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VI.
Der Berg Nebo

In seiner Krankenzeit empfing Andreas nur zwei Besuche. Er lag in einem stillen Zimmer, in dem die Sonne viele Stunden verweilte, für sich allein und erfuhr von der Schwester, daß die Verwaltung es so befohlen habe. Er dachte lange und sorgfältig darüber nach, aber seine Gedanken verwirrten sich bald. Er sah Menschen, Ereignisse, Landschaften in klarem Licht, aber sie tauchten ohne seinen Willen aus der Tiefe empor, mit allen nichtigen Einzelheiten der Farbe, des Klanges, der Bewegung, und versanken wieder, ohne sich aneinanderzuschließen und zu verknüpfen. Er liebte es, halbe Tage und Nächte mit geschlossenen Augen dazuliegen und den seltsamen Bildern zuzusehen, die unter seinen Lidern ständig wechselnd vorüberzogen. Schwarze Ringe wuchsen in ungestörtem Ebenmaß aus dem Nichts herauf, verschlangen sich, kreisten umeinander und glitten in die Tiefe wie über den Rand einer überfließenden Schale. Dunkle Zinnen hoben sich vor einer mattgoldenen Ferne, sanft im Umriß, von so erstaunlicher Weite, als blicke das innere Auge von meilenweitem Abstande über eine unendliche Ebene. Und dann kam das Spiel der Farben, leuchtende Bündel, einander überschneidend, zusammenstürzend und wieder nach den Rändern fließend wie besonnte Strahlen einer Fontäne.

Allem diesem sah er gedankenlos aber in einem dumpfen Glücksgefühl zu. Geborgen vor Welt, Sendung und Erfüllung lag er wie in einer Wüste unter Sternen. Das andre würde schon zu seiner Zeit kommen, nachher, später. Jetzt war er im Frieden, ein Tier in der Nacht, ein Stein auf dem Grunde des Meeres. Nachher würde er vielleicht leben wie der kleine Christian, eine Blume in den Händen, oder er würde wieder wandern oder am Moore sitzen, auf der Schwelle der Hütte, einen Vogel an seiner Brust.

Es war auffallend, daß er in dieser Zeit allen Entscheidungen auswich. Handelte es sich um kleine Dinge des täglichen Lebens, ob er am Fenster sitzen wolle oder auf dem Sofaplatz, ob er dieses essen möge oder jenes, so zuckten seine Augenlider unruhig, fast gequält, und er sagte bittend: »Machen Sie es doch, wie Sie denken, Schwester … es strengt mich so an …« Die großen Dinge aber spielten sich ohne Zeugen in seiner Brust ab. Er sah ihnen zu wie den Farben und Formen seines inneren Auges, er erkannte sie in allen Einzelheiten, aber er bewegte sie nicht, er stieß sie nicht einmal an. Er wartete nur, bis sie vorüber waren und sah ihnen dann nach, wie die Kinder einem Vogel nachsehen.

Erst der Besuch Michaels brachte ihn wieder gegen seinen Willen an die Grenze des Feldes, von dem man ihn getroffen fortgetragen hatte. Obwohl Michael um die Dämmerstunde kam, kniff er ein Auge zu, worüber Andreas lächeln mußte. Er saß dann am Bett, seine Kappe in den Händen drehend, und starrte auf den weißen Verband, der den Kopf des Kranken bis zu den Augen verhüllte. »Der Christian läßt dich grüßen,« begann er dann ungeschickt, »auch der Vater. Sie bangen sich nach dir … es ist gar nicht gemütlich bei uns …«

Andreas sah ihn schweigend an, bis die Menschen und Dinge, die er in seinen Worten berührt hatte, aus der Tiefe emporstiegen und seinen Augen wieder vertraut waren. »Sage ihnen, daß ich bald komme,« antwortete er. »Ich werde selbst sehen … und nun erzähle von der Grube.« Doch unterbrach er Michaels wortreichen Bericht sehr bald. »Nicht das,« sagte er. »Unter der Erde ist es immer dasselbe. Das Gesetz herrscht, und wenn man ins Heiligtum dringt, schlägt Gott zu. Das habe ich nun schon erkannt. Aber das andre … der Streik?«

Michaels Augen verfinsterten sich. »Ach, Freundchen,« erwiderte er. »Wir haben gefeiert und den Riemen enger gezogen. Das ist alles. Und als wir nicht mehr konnten, haben wir wieder gearbeitet.«

Andreas lächelte. »Du hast viel Zeit gehabt, Michael.«

»Ach so … ja … aber du hast es ja auch nicht fertig bekommen, Nyland, und du bist ein studierter Mann …«

»Nein,« wiederholte Andreas, »ich habe es auch nicht fertig bekommen.« Er richtete sich vorsichtig auf, so daß er Michael nahe in die Augen sehen konnte. »Weißt du,« flüsterte er geheimnisvoll, »was er auf das Blatt gezeichnet hatte?«

»Wer? Was ist dir?«

»Der Direktor, damals bei der Versammlung?«

»So … nein … wir haben viel geredet darüber, aber wie konnten wir es wissen?«

Andreas beugte sich noch näher zu ihm. »Särge,« flüsterte er. »Verstehst du? Särge hat er gezeichnet, einen neben dem andern. So wie sie damals aufgestellt waren und noch anders. Verstehst du auch? Keine Zahlen, keine Berechnungen. Nur Särge.«

Er legte sich wieder zurück und schloß erschöpft die Augen. Michael schwieg voller Bestürzung.

»Siehst du,« fuhr Andreas nach einer Weile fort, »es geht ja gar nicht ums Geld. Und wenn es darum geht, ist es dumm und böse. Du mußt hier fort, Michael, bald. Gott schüttet euch zu, und ihr merkt es gar nicht. Erst wenn er schlägt, dann merkt ihr es. Ihr arbeitet, aber nur damit ihr ein Hemde habt, einen Herd und ein Stück Brot. Und die anderen, damit das Hemd von Seide ist und der Herd aus Marmor. Ist es nicht ein Fluch für beide?«

Michael überlegte. »Ich will dir was sagen, Nyland,« erwiderte er dann. »Als ich klein war, hatte ich immer paar Löcher in der Hose. Sie sah nicht schön aus, aber da half doch nichts. Da fuhr die Frau vom Rittergut einmal vorbei, als ich hütete. Und sie sah mich. Sie war sicher eine gute Frau, und sie rief mich an den Wagen und besah sich meine Hose und sagte etwas von der Armut, wie schrecklich sie ist und so weiter. Und am nächsten Tag kam sie zur Mutter und brachte mir eine Hose, von ihrem Jüngsten wahrscheinlich. Sie war aus schwarzem Samt, ein bißchen dünn, aber schön blank. Die Mutter bedankte sich, aber sie sah mich so von der Seite an, als ich die Hose anzog. Ich war sehr stolz. Aber nur eine Stunde. Dann hatten die anderen Kinder es raus, und wo ich stand, waren zehn um mich rum und faßten mich an und kniffen mich. ›Kiek dem Samtbüx!‹ schrien sie. ›Kiek dem Schweineprinz!‹ Es ging einfach nicht. Am nächsten Abend wickelte ich sie um einen Stein und warf sie in den Poggenteich.

»Sieh mal, Nyland, so ist das mit uns. Jedes Jahr kommt einer, um uns zu erlösen. Alle wollen uns erlösen. Der eine gibt uns eine Bibliothek, der zweite einen Posaunenchor, der dritte gibt uns das ›Klassenbewußtsein‹, der vierte will uns Gott geben. Aber sie geben uns alle nur eine samtne Hose. Sie geben uns keine Hose aus Beiderwand, verstehst du? Sie kennen sie gar nicht, oder sie ist ihnen nicht vornehm genug. Wir nehmen alles, Bibliothek und Posaunen und so weiter, aber wenn es losgeht, dann nimmt einer eine Eisenstange und haut dir eins über den Kopf. So ist die Sache. Du bist ein guter Mensch, Freundchen, aber du kommst aus einem andern Dorf. Du weißt nicht, was ein Arbeiter ist und wirst es nie wissen. Du hast nicht mit fünf Jahren Kühe gehütet und den ganzen Tag nur Schalkartoffel und Buttermilch gegessen. Sorge dafür, daß alle Menschen als Kinder Kühe hüten und Schalkartoffel essen, dann können wir weitersehen. Aber dann brauchen wir wohl auch keinen mehr, der uns erlöst … Du sagst, Gott schüttet uns zu. Schön, aber wenn wir alle fortgehen, wer wird die Kohlen raufbringen? Der liebe Gott? Na siehst du!«

Er verabschiedete sich, gutmütig, fast zärtlich. »Deine Stube steht leer für dich,« sagte er noch im Hinausgehen. »Der Kleine sitzt jetzt immer an deinem Tisch.«

Von dieser Unterhaltung blieb die Geschichte von der Samthose lange im Gedächtnis des Kranken haften. Er malte sie sich anschaulich bis in alle Einzelheiten aus, aber er zögerte lange, sie mit seinem Leben zu verknüpfen und Wahrheit und Irrtum ihres innerlichen Gehaltes zu scheiden.

Er erzählte sie auch dem Generaldirektor, als dieser ihn besuchte, nachdem die ersten Worte gewechselt waren. »Ja,« sagte dieser, »ich habe erst nach dem Unglück von Ihrer Vergangenheit erfahren. Sie werden sich vielleicht wundern, aber ich habe viel darüber nachgedacht. Das Schicksal eines Menschen ist ja doch schließlich das Bleibende, auch wenn der Beruf uns mit Zahlen erstickt. Wenn einer aus der Zeit etwas Ewiges herausholen will, das fordert schon zum Nachdenken heraus, auch unsereinen. Wir sind nicht alle so satt, wie die Arbeiterschaft denkt oder wie es ihr erzählt wird.«

Er schwieg, als erwarte er eine Antwort. Er hatte die Hände zwischen den Knien gefaltet und sah auf sie nieder. Sein Antlitz war so ernst wie damals in der Versammlung, und seine ganze Erscheinung, Gebärde, Tonfall, der Blick seiner Augen glichen denen eines Menschen, der etwas Kostbares verloren hat und in fortwährendem, aber fast hoffnungslosem Suchen begriffen ist.

Andreas bezwang sich lange, aber dann sprach er es doch aus. »Weshalb haben Sie die unterste Gruppe gezeichnet?« fragte er ohne Zusammenhang mit dem Vorausgegangenen. »Wo die Särge übereinander stürzten?«

Der Direktor verzog die Lippen, und Andreas sah mit aller Deutlichkeit, daß es eine Gebärde des Schmerzes war. »Lassen wir das bitte, Herr Nyland,« sagte er. »Wir haben wohl jeder einen Brunnen, den wir zudecken, damit niemand hinuntersieht. Lassen wir das und sagen Sie mir lieber, weshalb Sie hierhergekommen sind und all das andre hinter sich gelassen haben.«

»Ich wollte den Lazarus von den Toten erwecken, Herr Direktor. Deshalb kam ich her.«

»Den Lazarus … so … und da gingen Sie natürlich zum Volk, zu den Proletariern?«

»O nein, ich ging zuerst zu den anderen, aber ich sah sehr bald, daß ich vor eine falsche Tür gegangen war. Sie warteten gar nicht. Sie wollen ja nur, daß alles so bleibt oder so wird wie früher. Sie wollen nicht bauen, sie sind höchstens für den Ringtausch. Und da kam ich hierher, denn hier wartet man wenigstens.«

»Worauf?«

Wieder wandte Andreas das Gesicht zur Wand. »Sie wissen es selbst,« sagte er leise.

»Ja, ich weiß es. Auch hier wollen sie nicht bauen. Auch hier wollen sie nur tauschen, aber umgekehrt wie dort. Es ist schade, Herr Nyland, aber unsere besten Kräfte bauen heute am Himmelreich. Und unterdes schlagen wir auf der Erde uns tot. Auch unter uns gibt es hier und da einen, der leidet. Denn hier und da schlägt Gott ja auch nach uns, auch wenn wir nicht an der Maschine oder in der Grube stehen. Die anderen denken nur, mit Geld sei das alles sehr leicht zu verschmerzen. Wenn ein Prophet aufstände, Herr Nyland, und das Geld aus der Welt schaffte, ja die Vorstellung des Geldes, das wäre wohl eine Tat, die ich noch erleben möchte. Aber auch das sind ja Träume. Finden Sie nicht, daß furchtbar viel geträumt wird heutzutage? Das ist immer ein Zeichen von Krankheit. Ich glaube nicht, daß man im Paradies geträumt hat.«

»Wodurch ist das bei Ihnen gekommen?« fragte Andreas. »Wenn man das wüßte, würde man Sie steinigen.«

»Nein, nur entlassen. Und Entlassung bedeutet ja für die andern dasselbe wie Steinigung. Sie sagten vorher, die anderen, die warteten gar nicht, die wollten gar nicht bauen. Sie hatten vorschnell geurteilt. Alle Propheten sind gewissermaßen auf einem Auge blind. Wir wollen bauen. Der Unterschied ist nur der, daß wir ausziehen wollen aus diesem Hause und weit, ganz weit fort ein neues Haus bauen. Sie wollen das alte einreißen und alle Menschen glücklich machen. Wir haben erkannt, daß das eine Utopie ist. Darin bin ich Ihnen durch mein Leben voraus. Diese Welt stirbt, die abendländische oder die zivilisierte, wie Sie wollen. Sie stirbt, rettungslos, verstehen Sie? Und deshalb sind die Opfer so schmerzlich, die jetzt noch gebracht werden. Die dreißig Särge und das andre. Und wenn man Sie erschlagen hätte, dann wäre es auch ein sinnloses Opfer gewesen. Oder denken Sie, das Rad hätte einen anderen Lauf genommen? Nach zehn Jahren hätte niemand mehr von Ihnen gesprochen, nicht einmal von Ihnen gewußt. Es ist sinnlos, in ein stürzendes Haus zu gehen.«

»Und weshalb gehen Sie nicht fort, in Ihr neues Haus? Auf eine Südseeinsel?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht bin ich zu sehr gebunden, wie Ihr Lazarus. Ein ganzes Leben ist immerhin schon etwas, und Wurzeln aus Menschenherzen zu ziehen ist schmerzlich. Vielleicht ist es auch ein … ja, ein Anstandsgefühl. Man darf doch nicht nur an sich selbst denken. Wenn wir unser Buch zumachten, alle, die innerlich sich gewendet haben, was tun dann die übrigen, für die wir zu sorgen haben? Unruhe entsteht, Verwirrung, selbst Schrecken. Und wenn etwas stürzt, trifft es immer die Schwächsten … Ja, aber was können wir nun für Sie tun? Wir werden Sie natürlich in ein Sanatorium schicken. Aber nachher?«

Andreas spielte mit der Schnur der Klingelleitung an seinem Bett und glitt mit seinen durchsichtigen Fingern die geflochtenen Fäden hinauf und hinunter. »Nachher … kommt die Beugung,« sagte er. Er sprach es undeutlich, aber seine Augen wichen denen des andern nun nicht mehr aus.

»Die Beugung, sagen Sie?«

»Ja, man könnte es ja auch anders nennen. Aber darauf kommt es ja nicht an, nur darauf, daß man es tut. Es ist natürlich schwer, vom Rand der Ewigkeit umzukehren und in die Zeitlichkeit zu gehen, in die Begrenzung, nach Verlorenwalde zum Beispiel. Die wenigsten tun es, die Narren natürlich.

»Haben Sie schon von einem Minister gehört, der nach vier Wochen sein Amt niedergelegt hätte in der Erkenntnis, daß es zu groß für ihn sei? Von einem Erzieher, weil er sah, daß er nicht berufen sei? Von einem Führer, weil er einen Besseren kannte als sich selbst? Ich habe es noch nicht gehört. Erschütterte Gesundheit, ja, das gibt es. Aber erschütterte Seele? Früher, in den alten Geschichten, da kam Gott oder er schickte einen Boten, zu den Schwachen und Ungetreuen, und dann war die Wage wieder im Gleichmaß. Soll ich denn in eine andre Grube gehen oder in ein Walzwerk oder in die Zuchthäuser? Oder soll ich mir die Haare nicht schneiden, einen Strick um meine Lenden gürten und auf dem Markte zum Kreuzzug predigen? Ich habe viel gelernt unter der Erde … der Mensch soll nicht denken, daß ein Wald erbebt, wenn man einen Baum schüttelt. Der Donner ist Gottes Sache.«

»Sie werden wieder Pfarrer sein?«

»Niemals! Ein Amt ist immer wie ein Sarg … Ich weiß nicht, was ich sein werde. Ich will bis an sein Antlitz gehen, und ich weiß nicht mehr, ob ich dazu durch den Menschen gehen muß oder durch das Tier. Alles ist verwirrt in mir seit dem Schlage, und vielleicht … vielleicht hat er Gott getroffen statt meiner und nun müssen wir beide sterben …«

Der Direktor verließ ihn bedrückt, und Andreas sah ihm noch nach, als lange die Türe sich geschlossen hatte, wie er in das Leben der Maske zurückkehrte, tüchtig, erfolgreich, beneidet. Aber in leeren Stunden, wenn der Klang aus der Tiefe emporstieg, dann würde er ein weißes Blatt unter den Händen haben oder einen Buchumschlag oder den Kurszettel einer Handelszeitung, und sein Bleistift würde wieder Särge zeichnen, in Reihen, in Kreisen und in übereinandergestürzten Haufen.

Zu Beginn des Frühjahrs wurde Andreas für sechs Wochen in ein Sanatorium geschickt, und als er es wieder verließ, war sein Körper gekräftigt und sein Kopf von dem dumpfen Druck der letzten Monate befreit. Nur die Narbe, die vom Scheitel bis in die Stirne lief, erinnerte an das Geschehene. Doch glaubte man zu bemerken, daß sein Gang eine leise Veränderung zeigte, daß er vorsichtiger geworden war und etwas heimlich Tastendes hatte, wie bei Blinden, die ihr Gebrechen verbergen wollen. Auch zeigten seine Gespräche eine Neigung zu Sprüngen, die weniger davon herrühren mochte, daß die Fähigkeit gedanklicher Sammlung und Folge etwa gelitten hatte, sondern vielmehr aus einem Verschweigen bindender Glieder entsprang, die auf das Wort verzichteten und nur in Abständen an die erkennbare Oberfläche traten.

Er liebte es, lange an der Hinterwand des Glubaschen Hauses im Garten zu sitzen und mit rückwärts gelehntem Haupt in die Ferne zu blicken. Sein Antlitz war dabei so still, daß man hätte glauben können, er schlafe. Wie früher nahm er an den Gesprächen teil, fragte und hörte zu, aber alles das stand hinter einem Schleier, war müde und gedämpft wie Farben und Klänge in einem abendlichen Nebel. Und seit dem ersten Tage seiner Rückkehr fügte es sich von selbst, daß Michael und seine Frau in erkennbarer Scheu ihm ferner rückten, während in demselben Maße der Alte und das Kind ihn in ihre stille Gemeinschaft aufnahmen. Der Instinkt der Gesunden, der nach frohen, lauten Worten verlangte, nach Bewegung und klar geäußerter Teilnahme an Dingen der Liebe oder des Hasses, fühlte ohne bewußte Erkenntnis das Fremde eines Wesens, das in stillen Kreisen betrachtend verweilte; und auf der andern Seite ergab sich mit gleicher Sicherheit die Verknüpfung mit der leisen Trauer heimlosen Alters wie mit dem dumpfen Schmerze eingeengter Kindheit.

So kam es häufig vor, daß sie alle drei an einer aufgehenden Pflanze des kleinen Gartens standen, schweigend über das Bild des jungen Lebens gebeugt, das aus der dunklen Erde emporbrach, und daß sie ohne ein einziges Wort sich verbunden fühlten in dem gleichen Gefühl des scheuen Erstaunens vor dem Geheimnis der Formwerdung aus dem Unbekannten.

Mitunter rührte eine Frage des Kindes unwiderstehlich an das sanfte Hindämmern, dem Andreas sich in diesen Frühlingstagen ergab. Und als eines Abends Christian, an seiner Seite in die untergehende und dunstverschleierte Sonne blickend, unvermutet fragte: »Ist die Sonne überall so traurig?«, ergab sich für Andreas aus diesen Worten ein erschrecktes Erwachen, das in keinem Verhältnis stand zu dem Sinn der Worte, wie sehr sie auch der Ausdruck für den grübelnden Weg eines vereinsamten Kindergemütes sein mochten.

Er schlief wenig in dieser Nacht, und am nächsten Morgen kam er früher als sonst herunter mit der überraschenden Eröffnung, daß er mit Michaels Vater und dem Kinde einen Ausflug machen möchte und er bitte sie sehr herzlich, für einen Tag seine Gäste zu sein.

Nun war ein Ausflug im Glubaschen Hause etwas gänzlich Unbekanntes und deshalb Unerhörtes. Doch überwand Christians sprachlose Ergriffenheit die bäuerliche Schwere des Alten und Frau Glubas Empfindlichkeit, und mit einem der ersten Züge verließen sie die Stadt in der Richtung auf den Rand des bergigen Landes im Süden.

Für das Kind war bereits die Eisenbahnfahrt der Sturz in ein neues Leben. Durch mütterliche Eitelkeit war es bisher in kaum gefühlter Härte von einer Welt ausgeschlossen worden, die jenseits des Gartens und vielleicht noch der Straße lag. Es saß auf Andreas' Knien, die fassungslosen Augen dicht an der Fensterscheibe, und über sein dumpfes Antlitz glitt der Widerschein nie geahnter Landschaft mit erschütternder Schärfe und Deutlichkeit. Doch schwieg es mit zusammengepreßten Lippen, und nur die Finger seiner Hände, die um das Handgelenk seines Erweckers lagen, deuteten mit ihrem zuckenden Spiel diesem den Weg der verwirrten Seele.

Der Alte, zunächst unbeholfen und bedrückt in seinem Feiertagsgewand und der fremden Umgebung, fand sich schneller in das neue Erlebnis, und seit erst statt toter Erde lebendige Äcker und Wiesen draußen vorüberglitten, stand ein versunkener Glanz in seinen Augen auf, und seine frohe Erregung, nicht geringer als die seines Enkelkindes, überstürzte sich in Worten der Entdeckung, der Anerkennung, der Erinnerung.

Zwei Stunden später durchschritten sie ein kleines Dorf und folgten einem grasigen Wege, der an niedrigen Hecken entlang durch die Felder lief. Rückgewendet sahen sie die Kirschblüte in weißen Wolken um die Dächer stehen, und vor ihnen, in nicht bedrückender Ferne, die sanft geschwungene Reihe von Hügeln, mit denen das Bergland in der Ebene sich freundlich verlor. Wälder stiegen wie große Heere an den Hängen empor, mit weit entrollten Fahnen, auf denen die Sonne lag, und aus den Gründen, in die das Licht nicht tauchte, stieg ein leuchtender Dampf in die Morgenluft.

Andreas trug das Kind auf seinen Schultern, die Hände sorgsam um die kleinen Füße gelegt, und sprach leise zu ihm hinauf. Unter der Sonne hingen unzählige Lerchen, der Kiebitz schrie über blitzenden Gräben, und rechts und links, auf nahen und fernen Feldern glitten die Pflüge ruhevoll durch die braunen Äcker, und der Schritt der Gespanne hatte das Gleichmaß ewiger Gebärde. Trieb eine weiße Wolke über die Sonne hinweg, so ging ihr Schatten groß und ruhig wie ein Segel über den Glanz der Wintersaaten, über Ackerrain und leuchtende Wiese, am fernen Hang hinunterfließend, während hinter ihm das Licht wieder erstand und seine Wärme um die Schreitenden spann.

Auf einer kleinen Höhe rasteten sie, von jungen Birken beschattet und umrauscht. Noch immer schwieg das Kind, schüttelte unwillig den Kopf auf die Frage, ob es müde sei, ließ aber die Hand nicht von Andreas' Arm, als wüßte es, daß es ertrinken müsse in diesem besonnten Lande ohne ihn. Rückwärts schauend gewahrten sie einen Sämann, den eine Bodenschwelle ihnen solange verdeckt hatte. Sein weißes Laken durchglühte die Landschaft, und im höher einfallenden Licht sah man die Körner aufblitzen, jedesmal wenn die Hand sich vorwärts schwang.

»Er sät gut,« sagte der Alte, in den Anblick versunken, »ruhig im Schritt und lose im Arm. Es lernt sich schwer, und es muß im Blut stecken, wenn es Segen bringen soll … und man denkt nicht an Revolution dabei …«

»Vielleicht wirst du noch einmal säen, Vater Gluba,« erwiderte Andreas in Gedanken. Er hatte zwei hohe Grashalme aneinandergeneigt und rollte die Spitzen zusammen. Doch drehten sie sich wieder zurück, als er die Hände losließ und wehten auf und ab im leisen Wind, der über die Höhe ging. »Manches kommt wieder,« fuhr er grübelnd fort, »und manches steht nicht mehr auf … nur Gott weiß darum.«

In einer Wirtschaft am Rande des Waldes aßen sie zu Mittag, und dann traten sie in das Schweigen der Bäume. Sie gingen bis zu einer Lichtung, wo das hohe Gras im Winde wehte und lagerten dort, die beiden Großen im Schatten, das Kind in der Sonne zu ihren Füßen. Ein kleines Wasser rieselte talwärts, über dem die Bachstelzen nach Fliegen jagten, und ein ferner Kuckuck rief über dem Berge. Sonst war das Schweigen der Tagesmitte unter dem Geäst, das Rinnen des Harzes und der schwere Duft der sich öffnenden Erde. Der Alte schlief ein wenig, die blaue Mütze nach Bauernart über die Augen gezogen, und Andreas sah zu den Wipfeln empor, die aus Licht- und Schattenquadern ein feierliches Gewölbe bauten.

Nach einer Weile stand der kleine Christian, wohl im Glauben, daß die beiden anderen schliefen, von seinem Platze auf und ging auf seinen gekrümmten Beinen langsam an den Rand des Wassers. Dort sah Andreas ihn lange unbeweglich stehen, den Blick auf das helle Geriesel gerichtet. Nichts war aus seiner Haltung zu lesen als wortlose Verzauberung. Dann saß er auf einem der Steine, die das Wildwasser zu Tal gerissen hatte, die Hände mit der Gebärde eines Greises auf den Knien, und erst nach einem scheuen Blick über die Schulter beugte er sich, tauchte einen Finger in das kühle Wasser und hob ihn an die Lippen. Man hätte von ferne meinen können, daß ein Kind dort versuche, seinen Durst zu stillen, aber Andreas wußte, daß es etwas anderes war. Und während der folgenden Stunden, wo die Schatten der Gräser unmerklich wuchsen und der Gesang der Vögel wieder erwachend aus den Wänden des Domes scholl, blieb das Kind ohne Pause oder Wechsel bei seiner sinnlos erscheinenden Handlung, sich niederbeugend und dann den benetzten Finger an die Lippen hebend. Und in diesem seelenlos erscheinenden Gleichmaß war die Bewegung gleich der eines sterbenden Tieres, von dumpfen Instinkten geleitet, dem Bewußtsein des Lebens bereits entronnen und an der Schwelle stehend, wo der Leib den Strömen des Windes oder der Welle gehorcht und nicht mehr dem geformten Bilde einer Seele.

In wachsender Verdüsterung sah Andreas auf das Kind. »Auch hier ist Lazarus,« sagte er nach einer Weile fast laut. »Wer hat dieses Kind geschlagen?«

Dann stiegen sie alle zusammen den Berg empor. »Wir wollen die Sonne sehen, kleiner Christian, nicht wahr?« fragte Andreas. Das Kind sah ihn ernst an und nickte. Es hatte, wie mitunter zu Hause, während des ganzen Tages nicht ein Wort gesprochen; doch lag in seinen Augen ein so fieberhaftes Leben, daß Andreas es besorgt ansah. Der Alte, stiller geworden, klopfte mit seinem Stock an die Stämme der Bäume, blieb auch ab und zu stehen und sah in den Wald hinein, wo goldene Schlangen über das Moos glitten und Vogelschrei aus verhüllten Gründen aufstieg. Dann sprach er wieder vom Heimatwald, der erfüllt gewesen sei von Abenteuer, Grauen und Öde, wo der Wolf am Moore gestanden und der Totenvogel geschrien habe. »Nachher hat Gott mich untergepflügt,« sagte er dann wieder seufzend. »Aber es ist schön hier, Andreas, sehr schön. Michael war mehr fürs Angeln, aber der Wald, weißt du, ist wie eine gute Saat. Er riecht gut und er wächst … ja, schön ist es hier.«

Auf der Höhe, wo das Gras wuchs, saßen sie an einem Findlingsstein, den Rücken wie an einen warmen Ofen gelehnt, und blickten hinunter. Das Dach der Bäume lag nun unter ihnen, in grauem Ebenmaß den Hang hinuntergleitend. Eine schwere Wolke stand im Westen, die Sonne bedeckend, die nur mit glühenden Balken sich auf die Erde stützte. Ruhig ausgebreitet lag das verdunkelte Land zu ihren Füßen, ferne Dörfer nur wie Hügel sich hebend, alles Laute und Farbige zu stillen Tönen gedämpft.

Sie schwiegen nun alle drei, den Blick nach der Wolke gerichtet. Wie die Sonne sank, begannen die Balken des Lichtes zu verblassen und der untere Saum der Wolke langsam zu erglühen. Dann tropfte es weiß wie von schmelzendem Metall, weicher und voller fließend, Sprünge öffneten sich in der dunklen Form, und endlich stand die Sonnenscheibe groß und makellos über dem Untergang und warf das rötliche Licht noch einmal verschwendend über die Erde.

Nun funkelten die Kirchturmspitzen über glühenden Dächern, ferne Fenster flammten im gespiegelten Licht, die Schatten der Wälder sprangen von den Rändern der Hügel weithin über die rötlichen Saaten, und in ungetrübter Klarheit schied sich das Licht von der Finsternis. Zu den Füßen der Sitzenden begrub der Wald den Fuß seiner Stämme in wachsendem Dunkel, aber über die gewellten Wipfel floß der Glanz, und wo ein fallendes Tal den Blick in die Tiefe erschloß, glühten Stämme und Moos zwischen schwärzlichen Wänden wie aus einem Brunnen heraus. Oben aber, wo sie saßen, brannte die Luft, das Blut in den geöffneten Händen schimmerte aus der durchleuchteten Haut, und ihre Stirnen waren warm vom Segen des Lichtes.

»Sieh, Christian,« sagte Andreas sanft. »Die Sonne ist nicht traurig, und jeder Untergang könnte über einem gelobten Lande geschehen, wie hier … und wenn wir es auch nicht haben, wir dürfen es doch sehen.«

»Wer war es doch, Andreas?« fragte der Alte bedrückt. »War es nicht Moses? Es steht doch in der Bibel?«

»Ja,« erwiderte Andreas, »es war Moses … Moses, der Knecht des Herrn …«

Und nach diesen Worten geschah das Erschreckende. Es geschah so plötzlich, so ohne Vermutung und Ahnung, daß es wie ein Unglück über sie hereinbrach, lähmend und verstörend, als sei der Tod hinter dem Felsen hervorgetreten und habe seine Hand zwischen sie gelegt.

Der kleine Christian nämlich, die Hände auf den Knien wie unten am Wasser, hatte regungslos gleich den andern in den flammenden Abend gesehen. Sie hatten nicht gemerkt, daß seine Augen sich weiteten, um das überfließende Licht zu fassen; sie hatten nicht gemerkt, daß über das kleine Antlitz Wellen liefen, die aus einer erstarrten Tiefe brachen: nun nach den Worten vom gelobten Lande hoben seine dünnen Arme sich, ein Schrei stieg klagend aus seinem Munde, und dann zuckte der schmale Körper in einem Krampf des Weinens unter ihren Händen, so maßlos und aller Fesseln spottend, daß Andreas ihn mit Gewalt an seine Brust pressen mußte, damit er nicht zu seinen Füßen sich auf der Erde wände.

Noch immer kam kein Wort über seine weißen Lippen, auf keine Bitte oder Frage, und furchtbar war in diesem wortlosen Weinen die wiederholte Gebärde der gerungenen Kinderhände, die ihm um ein Lebensalter voraus war und die ein Leiden ausdrückte, groß genug, um diesen kleinen Körper zu zerbrechen.

Langsam nur versiegten die Tränen, erstarb der Krampf, ein verwüstetes Antlitz hinterlassend, das Andreas an seiner Brust barg. Er fragte nicht mehr. Er nickte dem Alten nur bedeutsam zu, hob das Kind mit aller Sorgsamkeit auf seine Schultern, und dann begannen sie den Abstieg.

Am Fuß des Waldes stand der Nebel schon über den Wiesen, eine schmale Mondsichel hing vor ihnen über dem Wege, und dunkelgeschmiedet hoben Stamm und Geäst der Birken sich in den matten Dämmerungsschein. Sie sprachen nicht. Nur der Stock des Alten klang regelmäßig auf dem Kies der Straße, schwerer als in der Morgenstunde, und wenn der Kopf des Kindes an die tiefen Äste streifte, rauschte es leise über ihnen durch den ganzen Baum, und der Tau fiel in Tropfen von Blatt zu Blatt.

Es war schon dunkel im Hause, als sie heimkehrten, und Andreas brachte das Kind zu Bett. Es drehte das Antlitz zur Wand und schloß die Augen. Doch griff es noch einmal tastend nach Andreas' Hand, und nach einer langen Weile sagte es kaum vernehmlich: »Es war die Sonne, Onkel Andreas … die viele Sonne …«

Am Fuß der Treppe stand der alte Gluba und wartete auf ihn. »Er schläft,« flüsterte Andreas. »Er wußte, wie es mit Mose war … wir weinen nicht mehr … aber er mußte weinen … gute Nacht.«


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