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IX.
Bethlehem

Im Fichtenwald hinter dem Vorwerk, wo Bulck am Vorabend seines Geburtstages die Sterne gesehen hatte, wurde das Haus gebaut. Der Herbst war schön, und das Laub hing noch farbig an den Bäumen, als die Fundamente schon gelegt wurden. Vom ersten Hahnenschrei bis zum Ruf der Eule sah man Andreas um die steigenden Mauern kreisen, als sei sein Leben verwirkt, wenn das Dach nicht vor dem fallenden Abend sich unter die Wipfel hebe. ›Bethlehem‹ sollte das Haus heißen, und Stunde für Stunde konnte Andreas vor den Bauplänen sitzen und in das schwarze Gewirr der Linien die Gestalten der Kinder hineindenken, die hier leben sollten.

Denn es war ein Haus für die Armen in Gott, die eine fremde Hand geschlagen hatte. Für Christian, für Johannes und für alle, die er in gleichem Schicksal finden würde und die er vom Berge Nebo in das gelobte Land führen wollte. Er hatte den Schritt vom Menschen zum Kinde getan, wie er ehemals den Schritt von Gott zum Menschen getan hatte, und Bulck hatte nicht gezögert, ihm zu geben, wessen er dazu bedurfte.

Doch glaubte Bulck, dessen Augen kein Trug der Leidenschaft oder der Begeisterung mehr trübte, zu erkennen, daß ein Fieberglanz um diesen neuen Plan sich breitete wie um Wunsch und Willen eines Kranken. Er sah ihn nicht nur in der Rastlosigkeit, mit der Andreas um den Bau sich mühte; er sah ihn vielmehr in der Besessenheit, in der hier die neue Achse eines Lebens aufgerichtet und alles Bisherige zu Schutt und Trümmern geworfen wurde. Er wußte, daß dem Menschen nur eine Umkehr beschieden war und daß eine Wiederholung des Einmaligen mit Wirrnis vergolten wurde oder mit dem Sturze aus einem wankenden Glauben. Er wußte, daß keine Brücke zur Ewigkeit sich zweimal bauen ließ. Sie hielt und wäre sie aus einem Seidenfaden geschaffen, oder sie stürzte und begrub den Meister samt seinem Gotte.

Er versuchte mit Schonung und Klugheit, einen leisen Zweifel in Andreas' Rechnung zu tragen, das Geplante als einen Kampf und nicht als einen Sieg zu besprechen.

Doch Andreas, mit lange vergessener Gebärde, hob seine Stirne, als blicke er zu einem Sterne auf, und sagte: »Wenn die Kinder trügen, dann hat Gott das Menschengeschlecht verflucht und wir müssen ihn suchen, wo noch niemand ihn gesucht hat.« Und er fuhr fort, in dem wachsenden Hause seiner Zukunft auf- und abzusteigen, wie er einstmals über die Leitern seines Traumhauses gegangen war.

Von jenem Tage an nahm er Johannes mit sich. Sie fuhren bis zum Vorwerk, wo sie den Wagen ließen, und gingen dann Hand in Hand zur Baustelle. Hier blieb das Kind auf einem der frisch geschnittenen Balken und lauschte bewegungslos in die Luft empor, die mit einem seltsamen Leben erfüllt war. Der Lärm einer unbekannten Arbeit, Stimmen, die in eintönigem Rhythmus nach etwas riefen oder unter Ketten sich zu mühen schienen, gellender Klang, wenn Eisen auf Eisen schlug, unendliches Rasseln einer Kette, das plötzlich wie im Keller versank: alles erfüllte die hilflose Seele mit einem wachsenden Grauen.

Das Kind, fast wundhaft empfindlich vom Mutterleibe an, das gewohnt war, auf den Stufen einer breiten Treppe zu sitzen und in das schweigende Wachsen der Bäume zu lauschen, von Bulcks gütiger Greisenstimme schonend berührt, entsetzte sich vom ersten Tage an vor einer Welt, die ihm ungebändigt an Roheit und Gefahr erschien; wo es nach Dingen roch, die häßlich und schmutzig zu fühlen sein mußten; und wo der Platz, auf dem es saß, nicht ihm allein gehörte, sondern einer drohenden Masse, die ihn duldete wie andre Kinder beim Spiel, aber die ihn beiseitestoßen würde, sobald er im Wege war.

Zuerst legte er nur die Hände an die Schläfen, um sie sofort schützend über den Scheitel legen zu können, sobald sie Steine oder Eisen auf ihn werfen würden. Dann aber stand er von seinem Platze auf und tastete sich mit schlagendem Herzen von der Stätte hinweg, wo kein Friede war, verstört auf einem Boden, der ihm nicht vertraut war, von Rufen, die ihm sinnlos klangen. Bis er den Duft des Waldes spürte, der dort geschwiegen hatte, und er aufatmend, fast weinend die ersten Büsche erreichte, zwischen denen er sich geräuschlos verbarg.

»War es dort nicht schön?« fragte Andreas, als er ihn mit Mühe gefunden hatte.

Johannes schüttelte den Kopf.

»Weshalb nicht? Fürchtest du dich?«

Aber das Kind schwieg.

»Was tun sie dort?« fragte es einmal, als sie schon wieder im Wagen saßen.

»Sie bauen ein Haus,« erwiderte Andreas. »Ein Haus für Kinder, die soviel Liebe brauchen wie du. Wir beide werden in ihm wohnen und Christian, von dem ich dir erzählt habe, und viele andere Kinder. Sie werden weiße Betten haben und eine Kapelle mit einer Orgel und einen Garten, in dem sie Blumen pflanzen werden. Und der Wald wird vor ihren Fenstern stehen und rauschen, Tag und Nacht, und sie werden lernen einander lieb haben und wie Brüder auf der Erde leben.«

Das Kind zitterte vor Entsetzen. »Ich will nicht mit Krüppeln leben,« sagte es hart. »Ich weiß, daß die Gesunden mich so nennen. Du selbst hast gesagt, daß Christian ein Krüppel ist. Ich will nicht wissen, wie schön die Erde ist, denn ich bin blind.« Seine Hand zuckte in seines Vaters Händen, und in seinem erschütterten Antlitz stand die hoffnungslose Bitterkeit eines Greises.

Am nächsten Tage ging Andreas allein nach Bethlehem, aber er kam schon um die Mittagszeit wieder, und der Glanz seiner Augen, den er sonst von dort zurückbrachte, war von einer Not verschüttet, die er nicht verbergen konnte. Um die Abendzeit ging er mit Johannes durch den Park bis zu der Bank, die am Ufer des Teiches stand. Die sinkende Sonne brach hier durch glühendes Ahornlaub, und ihre Strahlen standen gleich roten Speichen auf dem unbewegten schwarzen Spiegel. Schweigende Wipfel brannten im Untergang, und hinter ihrer Wand war jeder Laut gedämpfter, der sich über die Felder hob.

»Weißt du, wo du bist?« fragte Andreas.

»Ich rieche das Wasser,« erwiderte Johannes, »und die Sonne ist auf meinen Augen.«

»Wir sind am Teich,« fuhr Andreas fort. »Er ist so glatt wie die Haut deiner Hand, aber dunkel wie das, was vor deinen Augen steht. Dahinter wachsen die Bäume. Ihr Umriß ist sanft, aber er steigt und fällt wie Tal und Hügel, über die wir schreiten. Glanz liegt auf ihren Wipfeln, leuchtend und rot wie über deinen Augen, in die die Sonne scheint. Dahinter steigt der Himmel auf. Er ist wie ein Seidentuch, das über einem Tisch liegt, ohne Falte, ohne Rauheit, aber er ist blau, von einem leuchtenden Licht erfüllt, über alle Maßen ruhig und schön. Es ist die Farbe Gottes, dessen Mantel zur Erde sinkt …«

»Weshalb sagst du das?« flüsterte das Kind. »Was ist blau? Weißt du denn nicht, daß ich blind bin?«

»Ich glaube, daß die Blinden Gott näher sind als wir,« erwiderte Andreas. »Ich glaube auch, daß der Himmel, den du siehst, schöner ist als unser Himmel. Und ich erzähle dir das alles und noch viel mehr, damit du nicht mehr traurig bist. Die Welt ist nicht so dunkel, wie du glaubst, und wenn wir zusammen in jenem Hause wohnen werden, dann will ich dir jeden Abend von den Ländern erzählen, die ich gesehen habe, von den Kirchen und Strömen, von den Bergen und Menschen. Dann wird es nicht mehr dunkel um dich sein.«

Und er fuhr fort, von der Schönheit der Erde zu sprechen, wenn der Frühling über sie gehe oder der Winter sie verhülle. Er vergaß das Moor nicht und nicht den Kranich, der an seiner Brust gelegen hatte, weder den Regenbogen über dem dampfenden Walde noch den Leuchtturm über dem Nehrungssand. Geblendet von dem neuen Glanze seines Lebens, sah er Mensch und Erde von dem Lichte bestrahlt, das ihn erfüllte. Er hielt die Hand des Kindes fest in der seinen, wie die Hand eines Toten, den er erwecken müsse, beschwören mit den leuchtenden Bildern der Erde, die er verlassen. Und wie bei einer Beschwörung überstürzten sich verwirrend seine Worte, wiederholten sich und überboten einander im Verlangen des Glanzes. Er wußte, daß der Glaube Berge versetze, und mit der Flamme des Glaubens warf er sich dorthin, wo er Gottes Finger erblickt hatte.

Wer ihn gesehen hätte, wie er aller Leidenschaft voll zu dem Kinde sprach; wie er die quälenden Bilder des Lichtes vor die blinden Augen hob; wie um seine entstellende Narbe die Stirn des Propheten leuchtete, während das Antlitz des Kindes in dumpfer Befremdung, ja in Qual sich von ihm wendete: der hätte in traurigem Erschrecken seine Hände ergreifen und ihn fragen müssen, weshalb er vor dem Munde des Hungernden den Duft einer Speise erwecke, die er nicht bereiten könne, wie nahe Gottes Arm ihn auch umschlinge?

»Erzähle mir vom Teich,« unterbrach das Kind ihn. »Ich weiß nicht, wie es unten ist, wo das Wasser am Grund steht. Der Großvater hat mir verboten, daß ich allein hierher gehe. Weshalb hat er es verboten? Ist das Wasser böse?«

»Nichts ist böse, was Gott geschaffen hat, Johannes. Das Wasser ist so schön wie der Wald. Es reicht tief hinunter bis in die Gründe der Erde. Es ist so glatt wie der Spiegel an deiner Wand, aber wenn du die Hand hineinlegst, teilt es sich und umgibt dich kühl und weich. Im Sommer blühen weiße Rosen auf ihm, und ihre Stengel reichen tief herab, wo es grün und dunkel ist wie auf dem Boden des Waldes. Bunte Fische stehen dort unten, und um die Mittagszeit kommt der Nix herauf mit grünem Haar und sieht traurig nach oben, ob niemand mit ihm spielen will.«

»Und weshalb soll ich nicht hierhergehen?«

»Du könntest ertrinken, Johannes, und wir müßten dich in einen Sarg legen und über dich weinen.«

»Wie ist das, wenn man ertrinkt?«

»Das Wasser zieht einen in die Tiefe, wo das grüne Kraut steht. Da kann man nicht mehr atmen, und dann ist man tot.«

»Tut das weh?«

»O nein,« sagte Andreas, seinen eigenen Gedanken folgend. »Das tut nicht weh. Der Tod ist schöner als das Leben, und man tritt vor das Angesicht Gottes und sieht des Himmels Herrlichkeit.«

»Wenn ich einmal tot bin,« sagte das Kind, »werde ich dann auch sehen?«

»Gewiß, Johannes. Gott wird den Schleier von deinen Augen nehmen, und du wirst mehr sehen als wir.«

»Ist das wahr?«

»Das ist gewißlich wahr.«

»Weshalb macht ihr mich dann nicht tot? Weshalb laßt ihr mich im Finstern? Weshalb tut ihr das?«

»Johannes! Niemand darf das. Der Mensch muß warten, bis Gott ihn ruft.«

Das Kind verzog die Lippen, und Andreas blickte mit einem leisen Grauen auf dieses Lächeln. »Komm,« sagte er bestürzt. »Der Großvater wird warten, er sitzt so allein.«

»Wenn du in das neue Haus gehst, wird er noch alleiner sein,« erwiderte Johannes mit bitterer Betonung. »Gibt es im Himmel auch solche Häuser?«

»Nein, im Himmel gibt es weder Krankheit noch Gebrechen.«

»Keine Krüppel?«

»Nein, keine Krüppel.«

»Was für ein seltsames Kind das ist,« sagte Andreas zu Bulck, als sie allein auf der Treppe saßen. »Manchmal kommt es mir vor, als reißen wir Großen sie mit Gewalt aus ihrer Gottesnähe, wenn wir sie lehren und erziehen, auf unseren staubigen Straßen zu gehen. So plump sind unsre Worte, so schal unsre Erkenntnis. Wir lächeln, wo wir weinen sollten, und wir ringen die Hände, wo wir lächeln sollten … wir müssen weit von Gott gegangen sein, wenn wir sie als Ton in unsrer Hand betrachten. Wie sagte doch Amadeus … Material … ja, Material nannte man sie da, wo er lebte.«

»Ich habe dir gesagt, daß ich sie vergiftet habe,« erwiderte Bulck. »Manchmal denke ich, daß dies Kind tausend Jahre alt ist. Wenn es den Kopf in die Hände stützt und die Augen in den Park richtet, dann denke ich, daß es so schon gesessen hat, als der wilde Wald hier noch stand. Hinter seiner Stirne sind dumpfe Gedanken, die hierhin und dorthin tasten, und wer kann wissen, was seine toten Augen sehen?«

»Ich weiß es, Vater, denn auch ich war unter der Erde.«

Aber Bulck sah ihn nur bekümmert an.

Andreas wußte nicht, daß die Fundamente des Hauses, an dem er baute, auf der Seele seines Kindes lagen und daß jeder Ziegel, den die Maurer hinzufügten, eine neue Last war für das müde Leben, in dem das Blut vergangener Geschlechter wirre Wellen schlug. Hätten die Augen des Kindes sehen können, was dort im Fichtenwald hell und groß in die Höhe stieg, so würde das geschaute Bild sich irgendwie eingefügt haben in den Kreis durchlaufener Erfahrung. Es würde ein Haus gewesen sein wie andere Häuser, zu bedrückendem Zwecke bestimmt, aber mit Wänden, Türen und Treppen. Man würde neue Wege zu tasten haben, ein andrer Geruch würde in den Räumen stehen, im Dunkel der Nacht würden andre Töne durch die Mauern klingen, aber es würde ein Haus für Menschen sein, und es würde sich so dunkel und still schlafen wie in Großvaters Haus.

Aber die Augen des Kindes sahen das alles nicht. Aus der Verworrenheit der Geräusche und Klänge, die in sein Ohr gefallen waren, wenn es lauschend auf den Balken der Baustelle gesessen hatte, formte sich die gleiche Verworrenheit des inneren Bildes, rätselhaft, verzerrt, mit dem dumpfen Wissen von künftiger Bestimmung erfüllt. Lag Johannes in seinem Bett, dem Zimmer seines Vaters gegenüber, so strich er mit seinen Händen an seinem Körper und seinen geraden Gliedern herunter, und dann glitt seine gequälte Einbildungskraft von dieser gefühlten Form hinweg und tastete um den Begriff des Krüppels, von dem er wußte, daß er jenes Haus bewohnen sollte, nicht als ein einziger, sondern in vielfacher, furchtbarer Zahl. Auch Blinde würden dabei sein, ja, und sie würden einander aus dem Wege gehen, wo sie sich treffen würden. Hinter den Wänden würden sie sitzen und lauschen wie er, und das Aufstoßen ihrer Stöcke würde über die Treppen hallen. Es würde schwer sein, aber er würde es aushalten …«

Doch die anderen, die anderen … mit verrenkten Gliedern würden sie durch die Gänge kriechen, zehn Füße an jedem Körper, kalt und feucht wie Gewürm, an das er manchmal schaudernd stieß, wenn er auf dem Rasen des Parkes saß. Sie würden sich ihm heimtückisch in den Weg legen, wenn er durch die schmalen Gänge tastete, und mit heiseren Schreien würden sie einander zurufen, um sein Kommen anzukündigen. Ihre Köpfe würden wie die Köpfe alter Vögel sein, kahl und gierig, Schmutz würde an ihren langen Händen kleben, und zur Nachtzeit würden sie nebeneinander auf langen Stangen sitzen, und durch die Wand seines Zimmers würde er die dumpfen Laute ihrer bösen Worte hören, mit denen sie sich besprechen würden, ob sie zur Nachtzeit sich an sein Bett stehlen sollten.

Und wer konnte wissen, was noch dort sein würde? Des Großvaters Stimme klang traurig, wenn sie zu ihm sprach, und der andere, der Fremde, der sein Vater sein sollte, saß hinter ihm auf der Treppe, Stunde für Stunde, und sah ihn an. Er fühlte es, daß er ihn ansah, und in diesem unbekannten Blick lag soviel Grauen und Gefahr wie damals am Morgen in dem furchtbaren Schrei, den er ausgestoßen hatte.

Der Schlaf des Kindes, sonst dunkel und tief beschattet wie ein stiller Weg auf dem Grunde eines hohen Waldes, wurde von Qualen angerührt, die es nie gekannt hatte. Schlangengleich glitten die Träume über seine Füße, und das furchtbare Haus, von Schreien erfüllt, stieg auf allen Seiten aus den Ecken des Zimmers. Mitunter fuhr Johannes im Bette empor, schweißbedeckt, eine lähmende Kälte auf dem schlagenden Herzen, weil die Türe leise gegangen sein mußte. Der leise singende Ton des Schlosses schwang noch in der immer tönenden Luft, zur Linken fühlte er unverändert die ragende Schwere der Wand, das kaum hörbare Atmen des großen Hauses erfüllte die Treppen und Gänge, aber dort an der Türe war das Fremde, das eben Eingetretene, das lautlos zu ihm herüberblickte. Es hatte keine Form, die greifbar war wie die des eigenen Körpers; es war gleich weit vom Menschen wie vom Tiere entfernt, aller Vorstellung entzogen, aller Beschreibung spottend. Es blieb in der Nacht, und nur eines strömte mit furchtbarer Gewalt von ihm aus: daß es da war, lauschend und hinüberblickend, aber mit entsetzlicher Absicht schweigend.

Vielleicht kam es aus des Fremden Zimmer, vielleicht war es durch die Nacht gekrochen im feuchten Grase, von jenem Hause her, wo es seltsam in den Mauern rieselte. Denn jener bedrückende Geruch ging von ihm aus, der dort zwischen den Stämmen lag, und es mochte der Geist jener leeren Räume sein, der nächtens auszog, um auf seine künftigen Opfer zu starren.

Das Kind schrie nicht. Seine lichtlosen Augen hingen an der Tür, die es nicht sah, und durch die dumpfen Schläge seines Herzens versuchte es, einen Atemzug zu vernehmen außer seinem eigenen. Alles blieb totenstill, nur in der Mauer rieselte es kaum hörbar, und im Treppenhaus zog das Holz der Täfelung sich klagend zusammen. Und dann … horch … bebte der leise singende Ton des Eisens im Schlosse, zart wie ein Hauch, der sich spannende und wieder lösende Druck der Feder, und dann war die Türe zu, die klaffende Wand geschlossen. Noch einmal glitt es wie fallende Sandkörner über die Treppe, und dann brauste die Stille wieder durch alle Räume des großen Hauses.

»Bist du krank, Kind?« fragte Bulck an jedem Morgen, aber Johannes schüttelte schweigend den Kopf.

»Gibt es Gespenster, Großvater?« fragte er nach einer Weile.

»Unsinn! Wie kommst du darauf, Johannes?«

»Die Mädchen sprechen manchmal davon,« erwiderte er zögernd. »Sie sagen, daß in diesem Hause eins lebt …«

»Welch eine Torheit! Immer schwatzen sie Dummheiten, wenn sie nichts zu tun haben. Du mußt nicht darauf hören.«

Das Kind nickte, aber es lächelte rätselvoll wie auf der Bank am Teich. ›Auch er weiß es,‹ dachte es, ›aber er darf nichts sagen. Sie wollen mich fortbringen, aber es wird ihnen nicht gelingen, o nein, sie werden mich nicht zu den Krüppeln bringen.‹

Andreas fuhr noch einmal mit seinem Kinde zum neuen Hause.

Johannes saß auf seinem Balken, betäubt vom Lärm unheimlicher Arbeit und grübelnd bemüht, die Fäden zu entwirren, die unsichtbar von dieser Stelle zu der nächtlichen Erscheinung liefen. Er hörte an den Schritten, die über die Gerüste gingen, daß das Haus höher geworden war; die Klänge, die aus dem Inneren drangen, waren drohender geworden; die Räume schienen sich verdoppelt zu haben; und mitunter stieg aus der Tiefe der Keller ein seltsamer, fragender Schrei durch alle Stockwerke empor, der aus dem geöffneten Dach brach und von hier an den Wänden wieder herabzufließen schien, von Fenster zu Fenster tropfend und in grauen Schächten versinkend.

Dann erstarb der Lärm. Die Arbeiter stiegen auf den Leitern abwärts, Handwerkszeug wurde zusammengeworfen, und schwatzende Stimmen entfernten sich durch den Wald. Andreas, der das Kind vergessen hatte, saß bei dem Unternehmer in der abseits gelegenen Baubude und besprach eine umständliche Änderung im Oberstock, die er für nötig hielt.

Johannes lauschte, bis die letzten Töne verhallt waren, und wandte das Antlitz unruhig nach der Seite, von der Andreas zu kommen pflegte. Als alles still blieb, lächelte er bitter. Er stützte das Kinn in die Hände und starrte auf die Wand, die sich zwischen ihn und das Rauschen des Waldes schob. ›Wenn ich sehen könnte.‹ dachte er, ›vielleicht wäre das alles weniger schrecklich … aber ich werde niemals sehen können. Auch im Himmel nicht. Er lügt mir etwas vor … alle belügen sie mich jetzt, nur damit sie mich einsperren können …‹

Er stand in einem plötzlichen Entschluß auf und ging langsam auf das Haus zu. Sein Stock tastete vorsichtig über den zerwühlten Boden, und die Flügel seiner Nase zitterten wie bei einem Tiere. Als seine Hand die kalten Ziegel berührte, zuckte sein ganzer Körper zusammen, aber er kehrte nicht um. Feucht und kühl floß die Seele des neuen Hauses durch seine Fingerspitzen in ihn hinein. Er legte das Ohr an die Mauer und lauschte: totenstill ragte das Haus an seinem Antlitz empor. Kein Rieseln wie daheim, kein Tönen, schwach aber unaufhörlich, wie in seinem Zimmer. Das Haus war ein Totenhaus. So mußte ein Sarg sich anfühlen, von dem Großvaters Mädchen in den Abendstunden sprachen. Er glitt an der Mauer entlang, bis sie sich öffnete, irgendwo ins Ungeheure hinein. Er zögerte, aber dann überstieg er die Schwelle und stand im Inneren.

Die Last der Stockwerke lud sich schmerzend auf seine Stirn, aber schwerer als alles Aufgetürmte war das lautlose Grauen, das aus den Höhlungen floß. Nirgends war das stille Schutzgefühl geschlossener Räume, die Sanftheit bekleideter Wände, die Ruhe teppichbelegter Fußböden, die Sicherheit festgefügter Türen. Schutt bröckelte unter dem suchenden Fuß, die Luft stand leer bis an den First des Daches, und aus der Tiefe quoll die Kälte stehenden Wassers, in die von Zeit zu Zeit ein Tropfen tönend fiel. Er fühlte, daß es dunkel sein mußte in dem Hause, ein Dunkel, das niemals von einem Licht vertrieben werden würde, obwohl der Himmel von oben hinunterschien. Er hob das Antlitz, um die Höhe der Räume zu ermessen, aber die letzte Mauer mußte an das Unendliche reichen. Dieses Haus würde kein Dach haben, sondern einen Deckel, schwarz und glatt, und diesen Deckel würde der Fremde auf die Mauern setzen, wenn er die Krüppel gefangen hatte. Dieses Haus würde auch keine Türen haben, keine Fenster. Nur einmal würde der feine, singende Ton des einzigen Schlosses ertönen, und dann würde es hereintreten zu ihnen für ewig, das Unerkennbare und Formlose, um schweigend auf sie zu starren, die ihm ausgeliefert waren.

In einer Ecke kauerte das Kind sich zu Boden, die Wange an kalten Stein gelehnt, und lauschte. Draußen schwieg der Wald wie gestorben, kein Vogel rief über den Mauern, und nur zu seinen Füßen, bald hier, bald dort, in langen, wechselnden Pausen fiel ein Tropfen auf unbewegtes Wasser. Er mußte tief fallen, durch steile Schächte, denn sein Laut war dumpf, von leisem Widerhall gefolgt. Mit der Zeit und dem Wachsen der Dunkelheit gewann dieser Ton etwas erstickt Lebendiges, und er war wie der leise Zuruf lauernder Tiere. »Noch … nicht …« raunte es zu seinen Füßen. »Noch … nicht …« kam die Antwort aus der Ferne. »Doch … bald …« wehte es von der andren Seite herauf, in bösem Triumph die Silben formend. Und nun blieben die Worte, und jeder Tropfen wiederholte sie in wachsendem Hohn. »Doch … bald … doch bald!« Die Mauern schienen leise zu zittern, als lösten sich Fugen und Gelenke, um sich lautlos begrabend zu neigen, wenn es an der Zeit wäre, wenn das Bald zum Jetzt geworden.

Aber das waren nicht die Mauern, was jetzt neben ihm rieselte, so leise wie der Wind um einen Grashalm. Ein Sandkorn rollte zur Seite oder schob sich um Haaresbreite aus dem Wege … horch … ein anderes … ein Lebendiges glitt über den Boden, klein, vielgliedrig wahrscheinlich, aber ein Lebendiges …

»Johannes!« rief die Stimme des Fremden.

Das Kind schüttelte den Kopf und lauschte. Sein Herzschlag dröhnte dumpf zwischen den Mauern … wieder ein Sandkorn … näher … noch näher … »ein Wurm,« flüsterte es mit weißen Lippen … nun schwieg der Sand …

»Johannes!«

Die Kehle war tot, das Ende würde kommen, das Gespenst des Hauses, der Krüppelmörder … Die Hände des Kindes öffneten sich, das Herz zerschlug ihm wie ein Hammer die atemlose Brust, und plötzlich sank sein Körper in sich zusammen wie unter abgeschnittenen Fäden.

So fand ihn Andreas. Er mußte ihn tragen, und nichts war von ihm zu vernehmen als der rasende und zersprengende Schlag des Herzens.

In dieser Nacht erwachte Andreas, als der Mond auf sein Gesicht schien. Aber es war nicht das kalte Licht der leeren Nacht, das ihn erweckte. Er saß aufrecht in seinem Bett und tastete mit geschlossenen Augen rückwärts in die Finsternis seiner Träume. War er über Leitern gegangen? Hatte der Espenwald gerauscht? Oder war ein Schrei durch Wände und Türen bis an sein Herz geklungen? Seine Finger glitten über die Narbe seiner Stirn, von der ein dumpfer Schmerz in seinen Körper rieselte, aber nur die Haut zuckte unter der plötzlichen Berührung. Er ließ sich wieder in die Kissen sinken, doch stand er mit einem Sprunge auf den Dielen, als im Gebälk des Treppenhauses ein gleitender Ton sich hob und verlor. »Etwas ist unterwegs,« murmelte er, warf die Kleider über und trat auf den Gang. Mondlicht floß zwischen den Wänden entlang. Er öffnete leise die Türe zum Zimmer seines Kindes: das Bett war leer.

Im Park sah er Johannes. Er war angekleidet wie am Abend und ging langsam an seinem Stock in die Tiefe der Bäume hinein. Lautlos streifte sein Schatten über das betaute Gras. Als er im Dunkel verschwand, rief Andreas, von plötzlicher Angst erfüllt, seinen Namen. Noch sah er, wie das Kind erstarrte, ohne das Antlitz zu wenden. Dann, den Stock von sich schleudernd, warf es sich in die Schatten der Büsche. »Johannes!« schrie Andreas noch einmal. Dann stürzte er sich von der Treppe dem Fliehenden nach. Er verlor ihn aus den Augen, fand ihn wieder, sah ihn fallen, sich aufraffen und mit erhobenen Armen den Abhang hinunterjagen. »Das Wasser!« schrie Andreas. »Das Wasser, Jo …« Dann folgte der dumpfe Klang sich öffnender Flut, und lautlos liefen die weißbestrahlten Kreise über den schwarzen Grund.

Es gelang nur mit Gewalt, Andreas aus dem Wasser zu holen. Seine Füße hatten schon den Tod berührt, und sie mußten seinen Körper aufheben, um das Wasser aus seinem Munde fließen zu lassen.

Danach fanden sie das Kind. Sein Antlitz war unverändert, die Augen im Tode nicht blinder als im Leben. Nur seine Hände waren geöffnet und die Finger auseinandergespreizt in einer grauenvollen Gebärde ohnmächtiger Abwehr.


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