Christoph Martin Wieland
Peregrinus Proteus
Christoph Martin Wieland

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Bey dieser Bewandtniß der Sachen läßt sich zwar mit vieler Wahrscheinlichkeit vermuthen, daß die Anzahl der echten Christianer schon zu meiner Zeit ziemlich gering, und vielleicht bloß auf einzelne Familien oder kleine Gemeinen von derjenigen Art, wie ich auf meiner Wanderschaft nach Pitane eine kennen gelernt hatte, eingeschränkt war. Aber desto ansehnlicher mußte hingegen die Zahl derjenigen werden, die den Nahmen der Christianer führten, und, wiewohl sie in einigen Glaubenspunkten übereinstimmten, dennoch sowohl in ihrer Vorstellungsart überhaupt, als in besondern Lehrmeinungen und religiösen Gebräuchen und Übungen, weit genug von einander abgingen, daß die Streitigkeiten, die darüber unter den Lehrern entstanden, unvermerkt den Geist der Liebe und Eintracht ersticken mußten, der aus allen Gemeinen einen einzigen Leib, dessen Seele Christus wäre, hätte machen sollen.

Und eben diese Spaltung der damahligen Christianer in etliche Hauptparteyen, die zum Theil wieder in mehrere kleinere Sekten zerfielen, – eine Spaltung, welche um die nehmliche Zeit, da ihre Anzahl, während der ihnen von Hadrian und den beiden Antoninen gegönnten Ruhe, außerordentlich gewachsen war, dem Orden selbst einen baldigen Untergang zu drohen schien – eben dieß war es, was meinen Unbekannten (einen Mann, der sich zu schweren Unternehmungen geboren fühlte) auf den großen Gedanken brachte, einen geheimen Orden zu stiften, durch welchen er nach und nach allen Asiatischen und morgenländischen Gemeinen die zu ihrer Konsistenz und Dauer nöthige Gleichförmigkeit geben, und aus dessen Mittelpunkt er selbst, als unsichtbares Oberhaupt des Ganzen, die große Unternehmung, – eine neue, alles umfassende und beherrschende Theokratie auf den Trümmern aller alten Religionen und Staatsverfassungen aufzuführen – wo nicht zu Stande zu bringen, wenigstens so fest zu gründen hoffte, daß er die gänzliche Vollendung seines Werkes der Zeit getrost überlassen könnte.

Doch ich merke, daß ich meiner Geschichte schon wieder zuvorlaufe, und dir ein großes Theil mehr von dem Geheimnisse des Unbekannten verrathe, als ich in der Epoke, von welcher jetzt die Rede ist, selbst davon wissen konnte.

Es war nun, seitdem ich von Hegesias den ersten Grad der Weihe erhalten hatte, über ein Jahr verflossen; wir hatten uns in dieser Zeit mehr als Einmahl an verschiedenen Orten gesehen, und ich hatte schon so viele Proben meiner eifrigen Anhänglichkeit an die gute Sache, und meines grenzenlosen Gehorsams gegen die Winke meiner Obern, die ich als unmittelbare Organe des großen Logos betrachtete, abgelegt, daß ich endlich von Kerinthus (so nannte sich, wie ich nun erfuhr, mein Unbekannter) einer zweyten Zusammenkunft, und bald darauf der feierlichen Einführung in eine der Gemeinen, die unter seiner Leitung standen, gewürdiget wurde.

Ich empfing bey dieser Gelegenheit den zweyten Grad der Weihe, wobey der hochwürdigste Kerinthus selbst das Amt des Mystagogen verwaltete, und wo alles, was ich sah und hörte, meine Seele mit nie empfundnen Gefühlen durchdrang. In der That verdiente das, was bey dieser Gelegenheit nicht sowohl außer mir (denn dieß war sehr einfach) als in mir selbst vorging, – so natürlich ich es mir auch jetzt erklären kann – den Nahmen unaussprechlicher Dinge (Aporrheta) in einem ganz andern Sinne, als jene Aufschlüsse, die den Epopten der Eleusinischen Mysterien zu Theil wurden, und ich enthalte mich deßwegen mehr davon zu sagen; denn man müßte schlechterdings in dem Falle gewesen seyn das nehmliche erfahren zu haben, um sich einen Begriff davon machen zu können.

Lucian. Ich überhebe dich dessen sehr gern, Freund Peregrin. So wie ich dich selbst nun kenne, und nach allem, was du mir von dem Unbekannten, von dem Geiste der Brüdergemeinen, von ihren Versammlungen, von der hohen Meinung, die sie von der Würde, den Vorrechten und den Erwartungen ihres Ordens hegten, und überhaupt von allem, was seit deinem zweyten Aufenthalt in Smyrna mit dir vorgegangen war, bereits entdeckt hast, kann ich mir, auch ohne eigene Erfahrungen dieser Art und ohne alle Anlage dazu, ziemlich lebhaft vorstellen, wie dir bey der feierlichen Einführung in die Brüderschaft der Kinder des Lichts zu Muthe seyn mußte.

Peregrin. Immer bleibt, zwischen deiner Vorstellung, mein lieber Lucian, und dem was damahls in meiner Seele gegenwärtiges Gefühl und Anschauen war, der Unterschied, wie zwischen einem gemahlten Feuer und einem wirklichen; ein Unterschied, den ich hier bloß deswegen geltend mache, damit du den brennenden Eifer desto begreiflicher findest, womit ich von diesem Augenblick an in alle Plane des Unbekannten einging. Dieser schien mit dem Grade der Hitze, zu welchem er die drey großen Beweger des menschlichen Gemüthes, Glauben, Liebe und Hoffnung, bereits in mir gestiegen sah, so wohl zufrieden, daß er in den ersten Tagen nach meiner Aufnahme zwischen mir und seinen Vertrautesten keinen Unterschied zu machen schien. Aber unvermerkt hüllte er sich wieder in das geheimnißvolle Dunkel ein, worin er sich mir beym Anfang unsrer Bekanntschaft gezeigt hatte; und da ich schon ins Innere des Heiligthums eingegangen zu seyn vermeinte, erfuhr ich, daß ich erst im zweyten Vorhofe sey, und daß es noch längere und stärkere Prüfungen und Vorbereitungen erfordere, eh' es ihm erlaubt sey, die Decke gänzlich von meinen Augen wegzuziehen, und mich zum vollen Anschauen des Lichtes, dessen Glanz ich noch nicht ertragen würde, zuzulassen.

Diese Eröffnung konnte die Wirkung nicht verfehlen, die er vermuthlich dadurch auf mich zu machen hoffte. Anstatt mich abzuschrecken, spannte sie zugleich mit den Erwartungen, wozu sie mich berechtigte, alle Springfedern meines Wesens, alles zu unternehmen und alles zu erdulden, was ich nur immer zu thun oder zu leiden haben könnte, um jene hohe Stufe zu ersteigen, die nun das Ziel aller meiner Wünsche war. Indessen ließ sich Kerinthus in keine nähere Erklärung über die Vorbereitungen und Prüfungen ein, die ich noch zu überstehen hatte. Er ermahnte mich bloß, wie er schon bey unsrer ersten Zusammenkunft zu thun angefangen hatte, in Reinigung meines Gemüthes und Ertödtung aller sinnlichen Neigungen und eigennützigen Leidenschaften unverdrossen und unerbittlich gegen mich selbst zu seyn, und dieses Selbst als den gefährlichsten, schlauesten und hartnäckigsten unter allen Feinden zu betrachten, die ich als ein Streiter im Reiche des Lichts zu bekämpfen hätte. Er gab mir zu verstehen, daß die unerschütterlichste Entschlossenheit, sich der Sache Gottes gänzlich aufzuopfern, der einzige Weg sey, der zu jener hohen Vollkommenheit führe, die er mir in der Brüderversammlung zu Pergamus von fern und wie in der ersten Dämmerung des anbrechenden Tages gezeigt habe. Ich sehe dein Herz für sie entbrannt, setzte er hinzu; aber Sehnsucht und klopfendes Verlangen ist noch nicht dieser felsenfeste Wille selbst, den keine Gefahr abschrecken, keine reitzende Verführung bestricken, keine Arbeit ermüden, keine Aufopferung in Verlegenheit setzen kann. Dieser Wille ist nicht das Werk weniger Tage oder Wochen; er wird bloß durch die Abtödtung jeder andern Neigung, jedes andern Willens in uns geboren, und er ist nicht eher wirklich da, bis er unser Selbst ganz in sich verschlungen hat. – Er gab mir hierauf verschiedene besondere Anweisungen und Verhaltungsregeln, die Mittel betreffend, wodurch ich, desto eher, je eifriger ich in ihrem Gebrauch seyn würde, zum gänzlichen Durchbruch durch die Scheidewand, die noch zwischen mir und dieser Vollkommenheit stehe, gelangen könne. Denn, wiewohl er mir den Weg nichts weniger als leicht machte, so ließ er mich doch deutlich genug merken, daß die Zeit, in welcher ich ihn zurücklegen könne, größten Theils von mir selbst abhange.

Fünf oder sechs Tage nach meiner Aufnahme in die Gemeine der Heiligen riefen den Vorsteher seine Verrichtungen anderswohin, und mich die meinigen nach Parium zurück. Die Art, wie er sich von mir trennte, ließ auch dießmahl einen tiefen Stachel in meinem Herzen zurück. Ich scheide nicht von dir, mein Bruder, (sagte er zu mir, indem er mir die Hand mit Wärme drückte) denn ich werde dir im Geiste immer nahe bleiben, und ein unsichtbarer Zeuge der Treue seyn, mit welcher du das empfangne Kleinod bewahren wirst. Mit diesen Worten, die aus seinem Munde etwas unbeschreiblich eindringendes und magisches hatten, gab er mir den Bruderkuß, der eines der Zeichen ist, woran die Christianer einander erkennen, und war aus meinen Augen verschwunden, ehe ich vermögend war, meinem von Empfindung geschwellten Herzen durch Worte Luft zu machen.

Kerinthus ließ mich in einer Stimmung, die mich geneigter und geschickter machte, unter die Anachoreten der Thebaischen Wüste zu gehen, als nach Parium in das Getümmel des beschäftigten Lebens, und zu Menschen, deren Umgang mir mit jedem Tage peinlicher ward, zurückzukehren: aber Hegesias, der sich beynahe eben so viel Gewalt über mein Gemüth erworben hatte als der Profet selbst, und dem ich etwas von dieser Abgeneigtheit merken ließ, brachte mich bald wieder auf andere Gedanken. Er wiederhohlte die Vorstellungen, die er mir schon ehemahls deßwegen gemacht hatte, mit verdoppelter Stärke, und bestand schlechterdings darauf, daß das Beharren in meinem bisherigen Wirkungskreise die größte Probe von Selbstverläugnung sey, welche dermahlen von mir gefordert werde. So gönne mir, rief ich endlich mit einer Wärme die ihn sehr kalt zu lassen schien, so gönne mir wenigstens den einzigen Gedanken, der mir diese weltlichen, den Geist belastenden Sorgen, wozu du mich verurtheilest, erträglich machen kann! Die Natur bedarf wenig, und selbst in dem Wenigen, worauf ich mich einschränke, ist noch so viel Nahrung für den alten Menschen, daß ich täglich darauf bedacht bin, mich noch von etwas entbehrlichem frey zu machen. Erlaube mir also, von diesem Augenblick an die Gemeine als den Eigenthümer und Herren meines ganzen Vermögens, und mich als den bloßen Verwalter desselben, der ihr für jeden Obolen Rechnung abzulegen hat, anzusehen. Unter dieser Bedingung will ich nicht nur mit Geduld, sondern mit Vergnügen, so lange es von mir gefordert wird, an dieser Ruderbank angeschmiedet bleiben.

Lucian. Darüber wird der arme Hegesias gewaltig erschrocken seyn!

Peregrin. In der That bekam ich in der Folge alle Ursache zu glauben, daß ihm meine Freygebigkeit, im Nahmen der Brüderkasse, deren oberster Verwalter er war, nicht sehr unangenehm seyn mochte. Aber wenigstens ließ er sich nichts davon merken. Er dankte mir für meinen guten Willen so kaltsinnig, als ob die Rede von funfzig Drachmen und nicht von mehr als zwey hundert Talenten gewesen wäre; aber zugleich warnte er mich mit brüderlichem Ernste, wohl auf meiner Hut zu seyn, daß nicht etwa ein geheimer Stolz oder irgend eine andere unlautere Absicht unbemerkt bey dieser wohlgemeinten Darbringung meiner zeitlichen Güter im Hinterhalt laure. Mein Bruder, sprach er zu mir, wir gehören mit allem was wir sind und haben dem Herren an; denn was haben wir, das wir nicht empfangen hätten? oder was können wir unser nennen, das nicht sein wäre? Wir alle sind, in jeder Betrachtung, nichts andres als Verwalter über einen kleinern oder größern Theil seiner Haushaltung. Er wird, wenn seine Zeit kommt, das Seinige schon von uns zu fordern wissen; und wehe uns, wenn er uns nicht alle Augenblicke bereit fände, ihm Alles bis auf den letzten Häller zurück zu geben!

Lucian. Wie schmeckte das, Freund Peregrin?

Peregrin. Ich gestehe, es fiel mir einen Augenblick auf die Brust, daß so gar nichts freywilliges und verdienstliches bey meinem Opfer seyn sollte: aber ich unterdrückte diese kleine Empörung meines Herzens auf der Stelle, als die Eingebung eines bösen Dämons, und fand in der Rede des Hegesias nichts als die einfacheste und unwidersprechlichste Wahrheit. Denn so weit war ich noch nicht gekommen, – oder vielmehr, wie wäre es in meiner damahligen Gemüthsverfassung möglich gewesen, – den Taschenspielerstreich zu argwöhnen, mit welchem diese subtilen Heiligen so behend, daß es keine arglose Seele wahrnehmen konnte, sich selbst an die Stelle des Herren zu schieben, und die Einfältigen zu bereden wußten, was man ihnen gebe, sey bloß eine alte Schuld, die man Ihm zurück bezahle?

Lucian. Ich fürchte sehr, mein guter Peregrin, daß es mit der ganzen überstrengen und sogar über die stoische Spitzfindigkeit hinaus getriebenen Moral, mit der sich diese Schlauköpfe so viel wußten, bloß auf Maskierung der Kunst, die Gemüther der Menschen zu beherrschen und über ihre Kasse zu schalten, abgesehen war.

Peregrin. Bey ihm, dessen ehrwürdigen Nahmen sie trugen, und bey seinen ersten redlichen Anhängern gewiß nicht! Ihm war es in ganzem Ernst darum zu thun, die Menschen durch die Eigenschaften, die uns die Kindheit so liebenswürdig machen, durch Einfalt, Unschuld, reine Güte des Herzens und unbesorgtes Vertrauen auf den Vater im Himmel, zu der höchsten moralischen Vollkommenheit, und dadurch zu der reinsten Eudämonie, deren die Menschheit jenseits des Grabes fähig ist, zu führen. Dahin brachte er alle, die sich mit einfältigem Sinne seiner Führung überließen; und lebendige Beyspiele davon hatte ich auf dem Meierhofe zwischen Pergamus und Pitane gesehen. Aber es erfolgte, was vermöge der Natur der Sache erfolgen mußte, und was keine menschliche noch göttliche Macht verhindern konnte. Die Christianer arteten schon nach Annehmung dieses Nahmens aus; sie verfielen nach und nach in alle Arten von Schwärmerey, standen allen Verführern, welche den Geist ihres Meisters zu heucheln und die Stimme des guten Hirten nachzuäffen wußten, bloß; und so wurden jene hohen Gesinnungen und zarten Gefühle (die, so zu sagen, die angeborne Moral der schönsten Seelen ausmachen) von arglistigen Menschen zu subtilen Netzen verwebt, worin sie immer die gutherzigsten und arglosesten Gemüther am ersten zu fangen gewiß waren.

Aber, wie gesagt, um diese Zeit hatte ich noch nicht die mindeste Ahnung davon, daß ich einst Ursache finden würde, so nachtheilig von diesen heiligen Menschen zu denken, von welchen nun Bruder genannt zu werden der höchste Stolz meines Herzens war. Ich nahm alles was sie mir sagten in dem reinsten und wörtlichsten Sinne; und, da ich mich von nun an als einen bloßen Geschäftsträger der Gemeine betrachtete, so gewannen die Geschäfte selbst eine ganz andere Wichtigkeit in meinen Augen als sie vorher hatten. Sie schienen mir nun durch diese Bestimmung zu einer Art von Gottesdienst erhoben, und ich arbeitete, von Hegesias und andern unter seiner Leitung stehenden Brüdern fleißig unterstützt, um so eifriger an Vermehrung meines künftigen Erbgutes, da es – in der Sprache unsers Ordens zu reden – gänzlich zum Bau des Reichs Gottes verwendet werden sollte.


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