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V.
Die Verschütteten

Drei Jahre lebte Andreas Nyland unter der Erde. Wo zum erstenmal die Schatten der Haldenkegel über seine Straße gefallen waren, hatte er seine Wanderung beendet. Er hatte an einer Bahnüberführung gesessen, wo das Gras schwärzlich vom Kohlenstaub gewesen war, und in den Dunst der Schlote geblickt, den die sinkende Sonne rötlich säumte, ohne ihn erfüllen oder durchdringen zu können.

›Sie bauen am Turm zu Babel,‹ hatte er gedacht, ›immer noch, und ihre Sprachen haben sich verwirrt; aber sie wissen nichts mehr von dem Himmel, in den sie bauen, und von dem, was Gott mit ihnen gewollt hat … Wo sind die Mühseligen und Beladenen, wenn nicht hier, und sind wir anderen denn mehr als Gäste des Schiffes, dessen Kessel sie antreiben? Wohin läuft dieses Geschlecht, groß und kühn mit seinen Ideen und Träumen, seinem Mute und seiner Unersättlichkeit? Seine Funken jagen durch den Äther, seine Vögel brausen über die Meere, seine Hände ballen die Kräfte des Weltalls, und immer noch fragt es: »Wo ist das Glück? Wo ist Gott? Wo enden die Schmerzen?« Noch immer erschlägt Kain den Abel, noch immer steht der Engel vor dem Paradiese.‹

Andreas wohnte bei einem Bergmann namens Michael Gluba, einem Landsmann aus einem verschollenen Winkel seiner Heimat, den Armut und unruhiges Blut schon vor dem Kriege in die ›Stadt‹ getrieben hatten. Er war ein fröhlicher Umsturzmann, von großer, etwas wirrer Redegewandtheit, der ein wenig spöttisch und ein wenig großspurig vor seinem Stück Leben stand und dabei mit Bescheidenheit an seinem Zukunftsstaat herumbastelte, in dem er weder die Arbeit noch den Gehorsam missen wollte und von dem er in der Hauptsache nur verlangte, daß er dem einzelnen bei einem strengen aber auskömmlichen Dasein etwas mehr Zeit schenken sollte. »Sieh mal, Freundchen,« pflegte er zu sagen, wobei seine dunklen und fröhlichen Augen sich mit einer schwermütigen Spannung in die Ferne richteten, »das Unglück ist ja gar nicht, daß wir zu wenig Lohn haben. Es könnte ja mehr sein, natürlich, aber wenn die liebe Sonne Tag und Nacht scheinen möchte, das wäre ja auch nicht gut. Nein, das Unglück ist, daß wir keine Zeit haben. Sieh mal, du kommst heraus, du mußt bis nach Hause gehen, du mußt dich waschen und mußt essen. Dann ist die Sonne unter, wenn es nicht gerade Sommer ist. Was tust du noch? Du arbeitest ein bißchen rum, im Garten oder am Ziegenstall, oder die Frau hält dir eine große Rede über die Hühner vom Nachbar oder einen Klatsch oder einen Zank. Und dann gehst du schlafen. Du hast keine Zeit gehabt, an ein Roggenfeld zu gehen oder auf einer Wiese zu liegen und in den Himmel zu sehen. Oder zu angeln. Sieh mal, wenn es so weit ist, dann muß im Gesetz stehen, daß jeder soviel Zeit hat, daß er drei Stunden am Tag angeln kann. Als ich klein war, da war das mein Sonntag. In der Woche, Freundchen, da kamen mir die Augen raus vor Arbeit, aber Sonntag war Sonntag. Heute haben nur die anderen Sonntag, die über der Erde sind. Du aber hast keine Zeit. Du möchtest einmal sitzen und wissen, daß du ein Mensch bist. Wenn die Vögel singen und das Gras wächst. Es sind ja keine großen Sachen, die man denkt, aber es könnte doch so wie der Wind über ein Roggenfeld gehen. So aber ist alles still und dunkel wie da unten. Du wirst wie ein Hund an der Kette, die Futterschüssel und dein Stroh und die Hühner, die du anbellst … Sie müßten uns jeden Tag ein bißchen loslassen, ja, das müßten sie schon …«

Er sah noch eine Weile bedrückt über die rußgeschwärzten Bäume, seufzte verstohlen und bastelte dann wieder pfeifend an einem Spielzeug für sein Kind.

Dieses Kindes wegen war Andreas zu Gluba gezogen. Es war sieben Jahre alt, hatte einen von englischer Krankheit verkrümmten und verkümmerten Körper und pflegte unbeweglich in seinem Stuhl zu sitzen, eine Blume zwischen den weißen Fingern, und mit seinen alten Augen schweigend auf die Menschen und Tiere der Straße zu blicken.

Ein ganzer Tag konnte vergehen, ohne daß es eine Frage stellte, eine Antwort gab. Dann gruben sich tiefe Falten in seine blasse Haut, und sein Mund erschien bitter und trostlos wie ein Greisenmund. Doch sah man in seinen Augen, daß es nicht Leere oder Stumpfheit war, was seine Lippen verschloß, sondern daß ein düsteres Leid des Wissenden und Entsagenden sein Antlitz verschattete, so brennend, daß es keine Sprache fand.

Seine Mutter liebte ihn nicht und machte in ihrer harten, oft zügellosen Art kein Hehl daraus. Sie war eine Polin, klein, nicht unschön, und in Liebe und Haß von Leidenschaften ohne Hemmung bewegt. »Sie hat mich schon einmal verbrüht, Freundchen,« sagte Michael und kniff in leichter Verlegenheit ein Auge zu. »Es ist nicht ganz einfach mit ihr, und wenn die neue Zeit kommt, wird sie ganz oben sitzen und der Michael wird klein sein. Aber was sollst du machen?«

Der fünfte Bewohner des kleinen Hauses war Michaels Vater. Er war noch im ersten Jahr, das Andreas dort verlebt hatte, eingefahren. Nun lebte er von seiner Rente und pflanzte Blumen. Er war ein kleiner Mann, den Michael aus der Heimat geholt hatte, als er zu etwas gekommen war, und der niemals Wurzel in der schwarzen Erde geschlagen hatte. So trug er etwas Welkes und Brüchiges in seiner gebeugten Erscheinung, aber er klagte nicht, sah mit etwas trüben Augen stumm, aufmerksam und ein wenig scheu auf die fremde Welt, arbeitete vom Morgen bis zum Abend im Garten, wobei er nach alter Leute Art mit den Pflanzen sprach, und pflegte, wenn die Umsturzpläne wie Wetterleuchten das kleine Haus erfüllten, den Zeigefinger zu erheben und bescheiden, aber nicht ohne Eindringlichkeit zu sprechen: »Man soll Gott nicht vergessen, Tochter!«

Es war ein kleiner Kreis, in den Andreas getreten war, so klein, daß man die Grenzen mit den Händen greifen konnte, und was dahinter lag, Kreis auf Kreis, war dasselbe, von derselben Dumpfheit erfüllt, derselben Hoffnung, derselben Fron und demselben Schweiße. Er hatte alle Kreise durchmessen, er hatte versucht, sie aufzulösen und im Mittelpunkt das Kreuz aufzurichten, nicht das der Kirchen, sondern das eines neuen Lebens. Er hatte in Versammlungen gesprochen und im Bergwerk, zu den Männern und zu den Frauen. Er hatte gegen den Haß gekämpft und war geschlagen worden. Er hatte eine kleine Gemeinde gebildet und sah, daß die Mehrheit schwächer war als der einzelne. Da war der Bergmann Thomas mit seiner Frau, die, kaum daß sie sich Jünger glaubten, mit fiebernden Händen an der Mauer bauten, die sie von anderen trennen sollte. Sie sagten ›die Ungläubigen‹, ›die Armen‹, ›die in der Finsternis wandeln‹, und Andreas sah den Hochmut in ihrer Seele. Da war Klaus von der Nachbargrube, der sein Hab und Gut verkauft hatte und betteln ging, um ›das Kreuz zu tragen‹. Er legte ein wenig Hand an, wo es passend erschien, aber er legte die Arbeit bald nieder, weil ›Gott ihn rufe‹. Und Andreas sah die Trägheit in seinem Körper. Da war Martha, des Kantinenwirtes Tochter, die zehnmal am Tage bei ihm war, ›um eine Gnade zu erfahren‹, die von seinen Worten nur das unbedachte vom ›Bräutigam der Seele‹ behalten hatte, und Andreas sah die unheilige Lust in ihren Augen. Und da waren alle die anderen, wurzellos und glücklos, denen ein Sturm in den Baum ihres Lebens gefallen war und die nun für eine Weile rauschten. Aber Andreas wußte, daß sie still sein würden, wenn der Sturm vergangen war.

Andreas erkannte. Wenn er im Schachte lag, die Augen über sich auf das flimmernde Gestein gerichtet, dann ließ er den Pickel sinken und lauschte in den Schoß der Erde hinein. ›Wie weit die Welt ist,‹ dachte er, ›so weit und still. Und was über mir sich aufwärts hebt, ist doch nur eine Stadt, ein Korn im Acker. Soll ich am Acker verzagen, weil ich ein taubes Korn fand?‹

Trotzdem hätte er nicht sagen können, weshalb er blieb. Wenn der ›enge Kreis‹ nicht überschritten werden konnte, so wenig es möglich war, sich von der Erde aufzuheben, weshalb hatte er die verlassen, die Gott ihm verbunden hatte? Weshalb verweilte er in gleichförmiger Wiederkehr der Tage und Nächte, der Worte und Bewegungen, wie ein Schauspieler, der Abend für Abend dieselbe Rolle spielte?

Er fand keine Antwort, und vielleicht, weil er sie nicht fand, blieb er.

Zu Beginn des Herbstes begann in der Grube ein Gerücht umzulaufen, das im Antlitz der Arbeiterstadt eine zunächst kaum merkliche Änderung erzeugte. Man wußte nicht, woher es kam, ob es absichtlich ausgesprengt worden war oder ob eine böse Wahrheit auf seinem Grunde lag. Die Verwaltung machte durch Anschlag bekannt, daß es gewissenlos und verbrecherisch sei, mit derartigen Lügen Unruhe in die Belegschaft zu tragen. Aber das Gerücht blieb. Es behauptete, daß die Flöze zwar nicht erschöpft seien, aber daß ihre Abbaufähigkeit in wenigen Jahren so weit sinken werde, daß die Verwaltung die Grube stillegen werde. Und wenn auf diese Weise schon der bedrückende Gedanke an Arbeitslosigkeit und Elend sich lähmend verbreitete, so war der andere Teil des Gerüchtes weitaus gefährlicher und in seiner aufreizenden Wirkung verhängnisvoll: daß nämlich die Verwaltung, seit die Stillegung beschlossen sei, die Sicherungsmaßnahmen vernachlässige, insbesondere die Entstaubung der Schächte, um in eine tote Sache nicht noch Kapital hineinzustecken.

Es ergab sich, wie in solchen Fällen üblich, nicht der geringste Beweis für die Wahrheit dieser Mutmaßungen. Nicht nur bestritt sie die Verwaltung mit aller Schärfe, sondern auch diejenigen Arbeiter, die durch täglichen Dienst Einblick und Mitverantwortung hatten, wiesen jede Frage mit der Verachtung ab, die der Mann an der Maschine demjenigen entgegenbringt, der, von einer Handarbeit herkommend, eine technische Frage stellt. »Is ja Quatsch,« sagten sie, und damit war die Sache für sie erledigt.

Um dieselbe Zeit tauchten in der Arbeiterstadt Fremde auf, die verschwanden und wiederkamen und zunächst nichts anderes taten, als daß sie an den Gartenzäunen herumstanden und, wie sie angaben, auf Arbeit warteten. Wenn in ihrer Gegenwart von dem Gerücht gesprochen wurde, lächelten sie wissend und ergingen sich in dunklen Andeutungen. »Natürlich,« sagten sie, »alles Mumpitz … das kennt man schon … um das Leben des Bergmannes zittert die Nation … vor drei Jahren war es ebenso, und dann trugen sie sechzig auf den Kirchhof … viel war nicht mehr übrig von ihnen … macht euch man keine Sorgen …«

Und eines Tages geschah es. Irgendwo im Dunkel der Stollen erhob es sich, was der Berechnung der Menschen fern war, wie ein gezähmtes Tier, das aus dem Schlafe aufstand und in dessen Lichtern plötzlich, grundlos, unerklärlich die Glut der Wildnis funkelte. Kein Laut ging voraus, keine Warnung. Der gewohnte, verdrossene Schritt am Gitter entlang. Und dann das Aufbrüllen, der Sprung und das Blut.

Andreas lag mit Michael Gluba in der mittleren Sohle, unweit der Förderschale. Sie arbeiteten schweigend, dicht beieinander, und das Licht ihrer Lampen bestrahlte wie jeden anderen Tag die flimmernden und zerklüfteten Wände. Wie immer war die Tiefe lebendig: das fern ertrinkende Dröhnen eiserner Schienen, gespenstisch in Hall und Widerhall durch die Stollen laufend; der Schlag eines anderen Pickels, vom hellen Knirschen bis zum dumpfen Klang; ein schwacher Ruf, erstickt wie aus einem verschütteten Brunnen. War es ein Todesschrei, war es ein Scherz? Und unaufhörlich das Tropfen fallenden Wassers hinter schweigenden Wänden, peinigend im Rhythmus, im Tonfall, im Klang. Das dumpfe Brausen der Ventilatoren wie das Rauschen eines Waldes … ach, wo standen besonnte Wälder? Wo ging der Mensch aufrecht unter leuchtenden Wolken? Wo hing ein Vogel am Himmel Gottes?

Als es geschah, war es dunkel. Die Lampen erloschen. War es zuerst ein erschütternder Schlag mit breiter Fläche auf den zuckenden Scheitel? War es zuerst ein gellendes Gebrüll, rasend aufschwellend zum stürzenden Donner unermeßlicher Gewölbe? War es ein giftiger Atem, stechend, glühend, von flackerndem Leuchten durchirrt? Und wann begann dieses Schweigen, diese furchtbare Öde aller Tonlosigkeit, dieses Grauen des Sarges, auf den eine Riesenfaust den Deckel hallend geschmettert? Sie wußten es nicht.

Andreas, an die schließende Wand des Stollens geschleudert, fühlte Michaels Kopf an seinen Knien und feuchte Hände nach den seinen suchen. Er hielt sie fest, sie an seine Brust pressend als das einzig Lebendige in einem Abgrund aller Verlorenheit. Dann schrien sie beide, wie Tiere schreien, die man unter das Beil führt, und entsetzten sich vor der Verruchtheit des Klanges, der in der Leere erstarb.

Michael war der erste, der alles begriff. »Schnell!« schrie er nur, riß Andreas empor, und dann brach der Schall ihrer gehetzten Füße ihnen voraus in das tönende Dunkel. Die Luft war dumpf und brandig und füllte wie ein heißes, nasses Tuch ihre Lungen. Lief es nicht mit ihnen mit unter der Erde, vielfach, tausendfach, preßte sich zwängend vor ihnen in den Gang, wich zur Seite, kam wieder, nun neben ihnen, nun vor ihnen, um den Weg zu verlegen, am Gestein rasend zu klopfen, daß es stürze, mauer- und bergehoch, zwischen sie und die Sonne, das Licht, den Ausgang, die Rettung? »Hilfe!« schrie Michael. »Hil – – fe!«

Aber es lief immer noch, stärker und schneller, triumphierend und böse. Das Bild des Kreuzes erschien flammenlodernd vor Andreas. O welche Seligkeit, am Kreuze zu sterben, aufgerichtet auf blühender Erde, Wolken um die Abendsonne … Duft der Kornfelder … Mohnblüten am Rand … so rot … so unwahrscheinlich farbenvoll …

Hing die Förderschale dort über dem Abgrund? War es nicht ein Gespenst, den Arm nach oben gereckt, den trügerischen Körper über der flammenden Tiefe? Weshalb verzerren sich die Gesichter so? Weshalb zittert das Kinn des Obersteigers so entsetzlich? ›Er wird das Signal nicht geben können,‹ denkt Andreas. ›Das Gespenst wird warten, bis sie alle auf seinem Rücken sind, und dann wird es abwärts kriechen im engen Schacht mit seinen tausend gekrümmten Füßen, grau und schleimig wie bei den Tieren, die unter den Steinen des Kellers leben … Und oben scheint das Licht, die Gnade, der Erlöser … wie ein Spalt im Gewölbe, so dünn, so klein … und immer kleiner wird es … schließe mir die Augen beide … o Wahnsinn, das ist ja ein Gedicht … horch, die Schale schwebt … höher, immer höher … jetzt reißt das Seil … und unten brüllt die Vernichtung, Flammen, Wasser, Gift, das Chaos der Tiefe … ihr Brüder … o ihr Brüder …‹

Andreas kniet abseits am Tor der Maschinenhalle, die Stirn am warmen Holz. Blut rieselt an seiner Wange herunter und tropft auf seine gefalteten Hände. Er fühlt es mit einer tränenvollen Ergriffenheit, ohne Gedanken, ohne Worte. Er fühlt nur das Leben warm an seine Haut sich schmiegen, die Sonne auf seinem Haar, den Öldunst der Motoren.

Aber erst als er sich den Sauerstoffapparat umschnallen ließ und wieder auf die Förderschale trat, kehrte er ins Leben zurück. Noch immer fühlte er den Schlag auf seinem Scheitel, aber langsam bildete sich vor seiner Seele wieder ein Raum, und in dem Raum standen Gott und Mensch in furchtbarer Gebärde einander gegenüber.

Mit geschlossenen Augen fuhr er wieder in die Tiefe.

Die Erde hielt ihre Opfer, und erst nach acht Tagen konnten sie bestatten, was sie ihr entrissen hatten. Es waren verkohlte und verstümmelte Leichen, furchtbare Entstellungen der Ebenbilder, die an ihren Särgen standen, eine Zerreißung und Schändung des Lebens, die aller Form spottete, die man über sie breitete.

Als die Pfarrer gesprochen hatten, sah Andreas, daß man ihn anblickte. Michael hatte ihm gesagt, daß die Belegschaft ihn bitte, für sie zu sprechen. Er hatte nichts erwidert und nur die Hand gehoben, daß man ihn allein lassen solle. Und nun blickten sie ihn trotzdem an. Ein großes Schweigen entstand. Nur die Fahnen rauschten, und die Glocken dröhnten unerbittlich wie Hammerschläge auf einen zuckenden Körper.

Nicht das Schweigen peinigte Andreas, aber der Ton der Glocken fiel auf seinen Scheitel wie der flammende Schlag dort unten in den schweigenden Schächten. Weshalb lärmten sie denn nur über diesem Tode? Weshalb verhüllten sie die Kirchentürme nicht? Weshalb zerrissen sie mit diesem seelenlosen Schrei die Decke über dem Geschehen? So war es nicht der Auftrag oder der Schmerz, der ihn vorwärtstrieb, sondern die Glockenklänge waren es, die ihn zu den Särgen stießen, daß er über ihnen stand und die Erde an seinen Füßen bröckelte. Und es war nicht ein Gebet zu Gott, in dem er die Arme mit wilder Gebärde emporwarf, sondern es war vielmehr ein Schrei der Qual, mit dem er diese furchtbaren Töne von sich stieß, die vom Himmel herabdonnerten, von Gott geschleudert, aller Gnade bloß, damit die Särge tiefer versänken, damit der Mensch zerbrochen würde, noch mehr, zu noch verzerrterer Form, wie man einen Wurm hinuntertritt in die weichende Erde, tief, tiefer, soweit die Kraft des Fußes reicht.

Und als er endlich in die Knie sank, mit einem Gesicht, das die Umstehenden niemals mehr vergaßen, geschah es nicht in Demut und nicht in Ergriffenheit, sondern als breche er unter einer Erzplatte nieder, und wie eines Erschlagenen Schrei brach es von seinen Lippen über die Glocken hinaus: »Mein Gott, mein Gott! Weshalb hast du uns verlassen?«

Wenige glaubten an Gott, die Zeugen dieses Rufes waren, aber man sah die finsteren Gesichter sich zur Erde neigen, und die dumpfste Seele erbebte im Schauer des Einstmaligen, als der dort auf den Knien lag und die Frage hinausschrie, für die sie so viele Worte fanden, so viele Abwandlungen und haßerfüllte Wendungen, und die nun in ihrer ewigen Form hindurchschlug durch den Haß und Schutt ihrer Seele und mit weißer Glut in den Keim des Lebens traf, von dem sie lange geglaubt, daß er erstorben sei, wie Irrtum, Märchen und Aberglaube es verdienten.

Der alte Gluba und Michael führten ihn nach Hause, und man hörte ihn die ganze Nacht in seinem Zimmer umhergehen, als suche er an den verschlossenen Wänden nach einem Ausgang, und mit jemand sprechen, der schweigend und unerbittlich in einer Ecke sitzen mußte.

Als er am nächsten Morgen herunterkam, verwunderten sie sich über sein Antlitz, aus dem alle Finsternis gewichen war, und es erschien ihnen der Ordnung gemäß, daß der kleine Christian, der ihn lange angeblickt hatte, nachdenklich fragte: »Wo bist du gewesen?«

Er erhielt keine Antwort, sondern Andreas nickte ihm nur zu, griff nach seinen Sachen und sah Michael an.

Aber dieser saß immer noch auf seinem Stuhl. »Wir gehen heute nicht,« sagte er endlich, und es gelang ihm nicht ganz, eine leise Bedrückung zu verbergen. »Sieh mal,« fuhr er fort, »die andern sind noch nicht … ganz so weit. Wir haben auch gesprochen, die halbe Nacht, aber nicht so wie du … du bist wohl weitergekommen. Bei uns schreien sie immer gleich, weil sie sagen, daß sie keine Zeit haben … Und da haben sie denn abgemacht, daß wir heute um neun zur Verwaltung gehen. Da wollen sie reden, und du … du sollst auch mitgehen.« Er hatte ein Messer spielend über den Deckel der Kaffeekanne gelegt und versuchte, es so ins Gleichgewicht zu bringen, daß er es wie eine kleine Schaukel bewegen könnte. Aber er kniff ein Auge zu, als ob er von seiner Frau spräche, und er setzte seine Worte so vorsichtig wie vor Gericht.

»Was wollen sie reden?« fragte Andreas.

»Nun … sie wollen, daß eine Kommission kommt, um die Anlagen zu untersuchen, wenn alles wieder in Ordnung ist. Und der Betriebsrat soll auch in die Kommission … und bis dahin … soll nicht gearbeitet werden … aber der Lohn soll weiter gezahlt werden … und die Angehörigen … von gestern … sollen eine Rente bekommen … eine Abfindung … es war ziemlich viel … weil sie doch glauben, daß die Verwaltung schuld hat … und die von auswärts sagten, daß die andern Gruben auch nicht einfahren werden.«

»Wenn Gott euch schlägt,« sagte Andreas, »weshalb schlagt ihr wieder?«

»Gott?« sagte Michaels Frau und ballte ihre Faust auf dem Tischtuch. »Wenn sie nichts tun am Schacht, dann ist das Gott?«

Der alte Gluba hob die Hand, aber er sagte nichts.

Sie schwiegen bedrückt, und dann ging Andreas mit dem Kind in den Garten und saß neben ihm, bis Michael dazu kam und vom Zaun aus die Straße hinuntersah, um anzudeuten, daß es Zeit sei.

Der Generaldirektor saß mit seinen Beamten hinter dem langen Tisch, der mit sauber geordneten Papieren bedeckt war, und hörte schweigend zu. Er sah die Sprecher nicht an, sondern blickte auf die Spitze seines Bleistiftes, der auf einem großen, leeren Blatt seltsame Figuren entstehen ließ. Sein Gesicht war ernst, und ab und zu entstand eine schmale Falte in seiner weißen Stirn, aber sie verschwand gleich wieder, als werde er sich des Unpassenden, vielleicht Gefährlichen dieser Bewegung sofort bewußt.

Als die Forderungen vorgetragen waren, blieb es eine Weile still. Der Generaldirektor betrachtete noch einmal prüfend die Spitze seines Bleistiftes und hob dann unvermittelt den Blick. Er ging langsam die Reihe der finsteren Gesichter durch, die ihm zugewendet waren, und verharrte länger bei Andreas, der ihn traurig ansah, als wüßten nur sie beide von dem Wahren und Entscheidenden, was hier im Raume stand.

Dann begann er zu sprechen, leise und fließend, als lägen die Worte schon lange wohlgeordnet und abgewogen in seinem Inneren und er hebe sie nur vorsichtig aber mit der Sicherheit des Meisters vor die Augen der anderen. Und dabei blieb sein Blick ohne jede Veränderung an Andreas haften, als sei auch er sich dessen bewußt, daß nur sie beide über diese traurigen und drohenden Dinge zu sprechen hätten.

»Ich bin überzeugt,« sagte er, »daß jeder Mann der Belegschaft … der sachlich und gerecht denkt … und nur auf solcher Grundlage ist eine Verhandlung bekanntlich möglich …, daß jeder Mann, sage ich, keinen Zweifel in die tiefe und ehrliche Trauer setzt, die die Verwaltung über die Katastrophe fühlt. Sie hat das in den Worten zum Ausdruck gebracht, die gestern gesprochen worden sind; sie hat das dadurch zum Ausdruck gebracht, daß sie den Hinterbliebenen eine Ihnen bekannte Unterstützung hat auszahlen lassen, die nach den jeweiligen Familienverhältnissen mit Gerechtigkeit und Sorgfalt abgemessen worden ist; und sie empfindet darüber hinaus eine Trauer, die sich weder in Worten noch in Geldsummen ausdrücken läßt, und die ungesprochen in der Brust jedes einzelnen von uns weiterlebt.

»Die Verwaltung ist ferner bereit … ich kann das ohne vorherige Besprechung mit den einzelnen Mitgliedern verbürgen …, die Forderungen zu erfüllen, die in betreff der Kommission und der Unterstützung derselben durch den Betriebsrat gestellt worden sind. Sie ist ferner bereit, die gesetzmäßigen Verpflichtungen an die Hinterbliebenen der Opfer nicht nur ohne Einschränkung und Verzögerung zu erfüllen, sondern sie nach dem Stande der Produktion und der Geschäftslage und den jeweiligen Umständen angemessen zu erweitern, ohne daß dafür schon heute genaue Richtlinien festgesetzt werden können.

»Die Verwaltung ist aber nicht in der Lage … und auch dieses glaube ich verbürgen zu können … über eine der übrigen Forderungen zu verhandeln, geschweige sie zuzugestehen. Weder also den Ausfall der Schichten in den unversehrt gebliebenen Sohlen unter Weiterzahlung des Lohnes, noch die … ich darf wohl sagen beispiellosen Forderungen in der pekuniären Unterstützung der Hinterbliebenen … ich darf annehmen, daß die übrigen Herren mit mir einverstanden sind.«

Eine leise Bewegung entstand in der Gruppe der Bergleute, aber sie erstarb, ohne daß ein Wort gesprochen wurde. Der Bleistift des Generaldirektors zeichnete wieder seltsame Figuren auf das weiße Blatt.

»Nyland soll reden,« sagte dann eine harte Stimme.

Andreas trat ohne Zögern, als habe man es ihm befohlen, an den langen Tisch, zog das weiße Blatt vorsichtig unter der Hand des Generaldirektors vor, betrachtete es und legte es sorgfältig wieder an seinen alten Platz. Es war mit Zeichnungen von Särgen bedeckt. Nur die Umrißlinien standen da, nichts weiter. Aber die Särge waren zu verschiedenen Gruppen geordnet, einmal in Reihen nebeneinander, dann im Kreise, die Fußenden nach der Mitte gekehrt, und dann in Haufen übereinander getürmt, regellos und mit scheinbar absichtlicher Verzerrung, als habe ein Erdbeben sie zusammengestürzt.

Andreas sah den Direktor an. Dieser wich dem Blick nicht aus, aber in seinen Augen stand eine leise Verwirrung, fast eine Scham, und er legte die Hand so schnell über das Blatt, als fürchte er, daß ein andrer es ihm entreißen könnte. Die Blicke aber, die aus getrennten Leben einander getroffen hatten, prüfend der eine, scheu der andere, glitten zusammen wie Wasser aus zwei Gefäßen, bildeten einen Spiegel und trennten sich dann erst zögernd, wobei sie nun von dem gleichen Ausdruck erfüllt waren.

Andreas ging zur Türe. Als er die Mitte des Raumes erreicht hatte und so zwischen den beiden Menschengruppen stand, blieb er stehen, blickte nach dem Tisch und dann nach seinen Kameraden, um auszudrücken, daß in gleichem Maße für beide Teile gelte, was er von diesen Dingen zu sprechen habe, und sagte dann nur ohne jede Anmaßung: »Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen.«

Darauf stand er noch mit gesenktem Antlitz, als ob er nun erst wie nach einer Überschrift fortfahren wolle, machte dann aber mit der Hand eine abschließende Bewegung und verließ die Versammlung.

Eine Stunde später wurde der Streik erklärt und am nächsten Abend nach nochmaliger Besprechung, an der Andreas nicht teilnahm, die Verweigerung der Notstandsarbeiten beschlossen, um die Grube ersaufen zu lassen. Dasselbe geschah auf den Gruben der Nachbarschaft.

Weitere zwei Tage später wurde das Maschinenhaus nach Überwältigung der Polizei von den Streikenden gestürmt, die an den Pumpanlagen arbeitenden Beamten und Helfer mißhandelt und die Maschinen beschädigt. Andreas als der einzige ›Streikbrecher‹ der Belegschaft erhielt mit einer Eisenstange einen schweren Schlag über die Stirn, der vielleicht mehr der Maschine gegolten hatte, vor die er sich schützend warf, als ihm, und wurde bewußtlos ins Knappschaftslazarett getragen.

Hier lag er nahezu sechs Monate, den tastenden Fuß lange im Reich des Todes, in seinen Fieberträumen um Gottes und der Menschen Knie geklammert, bis die Räume der Erde langsam wieder vor seine Augen traten. Seine erste Frage, als er sich der versunkenen Küste wieder erinnerte, war, ob sie wieder arbeiteten. Als man sie bejahte, schloß er die Augen, drehte mit Mühe den Kopf zur Wand und sagte zur Schwester, die sich über ihn beugte: »Sie hätten mich sterben lassen sollen … ich kann keine Toten … auferwecken.«


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