Christoph Martin Wieland
Peregrinus Proteus
Christoph Martin Wieland

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Fünfter Abschnitt.

Peregrin. Da ich zu Pergamus nichts weiter zu erwarten hatte, machte ich auf der Stelle Anstalt nach Pitane abzugehen, um von da nach Mitylene überzusetzen. Man sagte mir, daß ich einen großen Wald zu durchwandern hätte, worin man sich ohne Wegweiser leicht verirren könne; und indem ich meinen Wirth darüber zu Rathe zog, bot sich ein Landmann von freyen Stücken an, dem, seiner Versicherung nach, die ganze Gegend sehr bekannt war. Er müßte, sagte er, ohnehin durch diesen Wald, um in seine jenseits desselben liegende Heimath zurückzukehren, und der Weg würde ihm desto kürzer scheinen, wenn er ihn in meiner Gesellschaft zurücklegen könnte. Es war etwas in der Fysionomie dieses Mannes, das mir Vertrauen einflößte. Ich trug also, zumahl da mein alter Diener bey mir war, kein Bedenken sein Erbieten anzunehmen, und wir gingen früh genug ab, um noch vor Sonnen-Untergang die Gefahr des Verirrens überstanden zu haben.

Aber es fiel anders aus als mein Mann geglaubt hatte. Die Sonne ging unter, und wir sahen noch keinen Ausgang aus dem Labyrinthe; vielmehr schienen wir uns immer mehr darin zu verfangen, wiewohl mein Führer versicherte, daß wir auf dem rechten Wege wären. Da ich kein Mißtrauen in einen Menschen setzen konnte, der seiner Sache so gewiß war und ein so sprechendes Zeugniß seiner Redlichkeit in seinem Gesichte trug, so beruhigte ich mich dabey, und folgte meinem fast immer stillschweigenden Führer so lange, bis er endlich selbst zu gestehen anfing, daß er den Weg nach Pitane verfehlt habe. Er schien nicht zu begreifen, wie es zugegangen sey. Da muß, sprach er, eine höhere Hand im Spiele seyn. – Glaubst du etwa, daß uns ein Waldgeist irre geführt habe? sagte ich lachend. – Das wäre nicht unmöglich, antwortete er ganz gelassen: es giebt überall böse Geister. – Und du fürchtest sie nicht? fragte ich. – Gewiß nicht, versetzte er: sie müssen doch immer, wie leid es ihnen auch thut, durch das Böse, das sie wollen, das Gute befördern, das sie nicht wollen.

Ich hätte dem Manne bey diesen Worten gern ins Gesicht sehen mögen, wenn es nicht zu dunkel gewesen wäre. – Es wäre mit Dank anzunehmen, sagte ich, wenn uns dein Waldgeist, indem er uns in irgend einen Sumpf oder an einen jähen Abgrund zu verführen gedachte, unversehens zu einem guten Nachtlager gebracht hätte. – Das soll er auch, hoffe ich, erwiederte er; ich sehe schon Licht zwischen jenen Bäumen. – Es ist vielleicht ein Irrwisch, wenn es nicht der Mond ist, versetzte ich. – Er schwieg: aber bald darauf wurde der Wald offner, der Mond gab uns etwas Licht, und es zeigte sich wieder ein Weg, den mein Führer zu erkennen versicherte. Wir waren kaum eine Viertelstunde fortgegangen, so fanden wir ein langes angebautes Thal vor uns liegen, und entdeckten zwischen Gruppen von Bäumen einige Wohnungen. Sagte ichs nicht? sprach der Wegweiser, mit der Hand nach den Wohnungen deutend. – »Aber die Frage ist, ob man uns aufnehmen wird.« – Was wir hier sehen, ist ein kleines Landgut, erwiederte er, dessen Besitzer mir bekannt ist. Er ist ein guter Mann; er wird uns das Nachtlager nicht versagen.

Wir eilten, so ermüdet wir waren, den Hügel hinab, und sahen uns bald zwischen einigen Reihen hoher Kastanienbäume, die uns gerade zu einem sehr einfachen aber geräumigen Gebäude führten, welches die Wohnung des Landwirthes schien, dem dieses Gut zugehörte. Wie wir näher kamen, tönte uns aus der Stille der Nacht ein äußerst anmuthiger Gesang verschiedener männlicher und weiblicher Stimmen entgegen, deren gut zusammen passende Verschiedenheit, bey einer überaus reinen Intonazion, die angenehmste Harmonie hervorbrachte. Ich glaubte einen Korgesang jener himmlischen Wesen zu hören, deren wieder hergestellte Gemeinschaft mit uns, nach der Versicherung meines Unbekannten, eine der Glückseligkeiten des bevorstehenden Reichs Gottes seyn sollte. Meinem Führer schien das eine gewohnte Sache zu seyn, und ich fing an zu vermuthen, daß seine Verirrung im Walde weder ein Werk des Zufalls noch der Wald-Dämonen, sondern vorsetzlich abgezielt gewesen sey, mich hierher zu bringen.

Lucian. Dieß ist, dünkt mich, klar genug, und ich vermuthete es lange vor dir, lieber Peregrin.

Peregrin. Wir hörten dem Gesang eine gute Weile stillschweigend zu; und als er aufhörte, klopfte mein Führer dreymahl an der Pforte des Vorhofs an. Nicht lange, so hörten wir jemand aus dem Hause an die Pforte kommen, der uns fragte, was unser Begehren sey? Mein Führer antwortete ihm etwas auf Syrisch, das ich damahls nicht verstand, und setzte auf Griechisch hinzu: er hätte ein paar Fremde, die nach Pitane wollten, durch den Wald geleitet; wir wären verirrt, und hofften keine Fehlbitte zu thun, wenn wir an dieser Pforte um ein Nachtlager bäten.

Er hatte die letzten Worte noch nicht ausgesprochen, so ging die Thür auf, und wir sahen einen rüstigen Mann von funfzig Jahren, der uns, einen nach dem andern, bey der Hand nahm und in seinem Hause willkommen hieß. Einer seiner Söhne leuchtete uns, und wir wurden in einen kleinen Sahl geführt, wo sich in kurzem noch fünf oder sechs andere wackere Jünglinge einfanden, die als Söhne vom Hause sich geschäftig erwiesen, uns zu zeigen daß wir freundlich aufgenommen wären. Bald darauf brachten sechs Mädchen von dreyzehn bis zwanzig Jahren, die Schwestern dieser Jünglinge, alles was vonnöthen war, uns die Füße zu waschen. Sie waren alle eben so reinlich als einfach gekleidet, und zeichneten sich von allen weiblichen Wesen, die mir jemahls vorgekommen waren, durch ein Ansehen von Unschuld, Zucht und in sich selbst verhüllter Jungfräulichkeit aus, das sich besser fühlen als beschreiben läßt. Sie setzten das Wasser, ohne die Augen aufzuschlagen, vor uns nieder, breiteten reine Tücher und das übrige Zubehör auf einen Tisch aus, und entfernten sich wieder, eine nach der andern, eben so sittsam und ohne Geräusch, wie sie gekommen waren. Noch etwas das mir auffiel, war, daß diese sechs Mädchen einander so ähnlich sahen, als ob es eben so viele Kopien eben desselben Modells gewesen wären; bloß das Alter und die Größe machte den Unterschied aus. Eben dieß, wiewohl in minderem Grade, bemerkte ich auch an den Söhnen, von welchen die drey jüngsten, nachdem sie sich mit Schürzen von Leinen umgürtet hatten, ohne auf meine und meines alten Dieners Weigerungen zu achten, den Dienst des Fußwaschens in großer Stille und mit einem sonderbaren Anschein von Demuth und Andacht verrichteten.

Als sie damit fertig waren, und wir eine Weile ausgeruht hatten, erschien der Hausvater wieder, und führte uns in einen andern kleinen Sahl, zu einem gedeckten Tische, der mit Eyern und Milch, sehr schönem Brote und vortrefflichen Früchten besetzt war. Hier fanden wir eine Matrone von etwa vierzig Jahren, die Frau des Hauses und die Mutter aller dieser Kinder, die uns bat, da wir doch einiger Erquickung bedürften, mit dem fürlieb zu nehmen, was das Haus noch so spät zu geben vermochte. Diese Frau flößte mir beym ersten Anblick eine Empfindung ein, die ich noch nie gefühlt hatte – etwas das aus dem, was man für eine Königin und für eine Mutter fühlen kann, zusammen gesetzt war, und mich zwischen zwey unfreywilligen Anwandlungen, vor ihr nieder zu knien und ihr um den Hals zu fallen, im Gleichgewicht hielt: in einem so hohen Grade leuchtete jede Tugend, die wir mit dem schönen Worte Sofrosyne zusammen fassen, aus ihrem ganzen Gesicht und Wesen hervor. Ohne daß sie vermuthlich jemahls eine Schönheit gewesen war, gab ihr die Mischung von Würde und Demuth, von Ernst und Güte, Weisheit und Einfalt, Betriebsamkeit und Ruhe, die den Karakter ihrer Gesichtsbildung und Züge ausmachte, eine so eigene Art von Würde und Anmuth, und zu aller der Mütterlichkeit, wenn ich so sagen kann, die eine Mutter von sechs Söhnen und eben so viel Töchtern in ihr darstellte, etwas so Jungfräuliches und Vestalenartiges, daß ihr Anschauen auf einmahl alle Bilder von Schönheit und Grazie auslöschte, die aus der Villa Mamilia in meiner Seele zurück geblieben waren. Damahls kannte ich nichts, womit ich diese Frau, und das was ich bey ihrem Anblick empfand, hätte vergleichen können: aber lange nachher, als ich in allen Mysterien der Christianer eingeweiht war, dachte ich, so oft ich mich ihrer erinnerte, ein Mahler oder Bildner hätte, um die Mutter des Gottgesandten darzustellen, kein vollkommneres Modell finden können als diese Frau.

Es war ein schöner und für mich ganz neuer Anblick, diese Ältern zu sehen, die von so vielen ihnen ähnlichen, gesunden und gutartigen Kindern umgeben, einem schönen Baume glichen, der sich durch zwey Hauptäste in eine Menge saftvoller, dicht belaubter Zweige ausgebreitet hat. Die ganze Familie schien Ein Herz und Eine Seele. Die Befehle der Ältern wurden nur durch Winke gegeben, und doch eben so schnell und mit eben der Stille vollzogen, wie die Glieder des Leibes dem Willen gehorchen. Gutherzigkeit und Wohlwollen, eine Gefälligkeit, die aus reinem herzlichem Gefallen an einander zu entspringen schien, kurz, eine Übereinstimmung der Gemüther, wovon ich noch keine Vorstellung gehabt hatte, leuchtete aus allen Augen, sprach aus allen Bewegungen und Handlungen dieser glücklichen Geschöpfe, und wirkte desto sonderbarer auf mich, da ich noch nie unter Menschen gewesen war, die so wenig Worte gemacht hätten wie diese. Es war als ob ihnen die Seelensprache, worin sie einander so gut verstanden, zu allem hinreichte, was sie sich zu sagen hatten. Sind dieß, sagte ich zu mir selbst, die Menschen, von denen unsre Priester und unser Pöbel mit solchem Abscheu, und unsre großen Männer mit solcher Verachtung sprechen? Ist der Geist, der diese gutartige Familie beseelt, der allgemeine Geist ihres Ordens? O so hatte mein Unbekannter wohl Recht, sie neue Menschen und Erstlinge einer neuen Schöpfung zu nennen! Selbst das goldne Alter unsrer Dichter ist nur ein kindisches Mährchen gegen eine Welt, die von lauter Menschen, wie diese Familie, bewohnt würde.

Ich konnte mich nicht enthalten, ihnen die Bewunderung und Zuneigung, die ich für sie fühlte, in sehr lebhaften Ausdrücken zu bezeigen. Aber meine Sprache schien ihnen fremd; die jungen Leute schlugen die Augen nieder oder traten auf die Seite, und der Hausvater sah mich an, als suchte er in meinem Gesichte, ob er sich an mir geirret habe. Indem ich nachdachte, was dieß zu bedeuten haben könnte, reichte mir die Frau des Hauses einen Becher mit Wein, welchen eine ihrer Töchter, nach Gewohnheit des Landes, vorher mit Wasser vermischt hatte. Ich nahm ihn an, und aus einer bloß mechanischen Gewohnheit goß ich, indem ich meine Wirthin mit Ehrerbietung und Wohlgefallen betrachtete, ohne zu denken was ich that, etwas Wein auf den Boden, bevor ich trank. Sie erblaßte, trat zurück, und in wenig Augenblicken waren die Mutter und die Töchter aus dem Sahle verschwunden.

Warum thatest du das? fragte mich der Hauswirth mit freundlichem Ernste: siehe, wie du diese guten Seelen erschreckt hast! – Ich wurde feuerroth, und entschuldigte mich, mit einer eben so mechanischen Betheuerung beym Jupiter, daß meine Hand es ohne den Willen meiner Seele gethan habe. Nun schlichen sich auch die Söhne unvermerkt und in größter Stille einer nach dem andern fort. – Die Macht der Gewohnheit! sagte der Wegweiser mit einem kleinen Kopfschütteln. – Seit mehr als vierzig Jahren, fuhr unser Wirth fort, ist dieser Boden durch keine abgöttische Libazion entweiht, und der Nahme keines bösen Dämons in diesem Hause ausgesprochen worden. Wir scheuen uns nicht zu bekennen, daß wir nur den Einzigen anbeten, durch welchen und in welchem Alles ist, und daß wir ihm dienen, wie es uns der Liebling seines Sohnes, nach dessen Nahmen man uns nennt, gelehrt hat. Unser Bruder, der dich hierher gebracht hat, sagte uns, du wärest auf dem Wege einer der Unsrigen zu werden.

Er hielt ein, und ich gestehe, daß mir diese Rede von einem Manne, den ich bisher eben so verständig als biederherzig gefunden hatte, mächtig auffiel. Du hättest mich also ohne diese vielleicht irrige Meinung nicht aufgenommen? fragte ich mit einiger Empfindlichkeit. – »Dennoch, antwortete er mit seiner gewohnten Ruhe, nur auf eine andere Art. Alle Menschen, wer sie auch seyn mögen, können gewiß seyn, daß wir uns keiner Pflicht der Menschlichkeit gegen sie weigern; aber Liebe können nur unsre Brüder von uns erwarten: und wenn wir nicht so strenge darüber hielten, so viel möglich alle Gemeinschaft mit denen, die es nicht sind, zu vermeiden, würden wir bald aufhören das zu seyn, was dir (wie du sagst) so viel Wohlwollen für uns eingeflößt hat. Nur die Absonderung von den Kindern der Welt sichert uns, nicht von ihnen angesteckt zu werden.« – Wenn der Wunsch, einer der Eurigen zu seyn, hinreichend wäre! versetzte ich. – Aber ich bin noch so unwissend, daß ich nicht einmahl die Elemente der Weisheit, die euch zu so guten Menschen macht, begriffen habe. – »Was wir Gutes haben, erwiederte unser Wirth, ist Gnade von oben: der Wille allein ist unser; und auch das ist Gnade, daß er gut ist. Übrigens sind wir, als bloße Säuglinge der himmlischen Weisheit, nur mit Milch genährt worden; wir sind ungelehrte Landleute, und die hohe Gnosis unsrer Profeten ist eine Gabe des Geistes, die uns nicht gegeben ist. In Einfalt des Herzens begnügen wir uns, an unserm Meister zu hangen, ihn, der aus Liebe zu uns sein Leben ließ, von ganzem Herzen zu lieben, seines Sinnes zu seyn, seinem Exempel zu folgen, und mit Freudigkeit seiner Wiederkunft zu harren.«


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