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II.
Der Bettler an der Zeitlichkeit

Die traurige Dämmerung der Großstadt fiel mißfarbig auf die aufflammenden Straßen, als Andreas, den Schnee von seinem Mantel schüttelnd, in das Haus des Abgeordneten trat.

Ein Mädchen öffnete, und er nannte seinen Namen. Sie betrachtete ihn prüfend, wiewohl unauffällig, kehrte zurück und bestellte mit kühler Höflichkeit, daß der Herr Pfarrer ohne vorherige Anmeldung keine Besuche empfangen könne. Andreas lächelte nochmals, trauriger als vorher, zog eine Karte aus der Tasche und schrieb mit Bleistift darauf: »Andreas Nyland, Pfarrer.« Darauf wurde er, noch immer mit Zurückhaltung, in das Arbeitszimmer geführt.

Der Doktor und Lizentiat der Theologie Meisenthin, Mitglied des Reichstages und Pfarrer einer reichen und konservativen Landgemeinde im Norden des Landes, erhob sich von seinem Schreibtisch und trat dem Besucher einige Schritte entgegen. Dabei strich er mit der linken Hand flüchtig über seine gefaltete Stirn, als ob er leise andeuten wollte, daß Zeit und Nerven bei ihm an der Grenze der Abspannung seien. Doch sagte er mit gewinnendem, wenn auch etwas leerem Lächeln: »Ich bedaure, Herr Amtsbruder, daß ich, zunächst ohne Kenntnis der Gemeinsamkeit unsres Standes und mithin unsrer Weltanschauung, Sie habe abweisen lassen. Aber Sie wissen nicht, wie unsereiner unter der Last von Besuchen zu seufzen hat …«

Andreas nahm, der Handbewegung gehorchend, in einem der tiefen Ledersessel Platz und blickte schweigend in das Gesicht des Abgeordneten. Es war ein hageres Gesicht mit einer klugen Stirn, fest gefügt und eher eines Helmes bedürfend als eines Baretts, um seinen letzten Ausdruck zu finden. Doch war es nicht das, wonach Andreas' schweigender Blick sich wandte, sondern daß die Kräfte, die dieses Antlitz geformt hatten, nicht bei ihrem Werke standen, sondern wieder zurück in die Tiefe geglitten waren, so daß nun eine Decke des täglichen Lebens über sie gebreitet war und Andreas nicht wußte, was ihre Lüftung bedeuten würde.

»Ich war gestern im Reichstag,« begann er endlich leise unter dem fragenden Blick des anderen. »Ich habe Ihre große Rede gehört, von den Aufgaben der Kirche und der Heilung der zerrütteten Zeit. Und abends bin ich zu Christus gegangen mit Ihrer Rede und habe sie ihm wiedererzählt, fast Wort für Wort, und … er hat sein Haupt geschüttelt … und so bin ich zu Ihnen gekommen.«

»Sie … müßten mir das wohl etwas … erklären,« sagte der Abgeordnete sehr vorsichtig.

»Die Wurzel Ihrer Rede,« fuhr Andreas fort, »wenn ich Sie richtig verstanden habe, war dieses: Sorgt dafür, daß die Menschen wieder Christen werden, und alles ist gut. Der Haß wird verschwinden und der Neid, der Selbstmord und die anderen Verbrechen, die Sittenlosigkeit und das Gift des Umsturzes. Kehrt ihr wieder zu Gott, so wird Gott sich auch wieder zu euch wenden. Das Leid verschwindet, die Not hat ein Ende.«

»Und dazu hat, so drückten Sie sich wohl aus, Christus das Haupt geschüttelt?« fragte der Pfarrer mit leichtem Lächeln.

»Ja, das hat er wohl. Er stand in der Wüste, als ich ihn sah. ›Des Menschen Sohn,‹ sagte er, ›hat keinen Stein, sein Haupt niederzulegen. Sage ihnen das, wenn du in ihre Wohnungen gehst und auf ihren Stühlen sitzest. Und sage ihnen, daß ich von hier zum Kreuze gehe. Denn nach der Predigt kommt das Kreuz. Vergiß nicht, ihnen das zu sagen!‹ Er hatte ein härenes Gewand, als ich ihn sah, und einen Strick um seine Lenden.«

»Aha,« sagte Meisenthin, und eine leise Veränderung trat in seinem Lächeln ein.

»Und ich glaubte herkommen zu müssen, um Ihnen das zu sagen. Vielleicht hat jeder Mensch nur einen Pfeil auf seiner Sehne …«

»Und er zielt?«

»Er zielt auf die Brust aller derer, in denen der Heiland verschüttet und begraben liegt … Früher dachte ich wohl, es sollte die härteste Brust sein. Aber jetzt denke ich, daß es wohl die weichste sein muß. Denn wer von uns könnte die ganz Toten erwecken? Was ist ein Leben? Wissen Sie, welch eine nichtige Spanne ein Leben ist? Damals, als er lebte, es war ein einziges Ländchen, ein paar Städte. Und diese Städte, es waren Dörfer. Und heute? Als ich hier ankam, schrien die Steine: ›Kehre um!‹ Wohin soll ich mich wenden?«

»Sie sagten es selbst,« erwiderte Meisenthin mit kaum merklichem Spott.

»Ich war wie Sie, Herr Pfarrer,« sagte Andreas. »Ich hatte ein Heim wie dieses, eine schöne Frau, Gut und Geld …«

»Und?«

»Und ich legte das alles still und schamvoll zur Seite, als Christus rief. Ich legte selbst das Amt zur Seite und ging aus der Welt, um zu Gott zu gehen.«

»Mein lieber Herr Nyland,« sagte Meisenthin, »die Zeit ist reich an Aposteln … ich sehe es täglich in meinem Beruf. Nur weiß ich nicht, zu wessen Bestem es dienen soll, wenn wir beide uns einen Strick um die Lenden gürten. Und mich dazu aufzufordern, vermute ich, sind Sie hergekommen?«

»Ich bin wohl hergekommen, um zu wissen, ob man zu den Führern oder zu den Führerlosen gehen soll. Denn die Zeit ist vorüber, wo man zu allen gehen konnte.«

»Und was sollten die Führer tun, nach Ihrer Meinung?«

»Sie sollen sich entäußern, Herr Pfarrer, nichts weiter. Das Kleid beiseite legen und sprechen: ›Hier bin ich, wie Gott mich erschuf.‹«

»Und dann?«

»Wer würde Sie hassen, Herr Pfarrer, in der Entäußerung? Nur die, denen das Kleid mehr ist als Gott.«

»Und dann?«

»Dann würde die neue Erde beginnen. Sie würde nicht blühen, aber sie würde beginnen.«

»Sie sind Kommunist, Herr Nyland,« sagte der Abgeordnete ernst.

Andreas lächelte. »So seid ihr,« fuhr er fort, und die Trauer des Wissenden verdunkelte seine Stirn. »Sie sind Kommunist. Dann kommt der Stempel, der Registraturvermerk, und dann ist der Fall erledigt. Das ist eine Orchideenart, das ist ein Nadelwald, das ist ein Konsistorialrat und das ein Eisenbahnarbeiter. Der ist katholisch, der ein Sozialist, der ein Reaktionär. Aktenbündel, Schiebladen, Kartothek … Was ist aus uns geworden? Verschüttet haben wir den Menschen, den Heiland begraben. Bauen sollen wir, eine Kirche errichten? Über einem Grabe? Ach nein, einreißen müssen wir und dann den Spaten nehmen und graben, tief, tief, mit blutenden Händen. Denn da unten, ganz unten, da liegt es …«

»Einreißen ist leichter als aufbauen, Herr Nyland!«

»Sie sagen es alle, und sie wissen wohl nicht, daß es eine große Lüge ist. Ein Gedicht zu verbrennen ist schwerer als eins zu schreiben. Die Menschheit hat sich ein Haus gebaut, in schwerer, ja blutiger Arbeit, das Haus des zwanzigsten Jahrhunderts. Es bröckelt in diesem Hause, die Decken senken sich, die Mauern zeigen Risse. Aber jeder hat seine Wohnung. Es gibt sehr fürstliche und sehr lichtlose Wohnungen in diesem Hause. Und es gibt Haß, selbst Mord um den berühmten Platz an der Sonne. Und aus den Kellern, da steigt ab und zu einer empor, mit einem Fetzen des alten Bauplanes in der Hand. ›Seht her!‹ spricht er. ›Es ist ja ein andres Haus geworden, als es werden sollte. Wir wollen es einreißen und selbst die Fundamente zerstreuen, denn auch diese sind falsch.‹ Und was tut ihr? ›Ein Gottloser,‹ schreit ihr. ›Ein Verruchter!‹ Ja, denn ihr wollt nicht noch einmal bauen, ihr wollt nicht wohnungslos sein. Und nun steht ihr auf in den Parlamenten und auf den Kanzeln, in den Schulen und auf den Universitäten, und sprecht von der Erhaltung des Baues. Ach, wie herrlich predigt ihr! Und klebt und schmiert und stützt. Und organisiert einen großzügigen Wohnungstausch, denn es gibt drohende Parteien in eurem Hause; und in die Keller müssen immer die Machtlosen. Einmal sind es die Bauern und einmal die Fürsten. Aber immer sind es die ›Andersgläubigen‹. Ihr aber ›verwaltet‹. Ihr habt das Geld oder die Waffen oder die höhere Bildung oder den Brustton der Überzeugung. Und ihr habt eure Laboratorien, in denen ihr die Beruhigungspulver mischt für die Kellerleute. Die Idee des Fortschrittes oder die Realpolitik oder die sogenannte Überbrückung der Klassengegensätze oder das sogenannte Christentum. Und, was das Schlimmste ist, ihr glaubt vielleicht selbst daran …«

»Kehren Sie um, Herr Nyland,« sagte Meisenthin nicht ohne Güte. »Soviel edles Wollen und soviel Wirrnis lebt in unserer Zeit. Sie wissen nicht, wieviel Kraft dazu gehört, einen Baum wachsen zu lassen und zu warten. Aufreißen wollen Sie ihn zum Himmel in einer Nacht. Und die Menschheit ist doch mehr als ein Baum. Oder wollen Sie das Heer der Schwärmer vermehren, die nichts können als den Umsturz predigen?«

»Da sitzt ein Mann,« fuhr Andreas grübelnd fort, »weit von hier, hinter den Wäldern und Strömen, der wartet auf mich. Der lag im Grabe, und ich habe ihn erweckt. Aber seine Grabtücher sind nicht aufgebunden, und er liegt in der Lähmung, bis ich wiederkehre … Und ein andrer ist, der mit dem Dunklen kämpft und in Schmerzen schreit. Auch er wartet. Damit sie wissen, daß Gott lebt. Und Jons und Grita warten … Aber hier, wieviel Tausende heben die Arme nach dem Menschen, der sich beugt!«

»Ein kleiner Ring begrenzt unser Leben, Herr Nyland …«

»Wenn ich wüßte … wenn es wahr wäre, daß der Mensch zu klein ist für Gott … daß er sterben muß, wenn er ihn aufnehmen will in seine Brust …«

Er setzte sich wieder Meisenthin gegenüber, und, zuerst mit geschlossenen Augen, begann er unaufgefordert, Bruchstücke seines Lebens zu erzählen. Er fühlte weder das Seltsame seines Besuches noch die ungeprüfte Weite, in die er seine Worte sprach. Er fühlte vielleicht nur die unermessene Öde der Stadt, die hinter diesen Fenstern lag, drohender als die Öde des Moores, und das Erzittern der Hand, die sich gelobt hatte, ein Meer zu schöpfen.

Meisenthin rauchte eine Zigarre und sah durch ihre Wolken zur Zimmerdecke empor. Er tat es nicht aus Unhöflichkeit, sondern weil es ihm schwer war, den brennenden Blick dieser Augen zu ertragen. Er kannte Fanatiker, die unvermutet gleich Fackeln aus dem Schweigen aufloderten. Er kannte Bekennungen und Erleuchtungen. Aber er konnte ihnen zusehen wie den Erschütterungen eines Schauspiels. Doch hier saß einer vor ihm, der aus naher Wurzel aufgestiegen war, ein Bruder des Amtes und des Lebens, und was aus seinem bleichen Antlitz leuchtete, war ein Schein, der ihm, dem Lauschenden, schon lange verglüht war. Es gelang ihm nicht mehr, dieses nur lächelnd festzustellen. Er sah in einen Spiegel, und fremd und mahnend sah der Spiegel zurück.

So tief versank er in des anderen Erzählung, daß er erschrak, als seine Frau nach leichtem Klopfen das Zimmer betrat.

»Ich freue mich immer,« sagte sie nach den ersten, etwas verwirrten Worten ihres Mannes, »wenn ich einen ›Amtsbruder‹ sehe, dem der Segen Gottes nicht wie ein Halsband angewachsen ist.«

»Nun, meine Liebe …« bemerkte Meisenthin mit leisem Tadel.

Andreas mußte bleiben, bis die ersten Gäste kamen. »Herr Nyland, ein ehemaliger Amtsbruder aus unserem östlichen Kolonialland,« stellte Herr Meisenthin vor.

Nach dem Essen, das Andreas, schweigend und zuhörend, kaum berührte, saßen sie im nun hell erleuchteten Arbeitszimmer in den tiefen Sesseln um den Mitteltisch. Andreas hatte neben sich den Hausherrn und den Oberst a. D. von Borke, der ein Einglas trug und Selterwasser trank. Ihm gegenüber rauchte ein Parteifreund Meisenthins schweigend an einer dunklen Zigarre. Er wurde Generaldirektor genannt und hatte bei Tisch behauptet, das Christentum sei eine nützliche Sache, aber wenn die Industrie nicht bald in den Stand gesetzt werde, produktiv zu arbeiten – verstanden? –, dann könne das deutsche Volk rechtzeitig anfangen, sich sein Golgatha zu bauen. Wozu der Hochschullehrer, Nationalökonom von Ruf, einen unpassenden Witz über die Schädelstätte gemacht hatte.

Zur Linken des Generaldirektors saß Frau von Borke, vornehm, sehr gerade, ein leiseres Gespräch mit der Hausfrau führend, zu seiner Rechten ein Mädchen in Schwarz mit einem häßlichen, fast asiatischen Gesicht und großen Augen, deren uferlose Traurigkeit Andreas erschreckte. Die Frau des Generaldirektors mit kurzgeschnittenem Haar und freien Schultern rauchte eine Zigarette und blickte neugierig von Meisenthin auf Andreas.

Das Gespräch ging nach dem langen Essen in leiser Müdigkeit um die Dinge des Tages, kehrte mitunter höflich zu der gestrigen Rede des Hausherrn zurück und verstummte für einen Augenblick. Meisenthin blickte unruhig nach seiner Frau, fühlte, daß seine Gedanken weit außerhalb dieses Zimmers waren und sah von der Seite auf Andreas.

»Ein bekömmliches Getränk, lieber Meisenthin,« sagte der Oberst. »Sie trinken nicht, Herr … Herr Nyland?«

»Nein,« antwortete Andreas.

»Darf man fragen,« fuhr der Oberst fort, die weißen, gebürsteten Brauen zusammenziehend, »was Sie nach der Hauptstadt geführt hat? Dienst oder Vergnügen?«

»Ich bin gekommen, um Christus zu suchen,« sagte Andreas.

Ein neues Schweigen, verwirrender als das erste, erfüllte den Raum. Meisenthin bemühte sich, die nicht vorhandene Asche seiner Zigarre abzustäuben.

»Er … lauben Sie!« Die helle Stimme des Obersten erklang mit fast schmerzlicher Schärfe. »Erlauben Sie … das scheint mir … ein ziemlich unklarer Marschbefehl … wie?«

»Es sind nicht alles Militärs im Himmel, Herr Oberst.«

»So … nicht alles Militärs … leider … Kriegsteilnehmer?«

»Jawohl, Herr Oberst.«

»Front oder Seelsorge?«

»Front.«

Der Oberst nahm verstimmt sein Glas aus dem Auge.

»Sie haben ihn vermutlich nicht gefunden?« fragte die Frau des Generaldirektors.

»Nein, ich habe ihn nicht gefunden, weil er tot ist.«

Der Generaldirektor öffnete die Augen und sah ihn an, als habe jemand sein Büro betreten, um seine Zahlungsunfähigkeit zu erklären.

»Weshalb sagen Sie, daß er tot ist?« fragte die Dame in Schwarz.

»Weil ich seinen Sarg gesehen habe, Fräulein Hehn. Er stand auf dem großen Platz, in der Dämmerung, als ich ankam. Der Deckel war fort, und über seine geschlossenen Augen glitt der Schein der Lichtreklame. Niemand kümmerte sich um ihn. Nur die Kinder stießen mitunter mit ausgestreckten Fingern leise gegen seine Augenlider und versteckten sich dann lachend unter dem Sarge …«

»Herr Nyland!« flüsterte Meisenthin gequält.

»Im Kolonialland scheint man viel Dostojewski zu lesen,« sagte der Professor ironisch. »Wo waren Sie im Amt, Herr Nyland?«

»Ich bin nicht mehr Pfarrer, schon ein Jahr nicht. Ich lebte auf einem Moor, mit einem Kranich, den ich gefangen hatte … das nächste Dorf hieß Verlorenwalde.«

»Das ist wie in deiner Heimat, Tamara,« sagte Frau Meisenthin vermittelnd. »Fräulein Hehn ist nämlich Baltin.«

Andreas beugte sich vor, um in das erschreckte Antlitz zu starren. »Tamara,« flüsterte er. »Wie aus verschollenen Wäldern klingen manche Namen, aus den Grüften der Zeit … ich hatte einen Hund, als ich noch im Grabe lag … er war unter meinen Erweckern … Anima habe ich ihn genannt … sie haben ihn totgeschlagen nachher und ans Kreuz gebunden.«

»Ich beglückwünsche Sie,« sagte die Frau des Generaldirektors freundlich zu Fräulein Hehn.

Meisenthin fuhr mit der Hand über sein Stirne. Es war eine unbeherrschte Bewegung, und seine Frau sah ihn befremdet an. »Herr Nyland hat mir vorhin von seinem Leben erzählt,« begann er mit unbegründeter Schärfe. »Es ist ein seltsames Leben und erklärt vieles. Wer Amt, Familie und Reichtum hinter sich läßt, um … um Gott zu suchen, gibt zum mindesten ein ungewöhnliches Beispiel in unserer Zeit … er kann nicht mit unserem Maßstab gemessen werden …«

»Er kann auch Gott im Sarge sehen,« warf der Professor ein.

»Apostel?« fragte der Direktor träge.

»Lieber Winterberg,« erwiderte Meisenthin, »diese Frage ist heute schon einmal gestellt worden, und ich schließe daraus, daß es eine bequeme Frage ist.«

»Fühle mich zu unbequemen auch nicht aufgelegt,« gab der Direktor zurück und schloß von neuem die Augen.

»Neue Zeit,« sagte der Oberst mit vernehmlicher Mißbilligung. »Gab's in unserer Jugend nicht, Meisenthin. Kadettenkorps war kein Paradies. Wurde eben Order pariert. Treue zur Fahne, das war die Sache. Mit Gott für König und Vaterland! Klarer Marschbefehl.«

»Weshalb sagten Sie, daß er tot ist?« fragte die Baltin noch einmal. »Das andre war … ein Traum.«

»Ich gehe an die Häuser der Menschen und klopfe an. ›Wohnt hier Christus?‹ frage ich. ›Ja, er wohnt hier,‹ antworten sie. ›So hilf mir mein Kreuz tragen, Bruder,‹ bitte ich. ›Tu ab dein Kleid, deinen Reichtum und komm mit mir zu den Wartenden.‹ Dann blicken sie einander lächelnd an. So hat meine Braut gelächelt, so meine Frau, so lächelt ihr. Nur das Tier des Waldes hat nicht gelächelt. Verloren war ich in der Öde des Moores, der Tod klopfte an meine Füße, und ein versinkender Mensch schrie zu Gott empor. Da kam das Tier an meine Seite. So ging Anima neben meinem Leben, bis sie ihn erschlugen. Aber ein Mensch? Einmal fand ich einen Pilger auf einem Floß, der die Füße im Strome wusch. Zu dem war ein Kind gekommen mit der Frage: ›Wohnt hier Christus?‹ Und er hatte sich aufgemacht, um zu suchen. Aber es war weit von hier, im Lande … im Lande Dostojewskis.«

»Und wenn er tot ist?« fragte sie. »Wenn Sie ihn nicht mehr finden?«

»Dann würde er in mir wohnen,« sagte er, in ihre traurigen Augen blickend. »Aber welch ein Weg ist es bis zu sich selbst! Welch ein furchtbarer und schmerzensreicher Weg! Wo war ich bisher? Im Kriege, in meiner Gemeinde, auf dem Moor und in diesem Hause. Was ist das? Wie weit muß man gehen und leiden, um in Wahrheit sagen zu können: ›Gott ist tot‹! In Wahrheit! Nicht wie man auf der Kanzel sagt: ›Christ ist erstanden.‹ Und jedes Wort wälzt einen neuen Stein auf sein Grab … Und dann, wenn er nicht aufersteht, der Lazarus in Ewigkeit, dann bleiben die Kinder, dann bleibt das Tier, die Pflanze, der Stein. Und dann erst, dann erst ist man einsam mit Gott.«

»Verrückt!« sagte der Oberst hart.

Meisenthin stand auf und trat vor das Kruzifix über seinem Schreibtisch. Er blickte auf das Bild des Gekreuzigten, als sei er ganz allein zu tiefer Nacht in diesem Raume. Als er sich umwendete, geschah es mit der Bewegung eines Menschen, der aus einem Bergwerk in das Licht der Sonne steigt. »Es ist ein Irrtum,« sagte er mit Entschiedenheit. »Ja, Herr Nyland, es ist ein Irrtum. Was vor bald zweitausend Jahren getan werden mußte, kann heute nicht mehr getan werden, darf nicht einmal getan werden. Jeder Schwärmer leugnet Geschichte und Entwicklung, leugnet Natur und Notwendigkeit, wiewohl er sich gerne auf alles dieses beruft. Machen wir Ernst mit dem, was Sie predigen, so bricht der Bau der Welt zusammen, von der Familie bis zu den Völkern der Erde.«

»Es ist das, was ich will, Herr Pfarrer.«

»Ich sehe es, sehe es mit Schmerzen. Die Kraft Ihres Gottes bricht aus unsrem Kreise und verschwendet sich an einen Traum … es wird die Zeit kommen, wo wir nicht nur gegen die Bösen zu streiten haben werden, sondern auch gegen die Guten, um den Bau der Jahrtausende zu bewahren.«

»Er ist schon einmal gestürzt, als Christus sein Haupt neigte, und die Führer jener Zeiten haben wohl gesprochen wie Sie, Herr Pfarrer. Und vor dem neuen Bund hat Gott einen alten Bund geschlossen, und auch damals brach eine Welt in Trümmer. Sie bauen an Babel, Herr Pfarrer, Sie alle. Ich aber will an einer neuen Erde bauen.«

»Wie im Lande Dostojewskis vermutlich?« fragte der Professor.

»Sie graben dort,« sagte Andreas, »aber sie haben einen falschen Spaten genommen … wir aber graben nicht einmal. Wir ziehen mit Motorpflügen in ein leeres Jahrtausend.«

Während der ganzen Zeit hatte die Baltin nur auf Andreas geblickt, als stände allein in seinen Augen die Entscheidung über Wahrheit und Irrtum. »Auch in diesem Raum?« fragte sie. »Auch hier soll er tot sein? Haben wir denn unser Leben lang zu einer Leiche gebetet? Und kommt es denn daher, daß das Schicksal uns …« Sie verstummte, mit einer jähen Bewegung sich wendend, als stehe jemand hinter ihr.

»Erzählen Sie Ihre Geschichte, gnädiges Fräulein,« sagte der Oberst feindselig. »Für Brüderlichkeitsapostel ist es eine sehr dienliche Geschichte.«

»Wenn er in einem von euch läge,« gab Andreas zur Antwort, »und auf die Stimme wartete: ›Lazarus, komm heraus!‹, weshalb schweigt ihr? Weshalb steht ihr nicht auf und kündet von ihm? Ich glaube an Gott und an Jesum Christum, seinen eingeborenen Sohn … welch eine Redensart! Sagt ihr, daß ihr an den Frühling glaubt, an die Sonne, an eure Kinder, an Lachen und Tränen des Tages? Erfüllt seid ihr davon, Leben ist es von eurem Leben. Aber Gott? Vielleicht als ihr Kinder wart und der Jammer von Golgatha zerriß zum erstenmal eure Seele. Oder ihr zogt die Hand vom Apfel zurück, weil man euch gelehrt hatte, Gott sehe zu. Oder als ihr den ersten Toten saht. Aber jetzt? Wer von euch hat ihn umarmt? Wer erschauert an seinem Fenster, weil Gott vorüberging?«

Er stand auf und trat hinter seinen Sessel. »Ich muß jetzt wohl gehen,« sagte er. »Verzeihen Sie, daß ich soviel von mir gesprochen habe …«

Frau Meisenthin erhob sich nicht ohne Befangenheit, aber die Baltin sah sie bittend an. »Noch eines,« flüsterte sie. »Sie selbst, Sie haben Gott umarmt?«

Er zögerte. »Manchmal,« antwortete er stockend. »Oft wohl, seit … ich bekannt habe. Es begann damit, daß ich einen Tiergarten öffnete in einer Nacht, um die Tiere zu Gott zu lassen. Aber das meiste geschah doch in der anderen Nacht, im Walde, als ich den Heiland aus der Erde grub. Ich hatte ein Kruzifix gestohlen, als Kind, aus einer Kirche, und es dort vergraben. Und als ich es ausgrub und den Heiland an meine Brust drückte, als ich vor dem Pfarrer kniete und bekannte und sie alle aufschrien … da nahm es seinen Anfang. Seither erfüllt er mich und treibt mich über die Erde wie seinen Atem, und nimmt mich wieder ein in sich und stößt mich wieder aus von seinem Munde … vom Ende aber weiß niemand zu sagen.«

Er stand unter ihnen wie ein Aussätziger. Der Oberst erhob sich langsam und trat hinter Frau Winterbergs Stuhl. Er knöpfte seinen Überrock zu, und alle verstanden die gemessene Bedeutung dieser unbewußten Bewegung. »Ich muß bekennen, lieber Meisenthin …« begann er mit verletzend betonter Zurückhaltung.

»Bekennen Sie nicht, Herr Oberst,« unterbrach ihn Andreas. »Bekennen ist ein heiliges Wort, und Sie wollen es zu einer Münze der Straße machen. Und Sie, Frau Meisenthin, sehen Sie nicht nach Ihren Teelöffeln. Man kann ein Kruzifix stehlen und niemals Gott näher sein als in solcher Stunde. Ich kann jetzt gehen, denn ich habe angeklopft. Wie bei euch, so wird es überall sein. Das Kruzifix wird dastehen, aber es ist ein gekauftes, und manchmal ist der Kauf böser als der Diebstahl. Laßt mich gehen und ihn suchen, der lebendig war und gestorben ist.«

»Wo wird er sein?« rief Tamara, und sie hob, sich umschauend, ihre gefalteten Hände mit einer Gebärde, die wie ein unziemlicher Schrei war in dem beherrschten Schweigen der anderen.

Andreas wandte sich noch einmal, die Türe schon in der Hand. »Es steht geschrieben von Mose, dem Knecht des Herrn: ›Und Gott begrub ihn im Tal. Und hat niemand sein Grab erfahren bis auf diesen heutigen Tag.‹«

Dann ging er aus dem Hause, und sie hörten die Türe hinter ihm zufallen mit einem Laut, dem kein Lächeln gewachsen war.


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