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IX.
Der Baum des Lebens

Im Frühjahr bestand Andreas seine zweite Prüfung, blieb bis zum Sommer in der Stadt und erhielt dann, seinem und der Gemeinde Wunsch entsprechend, die Predigerstelle bei Reimarus. Bevor er abfuhr, schrieb er an seine Frau und an Bulck und suchte um eine Unterredung beim Generalsuperintendenten nach. Er betrat das Haus mit schwerem Herzen und verließ es nach zwei Stunden ernst, aber mit stiller Freudigkeit. Dann fuhr er mit reinem Herzen in sein Amt.

Er fühlte wider seinen Willen eine leise Enttäuschung, als er Martha nicht auf dem Bahnhof fand, wechselte ein paar Worte mit dem Vorsteher, der ihm zu seiner Stelle Glück wünschte, und ging dann langsam die staubige Straße zwischen reifenden Kornfeldern der Stadt zu. Als er die Höhe erreicht hatte und von ihr auf die sonnigen Dächer niederblickte, auf den hohen Kirchturm mit seinen nüchternen Formen und dem aufdringlichen Zifferblatt der Uhr, auf den See, der an den Häusern entlangglänzte, von Feldern und Wäldern übertürmt, überfiel ihn eine tiefe Traurigkeit, so schwer, daß er die Hand auf sein Herz legte. »Es kann nicht sein,« murmelte er, »das letzte kann es nicht sein … so still, so sicher … und die Ströme gehen noch immer durch das Land … die Vögel rufen und Wolken stehen auf … dort aber rauchen die Schornsteine, und wenn die Glocke neunmal schlägt, schließen sie die Türen ab und gehen schlafen … nein, ich hätte es nicht tun sollen … feige und müde war ich nach dem letzten Jahr … wie einen Herrn hat er mich begrüßt, nicht wie einen Knecht … ach, das ist ein falscher Weg …«

Er blickte sich um, als müßte er umkehren. Erst als die Kirchenglocke sechsmal schlug, war es ihm wie ein strenger Ruf, und langsam schritt er die Straße hinab.

Als er den Vorgarten der Predigerwohnung betrat, öffnete sich die Haustüre, und Martha erschien auf der Schwelle. Sie trug ein schwarzes Kleid und hatte das schwere Haar glatt gekämmt. Das gab ihrem blassen Gesicht den Ausdruck einer Büßerin, so daß Andreas, noch das glühende Bild der letzten Nacht vor Augen, sie mit leisem Erschrecken betrachtete, weil er fühlte, daß er eine falsche Rüstung um sein Herz gelegt hatte, die nun wehrlos verging vor diesen demütigen Augen. ›Sie ist doch immerhin meine Frau,‹ dachte er, mit dem unklaren Wunsch, das Schlagen seines Herzens zu rechtfertigen, und als sie schweigend die Arme um seinen Hals legte, küßte er scheu ihre Lippen, erschauernd vor der geheimnisvollen Kühle, die ihn durchfloß.

»Da bin ich,« sagte er mit unsicherem Lächeln und errötete gleichzeitig über das Sinnlose der Redensart. »Ich glaubte, du würdest auf dem Bahnhof sein,« setzte er verlegen hinzu.

»Ich wußte ja nicht, Andreas,« erwiderte sie mit niedergeschlagenen Augen, »ob ich kommen durfte.«

»Ich habe dir doch geschrieben … wir wollen es gut sein lassen … ich bin doch kein Heiliger, Martha.«

Sie stand noch neben ihm, scheinbar gedankenlos mit der Schleife ihres Kleides spielend. Dann legte sie den Kopf an seine Brust, hob die feuchten Augen zu ihm empor und flüsterte: »Ich habe bereut, Andreas … vergib mir meine Sünde um Christi willen.«

Er streichelte verwirrt ihre Wange, und als sie seine Hand festhielt, um sie zu küssen, stand in seinen Augen eine so wehrlose Ergriffenheit der Liebe und des Leidens, daß sie ihn wortlos in das Zimmer zog, um nicht durch eine unbedachte Bewegung vor der Zeit die Schale zu erschüttern, die unter ihren Händen in seiner Brust sich strömend füllte.

Sie gingen langsam durch die Räume, mit wenigen bedrückten Worten von ihrem Leben seit der Trennung sprechend und im verborgenen jeder atemlos auf den anderen lauschend, ob nicht hinter dem ruhigen Antlitz ein zweites sich erhebe, leidenschaftlich kündend von dem wahren Leben in Zorn, in Angst oder Sehnsucht. Sie schraken zusammen bei jedem Schlag der Uhr und blickten aneinander vorbei, als betrachteten sie die gleichgültigen Dinge des Abends und als sei nichts zu verbergen wie eine leise Müdigkeit nach der Spannung des Tages.

Vor dem Essen ging Andreas noch einmal in die Kirche, obwohl Martha ihn leise zurückzuhalten suchte, und kam ruhiger zurück. Es dunkelte schon, als sie bei Tisch saßen, und durch die geöffneten Fenster drang der Duft der Nelken und der letzte Kinderlärm.

»Wie fröhlich sie sind …« sagte Martha hinausblickend. »Schon daß sie leben können … du warst ein trauriges Kind, Andreas, nicht wahr?«

»Ja,« sagte er bedrückt.

Dann schwiegen sie wieder.

Als es ganz dunkel geworden war, stand Martha leise auf und räumte den Tisch ab. Dann schloß sie das Fenster und blieb an der Türe stehen. »Gute Nacht,« flüsterte sie.

Er hob die Hand, sah aber aus dem Fenster. »Dieses alles,« sagte er schließlich, so leise, daß sie ihn kaum verstehen konnte, »dein Traurigsein und … daß du so verändert bist … wie ist das gekommen?«

Zuerst schwieg sie, auf ihrem Platze verharrend. »Ich hatte getötet,« erwiderte sie dann, »und wollte wieder lebendig machen … das durfte ich nicht … ich sollte büßen, aber ich verstand das nicht … du ließt mich allein …«

Er stand langsam auf und ging zu ihr. »Ich will dich nicht mehr allein lassen,« sagte er leise, und eine stille Trauer verdunkelte seine Stimme. »Aber ich fürchtete mich …«

»Und jetzt?«

Aber er legte nur seine Hände über ihre Augen.

Dann verließen sie beide das Zimmer.

Der Garten hinter dem Hause lag dicht über dem See. Hier saß Andreas am nächsten Morgen auf der Uferbank, die Arme über die Lehne gebreitet, den Kopf an die niedrige Trauerrüster gelehnt, und blickte über das noch stille Wasser nach den dunklen Wäldern des jenseitigen Ufers. Die Seeschwalben schrien, und ein Motorboot, mit Netzen beladen, zog langsam unter der Brücke durch. Wenn er die Augen schloß, war es wie im vorigen Frühling am Strom, wenn er zum Haus des Leidens fuhr. Er lächelte bitter über einer neuen Erkenntnis.

Als Martha leise singend in den Garten trat und sich neben ihn setzte, sah er wieder schweigend geradeaus.

Sie betrachtete ihn mit leisem Spott von der Seite. Alles Demütige und Kindliche war in dieser Nacht aus ihrem Antlitz fortgewischt. »Nun, Andreas?« fragte sie harmlos. »Gewissensbisse? Es war eine unheilige Nacht, mein Lieber, nicht wahr?«

Sie strich ihm wie einem Kinde das Haar aus der Stirn und versuchte, seinen Blick zu fangen.

Er lauschte befremdet auf den veränderten Ton ihrer Stimme und sah sie mit wachsendem Erschrecken an. »Weshalb … sprichst du so?« fragte er abweisend.

Sie blickte ihm gerade in die Augen, ohne zu erröten, und lachte nur leise.

»Lache nicht!« sagte er finster.

Sie spielte immer noch mit seinen Haaren, nicht im geringsten aus der Fassung gebracht. »Ach, mein Lieber,« antwortete sie endlich. »Stell' dich doch nicht so an. Ein halbes Jahr habe ich meinen Leib kasteit, und nun, nachdem ich dich endlich gehabt habe, eine ganze Nacht lang, da soll ich nicht lachen? Furchtbar dumm bist du, Andreas!«

»Du … gestern warst du anders,« sagte er mit steigender Angst. »Erkläre mir das … ich verstehe dich nicht.«

Sie nickte ihm fröhlich zu. »Gestern mußte ich fromm sein, Andreas, sonst wärst du doch nicht gekommen. Das ist doch furchtbar einfach … Und es fing ja auch ganz fromm an, nicht wahr? Ich denke, du hast zuerst im stillen gebetet … furchtbar komisch könnt ihr Männer in solchen Augenblicken sein … aber nachher, da wurde es anders, ja? Siehst du, habe ich dir nicht gesagt, daß es wie ein Taumel über dich fallen wird? Was weißt du von der Liebe, Andreas …«

Sie lehnte sich, den trägen Körper dehnend, zurück, und Andreas las die Bilder von ihrem Antlitz ab, die vor ihren Augen standen.

»Du hast mich zum zweitenmal betrogen,« sagte er finster. »Du kannst wohl nicht anders … aber es war das letztemal. Ich werde nicht mehr zu dir kommen.«

Sie winkte lächelnd mit der Hand. »Tut nichts, Andreas. Mit einem Heiligen ist es ja wohl auch anders als mit anderen Männern, mit Kascheike zum Beispiel … ich habe dich gehabt, und es war sehr schön … außerdem ist es nicht wahr, daß du nicht mehr kommen wirst. Du belügst dich immer noch selbst, Andreas. Übrigens weißt du sehr gut, daß ich mir jemand anderes hole, wenn du wirklich nicht mehr kommst. Und in die ›Sünde‹ hineinstoßen wirst du mich doch wohl nicht … Also trage dein Kreuz schon, mein Lieber, und sei nicht immer feige. Du hast dich in andren Dingen schon über Gebühr entlastet. Sieh dir mal deine Zimmer an. Ein bißchen bequem für einen Knecht Gottes, nicht wahr? Also trage wenigstens deine andre Last, sie sieht ja auch ganz niedlich aus, Andreas.« Sie drehte sich lächelnd mit gerafftem Kleide einmal auf den Absätzen, küßte ihn flüchtig auf die Stirn und ging singend ins Haus zurück. »Sonntag müssen wir schon anfangen Besuche zu machen,« rief sie fröhlich aus der Türe zurück.

Er blieb sitzen, die Hände über den Scheitel hebend, als wehre er einen Schlag ab, und in dieser Gebärde dumpf erstarrend. Wie ein fahles Wasser glänzte das wahre Bild seines Lebens plötzlich vor ihm auf, erschreckend einsam und tot. Irgend jemand hatte aus unsichtbarer Ferne etwas hineingeworfen, etwas Glänzendes und Kostbares, dessen ertrinkender Schein noch einmal aus dem grauen Spiegel blitzte. Nun liefen nur matte Kreise zum schweigenden Ufer, immer mehr verzitternd und sich glättend, und dann war es versunken für immer.

›Weshalb sprach es nicht gestern abend?‹ dachte er in dunklem Verlangen nach Trost und Rettung. ›Weshalb sprach es nicht: »Bevor der Hahn dreimal kräht, wirst du mich dreimal verleugnen?« Vielleicht wäre es noch Zeit gewesen … nun ist es zu spät, zum erstenmal zu spät …‹ Er hielt sich so nahe und erbarmungslos vor die Augen, was er verloren hatte, bis er es erkannte. »Daß man es immer erst nachher weiß,« flüsterte er, »daß man im Paradiese war, trotz allem … erst wenn man ausgestoßen wird … und wenn es wahr wäre, daß ich wieder zu ihr gehen werde, wenn auch das noch wahr wäre …« Er fühlte wieder das leise Tasten in seiner Seele, das in den Wochen vor der Trauung ihn erschreckt hatte wie eine fremde Hand an der Wand eines vertrauten Zimmers; er vernahm wieder das leise Rauschen des Strudels in den verborgenen Kammern seiner Seele, das Flüstern, sündig und süß … »Will ich denn zurück?« schrie es in ihm. »Will ich wirklich, oder lüge ich? Geht es über Menschenkraft?«

Die Sonne trat über das Kirchendach und wirkte Feuerbänder in das leise Nebelgespinst der Frühe. Das Wasser glühte auf, brennend und erlöschend zwischen ziehenden Schwaden. Flammende Schwerter schienen sich über dem See zu kreuzen.

Andreas bedeckte die Augen mit den Händen. Er sah den Engel aus den dunklen Wäldern treten, den ernsten Blick aus der Weite auf ihn gerichtet. Nun glänzten seine Füße über der Flut, die ihn trug, drohender, immer drohender blitzte sein Schwert. »Ich gehe!« schrie Andreas außer sich. »Ich gehe!« Und er stürzte durch den Garten, über den Friedhof, durch die Tür der Sakristei, bis vor den Altar. Hier brach er in die Knie und blieb liegen, die Stirn auf dem roten Teppich, die gefalteten Hände vor sich hingestreckt, nicht wagend, sie zum Kruzifix zu erheben, dessen Antlitz über ihn hinweg ins schweigende Kirchenschiff blickte.

Von dieser Stunde ab nahm Andreas wieder das Kreuz auf sich. Die Gemeinde hatte gegen dreitausend Seelen, und es dauerte nicht lange, so legte Reimarus Stück um Stück der ihm zukommenden Last in die willigen Hände seines Predigers. »Geh zu ihm, mein Sohn,« pflegte er trübsinnig zu den Ratsuchenden zu sprechen. »Er ist näher bei Gott als ich, er wird dir besser helfen.« Und so war Andreas' Seele Tag und Nacht mit einem Leide erfüllt, das nicht nur eintrat und nach bitteren Tränen wieder davonging, sondern das immer einen Teil der Bürde zurückließ, so daß die dunkle Kammer des Schmerzes in der Brust des Mitleidenden sich langsam aber unaufhaltsam füllte mit Gesichtern, mit Bekenntnissen, mit Flüchen und Anklagen, mit Wunden und Gräbern.

Wäre Andreas ein Mensch gleich den anderen gewesen, so würde er gelitten haben bis zu der Grenze, wo die Schale der Barmherzigkeit anstößt am Boden der Tatsachen. Hätte er sagen können: »Dies ist sehr traurig, aber ein einzelner kann nicht die Welt umgestalten, und auch für sich selbst muß man etwas sorgen,« so hätte er die Kammer des Schmerzes füllen lassen bis zur Hälfte, und dann hätte er in den übrigen Raum ein Bett zum Schlafen gestellt oder ein Spielzeug zur Freude und er hätte vor der Türe die Einlaßbegehrenden milde abgewiesen mit tröstenden Worten: »Man kann nicht wissen, was Gott damit will« oder »wen Gott lieb hat, den züchtigt er« oder dergleichen. Aber da er ein solcher Mensch nicht war und niemandem verwehrte, seine Bürde niederzulegen, diese Bürde auch nicht wie ein geruhiger Lagerverwalter friedlich verstauben und vermodern ließ, sondern täglich sich um sie mühte, so kam es, daß die dunkle Kammer bald nicht ausreichte für das Leid der Menschen und er langsam Raum für Raum seines übrigen Hauses damit erfüllen ließ, bis er zuletzt nicht wußte, wo seine eigene Freude, seine Ruhe und Hoffnung wohnen sollten und er sie als heimatlos in die weite Welt entließ.

Man konnte nicht sagen, daß ein Widerstreit war zwischen seiner Lehre und seinem Leben. Am Abend desselben Tages, als er in die Kirche vor die Stufen des Altars geflohen war, hatte er einen leeren und vernachlässigten Raum seiner Wohnung zu seinem Arbeitszimmer eingerichtet, der Zelle eines Mönches ähnlicher als der Amtsstube eines Predigers. Die übrigen Zimmer betrat er nur zu den Mahlzeiten. Für den Unterhalt des Lebens ließ er seinen Schwiegervater sorgen, nachdem er eines Tages wie sonst ein paar Stunden der Dämmerung bei ihm gesessen hatte. Sein Gehalt ging zu den Bedürftigen, für sich selbst brauchte er nichts.

Es blieb nicht aus, daß er Anstoß erregte und Ärgernis gab, sowohl bei den Besitzenden als auch bei seinen Amtsbrüdern. Weniger mit seinen Predigten als mit seinem Beispiel. Er brauchte nicht wie Reimarus über eine leere Kirche zu klagen. Stand er auf der Kanzel, die leidverschattete Stirn gesenkt, die lodernden Augen durch alle Masken hindurch in die klopfenden Herzen gesenkt, dann floß ein Strom wahrhaftigen Lebens und Leidens in das schweigende Kirchenschiff hinunter, so daß sie erkannten: da stand einer und rang mit dem Schmerze des Menschseins, niederbrechend unter der Last des Kreuzes, aber aus dem Staube noch die Stirne hebend mit dem anklagenden Rufe: »Meine Brüder, weshalb tut ihr das?«

Aber sie waren gewohnt, daß dieser Ruf bisher liebevoll abgelöst wurde von einem gemeinsamen Gebete um Hilfe und Segen oder von dem Hinweis auf den erlösenden Kreuzestod des Einen, der für sie alle geblutet hatte. Nun blieb das aus. Nun sprach dieser, daß sie alle, jeder einzelne, den Kreuzestod erleiden müßten, lächelnd und wollend erleiden, und sie gingen heim mit dem bedrückenden Gefühle, daß der da auf der Kanzel ihn erlitt, täglich, stündlich; daß er darauf wartete, daß sie dasselbe täten; daß ihr Essen etwas reichlich sei vor solch einem Tode, ihre Kleidung etwas zu festlich, ihre Kinder etwas zu lärmend und satt gegen alle die stillen und bleichen Kindergesichter in den finsteren Treppenfluren der Vorstadthäuser. Und aus dieser Bedeutung wächst langsam ein gesunder und normaler Haß gegen diesen Knecht Gottes, der im ärmlichen Kleid durch ihre Straßen geht, dessen traurige Augen mit unbestechlichem Ernst auf ihr Leben blicken und dem leider kein Makel, auch nicht der geringste, vorzuwerfen ist. Und wenn die Frauen mit gespitztem Zeigefinger in leisen Gesprächen auf Frau Martha deuten, wenn sie ihren üppigen Haushalt, ihre Gesellschaften, ihre Vorliebe für junge Herren, ihr freies Benehmen sorgenvoll an dem Maßstab des Schicklichen und Herkömmlichen messen, dann erheben sich unter ihren Gatten, Brüdern und Söhnen so viele leidenschaftliche Verteidiger, daß sie schweigen müssen und auch diesen Mißerfolg in des Predigers schwer belastete Wagschale werfen, obwohl noch niemand ihn bei einem dieser Gastmähler oder einer Ruderpartie oder einem Wohltätigkeitsfeste gesehen hat.

Bis eines Tages im Beiblatt der Kreiszeitung eine kleine Notiz auftaucht, die folgenden Wortlaut hat: »Es dürfte den geneigten Lesern unsres Blattes in Erinnerung sein, daß wir seinerzeit von einem sensationellen Vorfall im Tiergarten unsrer Provinzialhauptstadt meldeten. Bubenhände hatten in einer dunklen Oktobernacht eine große Anzahl von Käfigen geöffnet und die Bewohner derselben in Freiheit gelassen. Es gelang zwar, einen Teil der Tiere wieder einzufangen, doch blieb der Schaden ein unersetzlicher. Nach Gerüchten, die seit einigen Tagen in unsrer Gegend umherschwirren, soll es sich damals nur um einen Täter gehandelt haben, und dieser soll in der Person eines bekannten Seelsorgers zu suchen sein. Wir geben das Gerücht mit allem Vorbehalt wieder, halten es aber für eine Pflicht der Presse, solche verborgenen Keime aufzugreifen, um die Aufmerksamkeit maßgebender Instanzen darauf zu richten.«

Diese Zeilen erregten viel Kopfschütteln, wurden geglaubt, bestritten und fanden auch eine gewisse Anwendung auf Andreas, indem man wohl sagte: »Da sieht man wieder, daß es auch nicht alles Heilige sind, und unsrer hier tut so, als ob er direkt vom Kreuz kommt.« Aber erst am nächsten Morgen flüsterte es durch die nebligen Straßen und von Türe zu Türe, daß Andreas Nyland es selbst gewesen sein solle, und um die Mittagszeit wußte es die ganze Stadt.

Nur nicht Andreas. Der kam zu Fuß vom nächsten Dorfe, wo er eine Kranke besucht hatte, in die Stadt zurück, den Mantel naß von Regen und Schmutz, die glückseligen Augen, des Weges nicht achtend, auf etwas gerichtet, das er in seinen Armen hielt und das sich naß, frierend und schmutzig an seine Brust drückte. Es war ein Hund, nicht erkennbar in seiner Abstammung, häßlich, unsäglich verhungert, aber mit Augen, die die Fülle der Liebe und Dankbarkeit nicht zu fassen vermochten, die sich in ihnen sammelte. Er hatte an einer abgebrannten Kate gesessen, die zwischen Bruch und Brachfeld einsam dalag, und schweigend auf den Weg geblickt, den Andreas gekommen war. Die Bewohner, des nackten Lebens froh, mochten ihn mit Steinwürfen zurückgetrieben haben, damit er ihr kümmerliches, neu aufzubauendes Dasein nicht auch noch belaste. Für Andreas aber war es ein Geschenk wie ein Kind, und wie ein Kind trug er es heim. Und auf dem langen Wege, während er in die demütigen Augen niederblickte, suchte seine müde Seele, die einsam zwischen den regennassen Feldern ging, nach einer tieferen Bedeutung dieses Vorganges, mit der er ihn, sich zum Troste und zur Rechtfertigung vor Marthas spöttischen Augen, anknüpfen könnte an den Sinn des weiten Lebens, ihn so heraushebend aus dem bloß Zufälligen einer alltäglichen Begegnung.

Und so erschien ihm, als er an einer Biegung der Straße sich zurückwandte und auf die verkohlten Trümmer des Hauses blickte, zwischen Unkraut, Brache und dünnem Heidegebüsch, grau schleppenden Himmel darüber und windverschlagenen Krähenruf, dieses versunkene Heim, verlassen von unbekannten Bewohnern, als ein Symbol nicht nur des Lebens, in dem er stand, sondern des Volkes, das heimatlos im Nebel stand, das unter brechendem Dach in Flammen vergehen sah, was es erworben und geliebt hatte, und nun mit armseligen Trümmern von dannen zog, schweren, kalten Tagen entgegen und lichtlosen Nächten. Und verachtet, frierend, hungernd, von Steinwürfen gescheucht, blieb zurück, was in seiner Treue sich nicht losreißen konnte, was keine Vorstellung hatte von einem neuen Haus, einer neuen Zeit: das Kind, die Seele, das Sinnbild der Armut und der Not.

Und obwohl er sich mit nachsichtigem Lächeln sagte, daß nach Symbolen nur greife, wem die Tat noch nicht Erlösung gebracht, und daß er mit diesem erweiternden Ausdeuten nur das leise Schuldgefühl stillen wolle, das ihn über der leisen Freude erfülle, einen Gefährten gefunden zu haben, blieb er doch diesen Gedanken nachsinnend und kam nach mühsamem Wege wie ein Pflüger heim, der einen Schatz in seinem Acker gefunden hatte.

Er sah nicht die hämischen Augen, die hinter leise bewegten Vorhängen ihm nachblickten. Er sah gewohnheitsmäßig auf das weiße Schild am Eckhaus des Marktes und las gedankenlos die Inschrift ab: »Kascheike & Vierkandt, Beratung und Vertretung in allen vorkommenden Rechtsfällen.« Und er faltete nur unmerklich die Stirne, als er seine Frau aus dem Hause treten sah.

»Was hast du denn da wieder aufgelesen?« fragte sie spöttisch, den Fuß vorsichtig auf die nasse Straße setzend.

Er blickte von ihrem Antlitz auf das regenfeuchte Schild an der gelben Mauer und dann zum Himmel empor, der sich über die dunklen Dächer schleppte, und ohne sich der Bedeutung seiner Worte ganz bewußt zu werden und mehr von dem Bestreben geleitet, den kalten Hohn der Frage durch eine schwere Antwort zu lähmen, sagte er ernst: »Die deutsche Seele.«

Im selben Augenblick traf der Sinn der wenigen Worte ihn selbst, so daß er in plötzlicher Ergriffenheit in die Augen des Tieres niederblickte, die sich glückselig zu ihm hoben und deren leuchtende Hingabe nur leise gedämpft erschien durch die Trauer der Wortlosigkeit, die auf dem feuchten Grunde schwamm.

»Weißt du es schon?« fragte sie nach einer Weile, als sie sich schweigend ihrem Hause näherten.

Er sah sie verständnislos an.

»Natürlich nicht,« sagte sie lächelnd. »Im Kreisblatt hat es gestanden, von deinem ersten Weg zu Gott, deine Tiergartenaffäre. Und nun weiß es die ganze Stadt. Kascheike ist es natürlich gewesen, ich war eben bei ihm.«

»So,« sagte er ohne besondere Teilnahme. »Weshalb sollen sie es auch nicht wissen …«

»Bist du verrückt?« fragte sie schroff. »Weißt du denn nicht, was dich das kosten kann?«

Er drückte den Kopf des Hundes fester an seine Brust und lächelte. »Ich weiß nur, daß es mich nicht den neuen Weg zu Gott kosten kann … alles andre, ist es nicht gleich?«

»Was für einen neuen Weg?«

Aber er lächelte nur versunken in sich hinein.

Als vor dem Abend die Sonne noch einmal aus den Wolken trat, saß er noch lange Zeit auf der Gartenbank über dem Seeufer und blickte regungslos nach den jenseitigen Wäldern, die im roten Lichte dampften. Die Tore des Tages brachen noch einmal auf, Kinder und Schwalben berauschten sich lärmend am Glanz der letzten Stunde, und die Verheißung des neuen Morgens stieg mit bezwingender Gewißheit aus dem starken Duft der gereinigten Erde.

Fröhlich bellend jagte der Hund den Abendkäfern nach, die mit dunkel tönendem Flügelschlag über den Garten zogen, und erst als die Dämmerung stärker fiel, legte er sich zu den Füßen seines Herrn nieder, mit den Augen dem Flug der Fledermäuse folgend, aber dazwischen sie immer wieder zu der dunklen Gestalt hebend, deren Blicke an den ausgerissenen Toren des Abends hingen.

Dann hob Andreas ihn auf seinen Schoß und glättete mit seinen Händen das struppige Fell. »Man muß gehen,« sagte er leise vor sich hin. »Man darf nicht bleiben … wenn ich nicht gegangen wäre, dann würdest du noch immer sitzen, wo das Abendrot über der Öde steht, und nichts würden wir voneinander wissen … und wie viele mögen so sitzen und warten, Tiere und Kinder und Menschen … ich habe vergessen, was er gesagt hat: ›Ziehe deine Schuhe aus und gehe durch dein Land und frage an jedem Haus, ob da Jesus Christus wohnt.‹ Ich habe die Füße aus dem Strom genommen und bin in einen Garten gegangen. Es ist schön in unsrem Garten, aber doch werden wir uns aufmachen und weitergehen, wir beide, nicht wahr?«

Die ersten Sterne stiegen drüben aus den Wäldern, seltsam eindringlich funkelnd in der gereinigten Luft, und es war ihm wieder, als höre er die Ströme rufend durch das Land gehen und als dränge alles Blut in ihm nach der Schale, die sich dem Opfer neigte. »Es wartet,« flüsterte er, die gefalteten Hände hebend. »Weshalb weiß ich nicht den Weg?«

In Reimarus' Wohnung wurden die Fenster hell, und durch die tiefere Nacht klangen die trunkenen Lieder des Pfarrers, schwermütig und heiser, aus verschütteter Tiefe. Der Hund wurde unruhig und begann schließlich leise zu winseln. Die rote Scheibe des tiefen Mondes hob sich hinter dem eisernen Brückengerüst über den See, und Andreas schauerte vor Licht und Klang, die wie aus bösem Traum in seine Seele fielen. Bis er die Schwäche überwand, den Hund in seinem Zimmer zur Ruhe brachte und bei Reimarus eintrat.

Der Pfarrer hatte den schweren Kopf an die Lehne seines Stuhles gelegt und hob den Finger an die Lippen, als Andreas sich zu ihm setzte. Dann faltete er die Hände wieder fest um das Kelchglas mit dunklem Wein und lauschte auf das Namenlose, das irgendwo vor seinen starren Augen vorüberzog, und Gott und Teufel wechselten, deutlich lesbar, in dem unheimlich lebendigen Spiel seines Antlitzes.

»Sie sind wach,« flüsterte er, ohne seine lauschende Haltung zu verändern. »Beide sind sie wach … und großartig reden sie, Andreas, ganz großartig …«

»Worüber?«

»Ach … soviel, Andreas. Zuerst sprachen sie von der Gnadenwahl. Die alten Geschichten, weißt du, aber dort scheinen sie immer noch lebendig zu sein. Es ging natürlich um mich. Sie kämpften um meine Seele, so wie in den mittelalterlichen Spielen, Freskostil, und ich weiß niemals, wen ich mehr bewundern soll … aber meine Sache steht natürlich schlecht. Er lachte so gemein, der Dunkle, höchst gemein, und ich sah die Schale steigen und fallen. Das ist sehr merkwürdig, wenn man sich das selbst ansehen kann, Andreas, du kennst das noch nicht …«

»Und jetzt?«

»Jetzt sind sie bei deiner Theorie, Andreas.« Er warf einen schnellen Seitenblick auf seinen Gast, und in seinen Augen stand ein klares Licht unmittelbar neben dem Wahnsinn.

»Es sind Ihre eigenen Gedanken, Herr Pfarrer,« sagte Andreas müde.

»O nein, Andreas, ich habe keine Gedanken. Du weißt, daß Gott in mir gestorben ist, daß sie ihn erwürgt haben. Wie soll ich da Gedanken haben? Ich höre nur zu, ich bin ein Blatt, das der Wind bewegt und wendet. Dann rauscht es, und die Menschen stehen und lauschen und sagen, daß der Wald rausche. Unsinn, der Wald rauscht nicht. Der Wald hat keine Gedanken, nur Gott hat Gedanken. Und mitunter spielt er mit dem Walde … oder der Teufel, das kommt auch vor … Ach, wenn du sie doch sehen könntest, Andreas! Auf einem silbernen Throne sitzt er, aber das Antlitz hat er bedeckt, ich darf es wohl nicht anschauen … Und der andre, der geht auf und ab, immerzu. Ganz dunkel ist er gekleidet, und seine Hände sind in fortwährender Bewegung. Und er spricht glänzend, ich kann ihm meine Hochachtung nicht versagen … auch was er von dir sagt …«

»Was sagt er denn?« fragte Andreas fröstelnd.

»Schön, höre zu … er steht vor dem Thron und wendet mir den Rücken, aber ich sehe deutlich, wie er lächelt. Und seine rechte Hand hat er von sich gestreckt, und nun bewegt er die langen Finger, kein Zweifel, es ist eine verächtliche Bewegung … horch! Jetzt spricht er … ›Ein Jünger Christi, meinst du? Laß dir doch nichts vormachen. Christus starb für die Menschheit, eine höchst fatale Sache für mich, aber leider nicht wegzuleugnen. Sie hätten kein Kreuz dazu nehmen sollen, ein Baum hätte doch auch genügt, und es wäre nicht so auffällig gewesen. Nun haben sie ein Symbol, und das ist das Gefährlichste. Aber er, er wird nicht gefährlich, niemals. Er leidet, sagst du. Schön. Auch ich leide. Aber wofür leidet er? Für die Menschheit? Für das Volk? Keine Spur. Für sich leidet er, nur für sich, und alles andre ist Menschendunst. Sieh mal, die Tiere. Betäuben wollte er sich. Die Stimme schrie aus dem Walde, da ließ er die Tiere los. Und mit dem Kruzifix? Für wen tat er es als für sich selbst? Die Stimme sollte schweigen, das war es.

›Und so ist es mit allem anderen gewesen. Ganz zu schweigen von der Sache mit seiner Frau. Sie sagen immer, ich sei der Vater der Lüge, aber sieh dir einmal so einen Menschen an, dem die Eva im Blute lebt, was der sich so vormacht, sich und andren. Ein Gott der Lüge ist er, nicht nur ihr Vater … Und lebt er nicht ganz behaglich jetzt? Die Kirche ist voll, Akustik ist nicht übel, deine Hirten möchten ihn am liebsten vergiften, Heldenkranz und Märtyrerkrone neigen sich auf seine schön gefaltete Stirn, er besitzt sechzig Morgen guten Landes: langsam schließt die Presse sich zu. Das deutsche Herz am Stamm des Kreuzes, weißt du noch, was er dem Geheimrat alles erzählte? Noch ein paar Jahre, und es donnert und säuselt von seiner Kanzel, verlaß dich darauf. Haben wir nicht Beispiele?‹ So jetzt schweigt er, aber er lächelt, ich sehe es an seinen Schultern.«

»Und Gott?« flüsterte Andreas tief erblaßt.

»Er hat sein Antlitz verhüllt,« murmelte der Pfarrer und schloß die starren Augen.

Als Andreas sich erhob, war die Lampe schon verloschen, und ein weißlicher Schein tastete über die Dächer. Der Pfarrer fuhr aus schwerem Schlaf und griff nach dem leeren Glase. »Wachet und betet,« murmelte er verstört, »das ist es, Andreas … nun ist er wieder über mir …«

Als Andreas durch den Garten ging, klopfte es an die Scheiben. Reimarus stand hinter dem geschlossenen Fenster und winkte ihm. Er neigte den schweren Kopf bis zu der Stirne des Draußenstehenden und sah ihm durch die dünne, spiegelnde Wand in die Augen. Seine Lippen bewegten sich mit absichtlicher, fast verzerrter Deutlichkeit, und Andreas verstand jedes Wort, das wie aus einer anderen Welt an sein Ohr drang. »Man muß nicht nur seinen eigenen Heiland ausgraben,« sagte der Pfarrer. »Es ist schwer, Gott lebendig zu machen, sehr schwer …«

Dann verschwand das verwüstete Antlitz im Dunkel der Stube wie ein Gespenst von einer Wand.


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