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V.
Das Reich des Bösen

Einige Tage später fuhr Andreas von der Universitätsstadt mit dem Zuge nach Süden, der Stadt zu, in der er seine Vikarstelle antreten sollte.

Als er nachmittags zum zweiten Male umstieg, fand er in seinem neuen Abteil nur einen Schlafenden, der mit aufgeknöpfter Weste dasaß, sehr vernehmlich schnarchte und ein Viehhändler sein mochte, der von guten Geschäften nach Hause fuhr, und einen bleichen jungen Menschen mit schwarzem Haar und seltsam toten, zugeschlossenen Augen, der zwischen gelblichen Fingern eine Zigarette hielt und die etwas schadhaften Schuhe auf die gegenüberliegende Bank gestreckt hatte.

Während Andreas ihn noch mit ungewisser Überraschung betrachtete, traf ihn des andern schräger Blick unter den gesenkten Lidern. »Ganz recht, ganz recht! Kein Irrtum, keine Täuschung, keine Paramnäsie, kein Blendwerk der Hölle, sondern ihr wohlgeratener Sohn Kascheike, Traugott Kascheike, Monstrosität der Namenbildung, einer frommen Epoche ölduftender Vorname, zusammengeschweißt durch elterliche Verblödung mit schollenatmendem Litauertum, und der makellosen Sprößlingsstirn eingebrannt wie ein Kainsmal. Wirklich, du Lamm Gottes, ich bin es selbst. Mache den Mund zu, du Mann mit dem polaren Namen und der tropischen Seele, setze dich hier auf die Bank, deren staatlich preußische Langweile ich mit meinen defekten Schuhen geheiligt habe, und erzähle, in welche Wüste du gehst, um aus Steinen Brot zu machen.«

Andreas lächelte, etwas verwirrt von dem atemlosen Redestrom und der unergründlichen Starrheit des Gesichtes, in dem nur die grauen Augen sich bewegten und der schmale, bartlose Mund, der ihn immer drohend und gefährlich anzusehen schien, auch wenn er lächelte.

»Wie lange es her ist, daß wir uns nicht gesehen haben,« sagte er langsam, »vor dem Kriege, als du gerade zur Medizin übergegangen warst …«

»Ja, ja,« unterbrach Kascheike ihn gelangweilt, »erster Chirurg der Welt, Spezialist für Frauenleiden, weiß schon … aber du?«

»Ich fahre in meine erste Vikarstelle.«

»Sieh an! Himmelsleiter um drei Sprossen verkürzt, Erbpacht der Gottseligkeit, Kinderfolge biblisch geregelt, herzlichen Glückwunsch!« Er lächelte mit leisem Hohn und blies Andreas den Rauch einer neuen Zigarette ins Gesicht. »Entschuldige! Wieder mal vergessen, daß nur Gottes Odem über deine Lippen geht.«

»Du sollst nicht so sprechen,« sagte Andreas bittend. »Du weißt, daß es mich schmerzt, und dir selbst macht es ja auch nicht Freude. Aber nun erzähle. Bist du schon Arzt? War der Krieg dir schwer?«

»Schwer? Kann ich nicht finden. Nur den Dummen ist alles schwer. Der Krieg, weißt du, ist überhaupt ein besonderes Kapitel. Wollen wir mal über seine Grundlagen reden und …«

Andreas schüttelte den Kopf. »Laß, bitte, erst du selbst … Bist du Arzt?«

Kascheike sah unbehaglich aus dem Fenster. »Ach wo,« meinte er zuletzt verdrießlich, »ist ja alles Unsinn … Mich interessierten nur die Sektionen, weißt du, und die Frauenstationen. Aber das war auch alles … Und dann passierte da eine unangenehme Geschichte. Eine junge Frau beschwerte sich über meine Untersuchung, war ihr wahrscheinlich zu sanft … Werde nur nicht gleich rot … es war ganz harmlos, aber solche Weiber sind nun eben verrückt … ja, und dann kam noch die Sache mit dem Mikroskop … du weißt doch davon? Nein? Ach so … Na ja … Es verschwand eben ein Mikroskop, verstehst du? Aus der Klinik. Du meinst nun, ich hätte es gestohlen und verkauft, um irgendeiner Schwester seidene Hemden zu kaufen. Nicht wahr, das meinst du? Lüge doch nicht, Nyland! Ein Vikar hat nicht zu lügen. Die Schwester hatte es gestohlen, mein Freund … so ganz klar war es nicht, ein komplizierter Fall, weißt du, mit pathologischen Grenzerscheinungen … vielleicht haben wir es auch beide gestohlen, vielleicht auch ein andrer, der Assistenzarzt zum Beispiel, das war ein widerlicher Patron … Hast du schon mal gehört, ob ein Assistenzarzt ein Mikroskop gestohlen hat?«

»Bitte, höre auf!« bat Andreas. »Weshalb sprichst du so?«

»Nun so … zum Spaß … still, der Schaffner kommt.« Er besah seine Fahrkarte und warf sie schnell in das Gepäcknetz.

Während Andreas seine Karte reichte, zündete Kascheike sorgfältig eine neue Zigarette an, bot dem Beamten lächelnd die Tasche, aus der sich dieser dankend bediente, und begann dann aufgeregt nach seiner Fahrkarte zu suchen. »Verdammte Zerstreutheit,« fluchte er leise. »Und diese Taschen … wie Sand am Meer! Nächstens werden die Schneider auf den Knien auch noch Taschen anbringen … Also ausgeschlossen, Herr Schaffner, noch mal wiederkommen, ja?«

Der Schaffner ging, etwas unschlüssig. Als er schon hinter der halbgeöffneten Türe verschwunden war, schob Kascheike schnell den Mantel des Schlafenden in den Spalt. Die Türe klemmte, und der Beamte mußte noch einmal zurückkommen. Kascheike suchte wieder.

»Weshalb tatest du das?« fragte Andreas erschreckt, als sie wieder allein waren. »Das mit der Karte und dann mit dem Mantel?«

»Weshalb? Ja, siehst du, das verstehst du wieder nicht. Ihr Pfarrer habt immer nur eine und dieselbe Theorie von den Menschen, die Sündenlümmeltheorie. Aber ich habe jedes Jahr eine neue. Jetzt zum Beispiel bin ich der Meinung, daß die Menschen langsam absterben. Sie vergleichgültigen sich, verkapseln sich, und rüsten sich zum Friedensschlaf. Alles ist ihnen egal, gänzlich wurscht. Sie dösen, weißt du, nach dem Fieber des Krieges. Das aber paßt mir nicht. Ein stiller See ärgert mich immer, und da werfe ich wenigstens ein paar Steine hinein. Oder ein Hund, so in der Mittagssonne, wenn er auf der Treppe sitzt und döst, das ärgert mich. Ich trete ihm wenigstens auf den Schwanz. Nun mit der Karte. Ich habe sie und weiß, wo sie liegt, selbstverständlich, aber ich zeige sie nicht. Ich gebe ihm eine Zigarette. Er darf sie nicht nehmen, aber er nimmt sie. Was führt er für ein Leben! Hast du dir das mal vorgestellt? Nicht? Schade. Ich stelle mir alle Leben vor, selbst das eines Lustmörders, jawohl! Selbst eines Mikroskopdiebes. Also vom frühen Morgen an, wo er aus seinem Bett kriecht, döst er. Er lebt wie unter einem Fuder Heu. Er wünscht, daß der Zug entgleist, oder daß einer der Fahrgäste eine Fensterscheibe einschlägt. Dann kann er aufwachen, den Zugführer holen, schreiben, schimpfen. Vielleicht kann er sogar die Notbremse ziehen. Das wäre großartig für ihn. Des Dienstes ewig gleichgestellte Uhr würde stehenbleiben. Ein Glück nur, daß wir unsere Dichter gehabt haben. Liebst du Schiller? Natürlich, war vorauszusehen. Ich hasse ihn … aber weiter. Nun bekommt er eine Zigarette. Das ist so, als ob du eine reuige Seele bekommst. Er nimmt sie. Aber sieh da, im selben Augenblick erfährt er, daß der Spender keine Fahrkarte hat. Was nun? Hat er wirklich keine, so muß er ihn melden, vielleicht sogar heraussetzen. Aber er hat eine Zigarette von ihm genommen. Wie nun, wenn der blinde Passagier das anzeigt, den Verdacht der Bestechlichkeit erregt, der Begünstigung vielleicht? Was dann? Siehst du, mein Freund, jetzt arbeitet sein kleines Hirn. Fieberhaft arbeitet es. Jetzt döst er nicht, jetzt ist er wach. Und das will ich haben! Ich lasse ihn noch zappeln, solange wie möglich, und dann finde ich die Karte, wenn es mir langweilig geworden ist. Das ist meine Theorie.«

»Das ist furchtbar,« sagte Andreas leise.

»Furchtbar? Keine Spur, mein Freund. Bloß Spaß, nichts als Spaß. Auch das andre, das mit dem Mantel. Sieh mal, er schläft. Was hat er zu schlafen? Und wie er schläft! Wie ein Ochse. Und wie seine Nase dröhnt! Wie ein Tunnel, durch den ein Zug fährt. Er träumt sicher von einer Schweineherde, oder von irgendeinem Frauenzimmer. Hat das zu sein? Ist das deine göttliche Gerechtigkeit? Nun fällt mir sein Mantel in die Augen. Schöner, weicher Stoff. Und in der Tasche, sieh mal hin, ein Zigarrenetui. Wenn der Mantel gut in den Spalt hineingeht und die Tür wird scharf zugemacht, so gibt es eine häßliche Falte im Stoff, sehr häßlich und dauerhaft. Und es kann passieren, daß die Zigarren in den Spalt kommen. Male dir das ordentlich aus, hörst du? Er steigt aus, und abends zieht er den Mantel an. Schon die Falte ärgert ihn. Und dann will er rauchen. Er leckt sich schon die Lippen. Und was faßt er? Krümel, mein Lieber. So wie Leichen, die man unter einem Zuge herauszieht. Glaubst du, daß er dann noch döst? Ich sage dir, er döst nicht mehr, eine ganze Weile nicht … Ja, das ist also meine Theorie.«

»Du bist ein gefährlicher Mensch, Kascheike.«

»Meinst du? Ach wo … du machst nur Scherz, und du lächelst ja auch.«

»Ich bin sehr ernst.«

»Wirklich? Nun ja … aber ich bin nicht gefährlich. Die Objekte fehlen mir. Was ist das alles! Ein Schaffner, ein Mantel, eine Fahrkarte … nun, vielleicht finde ich es jetzt, in der neuen Stelle.«

»Was für eine Stelle? Wo fährst du denn hin?«

»Privatsekretär, zu einem Großagrarier. Ganz in deiner Nähe, du brauchst es also nicht der bekannten göttlichen Vorsehung zuzuschreiben, daß du mich getroffen hast. Ich hätte dich doch entdeckt. Ich entdecke alles.«

»Privatsekretär? Aber du bist doch Mediziner?«

» War, mein Freund, war! Was bin ich nicht schon alles gewesen inzwischen! Auch bei der Heilsarmee, jawohl! Jetzt bin ich eben Sekretär, Diplomat, Vertrauter, jawohl! Und alles durch einen Ball, mein Lieber. Bälle sind sehr schön, wenn man sie zu benutzen versteht. Also ich war bei der Landwirtschaftskammer damals. Ein paar Monate. Und bekam eine Einladung zu einem großen Agrarierball. Es war gerade Messe, landwirtschaftliche, und alle Provinzonkels kamen Bullen kaufen, oder Zuchtschweine, oder sonst was Kompaktes. Und da war er auch da, mit seiner Tochter. Bulck heißt er. Ein merkwürdiger Mensch, ein Teufel, glaube ich. Und betrunken wie ein Stier. Aber von jener eiskalten Betrunkenheit, weißt du, die gefährlich ist und die mir imponiert. Mit dem kam ich zusammen. ›Du bist ein Lump, mein Sohn, aber ich habe dich lieb.‹ Das war das erste, was er zu mir sagte. Ich habe ihm einiges aus meinem Leben erzählt, das mag ihm gefallen haben. Und dann tanzte ich mit der Tochter. Sie war erst sechzehn, der erste Ball. Aber ein Objekt, mein Lieber, jawohl, ein Objekt! Eine Teufelin vielleicht. Ganz still, aber was für Augen! Und einen Körper! Mit sechzehn Jahren, Nyland, reif wie die Sünde! Es war alles betrunken, und ich habe sie an mich gedrückt, daß sie hätte schreien müssen. Aber sie schrie nicht. Als ich sie küssen wollte, schlug sie zu, das Biest. Aber alles schweigend. Nachher haben wir ruhig weitergetanzt … Das war im Herbst. Jetzt schrieb er an mich und bot mir die Stelle an. Was für ein Gedächtnis! Und ein fürstliches Gehalt … Auch einen Flurhüter sollte ich mitbringen, ›mit einer Mörderseele‹. Jawohl, so hat er geschrieben. Sie haben schon ein paarmal auf ihn geschossen. Aber ich habe keinen gefunden, schade.«

»Ich werde mitkommen,« sagte Andreas leise.

Der andere starrte ihn an. »Mitkommen … du … als was?«

»Als Flurhüter. Es ist notwendig, ich sehe es. Gott ruft, und ich muß folgen.«

»Bist du verrückt?«

Er schüttelte den Kopf. »Sie brauchen mich, Kascheike. Er, die Tochter, du auch. Auch die Menschen, auf die ich schießen soll. Böses hast du vor, mein Bruder. Auf deiner Stirn steht es geschrieben. Man muß verhindern, daß Böses geschieht. Wie kann ich wissen, ob sie mich brauchen in der Stadt? Gehen muß man zu den Menschen und fragen: ›Wohnt hier Jesus Christus?‹ So hat er mir geraten. Ich sollte nicht wohnen an den Kirchen, so will ich bei euch wohnen.«

»Und dein Amt, Mensch? Deine Karriere?«

Er winkte lächelnd mit der Hand. »Es gibt nur ein Amt auf Erden, nur ein einziges.«

Kascheike betrachtete ihn grübelnd. »Ich werde dich anzeigen beim Konsistorium,« sagte er endlich. »Was meinst du dazu? Nichts? Sieh, was das für ein gefährliches Bürschchen ist … hm …«

Er dachte angestrengt nach, Andreas noch immer unruhig betrachtend. Dann lächelte er plötzlich, ganz lautlos und voller Hohn. »Na schön, dann komm mal mit, mein Lieber. Jawohl, ist ganz in der Ordnung, daß du mitkommst. Frage nur an, ob Jesus Christus da wohnt. Sehr schöne Idee. Auch bei der Tochter frage an, hörst du? Aber wenn du merkst, daß ich dich totschlagen will, dann mußt du verschwinden, Nyland, ohne Aufenthalt, verstanden?« Er lachte, laut und rücksichtslos, indem er Andreas zudringlich ins Gesicht starrte.

»Warst du immer schon so?« fragte dieser traurig. »Damals als ich dich kannte, warst du wohl seltsam, aber doch nicht so.«

Kascheike lächelte verächtlich. »Als du mich kanntest … du bildest dir wohl ein, mich zu kennen? Ein Schaf bist du, Nyland, ein Polarschaf. Und seltsam? Alle bedeutenden Menschen sind seltsam. Die Tiergartenaffäre zum Beispiel, du hast doch davon gehört? Schon wieder lächelt er. Siehst du, man hat ihn nicht herausbekommen. Das war auch ein seltsamer Mensch … was meinst du, wenn ich das gewesen wäre? Da reißt du deine Unschuldsaugen wieder auf, was?«

Andreas lächelte. »Nein, Kascheike, das bist du nicht gewesen.«

»So? Nicht gewesen? Und wenn ich's dir nun erzähle, beschreibe, erkläre? Punkt für Punkt? Du gönnst es mir wohl nicht, eine so originelle Tat, was?«

»Du bist es wirklich nicht gewesen,« beharrte Andreas mit immer fröhlicherem Lächeln.

»Soll ich es beschwören?«

»Nicht!« rief Andreas erschreckt. »Du darfst nicht schwören, denn ich bin es selbst gewesen.«

»Du bist verrückt, Nyland!«

»Nein,« seufzte er, »da ist weiter nicht zu reden. Ich war es … es war ein erster Versuch …«

»Was für ein Versuch?«

»Zu Gott … aber das verstehst du nicht … und es ist traurig, daß du auch noch lügst, Kascheike.«

Der andere sah ihn haßerfüllt an. »So … sieh mal an … du warst das … es ist zwar gelogen, aber immerhin. Wie kühn du bist! Du kennst mich wirklich noch nicht, mein Freund.« Er schloß die Augen, und als der Schaffner ihn nach der Karte fragte, warf er sie ihm verächtlich in die Hand.

Als seine Haltestelle sich näherte und auch Andreas sein Gepäck zurechtlegte, tat er, als sehe er es nicht. Erst als der Zug hielt, fuhr er ihn böse an. »Genug mit deinen Verrücktheiten! Bildest du dir wirklich ein, daß ich dich mitnehme? Die Polizei werde ich rufen!«

Aber Andreas stieg schweigend hinter ihm aus.

Vor dem kleinen Bahnhofsgebäude stand Herr Bulck. Andreas wußte sofort, daß er es war, und er erschrak, als er ihn betrachtete. Er stand da, groß, fast ein Riese, bäuerisch gekleidet, den Körper schwer vorgeneigt und auf einen Stock gestützt. Aber auf diesem erdhaften Körper saß ein fremdes Haupt, als ob man es von einer Leiche entfernt und hier hingebracht hätte. Ein bleiches, starres Gesicht, zeitlos in seinen glatten, marklosen Flächen, ohne Haar, ein Mund wie mit dem Messer in eine blasse Frucht geschnitten, und zwei farblose Augen, die unter müden, gleichsam verwesenden Lidern erblindeten.

Ob er auf die Lokomotive starrte oder auf Kascheike oder auf einen furchtbaren Tag seines vergangenen Lebens, ließ sich von seinem Gesicht nicht ablesen. Aber als Kascheike den Hut vor ihm lüftete, verzog sich sein Mund, und mit geschlossen erscheinenden Lippen sagte er: »Du hast das halbe Jahr gut ausgenützt, Kasch. Bist noch ein bißchen gemeiner geworden. Was ist das für einer? Der Flurhüter etwa?«

Seine Stimme war kalt und leise, aber scharf wie gieriger Stahl, erschreckend in ihrer Menschenlosigkeit.

»Es tut mir leid,« flüsterte Kascheike schmerzlich. »Ein Verrückter, ein ehemaliger Bekannter von mir, der neue Vikar, aber geistig gestört. Fixe Ideen. Man müßte die Polizei rufen.«

»Du siehst mitleidig aus, Kasch, also lügst du. Da ist irgend etwas interessant, mein Freund. Bist du ihm Geld schuldig? Oder hast du seine Braut verführt?«

Andreas hatte sein Gepäck hingestellt. »Ich bin Andreas Nyland,« sagte er, furchtlos in die toten Augen blickend. »Ich soll als Vikar in die Stadt, aber ich traf Kascheike unterwegs, und es schien mir, daß ich bei Ihnen nötig sei. Als Flurhüter, Herr Bulck, nichts weiter. Aber ist das nicht ein großes Amt? Klingt der Name nicht schon wie eine Sendung, wie ein Ruf, dem man folgen muß?«

Herr Bulck hob die Lider ein wenig und weidete sich mit unverhülltem Hohn an Kascheikes bleicher Wut. »Siehst du, mein Freund, ich wußte doch, daß da irgend etwas interessant war … Also eine Sendung, mein Freund, sagst du? Und zu Hochwürden Reimarus willst du, dem Mann mit dem klassischen Namen? Der liegt besoffen im nächsten Dorf, im Gasthausgarten. Alle acht Tage bringe ich ihn soweit, daß der alte Adam ersäufet werde. Mit dem werden wir die Sache schon in Ordnung bringen … Weshalb nennst du den da übrigens Kascheike?«

»Er heißt doch so,« sagte Andreas verwundert.

Kascheike wischte sich über die Stirn. »Er ist verrückt, Herr Bulck. Ich habe Sie gewarnt …«

»Wie dumm du lügst, Kascheike! Kasch klang dir wohl vornehmer, was? Kascheike paßt großartig zu dir. Ich werde dir etwas Gehalt zulegen müssen für diesen Eunuchennamen. Und Martha wird sich freuen … nun los, nehmt euren Kram.«

»Herr Bulck!« Kascheike faßte beschwörend nach seinem Arm. »Es ist nicht Ihr Ernst … er ist Vikar …«

Aber Bulck schob ihn nur mit dem Stock zur Seite und ging schwerfällig zu dem Wagen, dessen Pferde der Kutscher nur mühsam bändigte.

Andreas mußte sich neben ihn setzen, Kascheike ihnen gegenüber. Bulck betrachtete sie schweigend, immer abwechselnd von einem zum andern blickend. »Das ist großartig,« sagte er endlich, die Augen schließend und sich zurücklehnend. »Unbezahlbar großartig … Kascheike, der Hochstapler, als Sekretär, und der Mann mit der Sendung als Flurhüter … wird ein anregender Sommer … nun schweigt, ich will schlafen.«

Er strömte einen so durchdringenden Alkoholgeruch aus, daß Andreas zur Seite rückte und in die Landschaft hinaus sah. Die Erde war hügelig, von Wäldern umblaut. Aus den Seen leuchtete spiegelnd das Abendrot, und das blühende Korn weiter Felder schwang in silbernen Wellen bis an den Horizont. Andreas sah, daß die ihnen Begegnenden dem Wagen auswichen, mit finsteren Blicken ihm nachstarrend. Er sah, daß auf dem Rücken der Pferde die Leine im Schaum lag, und aus der Wirrheit der letzten Stunden mit ihrem jähen Erleben schien der stäubende Weg ihn in ein Land des Bösen zu führen, über dessen fahlem Horizont die Gestalt des Riesen in drohendem Schweigen emporwuchs.

Er sah auf Kascheike. Der hatte den Kopf in die Hände gestützt, als ob er schliefe. Als er den Blick zur Seite wendete, trafen ihn die weitgeöffneten, blinden Augen Bulcks wie die Augen eines Toten, der schon seit Beginn der Fahrt auf ihn gestarrt hatte.

›Was will er?‹ dachte er voller Grauen. ›Ist er wach, oder was soll das alles?‹

Aber die toten Augen schlossen sich wieder zu, ohne daß eine Miene in dem fahlen Antlitz sich bewegte.

Durch eine Allee von Linden, die wie grüne Wolkengebirge sich türmten, fuhren sie auf den weiten Hof und hielten vor der Treppe. Das Haus war groß, aber alt, mit schwerem Dach. Hohe Fichten rauschten wie ein Wald darüber, und im Garten, den man nicht sah, sangen die Drosseln.

In der dämmernden Diele stand der Diener, weißhaarig, glattrasiert, verschlossen. Er verneigte sich und trat noch einen weiteren Schritt zurück.

»Nichts passiert?«

»Nein, Herr Bulck,« flüsterte er.

»Essen fertig?«

»Jawohl, Herr Bulck.«

»Die Weiber rufen! Auftragen! Möchtest wohl ein Bad nehmen, Kascheike, und dich mit Rosenöl salben, was? Morgen gibt's Arbeit, da kannst du auch baden. Heute ist Feiertag. Kommt!«

Er ging ins Eßzimmer voran, den Stock in der Hand. Die Türen zum Garten waren geöffnet, und das rote Licht lag draußen noch leuchtend über Rasen und Laub. Drinnen aber brannten in zwei schweren Leuchtern zwölf Kerzen auf dem Tisch, das Silber glänzte aus einer Fülle blühender Blumen, und Goldrahmen schimmerten an den dunklen Wänden. Das Licht der Kerzen und der letzte Tagesschein flossen zu einem unruhigen Zwielicht zusammen, in dem die Gesichter noch bleicher und flackernder erschienen als sonst.

Bulck ließ sich schwer in den Lehnstuhl an der Schmalseite des Tisches fallen, den Stock über den Knien behaltend. »Wie sie mich warten lassen!« flüsterte er mit geschlossenen Augen.

Kascheike betrachtete die Tafel, und Andreas sah mit schwerem Herzen durch die geöffneten Türen in den Garten.

»Geh ins Nebenzimmer, Kascheike,« sagte Bulck plötzlich, »und hole das Gespenst. Nicht dort, die andre Seite!«

Kascheike gehorchte mit bösem Gesicht. Man hörte gedämpfte Stimmen und den klagenden Laut eines Hundes. »Paß auf, Nyland!« lächelte Bulck. »Das ist etwas für den Flurhüter.«

Kascheike erschien wieder in der geöffneten Tür, mit verzerrten Lippen lächelnd und einen Rollstuhl vor sich herschiebend. In ihm lag ein Mensch, dessen Alter nicht zu erkennen war. Es war Herrn Bulcks blasses Haupt, nur so, als ob es lange Zeit in der Erde verscharrt gelegen hatte, grünlich in seiner furchtbaren Blutlosigkeit, von zuckenden Falten zerrissen. Gegen seine Augen erschienen diejenigen Bulcks wie Kinderaugen. Sein Kopf schwankte leise hin und her, bis der Rollstuhl an seinem Platz stand, und seine Blicke glitten mit dem Flimmern nachleuchtenden Phosphors an den fremden Gesichtern auf und nieder.

»Das ist das Gespenst, Nyland,« sagte Bulck, fröhlich umherblickend. »Sieh ihn dir genau an, er ist es wert. Erkennst du die Ähnlichkeit? Fabelhaft, was? Die Natur schreibt eine eherne Hand. Die Sünden der Väter, verstehst du? Er ist nämlich mein Sohn. Eine Frucht der Sünde, wie Reimarus sagt. Wir waren beide betrunken, die Mutter und ich. Deshalb habe ich ihn auch Potor genannt, den Trinker. Er hat zu früh angefangen damit. Viele Söhne habe ich, Nyland. Gott weiß, wo sie herumlaufen. Aber diesen habe ich bei mir behalten. Er ist so interessant, weißt du. Nicht nur wegen seiner Rückenmarksschwindsucht, sondern weil er ein Teufel ist. Sieh dir mal seine Hände an! Wie von einem Skelett, nicht? Und die Augen! Großartig! Wenn er nicht gelähmt wäre, würde er in der Nacht kommen und mir die Kehle durchbeißen. Hatte er den Hund wieder angebunden? Natürlich, dieses Scheusal! Er bindet nämlich seinen Hund an einem Hinterlauf fest und behält die Schnur in der Hand. Und dann wirft er Brotstücke ins Zimmer, damit der Hund zuspringt. So was macht ihm Spaß. Er reißt auch den Fliegen die Beine aus. Und Spinnen züchtet er in seinem Zimmer. Die füttert er dann mit lebenden Insekten. So vertreibt er sich die Zeit … Nun, Kascheike, was meinst du? Der ist noch interessanter als du, was?«

Er lachte, leise und boshaft, und schlug dann mit dem Stock plötzlich auf den Tisch, daß die Gläser klirrten.

Sie mußten hinter der Türe zur Diele gewartet haben, denn sie traten alle zusammen ein: Fräulein Reiter, die Tochter Martha, der Ober-Inspektor und der Diener.

»So,« sagte Bulck fröhlich, »das sind sie. Kommt her, daß ich euch bekannt mache. Paß wieder auf, Flurhüter, denn auch dies ist dein Feld. Dies ist Fräulein Reiter, mit dem unpassenden Vornamen Susanne. Sie ist meine Hausdame, die sechzehnte, die ich habe. Sie nutzen sich sehr schnell ab hier. Das Klima bekommt ihnen nicht. Sie sieht gut aus, nicht? In den Hüften schon ein bißchen stark, auch bald reif zum Wechseln. Du mußt dich vorsehen vor ihr, sie ist nicht ungefährlich. ›Fräulein‹ ist übrigens eine sehr optimistische Bezeichnung für sie.

»Dies ist meine Tochter Martha, aus rechtsgültiger Ehe übrigens. Kein Gespenst. Sie ist etwas problematisch, verstehst du?

»Und dies ist Herr Karsubke, auch ein schöner Name. Verläßlich und ein Muskelmensch erster Ordnung. Prügle dich nicht mit ihm. Ihm fehlen nur die Hörner, wenn er wütend ist.

»So, und hier sind meine neuen Generalstäbler: der Vikar, der zu Reimarus soll … Martha, zu übermorgen Reimarus einladen! und der bei mir Flurhüter wird. Andreas Nyland heißt er, und ich habe ihn lieb. Er wird im Zimmer dir gegenüber schlafen, Martha, verstanden? Denn er hat eine Sendung, sagt er, und das muß man beachten.

»Und der andere, das ist mein Sekretär. Du kennst ihn nicht, Martha. Brauchst ihn gar nicht anzusehen. Du kanntest einen Herrn Kasch, aber dies ist nicht Kasch. Weißt du, wer das ist? Das ist Kascheike, meine Liebe, Traugott Kascheike. Verstehst du, daß man solch einen Namen lieben muß? Zwei Silben hat er uns bis jetzt unterschlagen, ein gutes Vorzeichen … Nun sieh sie dir mal beide an. Sie kennen sich außerdem von früher. Halte ihre Gesichter nebeneinander und ihre Namen. Und dazu das Gespenst! Hab' ich das nicht wieder großartig gemacht?«

Er lachte lautlos, daß sein schwerer Körper zitterte. Er berauschte sich fast an dem Ausdruck der Gesichter, den er mit seinen Worten erschuf und formte, und der von dem fröhlichen Grinsen Karsubkes bis zu der erschrocknen Trauer Nylands durch alle Stufen des überraschten Staunens glitt.

»Jetzt wollen wir essen, Martin,« setzte er leise hinzu.

Zwei Mädchen bedienten. Martin stand hinter dem Stuhl seines Herrn und füllte ihm Glas auf Glas mit einem dunkelroten Wein.

»Weshalb trinkst du nicht, Nyland?« fragte Bulck. »Sieh mal, wie Kascheike säuft, wie ein Kind an der Mutterbrust. Trinke!«

»Ich trinke nie, Herr Bulck,« sagte Andreas bittend.

»Trinke!« brüllte er in jähem Zorn des Rausches.

Andreas schob seinen Stuhl zurück. »Ich kann nicht bleiben,« sagte er traurig, »und doch müßte ich bleiben.«

Bulck griff nach seiner Hand. »Bleibe,« sagte er weich. »Ich will es dir erlauben, dir allein. Du bist ein andrer als diese. Setz' dich wieder.«

Martha hob die Augen unter den zusammengewachsenen Brauen. Sie sahen müde aus, fast schläfrig. Auch ihr Gesicht hatte die leise Erstorbenheit ihres Vaters, aber die Linien waren gespannter, federnder, wie ihr ganzer Körper. Und ihr Mund war fast roh in der Fülle der leise geöffneten Lippen. »Was haben Sie für eine Sendung, Herr Nyland?« fragte sie gleichmütig.

»Ich will leiden, Fräulein Bulck, damit ich das Leid auslösche. Wenigstens anfangen will ich zu leiden.«

Das Gespenst lachte, mit einer hohen, heiseren Kinderstimme, und hob das Weinglas mit seinen Knochenhänden. »Dies tue ich für euch alle,« flüsterte es, fast schluchzend vor Lachen und die grünlichen Augen auf Nyland richtend.

»Nimm ihm das Glas weg, Martin,« sagte Bulck. »Er hat genug getrunken, schon im Mutterleibe.«

Der Gelähmte stieß mit dem Messer nach Martins Hand, aber als Bulck den Stock hob, fiel er in seinen Stuhl zurück.

»Und dazu kamen Sie hierher?« fuhr Martha fort, ohne nach dem Kranken auch nur den Kopf zu wenden.

»Ja, auch dazu.«

Sie wandte sich so plötzlich zu Kascheike, daß sie den gierigen Blick noch auffing, mit dem er sie umfaßte. »Und Sie? Was denken Sie von ihm?« fragte sie, ihn betrachtend, als sei er ein geschmeidiges Raubtier hinter dünnem Gitter.

Kascheike blickte höhnisch auf Nyland. »Er müßte eigentlich Joseph heißen und am Jordan geboren sein. Auch einen blutigen Rock könnte er tragen. Aber wissen Gnädigste, wo er eigentlich hingehört?«

Sie antwortete mit keiner Miene.

»Ins Gefängnis, meine Gnädigste, oder ins Irrenhaus. Wissen Sie, was er behauptet? Sie erinnern sich wohl der Tiergartengeschichte im letzten Herbst. Die Käfige waren aufgeschlossen und die Tiere und Vögel befreit. Es machte ein kolossales Aufsehen damals. Und nun behauptet er, er sei es gewesen.«

»So?« sagte sie gespannt.

»Ja, und dabei war ich es. Eine Laune, ein origineller Einfall. Öde des Daseins, im Rhythmus der Wildheit sich für eine Nacht erlösend …«

»Weshalb taten Sie das?« fragte sie, Nyland neugierig betrachtend.

»Ich wollte das Leid auslöschen, aber es war ein falscher Weg. Denn der Heiland lag noch begraben im Walde.«

»Was für ein Heiland?«

»Ich hatte gestohlen, als Kind, ein Kruzifix, und es im Walde vergraben, weil es meine Mutter nicht heilte. Da fuhr ich Weihnachten hin und bekannte meine Sünde.«

»In Wirklichkeit haben Sie das getan, Herr Kascheike, nicht?« fragte Martha gleichmütig.

»Ich weiß nicht,« sagte er lächelnd. »Diese Grenzfälle sind höchst interessant. Der Wettkampf um die Tat, das ist psychologisch sehr merkwürdig. Schon mit dem Mikroskop war es so. Weshalb sollte ich es nicht gewesen sein? Es liegt durchaus in meiner Sphäre. Aber nun erhebt er Ansprüche. Es ist so wie bei einem Kind, dessen Vater gesucht wird. Auch da kann es zu merkwürdigen Verwicklungen kommen … Die Hauptsache ist doch, daß man ihn lieben muß. Das muß man doch, nicht wahr? Ein neuer Jesus, der in sein Amt fährt, und mit einemmal ist er Flurhüter. Sitzt hier am Tisch und zieht den Vorhang von seinem Heiligtum, ohne Prolog oder Ouvertüre. Ich habe gestohlen … fertig. So wie wenn einer sagt: ›Ich heiße Meyer …‹ Ja, Nyland, man muß dich liebhaben.«

Er hob sein Glas, als versenke er ein böses und wirres Lächeln im dunklen Wein.

Herr Karsubke sah glotzend von einem zum andern, als trüge jeder von ihnen zwei Köpfe, und Fräulein Susanne blickte unruhig auf Bulck, der zu schlafen schien.

»Berichte, Karsubke!« sagte er mit geschlossenen Augen.

Der Inspektor hob sich wie ein betäubter Taucher aus seinem wortlosen Staunen. Es dauerte eine Weile, bis er sprechen konnte. »Wir haben das Heu gewendet,« begann er mit seiner groben Stimme, »und in Haufen gesetzt. Morgen können wir einfahren. Dem Oschlies sein Bengel wurde frech, hob die Heugabel …«

»Und?« Bulck hob die Augen.

»Na, ich hab' ihm gegeben. Der Doktor hat bißchen kommen müssen.« Er lächelte fröhlich.

»Karsubke hatte schuld,« flüsterte das Gespenst. »Ich habe zugesehen, durchs Fenster. Es war wegen der Marie.« Er hob die haßbebenden Hände, als wollte er ihn erwürgen.

»Ja, diese Späße sind Ihnen versalzen, für immer,« sagte Karsubke roh. »Das ist auch zum Ärgern, jawohl.«

»Tatest du es aus Langerweile?« fragte Bulck unruhig und griff nach Nylands Hand.

»Nein, Herr Bulck, o nein.«

»Gut, schweige … nachher. Steht auf, ihr andern, und geht! Kascheike, bringe das Gespenst in sein Grab und sieh dir seine Spinnen an. Oder willst du noch mit meiner Tochter tanzen, wie damals, was? Warte, Freundchen, wir geben nochmal ein Fest, da kannst du wieder leuchten in deinem Glanze. Gedulde dich nur ein bißchen.«

Das Zimmer wurde leer. Nur Martin saß auf einem Stuhl neben der Tür, die stummen Augen auf seines Herrn Glas gerichtet. Ein kühler Luftstrom, gesättigt vom Dufte des Flieders, kam vom Garten herein, ließ die Kerzen aufflackern und die Vorhänge leise an der Tapete sich reiben, so daß Andreas den Kopf wandte, als habe die Erde nach ihm gerufen.

»Ja, siehst du, Andreas,« sagte Bulck, sich müde zurücklegend und die Augen gegen die unruhige Decke gerichtet, »das ist es, die Langeweile, das ist das Ganze. Verstehst du?«

»Vielleicht, Herr Bulck.«

»Du bist ein Kind, aber du hast Geld, und niemand kümmert sich um dich. Du spielst nicht wie andre Kinder, sondern du kaufst dir unkindliche Dinge und wirfst sie wieder fort. Du wirst ein junger Mensch, aber du hast keine Jugendfreuden und keine Jugendschmerzen. Du hast Geld. Und noch eins, Andreas, du hast Kraft. Du wirst ein alter Mensch, aber du hast nicht das Lächeln eines Greises und auch nicht seine Wehmut. Nur Geld. Alles kannst du haben: Weiber, Rausch, Besitz, Macht. Und wenn du siehst, daß du alles haben kannst, dann verachtest du alles. Alles, verstehst du das?«

»Vielleicht, Herr Bulck.«

Er beugte sich vor. »Alles, Nyland! Sieh mal, die meisten, die so sind, sie achten Gott, oder das Geld, oder sich selbst. Wenigstens sich selbst. Aber ich? Nichts … du schüttest das Wasser aus einem Glas und wartest, bis es verdampft. Dann wirfst du das Glas zur Erde und trittst die Scherben zu Staub. Und dann ist nichts mehr da, gar nichts. Die Menschen, sieh mal, ich nenne sie du, alle. So wenig sind sie mir, so nichts. Ich kaufe sie. Die Weiber, die Arbeiter, das Gesetz, den Pfarrer. Wie schal ist das, wie leer. Und dann kommt die Langeweile. Was sollst du tun? Reisen? Langweilig. Spielen? Langweilig. Weiber? Langweilig. Die eine heißt Susanne, die andere heißt Elisabeth, das ist alles. Und dann fängst du an zu trinken, Andreas …«

»Aber im Rausche tötet man, Herr Bulck.«

»Unsinn! Wen soll man töten?«

Andreas deutete mit der Hand nach dem Nebenzimmer. »Gott tötet man, Herr Bulck! Auch er sollte Gottes Ebenbild werden, und ist ein Gespenst geworden.«

»Überall sind Gespenster, Nyland. Weshalb sollen sie nicht leben? Ich brauche sie, gegen die Langeweile. Sieh, wenn es alles ordentliche Menschen wären, mein Sohn, der Inspektor, Kascheike, wäre es nicht furchtbar? Denke, wie sie mich ansehen würden. Fortgehen würden sie vielleicht. So aber müssen sie bleiben. Ich suche sie mir zusammen, ich bezahle sie, ich ziehe sie auf, und dann lasse ich sie tanzen. Jawohl, tanzen! Und ich sitze und sehe zu. Und es ist herrlich, wenn sie aneinandergeraten werden. Glaubst du, daß mir an einem von ihnen etwas gelegen ist? Nichts. Ich schüttle sie wie Würfel in einem Becher. Manchmal liegt die Eins oben, manchmal die Sechs. Aber sie sind alle gleich. Und verliert man einen oder zerspringt er, so geht man zum Kaufmann und holt einen neuen. Du kannst ihn nicht unterscheiden von den andern.«

Seine Zunge wurde so schwer, daß Andreas sich zu ihm beugen mußte, um ihn zu verstehen.

»Du denkst, ich bin betrunken,« murmelte Bulck. »Ach nein, mein Freund, ich bin wohl nur ein bißchen traurig. Manchmal ist das so …«

»Gott ist das,« sagte Andreas. »Schon, daß Sie so sprechen, daß Sie bekennen, daß das Herz Ihnen schwer ist. Meine Augen suchen Sie, die Augen des Flurhüters. Ich habe mich gefürchtet, aber nun weiß ich, daß es der rechte Weg war, der mich hergeführt hat.«

Bulck sah ihm starr in die Augen. »Sieh mal,« flüsterte er mit tückischem Lächeln, »was er nicht alles weiß! Auch du wirst tanzen, mein Freundchen, wenn ich will. Auch du! Auch dich werde ich kaufen, wenn ich will. Nicht mit Geld vielleicht, aber kaufen werde ich dich, du … du … Flurhüter, du!«

Dann schloß er die Augen und winkte nur mit der Hand.

»Bring' ihn nach oben, Martin. Und zeige ihm die Schwelle, die er zu bewachen hat, dieser Gesandte Gottes …«

»Es ist ein böses Haus, Martin,« sagte Andreas leise vor der Tür seines Zimmers und nahm ihm den Leuchter ab.

Aber der Diener legte nur den Finger auf die Lippen und lauschte auf die heiseren Töne des Liedes, die von unten her das schweigende Haus erfüllten, als schrien sie aus vermauerten Kellern nach einem verlorenen Gott.


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