchtigen, konventionellen Lächeln versank sie in tiefes Träumen, wie es ihre Gewohnheit war, wenn die nächtliche Unterhaltung mit den »Anderen« – den Geistern – in ihr nachwirkte. Es schienen diesmal traurige und beunruhigende Eindrücke zu sein; sie schüttelte zuweilen den Kopf, während sie vor sich hinblickte, und auf den Fürsten – den jüngeren und einzigen Sohn, den sie noch besaß – warf sie von Zeit zu Zeit einen halbverwirrt sorgenvollen Blick. Man ließ sie gewähren, wie immer. Fürst Alexander vertiefte sich in seine Briefe, die er öffnete; Onegin setzte sich rittlings auf einen Klappstuhl und sah wieder ins »Nichts«. Raffaela, der in dieser Gesellschaft plötzlich beklommen ward – das Gespräch mit dem alten Grabow lag ihr noch auf dem Herzen, schwerer, als sie sich zugestehen wollte – verspürte keine Lust, sich zu setzen, und ging langsam, doch mit einer inneren nervösen Unruhe, zwischen den nächsten Gebüschen auf und ab, während der Alte ihr wie ein kluger und anhänglicher Hund mit den Augen folgte.

»Dieser Brief ist an dich,« sagte Fürst Alexander zu seiner Mutter und reichte ihr ein Billet mit französischer Aufschrift und russischer Postmarke hin. Sie öffnete es mechanisch, ließ es dann aber bald mit einem melancholischen Ausdruck in ihrem wieder einschlafenden Gesicht in den Schoß fallen.

»Was gibt's?« fragte Raffaela, die eben umkehrte.

»Nichts Besonderes,« antwortete die Fürstin. »Es stimmt mich nur immer melancholisch, wenn ich lese, daß wieder jemand angefangen hat, auf dieser Erde zu leben ... Eine Geburtsanzeige; aus St. Petersburg.«

Der Fürst schob ihr noch einen Brief zu, den er gelesen hatte: »Da ist etwas anderes.«

Die Alte blickte hinein. »Aus Rom,« murmelte sie – »nun, was denn?« – Ihre Züge wurden etwas freier, eine Art von nachdenklicher, feierlicher Heiterkeit kam über sie, als sie weiterlas. »Hm!« sagte sie endlich. »Ein Entlassener.«

»Ein Gestorbener, meinst du,« fragte Raffaela.

»Ja.«

»Urussow,« setzte der Fürst hinzu.

Onegin horchte auf. »Urussow? Dem gratuliere ich, daß er die Fatigue los ist. Das war ein vernünftiger Mensch, ein guter Kopf.«

Der alte Grabow konnte sich nicht enthalten, zum Himmel hinaufzublicken und die Brauen zu schütteln. Dann sah er den »Russen« mit eingekniffenem linken Auge von der Seite an; »dir würd' ich auch gerne gratulieren,« dachte er ... Im Begriff, nach dem Schlosse zurückzugehen, kam er an der Fürstin Raffaela vorüber, die in einem Gebüsch an den Blättern zupfte. »Nun,« flüsterte er, »Sie werden also heute einen Ausflug machen?«

»Die Lust ist mir schon beinahe vergangen, Grabow,« antwortete sie leise. »Aber nein. Ich will. Gehen Sie nur.«

Grabow rollte die Noten, die er in der Hand hielt, vor Unmut zusammen und ging.

Raffaela riß noch einige Blätter ab und steckte sie zwischen die Zähne; dann kam sie, plötzlich umkehrend, zu den anderen zurück. »Heute könnten wir ... Heute wäre nun endlich das rechte Septemberwetter,« sagte sie mit einem etwas schüchternen Anlauf. »Wir sollten diesen Tag irgendwo in den Bergen zubringen.«

Die alte Fürstin hob erstaunt ihre geröteten Lider und starrte ihr ins Gesicht. Dann blickte sie fragend zu ihrem Sohn hinüber.

»In den Bergen?« murmelte der Fürst und warf einen fragenden Blick auf Onegin.

Dieser lächelte. »In den Bergen?« wiederholte er. »Warum? Wir sehen sie ja von hier.«

»Wir könnten ihnen aber noch etwas näher kommen –«

»Verzeihen Sie, Fürstin,« sagte Onegin, seine klugen grauen Augen ruhig auf sie heftend; »erlauben Sie mir zu fragen: Warum? – Berge ... Einer Frau von Geist braucht man doch nicht zu sagen –«

»Herr Onegin hat recht!« fiel Fürstin Olga ein.

»Braucht man nicht zu sagen,« fuhr Onegin fort, »daß die sogenannte Natur sich ewig wiederholt; wenn man diese alte Dame einmal kennt, nun, dann ist es gut!« – Er lächelte. »Alle diese berühmten Berge und Thäler entstehen auf dieselbe Weise; die Erdrinde teilt sich, verschiebt sich, die Oberfläche wird Krume, endlich wächst Gras darauf – und dann kommen die Schafe und Ochsen, um es abzufressen, und die Engländer und Deutschen, um es zu bewundern.«

Fürst Alexander lachte. »Onegin hat recht. Lassen wir endlich die einfältige Natur: mit der sind wir fertig.«

»Nun ja, nun ja,« sagte Raffaela ungeduldig, doch schon halb entmutigt. »Aber mein Gott, wenn wir ›mit ihr fertig sind‹, wozu sind wir dann hier? Warum leben wir dann so still zwischen Berg und Thal und nicht wenigstens unter den Menschen, in der großen Welt? In Paris, Wien, Rom –«

Fürst Alexander hob eine Hand, wie um diese Gedanken von sich abzuwehren. »Meine teure Schwägerin,« rief er fast lebhaft aus, »in Paris, Wien, Rom – um da wieder zu finden, was wir alle wissen: daß die Menschen überall kleine Geschöpfe sind, die ihren kleinen Hokuspokus treiben und nicht wissen, warum? die sich um das ewige Nichts ewige Mühe geben – in ihren großen Ameisenhaufen, die man lieber einmal zertreten sollte, weil ja doch nichts darin vorgeht!« – Er blickte, wie Zustimmung suchend, auf Onegin; dieser nickte ihm zu. Mit überlegenem Lächeln fuhr Fürst Alexander fort: »Nein, wir sind da glücklich heraus; um Gottes willen, nur nicht wieder hinein! Wenn man einmal begriffen hat, wie Onegin und ich, daß es eine ganz verrottete Existenz ist, welche die Menschen führen; wenn man mit dem großen, einzigen Arthur Schopenhauer eingesehen hat, daß die ganze Gegenwart im unseligsten Unsinn lebt, daß die vielgerühmte Menschheit im gründlichsten Verfall steckt, daß ihr nur durch eine vollständige Erneuerung zu helfen wäre – so freut man sich wenigstens, weit davon zu sein, nicht mit in dem Sumpf zu stecken – heiße nun dieser Sumpf Paris, Wien oder Rom!«

»Alexander hat recht!« sagte Fürstin Olga, mit fast geschlossenen Augen in seiner Beredsamkeit schwelgend.

»Ich weiß, ich weiß, viele geben euch recht,« erwiderte Raffaela kleinlaut. »Große berühmte Männer in Deutschland sagen ja dasselbe ... Aber so thut doch etwas, geht hin und helft, diesen Sumpf zu verbessern –«

»Auszukehren!« rief Fürst Alexander.

»Nun ja!«

»Von Grund aus –«

»Wie du willst!«

»Da gibt es nur einen Weg –«

»Ich weiß, ich weiß!« unterbrach sie ihn. – Die Philosophie deines Schopenhauer –«

»Ja, das ist der Weg,« sagte der Fürst mit tiefer Ueberzeugung; »aber dieses verflachte, verrottete, eingebildete Jahrhundert will ihn ja nicht gehen! Die erhabene Lehre Arthur Schopenhauers, durch die dieses Jahrhundert vernichtet, zermalmt wird; vor der sich die bestehende Welt in ihre ganze nackte Erbärmlichkeit auflöst –«

»Mag sein, mag sein,« seufzte Raffaela.

»Diese einzig wahre, abgrundtiefe Lehre, die uns überführt, daß der Wille zum Leben, die Freude am Leben eine schwächliche und unvernünftige Empfindung ist, weil sie die große Tragödie des Daseins nicht versteht, weil sie das Weltelend durch ihre miserable Zähigkeit verewigt, statt durch eine heroische und allgemeine Verneinung des Willens zum Leben die allgemeine Erlösung herbeizuführen – diese Lehre muß so lange gepredigt und verbreitet werden, bis ihr von diesen zweibeinigen Ameisen keine mehr widersteht! Sie muß in alle Schichten der Gesellschaft dringen, sie muß zur einzigen und alleinigen Grundlage unserer ganzen Kultur werden: dann ist eine Erneuerung des Weltganzen, eine Zukunft möglich, sonst nicht!«

»Mag sein, mag sein,« sagte Raffaela, ganz und gar entmutigt. »Ich verstehe zwar nicht, was für eine Zukunft dann noch übrig bleibt, wenn keiner mehr leben will ... Aber er und ihr mögt es besser wissen; ich gebe alles zu, ich widerspreche ja nicht. Obgleich ich übrigens gelesen habe, daß die Naturwissenschaft mit ihren neuesten Fortschritten den toten Schopenhauer in einigen Punkten überholt hat –«

»Die Naturwissenschaft hat gar nicht das Recht, ihn zu überholen!« rief der Fürst in seinem Eifer aus. »Wenn ein so großer Mann die Dinge festgestellt hat, so hat die triviale Naturwissenschaft dabei stehen zu bleiben; das ist ihre Aufgabe und ist ihre Pflicht!«

»Gut, ich will es ihr ausrichten,« erwiderte Fürstin Raffaela mit einem halben Lächeln. Die beiden Arme waren an ihr niedergesunken, die zarte kleine Gestalt stand mit wehrloser Ergebung in ihr Schicksal und in das »Weltelend« da. »Also – – also weder in die Berge, noch in die große Stadt!« seufzte sie nach einer Weile hervor. »Da werdet ihr also auch nicht reisen wollen – wenn sich überall alles wiederholt –«

Die Fürstin Olga stand auf und schüttelte den Kopf. Sie legte einen Finger auf den Mund, während sie Raffaela mit geheimnisvollem Ausdruck ansah, und kam auf sie zu. Ihren Arm nehmend, zog sie sie beiseite. »Ich bitte dich, liebes Kind,« flüsterte sie, »sprich mir nicht von Reisen. Wecke in meinem Alexander keine Reiselust.«

»Warum nicht?« fragte Raffaela.

»Still, nicht so laut! Diese Materialisten da glauben an nichts, sie lächeln über mich alte Frau und meine Beziehungen zu den anderen ...« Die Fürstin deutete mit dem Finger über die Schulter hinter sich, als stünden dort die »anderen«, die sie meinte. »Aber du verstehst mich, du bist eine Frau! – Ich hatte eine traurige Nacht, liebe Raffaela. Sie haben mir geschrieben, daß meinen Alexander, meinen Einzigen, eine Gefahr bedroht, daß sie ihn auf einer Reise bedroht ... Sage nichts von Reisen! – Was bin ich, meine Beste, wenn ich alte Niobe auch diesen letzten noch verliere –«

»Aber, mein Gott, er ist ja gesund,« fiel ihr Raffaela ins Wort.

»Aber ich bin gewarnt, mein Kind; und du begreifst, das verfolgt mich ... Ich hab' es auf dem Papier, was sie mir heute nacht angekündigt haben; so mysteriös es ist, ist es doch verständlich. Dir will ich es zeigen; diesen Männern nicht! Komm, da hinten im Pavillon will ich es dir zeigen; auf dem Lieblingsplatz deines guten Mannes, meines armen Iwan –«

Sie hielt ihr wächsernes, geisterhaftes Gesicht ganz nahe an das der schönen jungen Frau und flüsterte noch leiser: »Von ihm kommt mir die Warnung! – Ich weiß es! – Sage nichts, mein gutes, gutes Täubchen, und komm! – –« Ihre Hand zitterte leise, als sie, in ihre geheimnisvollen Muttersorgen verloren, den Arm und das Gesicht Raffaelas leise streichelte. Die gutherzige Raffaela gehorchte und führte sie ohne Widerstreben.

»Also nicht in die Berge,« dachte sie, indem sie einen traurig resignierten Blick auf die besonnte Ferne des Gebirges zurückwarf. »Also still so weiter!«

»Auf Wiedersehen bei Tisch!« rief sie den Männern zu, während sie langsam mit der Alten fortging.

*


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