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III.
Das Haus des Leidens

An bewölkten Tagen dämmerte es noch, wenn Nyland in der Frühe aus seinem Hause trat und durch flackernde Straßen zum Strome ging, wo die Fähre schaukelnd lag. Ihn fror etwas in seinem dünnen Mantel, und ab und zu stolperte er, weil seine Augen oben im steigenden Licht hingen, um sich satt zu trinken an den ergreifenden Linien dieser schweren Wolkenberge, deren zerreißende Ränder sich mühsam erhellten, bevor die sausende Halle ihn einschloß, in der die blitzenden Gatter im Holze schrien. Seit Beginn der Frühjahrsferien arbeitete er in dem großen Sägewerk, und zu Anfang des neuen Semesters wollte er das erste Examen machen. Sein harter Körper, in dem noch der starke Atem seiner Waldzeit lebte, ertrug die schwere Last der acht Stunden und der langen Abende über seinen Büchern, und seine Seele ging freudig, wenn auch ernst, in das »Haus des Leidens«, in dem die Bäume klagend durch die Sägen gingen und in denen ein blasser, oft finsterer Ernst aus hundert Gesichtern auf Rad und Hebel starrte; in denen kein selbstvergessenes Lachen vogelgleich zu den berußten Hallen stieg, nur ein harter Zuruf, ein kalter Scherz oder ein verdrossener Fluch, wenn der seelenlose Ablauf der Stunden mühevergrößernd irgendwo stockte.

Er hatte immer nur »Häuser des Leidens« gesucht zur Ferienarbeit, um sein Leben zu fristen, einmal ein Bergwerk, einmal eine Zellstoffabrik, nun zum zweitenmal ein Sägewerk. Von einer Erntearbeit war er nach drei Tagen fortgegangen, in eine Fabrik. »Sie brauchen mich hier nicht,« hatte er zu sich gesprochen. »Das ist ein Gotteslohn, am Kleid der Erde zu weben. Ich aber muß dahin, wo der Teufel in Rad und Speichen braust, wo sie das Licht getötet haben, den Atem der Wiesen, den Schweiß, den die Sonne gibt. Nur dort sind die Augen, die den Knecht Gottes brauchen, die heiseren Stimmen, die nach ihm rufen. Nur dort sind die Häuser des Leidens.«

Er lauschte mit immer neuem Ergriffensein auf das Echo der vielen schweren Füße, die von allen Seiten dem Strome zustrebten. Er sah die schwere Bürde auf allen gebeugten Schultern: die Dumpfheit gierigen Schlafes, das Grauen der Frühe, die Kette kommender Stunden, Endlosigkeit des Weges, notvoll und ohne Atemholen, und aus treibenden Wolkenfetzen und dem schweren Rauche ferner Essen formte sich ihm täglich neu das kalte Antlitz des Schicksals, das aus heulenden Sirenen nach neuer Beugung schrie.

Der Märzwind trieb den Regen als eine steile Wand über den Strom. Das Wasser rauschte schwer, und eine große Möwe hing traurig für ein paar Sekunden über der schwankenden Fähre, bevor sie mit hohem Schrei flußaufwärts stieg, in den Rauch und Nebel getürmter Dächer und Brücken.

Sie standen schweigend auf den schlüpfrigen Planken, die müden Gesichter dem Regen abgewendet, die finsteren Augen, blind allem Menschlichen, am grauen Wasser hängend, auf dem ein toter Ölschimmer lag. Die Glocke schrie heiser auf, die Maschine begann zu stampfen, und langsam trieben sie hinaus, schräg gegen den drängenden Strom, auf dem der Rauch des Schornsteins wie ein schweres Laken mißfarbig niederschlug. Ein Schlepper, schwarz und gedrungen, brauste vor ihnen durch die Fahrrinne, heulte dreimal auf und schleuderte ihnen Dampf und feuchten Ruß ins Gesicht. Sie falteten nur die Stirnen, und auch als der Mann am Steuer das Kinn aus dem Wollschal hob und halb über die Schulter zu ihnen herunterrief: »Ju hebbt ji woll verbiestert, Doesköpp, wat?«, da hob nur der Fährjunge den Anlegehaken und schrie ärgerlich: »Kohlenschieter!« Die andern sahen gar nicht auf, nur von den Vornstehenden spuckte einer durch die Zähne verächtlich ins Kielwasser des Schleppers.

Erst als sie am andern Ufer zwischen Holzflößen ans Bollwerk stießen, als sie den Fuß auf den Boden ihrer Arbeit setzten, als die klirrende Hast der Höfe und Hallen sie strudelnd umfing, schüttelten sie langsam die Dumpfheit zugeschütteter Stunden ab, und leise begannen die Räder den immer gleichen Weg immer gleicher Tage zu laufen.

Jetzt erst empfing Nyland hier und da ein Kopfnicken und ein kurzes Wort, aufleuchtend im Grau des Morgens. Von einer der riesigen Fichten, die auf kleinen Wagen in die Gatterhallen rollten, wandte sich ihm lächelnd ein graubärtiges Gesicht zu, und eine heisere Stimme rief ihn gutmütig an:

»Na, Pfarrerke, all wedder tau veel studeert?« Aber Nyland schüttelte nur fröhlich den Kopf und hob die nasse Hand zu den Wildgänsen, die mit gedämpftem Schrei durch die Wand des Regens stießen. Schon kamen die ersten der Nachtschicht ihm entgegen, den stumpfen Blick zur Fähre gerichtet, auf der nur der Rudermann im schwarzen Ölmantel stand, regungslos gegen das treibende Grau des Wassers, wie der Ferge eines Totenkahnes.

Die wenigen Frauen der Schicht nickten Nyland zu, und er blieb ein paar Augenblicke stehen, um in die vorübergleitenden Gesichter zu sehen, die sich vorwärts beugten, als hingen sie noch am verwirrenden Glanz der Riemenscheiben. Das stumpfe Grau des Stahles lag als Widerschein auf ihren Wangen, und eine müde Falte des Schmerzes zog ihre Stirnen zusammen, von dem rasenden Schrei der Kreissägen, die drohend durch ihre Stunden geblitzt hatten. Noch als er in der Arbeitsbluse an sein Gatter trat, war ihm das Grau der Halle erfüllt von unzähligen schmerzlichen Stirnen, und im Takt der Sägen hörte er den hohen Ruf der wilden Gänse.

»Vater Heinrich« zog sich schon die Joppe über, als er ihn ablöste. Sein blasses Baptistengesicht trug noch mehr Falten als sonst.

»Alles klar, Vater Heinrich?«

Der Alte sah noch einmal sorgenvoll auf die blitzenden Sägen.

»Alles klar, Pfarrer,« sagte er ernst. »Aber du machst es doch noch mal kaputt, paß auf. Bist zu früh getauft … na, denn wis' mal dien Kunst!« Und er klopfte ihm auf die Schulter und ging hustend davon.

Nyland lächelte. Es war immer dasselbe Gespräch. Nur wenn sie die gleiche Schicht hatten, führten sie einen stundenlangen Kampf um das Sakrament der Taufe.

Er nickte zum nächsten Gatter hinüber, wo Jons stand, der lange Litauer, und mit finsteren Augen in die Sägen starrte. Er wachte erst spät aus den schweren Träumen seiner Nächte auf.

Dann beugte er sich zu seiner Maschine. Er sah die Öllager nach, die Walzen, die Blockwagen, spürte den gleichmäßig sausenden Atem der Riemenscheibe, das leise Dröhnen der Gatterriegel, und langsam senkte sich der fressende Lärm der Sägenbänder in seinen Körper, verschmolz mit dem Rauschen seines Blutes und zog das graue Band der Stunden mit stählernen Klauen über unerbittlich gleitende Walzen in den Abgrund der Erschöpfung hinein.

Noch sah er ab und zu auf Jons hinüber, der über seiner Maschine wie über einem bösen Tiere lag, noch empfand er in halber Wachheit das Erlöschen der Lampen hoch über seinem Haupte, noch krümmte er sich unter dem Gebrüll der Kreissäge in der Nebenhalle, deren zwei Meter hohe Scheibe in die Eichenstämme sprang: dann hielt das Haus des Leidens ihn umschlungen, und seine Waldseele, verschüttet unter steinernen Tagen, griff nach dem einzig Lebendigen der toten Halle, nach den stöhnenden Bäumen, und sprach mit ihnen, bis die Wolfszähne der Sägen den weißen Leib zerrissen hatten und aus dem hellen Tor auf den kleinen, bösen Traumtieren gleichenden Wagen der nächste Stamm sich Zoll für Zoll zwischen die Gatterschenkel schob.

»Du Pfarrer der Liebe,« sprachen die grauen Fichten aus seiner Heimat, »du Knecht Gottes, was treibst du doch für ein Handwerk mit uns! Haben wir nicht deinen Heiland behütet, als er zu unseren Füßen lag? Haben wir nicht die Äste gesenkt, daß keines Menschen Auge den Weg zu ihm fand, bevor du selbst kamst, um zu bekennen? Haben wir nicht in den hellen Nächten gerauscht, damit niemand vernahm, wie er nach dir rief? Und nun stehst du hier, um uns zu zerreißen?«

»Ach, ihr Brüder,« flüstert er dann, »seht doch, daß ich nicht um der Freude willen hier stehe, auch nicht um des Geldes willen. Seht doch auf die Hände, die euch bis zu mir führen, auf die Augen, die euch betrachten; seht doch Jons drüben an, dessen Seele in Haß ertrinkt gegen alle, die ihre Frauen in reine Kleider hüllen können, die ihnen Blumen in ihre weichen Hände legen können, während seine Grita in geflickter Leinwand geht und böse Worte hören muß, weil sie bei ihm lebt ohne Pfarrer und Gesetz. Seht sie alle an. Sind sie nicht wie euresgleichen, wenn unter der Rinde der Käfer frißt oder in den Wipfeln die Raupe? Brauchen sie nicht einen Knecht Gottes, mehr als alle andern? Brauchen sie nicht einen, der von drüben kommt, aus der hellen, satten Welt, wie sie denken, in ihre dunkle, um zu ihnen zu sprechen: ›Brüder, seht, ich will euer Leid mit euch tragen?‹«

»Das kann schon sein,« seufzen dann die Bäume, »aber kannst du ihnen denn auch helfen?«

»Ach, ihr Brüder,« antwortet er, »wer kann das sagen? Aber seht, einmal in der Woche sitze ich bei Jons und Grita in ihrer Wächterhütte oben am Strom und spreche mit ihnen. Nicht nur vom Heiland, ach nein, aber von ihrer Heimat und von meiner Jugend, und wie ich hinter dem Stacheldraht saß, und wie ich die Tiere erlösen wollte. Und auch vom Reiche Gottes, wie ich es mir denke, wenn wir alle zusammen am Menschen leiden werden … Und der Baptistenheinrich, er sagt immer, ich verstehe vom Gatter soviel wie von der Bibel, und wie wir die Bibel kaputt gemacht haben, so würde ich auch das Gatter einmal kaputt machen. Und doch liebt er mich, und ich kann bei seiner kranken Frau sitzen und ihr die Bergpredigt erklären … Und auch die andern, manchmal sagt ja einer ein häßliches Wort, aber sie weisen ihn zurecht, denn sie haben mich lieb, weil ich sie lieb habe. Es ist ja nicht viel, was ich ihnen helfe, aber es ist doch ein Stückchen Brot unter soviel Steinen.«

»Ja, aber uns gibst du kein Brot,« stöhnen die Bäume wieder. »Ihr Brüder,« seufzt er und fährt mit der Hand über ihre Rinde, die zwischen Walzen zerbröckelt, »war euer Leben nicht schön? Haben die Vögel nicht genistet in euren Zweigen? Schwang sich der Marder nicht durch eure Wipfel? Fand das Eichhorn nicht Speise bei euch? Klang der Falkenschrei nicht über eurem Dach? Und wie vieler Menschen Augen hingen nicht trostgesättigt an eurem dunklen Kleid … Schön und reich war euer Leben, fern vom Dampf der Städte, unter dem Mantel Gottes. Nun geht ihr durch die große Wandlung. Alte Menschen werden sich zum letzten Schlafe betten in euch, neue Menschen werden erwachen in euch, und vielleicht wird schon einer unter ihnen sein, der die deutsche Erde erlösen wird, und dessen mildes Antlitz über die blutige, irrende Welt erstrahlen wird … Klagt nicht, meine Brüder, es war kein steinernes Leben, das ihr geführt habt.«

Dann schwiegen sie, bis der jagende Sensenschlag der Gatter ihm so die Seele zerriß, daß er von neuem zu sprechen begann. Und waren es nicht die Fichten seiner Heimat, dann waren es die Kiefern Litauens oder die Birken und Espen aus der Tiefe Rußlands oder die Silbertannen aus Böhmens Bergen. Viel hatten sie zu antworten auf seine Fragen, und überall war das Leid zu Hause. Nirgends war der Heiland daheim, und nirgends trug der Mensch das Kreuz wie eine Blume. Aber in der grauen, rußfleckigen Halle, die von Öldunst erfüllt war und dem herben Duft der Sägespäne, erblühte das Bild weiter, rauschender Wälder, die Ströme gingen traurig durch das weitgeschwungene Land, hoher Sternenglanz fiel auf die Dächer leidbergender Hütten, und das Antlitz der Erde rief nach der Menschenhand, die lindernd über ihre Falten des Schmerzes gleiten sollte.

Verlor sich so seine Seele auf den Wegen der Zukunft und kniete sie auf den traurigen Straßen des Menschen, um den Heiland auszugraben, dann kam es wohl, daß Jons mit harter Stimme ihm ein kurzes »Paß auf!« zuschrie, wenn das Gatter leer lief oder seine Hand achtlos mit den Stämmen zu den Walzen glitt. Dann schrak er auf und nickte dankbar zurück, ergriffen vom Gefühle des Behütetseins, das aus den hellen Augen am andern Gatter strömte.

Draußen lag jetzt die Sonne wie eine flammende Scheibe im Viereck des Tores, die Rinde unter Nylands Händen war warm, und der Duft des Holzes war so berauschend, daß er dem Tor den Rücken wenden mußte, weil seine Seele hilflos wurde vor dem Ahnen der Erde, die draußen auferstand.

Als die Sirene zur Mittagspause heulte und er das Gatter stillgelegt hatte, lief er zuerst bis ins Tor, um über Strom und Wiesen bis zum ferne blauenden Waldstreifen zu blicken. Dann erst sah er sich nach Jons um, als werde er sich der Schuld seiner Freude bewußt, und ging langsam mit ihm über den Hof zu den letzten Stämmen, die abseits dicht über dem Wasser lagen. Hier saßen sie täglich um diese Zeit und warteten auf Grita, bis sie mit der Fähre herüberkam.

Nyland setzte sein angewärmtes Eßgeschirr neben sich auf die Erde und faltete die Hände über den Knien.

Jons stand neben ihm, die Hände in den Taschen, und starrte den Strom hinauf, über dessen Ufern die Kiebitze schrien. Sein braunes Haar fiel ihm in die finstere Stirn, und sein schmales, hartes Gesicht war böse und traurig wie in einem Kerker. »Iß doch!« sagte er ungeduldig.

Nyland lächelte. »Bis sie kommt, Jons. Sie sieht dann so hübsch zu.«

Jons zog seine kleine Pfeife und rauchte. Er saß, dem Strome den Rücken wendend, die Ellbogen auf den Knien, und zertrat gedankenlos die trockene Rinde unter seinen Füßen. Aus den Wiesen am andern Ufer stieg eine Lerche selig in den blau gewordenen Himmel hinein, so durchbebt von Jubel, als höbe sie mit jedem Liede ein Stück der schweren Scholle empor, damit es durchleuchtet und durchsonnt werde vom Atem Gottes und bereitet werde zum schweren Lose des Samens und der Ernte.

»Wie sie singt,« sagte Nyland ergriffen. »Ach, wer von uns geht so zu seiner Arbeit!«

Jons sah auf, als habe er ihn geschlagen. Seine grauen Augen öffneten sich schwer wie auf dem Grunde eines dunklen Wassers. »Wie du wieder redest,« sagte er bitter und lauschte doch heimlich und schmerzvoll hingegeben den steigenden Tönen. »Wenn ich gepflügt habe zu Hause, glaubst du, ich habe geweint? Oder geflucht? Mensch, gesungen habe ich so wie die Lerche dort, und manchmal, wenn der Wind vom Strom über das Feld stieß, dann hab' ich geschrien vor Lust, verstehst du? Aber jetzt, wo sie mich betrogen haben um den Hof, da soll ich wohl singen, am Gatter oder unter der Erde im Kohlenstaub, oder in dem Wächterloch da oben am Fluß, was? Arbeit, sagt er, Arbeit! Mensch, ich sage dir, heilig ist die Arbeit, aber auch dein Heiland hat nicht gesagt, daß der Sklave singen soll, wenn sie ihm die Haut abziehen.« Er ballte die rechte Faust, und eine schwere Mörderfalte stand erbarmungslos zwischen seinen Augen.

Nyland sah ihn liebevoll an. »Es kommt wieder von der Sonne, Jons,« sagte er sanft, »und von dem Wind über Wiese und Strom, ich weiß ja. Immer bist du dann so. Der Bauer hat immer am schwersten an der Erde getragen, nicht der Sklave aus den Städten. Und er wird noch mehr leiden müssen, denn sie werden ihm die Erde fortreißen, nach der er greift, und ihm einen Stein geben oder Stahl oder einen chemischen Stoff. Es wird traurig auf der Erde werden, Jons … Sie haben die Kronen zerschlagen und werden die Schwerter zerschlagen. Das mag schön oder nicht schön sein. Aber einmal werden sie den letzten Pflug zerschlagen und das wird traurig sein. Auch du wirst es nicht ändern, Jons.«

»Wie sie gestohlen haben, die Diebe!« murmelte er haßerfüllt. »Wald und Freiheit und Recht … Schweig, du Satan!« schrie er zur Lerche hinauf. »Was singst du, wenn wir sterben!«

»Wir hatten einen alten Knecht, Jons,« sagte Nyland lächelnd, die Blicke zu dem jubelnden Liede emporgehoben, »als ich noch zu Hause war. Er war von weit her und ein mürrischer Mensch. Der schimpfte immer auf die Lerchen, wenn er im Frühjahr pflügte. Er schimpfte auf alles, nicht laut und böse, wie du eben, Jons, sondern so aus Gewohnheit. ›So'n Takeltüg,‹ murmelte er dann. ›Hebb' kein Musik bestellt to'm Plöge, is all Larm 'naug op de Ird!‹ Er starb dann bei uns, ganz schnell. Und ich saß jeden Tag in seiner Kammer, denn ich hatte ihn lieb. Und am Morgen, bevor er starb, da war die Stalltür offen, weil die Sonne so warm schien, und mit einemmal stieg dicht am Garten eine Lerche auf. Ach, wie sie sang, Jons! Ich wollte schon laufen und die Türe zumachen, aber da hob er den Kopf und lauschte, wie du eben gelauscht hast. Und als sie stille war, da drehte er das Gesicht zur Wand und sprach ein paar leise Worte. Damals verstand ich es nicht ganz, aber heute weiß ich es. ›Min Lewark,‹ sagte er, ›min leiwe Lewark …‹ Damals habe ich gefühlt, Jons, daß man alle Menschen lieben muß … sieh, da kommt Grita … wie ein Reh steigt sie immer aus der Fähre.«

»Na, ist schon gut,« sagte Jons mit einem kindlichen Lächeln um die schmalen Lippen. »Sie hat wieder Angst, daß sie sich verspätet hat.«

Sie sahen ihr beide entgegen, wie sie über den Hof kam. Die Sonne leuchtete auf ihren blonden Zöpfen und den verschossenen Farben ihres bunten Rockes. Sie ging schnell und leicht, aber mit gebeugten Schultern, daß man ihr ganzes gehetztes, tapferes Leben aus ihrem Gange lesen konnte. Sie nickte erst, als sie dicht vor ihnen stand, blickte scheu auf Jons und lächelte erst, als er beim Griff nach dem Henkeltopf ihre Hand streichelte. »Wir sitzen schon ein Weilchen,« sagte er, und das leise Lächeln hob sich wieder fremdartig aus der stillen Trauer seiner Züge. »Der da hat vor Hunger schon Märchen erzählt.«

Nyland schüttelte den Kopf. »Komm, setz' dich zu uns, Grita. Eben hat er noch über die Lerche geflucht, ganz lästerlich, und nun lügt er auch noch. Hast du sie auch gehört?«

Sie atmete noch schnell und nickte nur. Ihr Gesicht war so rein wie ein Kindergesicht, und in den blauen Augen stand ganz tief das Leid wie eine Abendwolke. »Die Herrschaft ließ mich nicht zur Zeit weg,« sagte sie dann, »da hab' ich mich wieder verspätet … war es schwer heute?«

»Nyland hat wieder in den Himmel gesehen,« antwortete Jons gutmütig, »er wird ja wohl doch noch einmal das Gatter kaputt machen oder mit der Hand unter die Walze kommen.«

»O nein, nicht!« rief sie erschreckt. »Sie müssen sich vorsehen, Herr. Wie wollen Sie denn nachher die Menschen erlösen?«

Er ließ den Löffel sinken und sah sie gerührt an. »Wie du an mich glaubst, Grita! Und hast einen Mann, der auf die Lerchen flucht und auf die Reichen und auf die Sonne und alles andre. Aber sei still, wir brauchen nur ein Herz, keine Hände und Füße, nur ein Herz.«

Nach dem Essen saßen sie nebeneinander auf dem Stamm, Grita in der Mitte, und blickten über den Strom. Ein schwerer Kahn zog unter braunem Segel langsam vorüber, die Möwen schrien hell aus wiegendem Flug, und aus dem blauen Wald der Ferne stiegen weiße Wolken ohne Zahl am leuchtenden Himmel empor. Ein herber Duft von Salz und Erde kam mit dem Winde über sie, so rein wie der Atem eines Kindes, und als drüben hinter den Stromwiesen auf höhergelegenem Feld der erste Pflüger über die Scholle zog und ihre Blicke zu gleicher Zeit das ferne Bild umfingen, senkten sie alle drei in plötzlichem Schmerze die Augen und blickten dann scheu irgendwo in das Weite der Welt. Dunkel, aber mit bedrückendem Ernste fühlten sie die Unendlichkeit des Abstandes zwischen sich und jenem Pflüger. Wie vor tausend Jahren schritt er über die Erde, ihr und dem Göttlichen immer gleich nahe, sie aber standen am Ende unabsehbarer Wandlung, in toten Kreisen um jenen Mittelpunkt geschleudert, in dem Gottes Hand die Welt berührte.

»Singe etwas, Grita,« bat Nyland leise.

Sie lehnte ihre Wange an Jons' Schulter, faltete die Hände wie daheim auf der Bank vor dem Hause und sang mit ihrer sanften Mädchenstimme, halblaut und traurig, die Lieder ihres Jugendlandes. Wie ein langgehaltener Orgelton glitt das Rauschen des Wassers in ihr Lied, und Jons, die Fäuste vor den Augen, daß er Pflug und Sonne nicht sehe, begleitete wortlos, nur mit dunklen Tönen, die klagende Melodie:

Gehn will ich, gehn in jenes Ländchen,
zwo's keine Arbeit mehr gibt.
Ich laß mir kommen ein grünes Schifflein,
zwohl über Haff und Meer.
Dann will ich fahren in jenes Ländchen,
zwo's keine Arbeit mehr gibt.
Wo's unter Rasen, unter Halmen,
zwo's keine Arbeit mehr gibt.

So saßen sie bis die Sirene rief. »Sehen Sie sich vor, Herr,« bat Grita zum Abschied. Aber er lächelte nur sorglos. »Heute abend,« sagte er freundlich, »komme ich zu euch. Es wird schön sein, am Fluß zu sitzen und den Sternen zuzusehen.«

Dann beugten sie wieder den Nacken unter das Dunkel der Halle und den knirschenden Lärm der blitzenden Gatter.

Bevor Nyland am Abend das Werk verließ, ging er langsam durch alle Hallen und Höfe und sprach hier und da ein paar Worte mit denen, die von ihrer Last einen Teil auf seine Schultern gelegt hatten. Manchmal stand er auch nur wartend unter den brausenden Rädern oder neben den Bretterstapeln, die Hände auf seinen Stock gestützt, die freie Stirn wie lauschend ins Licht gehoben. Er rief niemanden, aber wenn er so einige Zeit gestanden hatte, kam der eine oder der andere nach befangenem Zögern, sprach ein nebensächliches Wort oder einen unbeholfenen Scherz und sagte dann: »Was meinst du, Pfarrer … die Frau sagt, ich soll da man die Finger von weglassen, und ich soll dich zuerst fragen …« Dann neigte er sich mit seinen warmen Augen tief in das Gesicht des anderen und half mit gütigen, niemals müden Händen am Reiche Gottes und seinem Licht.

Das Wasser des Stromes rauschte mit rotem Leuchten an der Fähre vorüber. Die Sonne war schon fort, aber hinter Brückenbogen und steilen Speicherdächern stand noch eine schimmernde Wand jenseits der Stadt, und farbige Bänder säumten den Horizont, vom Untergang nach beiden Seiten in den hohen Abendraum fliegend, wie Wimpel des Sonnenwagens, der brausenden Fahrt nachwehend. Über dem Horizont aber schwebte eine einzige rote Wolke, schlank und vogelgleich, und von ihr hoben sich in herrlichem Ebenmaß des Schwunges zwei schmale, rotklafternde Schwingen weit über das letzte Leuchten hinaus. Wie ein Riesenvogel lag es über der dunkelnden Erde und ihrer Stadt, höher und höher steigend, bis die ersten Sterne durch das vergehende Gefieder schimmerten.

»Na, Pfarrerke, is de Himmel ape?« rief eine gutmütige Stimme.

Er hob die Hand und deutete langsam die geschwungene Linie entlang. »Der Traumvogel steigt, für eure Kranken und für eure Kinder.«

Die Mondsichel stand schon über den Wiesen, als er bei Jons und Grita saß. Man mußte von der Fähre noch eine Viertelstunde flußaufwärts gehen, bis man zum Öllager kam, das sie bewachten. Der Wächter war Jons, aber die Bauhütte, die man zur Wachtstube eingerichtet hatte, war sein und Gritas Heim. Bis Mitternacht wachte Jons, und sie sollte schlafen; dann hütete sie fünf lange Stunden seinen Schlaf und den weiten Lagerplatz. Stand er taumelnd vor Müdigkeit auf, dann hatte sie schon den Kaffee für ihn gekocht und seine Arbeitstasche gepackt. Er deckte sie zu und saß noch ein paar Minuten an ihrem Bett, in Gram und Sorge auf ihr Gesicht starrend. Sie lächelte tapfer, schon mit dem Schlafe kämpfend, und streichelte seine Hand. »Nicht verschlafen, Grita,« flüsterte er noch. »Um acht kommt der Verwalter.« Dann schloß er leise die Tür und ging zur Fähre hinunter.

»Immer wenn ich zu euch komme,« sagte Nyland, als sie auf dem Bollwerk saßen, »denke ich an ein altes Heldenlied, das schon über tausend Jahre alt ist, an das Waltharilied, von Walther und Hildegund. Da saß sie im Wasgenwald, sein Haupt im Schoß, und sang leise, um sich wach zu halten.« Er erzählte, wie man Märchen erzählt, und selbst Jons nickte, als er geendet hatte. »Sie sprechen wie der Heiland, Herr,« sagte Grita. »Da standen die Armen und die Sünder auch auf, wie wenn sie eine Königskrone bekommen hätten … Wie wird es einsam sein, wenn Sie fort sind.«

»Der Knecht Gottes, Grita,« antwortete er still, »darf er bleiben, wo es schön ist? Er muß suchen, wo es nicht schön ist; da muß er bleiben. Deinetwegen könnte ich schon heute gehen, du trägst dein Kreuz. Aber Jons, der macht mir Sorgen.«

»Laß man sein,« sagte Jons, aus dumpfen Gedanken erwachend. »In der Partei, da meinen sie, es geht bald wieder los, und im nächsten Jahr, da soll schon eine andre Welt sein …«

»Ach, Jons, was für eine Welt soll sein? Glaubst du, wenn ihr die Reichen totschlagt, dann ist die Welt anders?«

»Die Ketten sind fort, Nyland. Aus einem Hund wirst du ein Mensch, verstehst du das? Sieh uns an! Weshalb darf ich nicht pflügen? Kann ich nicht pflügen so gut wie einer? Steht in deiner Bibel, daß die Erde den Reichen gehört? Steht da, daß wir kein Korn bauen dürfen? Steht da, daß wir keine Kinder haben dürfen, weil sie verhungern müßten? Steht da, daß der Herr an einem Abend soviel verlumpen kann, wie wir zu einem Monat brauchen? Steht das da?«

»Nein, Jons, nichts davon steht. Es steht nur, daß wir einander lieben sollen. Sieh, das ist es. Ihr denkt: teilt das Geld, teilt die Erde, den Wald, das Meer, und alles ist gut. Jons, ich sage dir, macht den Menschen gut, und ihr braucht nichts zu teilen. Ihr glaubt, wenn die Armut aus der Welt ist, dann ist das Leid aus der Welt. Ach nein, es gibt ein Leid der Erde, das jenseits der Armut ist. Das Leid des Menschen, Jons. Das Leid des Menschseins. Teilt das Leid, Jons, nicht das Geld und die Erde. Wer viel Leid trägt, der trage, aber wer wenig Leid trägt, der nehme sich etwas dazu, damit der andere weniger habe. Sieh Grita an. Sie nimmt von deinem Leid und ist stark und froh. Bist du stark und froh, Jons? Kannst du sie trösten? Kannst du sie bei der Hand nehmen, wenn sie schwach ist? Gar nichts kannst du. Kein Antlitz wird heller im Werk, wenn du da bist, kein Kind auf der Straße lacht, wenn du vorübergehst. Deinen Gott hast du vergraben, in der Heimat vielleicht, und starrst nun auf dein Götzenbild. Alle Bettler sollen Brüder sein, aber euren leibhaftigen Bruder schlagt ihr tot, weil er kein Bettler ist.«

»Nein, weil er uns mit Füßen tritt.«

»Und wenn du auf deinem Hofe säßest, Jons, und es käme ein Bettler und sagte: ›Nimm mich auf, ein Jahr lang, denn du hast etwas und ich habe nichts,‹ würdest du ihn nehmen? Vom Hof würdest du ihn jagen, weil du deinen Bruder nicht liebst.«

»Und du?« fragte er finster.

»Du siehst, wie ich lebe,« antwortete er einfach. »Und wenn ich ein Pfarrer bin und ihr kommt zu mir, daß ich euch aufnehme, so werde ich sagen: ›Bleibe, meine Schwester, bleibe, mein Bruder. Aber jeden Tag gehe zu denen, die ärmer sind als du, und hilf ihnen unter ihrem Kreuz. Und blicke niemals auf die, die reicher sind als du, sondern immer nur auf die, die noch ärmer sind. Und findest du einmal, daß keiner ärmer ist, daß dein Kreuz das schwerste ist, dann komme zu mir und klage oder tritt vor Gott und klage. Aber nicht früher, Jons, hörst du?‹ So würde ich sprechen.«

»Wenn ich komme,« murmelte er, »dann wirst du am gedeckten Tisch sitzen und mich ansehen wie einen Fremden. Alle werdet ihr so, ich weiß das schon.«

»Nichts weißt du, nicht einmal, wie lieb du mich hast.«

»Ich habe dich gar nicht lieb,« murrte der andre trotzig.

»Min Lewark,« flüsterte Nyland lächelnd, »min leiwe Lewark.«

Da verstummte Jons bedrückt.

Nach einer Weile stand er auf und ging das Bollwerk hinunter. Seine Schritte verklangen unter den Sternen. Dunkel verrauschte der Strom unter Nebelbrücken. Ferne Straßenzüge liefen mit leuchtenden Laternenschnüren der Stadt zu, die wie ein brennender Ofen mit dumpfem Sausen am Rande der Nacht sich bäumte, Steine, Straßen und Strom verschlingend. Haffwärts brüllte ein Dampfer auf, drohend wie ein Stier, der die Stirne senkt, und Nachtgeflügel zog mit wirrem Rufen hoch über das Wasser. Durch alles Tönen aber ging der quellende Laut der wachsenden Erde, die unter dem steigenden Monde sich breitete, und deren lebendiger Atem ruhevoll unter den Sternen stand.

»Auch dort geht Gottes Wacht,« sagte Nyland, das Gesicht zur leuchtenden Sichel hebend. »Sei nicht traurig, Grita.«

Sie zog die Knie über das Bollwerk und faltete die verarbeiteten Hände um sie. »Ich bin nicht traurig, Herr,« antwortete sie leise, »nur müde bin ich, so müde … Sehen Sie, wenn ich ein Gärtchen haben möchte, nur ein einziges Beet mit schwarzer Erde, dann könnte ich doch jeden Morgen hingehen und sehen, wie es aufgeht und wächst. Ich will ja gar kein Feld, keine Kühe, kein Pferdchen, nur ein bißchen schwarze Erde will ich, die mir gehört … Hier, was tue ich hier, wie lebe ich? Fremd sind die Straßen, und die Menschen sind fremd. Ich arbeite, aber sehe ich es wachsen? Muß ich bitten: ›Lieber Gott, laß doch regnen, laß doch die Sonne scheinen?‹ Gleich ist alles, alles gleich. Jons, ja … aber mache ich ihn gesund? Singt er bei der Arbeit? Glänzen seine Augen, wenn er auf die Schwelle tritt? Ach, Herr, schwer ist das Leben. Wie können die Kinder lachen, da wo ich bin! Ich habe nicht gelacht, wie ich aufgewachsen bin. Geschlagen haben sie mich, arbeiten mußte ich, bis ich umfiel. Wenn ich einschlafe, Herr, was ist der nächste Tag? Worauf kann ich mich freuen? Regnet es, dann ist es gut; scheint die Sonne, dann ist es ebensogut. Arbeiten kann ich wie ein Tier, aber niemals bekomme ich ein Beet mit schwarzer Erde. Müde wird man, Herr, auch wenn man fromm ist, so müde …«

»Klage nicht, Grita,« sagte er sanft. »Sieh, was wäre Jons ohne dich? Ein Mörder wäre er vielleicht schon geworden, denn ein Bauer, ein richtiger, von Gottes und Blutes Gnaden, dem man den Pflug fortnimmt, ist wie ein wildes Tier, dem man die Steppe nimmt. Und wie würden wir sitzen, mittags, auf den Stämmen, wenn du nicht kämest? Du leidest, Grita, und wer leidet, der kann erlösen, nur der.«

»Ich bin eine Sünderin, Herr,« flüsterte sie, die Augen mit den Händen bedeckend.

»Du, Grita? Eine Sünderin? Du meinst, weil ihr so lebt? Ach Grita, wenn der Heiland hier säße, glaube mir, auch du dürftest mit deinem Haar seine Füße trocknen.«

»Nein, nicht deshalb … wissen Sie, Herr, daß ich manchmal hier sitze, wenn er schläft, daß ich die Hände falte und bete: ›Lieber Heiland, vergib du mir meine große Sünde!‹ Und daß ich mich dann bücke, über die Pfähle, ganz tief, um ins Wasser zu springen?«

»Grita!«

»Ja, Herr, glauben Sie mir … und keine Hand hält mich zurück, nur Ihre, Herr. Ich sehe Sie, wie Sie nach oben sehen in die Wolken … Sie tun das immer … und dann sagen Sie: ›Auch sie hat mich allein gelassen im Garten Gethsemane, das Kreuz hat sie fortgeworfen.‹ Und dann kann ich es nicht tun.«

»Aber weshalb, Grita? Weshalb?«

Sie sah sich lauschend um, ob Jons nicht käme. Dann bedeckte sie die Augen mit ihrem Arm und lehnte so ihren Kopf an seine Schulter. Er mußte sich zu ihr beugen, um sie zu verstehen. »Wissen Sie, daß ich sie weinen höre, Herr?« flüsterte sie zitternd. »Wenn ich um Mitternacht hier gehe oder sitze und wache? Daß ich höre, wie sie nach mir rufen?«

»Wer weint?« fragte er erschreckt. »Wer soll rufen? Du bist krank, arme Grita.«

»Die Kinder, Herr,« schluchzte sie, »die ungeborenen … die verstoßenen und ertränkten … verstehen Sie?«

»O du Arme,« sagte er nach langem Schweigen und streichelte ergriffen ihr Haar, »o du Arme!«

Sie weinte leise. »Wenn Sie ein Feld bestellen, Herr, und nach drei Tagen nehmen Sie den Pflug und reißen die Saat heraus, sind Sie nicht ein Mörder, Herr, oder ein Wahnsinniger? Nicht ein Beet darf ich haben mit schwarzer Erde, und ich sage vielleicht: ›Du bist zu arm, Grita, anderen gehört die Erde.‹ Aber nicht einmal ein Kind darf ich haben, Herr, nicht einmal ein Kind. Gesund bin ich, nicht schlechter als andre, und darf es nicht haben. ›Ich will es nicht hungern sehen,‹ sagt Jons, ›nicht unter der Peitsche sich beugen, bis ich wieder einen Pflug habe‹ … Und nun weinen sie da unten, die Ungeborenen, die Armen … Wie wenn man ihnen die Augen zudrückt, damit sie nicht sehen sollen. Und nach mir rufen sie, die ganze Nacht. ›Mutter,‹ rufen sie, ›so kalt ist es hier … Mutter, was haben wir dir getan?‹ Dann stehe ich hier und lausche … und einmal werde ich doch zu ihnen gehen, um sie zu wärmen.«

Er stand auf, die Hand noch auf ihrem Scheitel. Seine Augen hingen an den Sternbildern hinter dem Strome. »Nein, Grita,« sagte er außer sich, »du wirst nicht gehen. Daß man erlösen muß, habe ich gewußt. Aber wieviel man erlösen muß, wie schnell, das weiß ich nun erst. Wenn du gehst, dann bin ich zu spät gekommen, verstehst du? Damit jede Hand ihr Beet mit schwarzer Erde hat, damit jeder Bauer seinen Pflug hat, damit alle Kinder geboren werden dürfen, die ihre Augen aufschlagen wollen. Dann bin ich zu spät gekommen dazu, Grita. Denn du wirst fort sein, bevor du dein Beet und deine Kinder hast. Was hast du gesagt zu mir: ›Wie wollen Sie erlösen, wenn die Walze Ihre Hand zerrissen hat?‹ Und du, Schwester? Wenn das Wasser deinen Leib zerfressen hat, wie willst du erlösen? Ich sage dir, wenn du geboren haben wirst, dann wird es nicht mehr weinen und rufen. Und so ist es mit uns allen, Grita. Wenn wir den neuen Menschen geboren haben in uns, den Knecht Gottes, dann wird es nicht mehr weinen in uns. Und einmal, da wird es soweit sein, daß die Erde still sein wird. Niemand wird mehr weinen, wenn die Menschen in den Strom hinunterlauschen. Alle werden sie stehen wie ich, den Blick in den Sternen, zitternd vor Liebe und Erbarmen, und wie ich werden sie sprechen, gläubig sprechen, Grita: ›Du sollst nicht töten, sondern du sollst leiden. Aus dem Töten kommt der Haß, aber aus dem Leiden kommt die Liebe.‹«

Sie antwortete nicht, sie schlang nur die Arme um seine Füße und drückte ihre nasse Wange an seine Knie.

So fand sie Jons, als er wieder zu ihnen trat. »Ich will doch zu dir kommen, Andreas,« sagte er, als er eine Weile schweigend neben Grita gesessen hatte. »Als dein Knecht will ich zu dir kommen, bis du die Welt neu gemacht hast.«


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