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VII.
Das Menschenfest

Gegen Abend, als sie sich schon vorbereiteten, zum Krebsfang zu fahren, klopfte Martin bei Andreas an. »Da ist eine junge Frau, Herr Nyland … sie steht in der Halle unten und möchte Sie sprechen.« Er zögerte, die Türe noch in der Hand. »Es wird wohl wegen morgen sein,« setzte er leise hinzu.

»Morgen? Weshalb wegen morgen, Martin?«

»Sie wissen es schon alle, Herr Nyland. Und es ist so, wie wenn man ihnen sagt: ›Morgen soll einer König werden von euch, aber zuerst müßt ihr euren Vater totschlagen.‹ Wir haben welche, die würden es tun, Herr Nyland, und welche, die es noch nicht genau wissen.«

»Ach, Martin, Sie sehen mich an, als brauchte ich nur die Hand aufzuheben, um es zu verhindern … Wenn ich es könnte, ich würde pflügen die ganze Nacht, ich allein!«

»Ich würde Ihnen helfen, Herr,« sagte Martin leise. »Aber sie tun hier immer, was sie wollen … es ist kein guter Tag morgen, Herr Nyland.« Und er beugte wieder respektvoll die Schultern und ließ Andreas vor sich die Treppe hinuntersteigen.

In der Halle, neben der Türe, stand Grita an der Wand, das gequälte Gesicht im Schatten des weißen Kopftuches, und vor ihr, im Licht des breiten Fensters, saß Martha und betrachtete sie schweigend.

»Da ist er ja,« sagte sie, als Andreas die Halle betrat. »Grita will Sie sprechen, Herr Nyland. Es scheint ein Geheimnis zu sein, ein frommes natürlich … wie sagten Sie doch, daß sie mit Jons lebe? Unter Hymens Hand?«

»Unter Gottes Hand, sagte ich,« erwiderte er ernst.

Sie lächelte leise. »Verzeihen Sie, ich habe es verwechselt … Hymen war ja auch ein Gott, wenn auch etwas unheilig … es scheint ihr aber nicht gut zu bekommen, der Armen, sie sieht sorgenvoll aus … aber hübsch ist sie, Herr Nyland … etwas matt … eine Konventikelschöne, aber gut gewachsen … das Volk darf seine Schönheit immer etwas freigiebiger zeigen als unsereins, nicht wahr, Herr Nyland?«

»Komm, Grita,« sagte er finster. »Dies ist kein Haus für dich.«

»Sie werden doch kommen, Herr Nyland?« fragte Martha lächelnd. »Vergessen Sie Ihr Amt nicht … der Abend ist schön, und alles Schöne ist gefährlich.« Und sie stand auf und dehnte träge ihren Körper.

»Ich werde nachkommen, Fräulein Bulck.«

»Schön … auf Wiedersehen, Fräulein Grita!«

Sie schritten schweigend über den Hofplatz, nach dem Vorwerk hinaus.

»Nun, Grita?« fragte er seufzend. »Was ist?«

Sie schrak zusammen und nahm das Kopftuch von ihrem Haar … »Ach, Herr!« rief sie voller Qual. »In welches Haus sind Sie gegangen!«

»Still, Grita, auch dies ist ein Haus des Leidens. Es lag auf meinem Wege … was ist darüber zu reden.«

»Die Laima ist es,« flüsterte sie.

»Die Laima? Ach so, ich weiß … nein, Grita, die Schicksalsgöttin ist sie wohl nicht. Nicht für uns … aber nun erzähle.«

»Ja,« sagte sie, zu ihrem Leid erwachend. »Deshalb war es ja … O Herr, was wollen sie tun morgen? Ist es nicht wie vor dem Jüngsten Tage? Und der Teufel war bei uns, unter Mittag, am Torfbruch. Er fragte nach uns, und wir mußten mit ihm zur Seite gehen. Da hat er es Jons erzählt.«

»Wer? Was für ein Teufel?«

»Der Schwarze, Herr. Mit dem weißen Gesicht und den bösen Augen. Er hat einen Namen aus unserem Volk, aber er ist der Böse.«

»Kascheike?« schrie er.

»Ja, Kascheike. Sie sagten, daß er so heißt. Und als er fort war, ließ Jons den Spaten stehen und ging nach Hause. Nun sitzt er auf der Bank, den Kopf in den Händen, und spricht kein Wort. O Herr, so angst ist mir, so angst!«

Sie weinte leise, mit gesenktem Antlitz, ohne die Tränen abzuwischen, die eine helle Spur in den Staub ihrer Wangen gruben.

Er ging schneller, einen finsteren Gram auf seiner Stirne. »Ja, Teufel sind es,« stieß er bitter hervor. »Er hörte es, daß ich von Jons erzählte, wie er auf den Hocken saß, und da kam er … nicht genug hatte er an dem andern, auch dies mußte er tun, natürlich … es würzt das Gerücht noch mehr, schon meinetwegen … o diese Schamlosen …«

Er lief fast den Rest des Weges. »Jons!« rief er beschwörend, als sie atemlos in die Hütte traten. »Jons, du wirst es nicht tun, du nicht, Jons, hörst du?«

Er faßte nach seinen Händen und zog sie mit Gewalt von den finsteren Augen. Er beugte sich über ihn, ganz nah, die Hände auf seine Schultern legend. »Jons,« bat er mit schwankender Stimme. »Sprich ein Wort! Sage, daß du es nicht tun wirst! Ich will zu euch kommen. Arbeiten will ich für euch, euer Knecht will ich sein, alles was du willst. Aber dies tue nicht! Wie stolz warst du, Jons, finster und mordlustig, aber doch stolz, auch dort, wo wir an den Maschinen standen. Sprich, Jons! Versprich, daß du es nicht tun wirst. Grita war zu ängstlich, ja? Gespenster hat sie gesehen, wie junge Frauen so sind, ja? Du willst es gar nicht tun, nein, Jons?«

Jons hob langsam das Antlitz, lächelnd aber erschöpft, wie in der Frühe auf dem Roggenfelde. »Ich werde es tun, Andreas,« sagte er leise.

»Du wirst es nicht tun!« schrie Andreas auf. »Hörst du? Du wirst es nicht tun! Schande liegt darüber, ach, was für Schande! Sieh Grita an. Willst du sie anspannen wie ein Tier? Soll der Teufel neben euch gehen mit der Peitsche? Sollen sie lachen über eure Not, während ihr den Menschen totschlagt in euch? Willst du das, Jons?«

»Ich werde es tun, Andreas,« wiederholte er dumpf. »Laßt mich sein!« schrie er plötzlich wild, die Fäuste an seine Brust schlagend … »Laßt mich sein! Vielleicht werde ich sie ermorden, alle die da stehen und lachen werden. Aber tun werde ich es! Weil ich muß! Ich muß! Versteht ihr?«

Seine Lippen zitterten, und er blickte über sie beide hinweg, wie ein böses Tier zwischen seinen Verfolgern hindurch zum Walde zurückblickt.

Da kniete Andreas laut aufweinend vor ihm nieder. »Was tun sie mit mir?« schluchzte er verzweifelt. »Wie schwer ist dein Kreuz, o Gott, wie schwer! Auch dies, auch dies … gerufen habe ich euch, und meine Schuld ist es nun, meine allein … wie sollen wir leben, Jons? Wann wird Grita lachen? Wann wird die Erde uns leicht sein?«

»Sei still, Andreas,« sagte Jons wie zu einem Kinde, sein Haar streichelnd. »Laß es gut sein … es ist ja auch wegen Grita … die Kinder, weißt du, sie weinen auch hier. Sie hat es mir gesagt. Und die Kinder sollen nicht weinen, Andreas. Wir können weinen, auch nachher, bis wir sterben. Aber die Kinder sollen nicht mehr weinen … nun laß sein, Andreas, laß sein.«

Da ging Andreas hinaus. Die Sonne ging unter. In rotem Licht lagen die reifen Felder. Die Schwalben sangen noch hoch über der warmen Erde, und der Waldraum hallte wider vom Ruf des Kuckucks. Er blickte zu den Pappeln auf, die wie Flammensäulen in den Abend stiegen, einsam, brennend, himmelaufgereckt, und seine Seele beugte sich tief in den Staub des Lebens, wie das Haupt eines Bettlers vor blitzenden Rädern, die einer fremden Ferne zurollen.

Es dämmerte schon im Fichtenwald, als er das Fließ erreichte, und die Unken läuteten im Torfbruch hinter seinem Rücken. Unter den dunklen Stämmen brannte schon ein Feuer, und aus dem Kessel über den gekreuzten Stäben stieg der Dampf des kochenden Wassers. Bulcks riesiger Körper lag auf den Decken neben den Flammen, und das Gespenst kauerte in einem Liegestuhl, mit den dürren Händen einen Frosch abziehend, während seine Lippen behaglich lächelten.

»Lebendig müssen sie sein,« flüsterte er Andreas zu, der neben seinem Stuhle stehen blieb und achtlos auf die Kienfackeln blickte, die über dem schwarzen Wasser brannten. »Aber sie bringen mir nur tote, diese Humanitätsapostel … die größten Krebse kommen nur auf den lebendigen Köder, genau so wie bei uns … wieviel Fackeln können Sie zählen, Nyland? Zählen Sie doch bitte … ich möchte es wissen …«

Er bückte sich, so schnell er konnte, hob einen großen Krebs aus dem Korbe neben seinem Stuhl und hielt ihn, zitternd vor Erregung, an Nylands Hand. Erst als dieser aufschrie, das Tier von sich schleudernd, gellte sein mißtönendes Lachen, daß der gelähmte Körper sich krümmte.

»Du bist der dritte, Andreas,« sagte Bulck, den Kopf bequemer zurechtlegend, »mit dem er diese geistvollen Späße macht. Und jedes Jahr ist es dasselbe … wie ekelhaft das alles ist! Drehe seinen Stuhl um, daß ich seine Fratze nicht sehe. Oder nein, rufe Martin, daß sie ihn ans Fließ tragen. Da kann er den Krebsen zusehen … so, und nun komm, setz' dich zu mir. Wo warst du solange?«

»Bei Jons.«

»Jons? Wer ist das? Ach so, ich weiß, dein Freund, der Mann, der das Brot riecht … das war ganz hübsch, was du da heute früh erzähltest.«

»Ja, auch bei ihm ist es schon eingekehrt, das Böse. Er will pflügen, und sie weint.«

»Sieh, wie interessant das ist,« sagte Bulck traurig. »Wer hat es ihm erzählt? Kascheike? Richtig, das konnte ich mir denken. Das sind seine Finessen, von denen er sprach. Der versteht sein Handwerk, besser als ich … und davon kommt es vielleicht auch, daß ich keine Freude mehr habe, keine, Andreas …«

»Wie soll man Freude haben von solch einem Leben?«

»Ja, das sagst du so … manchmal denke ich, es ist schade, daß du nicht mein Sohn bist. Ich würde dich vielleicht quälen, aber auch du würdest mich quälen, Andreas. Sieh, das ist es. Wer quält mich jetzt? Niemand. Keiner wagt es. Deine Augen vielleicht, sie machen mich manchmal unruhig, aber du bist mir zu fremd, als daß sie mich quälen könnten. Wenn du mein Sohn wärst, dann wäre es anders … mit ein bißchen Qual würde es sich vielleicht besser leben … leichter … so aber muß man solche Sachen machen wie mit dem Pflügen morgen. Da hilft schon nichts … Nun geh, Andreas, und sieh, was sie treiben am Fließ. Kascheike besonders. Ich werde noch ein bißchen in die Sterne sehen. Vorher, wie ich hier lag, da sah ich hinauf. Ich mußte sie schon sehen, wenn ich die Augen nicht zumachen wollte. Und weshalb soll ich sie zumachen? Ist dir auch aufgefallen, Andreas, wie ernst sie aussehen? Haben sie nicht etwas … wie soll man sagen … etwas Strahlendes an sich? Was meinst du?«

»Ja,« antwortete er leise, »so sind sie, ernst und strahlend.«

»Also hatte ich doch recht … aber seltsam erscheint mir das … und so hoch über den Bäumen, weißt du. Die Bäume kann man herunterschlagen, wenn die Wipfel einen ärgern oder einem sonst nicht passen. Aber die Sterne, sieh mal, die sehen so herunter, so ganz von oben, als sähen sie mich hier gar nicht liegen oder als wäre ihnen das furchtbar gleichgültig … und dabei werde ich morgen zwanzig Menschen pflügen lassen, wie die Ochsen, um ein Stück Land, das ich auch verludern lassen könnte … ja, nun geh nur, Andreas, Kascheike lacht mir heute soviel.«

Kascheike stand bei Martha, das Netz in der Hand, während sie die Fackel hielt. Sie beugten sich über das rote Wasser, in dem der weiße Leichnam des Frosches in einem gespaltenen Stock schimmerte. »Siehst du sie, Nyland?« flüsterte er atemlos. »Wie sie die Glieder regen? Bis in ihre Höhlen leuchtet das Feuer, bis in ihre glasigen Augen. Wie es sie lockt, wie es sie zieht! Von Leichen träumen sie, über deren weißes Fleisch der Vollmond fließt. Und nun kommen sie, Väter und Kinder, Mütter und Jungfrauen. Wie durch Blut kriechen sie heran, und unter ihnen kriechen die Schatten. Tatsächlich, wirft die Fackel nicht einen Schatten? Es muß das dunkle Wasser sein, das wie eine Wand wirkt, denn bis auf den Grund kann das Licht nicht reichen. Ist das nicht großartig, Nyland? Leichenhunger, vereinigt mit dem berühmten Hunger nach Licht. Perverse Gelüste mit eingeborenen Vollidealen. Möchtest du nicht ein Krebs sein, Nyland? Ich wäre nicht abgeneigt …«

Er schob das Fangnetz vorsichtig in die Tiefe, während eine gestaltlose Wirrnis von Körpern und Gliedern die schimmernde Leiche des Tieres umfloß, und riß es mit unterdrücktem Schrei in die Höhe.

Als Andreas in Marthas Augen blickte, sah er erschrocken, daß derselbe Gedanke in ihnen sich enthüllte, der fessellos in seiner Seele aufstand: sich auf ihn zu stürzen und ihn hineinzuschleudern in die moorige Tiefe, vor die lauernden Höhlen, in denen die Verzehrer saßen, die Blicke in das talwärts rinnende Dunkel gerichtet.

Da ging er weiter, immer am Fließ entlang, über feuchten, leise schwankenden Grund, unter finster gehäuften Erlenkronen, bis die Stimmen ihn nicht mehr erreichten. Auf einem Baumstumpf blieb er sitzen, dicht am schwarzen Wasser, ratlos vor dem wilden Schlagen seines Herzens. Flußabwärts, wo die Wiese im Moor ertrank, stand eine steile Nebelwand, und unter ihr begrub sich spurlos Flut und dunkelnder Schein. Dahinter aber streifte unsichtbarer Vogelflug an das Nebelhaus, klagende Schreie erstickten unter seufzendem Ried, und eine nie gehörte Stimme verging im weiten Wald.

Lange saß er so, den stumpfen Blick auf die weiße Wand gerichtet, die langsam näherrückte, Grashalm um Grashalm, und hinter der das Grauen des nie Betretenen lag. In wirrer Gebärde hob er die gefalteten Hände gegen den Nebel, als hielte er ein Kreuz in ihnen, aber kein Tor sprang auf. Nur eine feuchte Kühle streifte lautlos sein Haar und durchdrang ihn bis ins Mark.

Da floh er querab vom Wasser dem Walde zu, über dessen Wipfelschluchten die Sterne standen, und ging langsam mit erlöstem Atem durch das warme Dunkel, seines Gottes wieder gewiß im Gegenwärtigen wie im drohenden Morgen, als trage er ihn an seiner bloßen Brust wie damals im Winterwald.

Er saß eine Weile schweigend am Feuer, das mit kleinerer Flamme verlassen brannte, und lauschte den leisen Stimmen, die vom Fließ herüberdrangen. »Wie fröhlich sie sind,« dachte er, »und morgen geschieht der Frevel … ich muß jetzt gehen und etwas finden, damit Jons es aufgibt … er muß es aufgeben.«

Aber er blieb noch sitzen, ins Feuer träumend und zu seiner Waldkindheit zurücktastend, und schrak erst auf, als Martha in den hellen Schein trat. Sie setzte sich schweigend auf ihres Vaters verlassenen Platz, die Hände um die Knie gefaltet, und sah ihn an.

»Ich habe Sie gesucht,« sagte sie endlich ernst. »Es war so ein Gethsemaneabend, nicht wahr? Aber Sie waren fort … haben Sie den Kelch getrunken?«

»Was wollten Sie?« fragte er abweisend.

Sie lächelte traurig. »Vielleicht wollte ich Ihre Füße waschen und mit meinem Haar trocknen … nun falten Sie wieder die Stirn und denken, ich lästere. Nein, ich lästere nicht … was hat Grita über mich gesprochen? Lügen Sie nicht! Was hat sie gesagt?«

»Ich habe gar nicht die Absicht, es zu verbergen. Sie hat gesagt, Sie seien die Laima.«

»Die Laima? Wer ist das?«

»Die Schicksalsgöttin der litauischen Sage.«

Sie schwieg, nur ihre Augen flammten auf. »Lieben Sie sie, Nyland?«

»Sie ist meine Schwester … wie Sie auch.«

»Danke … haben Sie mal etwas von den Wälsungen gehört, Nyland?«

»Schweigen Sie!« sagte er hart.

»Wie schnell Sie verstehen,« flüsterte sie mit verstecktem Triumph. »Das ist ein gefährliches Zeichen, Andreas!«

Er stand auf und wandte sich zum Gehen. »Sein Leib wurde gekreuzigt,« sagte er finster, »zum Zeichen, daß auch wir ihn zu kreuzigen haben.«

Sie lachte glücklich. »Nicht meiner, Andreas. Meiner ist viel zu schön, viel schöner als Sie denken … kennen Sie übrigens die Geschichte von Johannes dem Täufer? Ja? Auch von seinem Tode? Wie kommt es, daß ich soviel an sie denken muß?«

Ohne zu antworten ging Andreas in die Nacht hinein, eine schwere Angst über seinem Herzen …

Finster nahm Bulck am anderen Morgen die Glückwünsche in Empfang. »Lügt doch nicht,« sagte er widerwillig. »Wenigstens heute nicht.«

Erst als sie wieder aufstanden, blickte er sie der Reihe nach an. »Um zwölf habe ich es festgesetzt. An der Roggenstoppel. Niemand fehlt, auch du nicht, Andreas!«

Der Mittag war verschleiert und windstill, und das gedämpfte Lied der Lerchen hing über den Feldern. Als Andreas durch den heckenbepflanzten Hohlweg auf die Stoppel trat, sah er die Leute des Gutes und der Vorwerke am Feldrande stehen, Männer und Frauen, die finsteren Gesichter ihm entgegengewendet. Sie trugen ihre Feiertagskleidung, und in ein paar Händen sah Andreas das Gesangbuch. Kein Kind war zu sehen, kein Lachen zu hören. Ein dumpfes Schweigen lag über der dicht gescharten Menge, so daß das Lerchenlied mit quälender Klarheit vernehmbar wurde.

Als Andreas nähertrat, faßten sie nach ihren Mützen, aber er ging schweigend und ratlos zu den Pflügen, vor denen drei einzelne Menschengruppen auf der Erde lagen. Der vierte Pflug stand leer. Jons war nicht zu sehen.

»Weshalb tut ihr es?« fragte er leise. »Wenn ihr nach Hause geht … noch ist es nicht zu spät …«

Aber sie wendeten die finsteren Gesichter von ihm fort, und niemand antwortete. Er sah sie verzagt an, nach Worten suchend, mit denen man an ihr Herz klopfen könnte. Doch dann fiel ihm Martins Rede ein: ›Wir haben welche, die würden ihren Vater totschlagen.‹ Da ging er an der Menge vorbei eine Strecke auf das Feld hinaus und blieb dort stehen, den angstvollen Blick nach dem Vorwerk gerichtet, wo Jons und Grita wohnten.

Erst als der Wagen mit Bulck und Martha ankam, ging er zurück, mit verwirrter Gebärde zum Himmel blickend, ob ein Wunder nicht leuchtend das Gewölbe zerreißen würde. Kascheike stieg vom Kutschersitz herab und zündete lächelnd seine Zigarette an. Der Ober-Inspektor war zu Pferde und hielt neben dem Wagen, wütend auf die schweigende Menge starrend. Bulck war blaß und finster wie am Morgen.

»Schon Zeit, Karsubke?« fragte er heiser.

»Noch fünf Minuten.«

»Kaufe dem Esel von Kutscher einen Regulator und laß ihn vor seinem Sitz anbringen.«

Die Pferde klirrten mit dem Zaumzeug, sonst war das Schweigen noch tiefer als zuvor. Alles verharrte regungslos, wo es stand. Man hörte den schweren Atem der Menschen und das leise Weinen einer Frauenstimme. Dann hob unweit des Feldweges eine neue Lerche sich von der Stoppel, so plötzlich und mit so durchdringendem Jubel, daß alle Augen sich ihr zuwandten. Man sah ihren steigenden und fallenden Flug, schwankend wie in unentschlossenem Suchen, bis sie sich mitten aus taumelnder Wendung steil und selig in die Höhe hob, fast über ihren Köpfen, so daß ihr Lied wie eine brechende Perlenschnur sie tönend überschüttete und begrub.

Laut auf weinte die Frauenstimme, und eine jähe Bewegung stieß die Menge drohend vorwärts, bis Andreas in ihr stand. Er sah, daß man die Hände nach ihm streckte, Hände, die er selten, ja nie gedrückt hatte, und der Schäfer, barhäuptig und vom Alter gekrümmt, griff nach seinem Arm wie nach einem Heilandsbild. »Wat schall wie doahne, Herr?« rief er laut und angstvoll.

»Nehmt das Kreuz!« antwortete Andreas, die Stimme erhebend. »Nehmt das Kreuz und leidet … auch sie leiden, mehr als ihr denkt … Ich wollte es wenden, aber ich konnte es nicht.«

In diesem Augenblick erklang fern aber deutlich die Gutsglocke durch die stille Luft. Ihre hastigen Töne schwangen zitternd über die schweigenden Felder, riefen die Glocken der Vorwerke aus dem Schlummer, erfüllten die weite Runde, den Lerchengesang überklingend, und erstarben dann leise mit einzelnen, immer weiter sich verlierenden Schlägen.

Bulck hob den Kopf und öffnete die Augen. Sein schwerer Blick, von dumpfer Trauer erfüllt, fiel über die Menge, ohne die Leute an den Pflügen zu streifen, und mit müder Bewegung hob er den Stock.

Aber als Karsubke schon die Zügel anzog, trat noch eine Unterbrechung ein. Die Köpfe der Wartenden wandten sich nach der Hecke über dem Hohlweg, denn Jons und Grita traten aus ihr hervor, überschritten den Feldweg und blieben erst an dem letzten der Pflüge stehen. Jons war bleich wie ein Gestorbener, und wie eines Toten waren seine Bewegungen, gezogen von einem fernen Klang, schwer wie unter der starren Feierlichkeit von Grabgewändern. Grita aber weinte, ebenso lautlos, mit ungehemmten Tränen wie am Vortage.

Erst als Jons in das Geschirr trat und den breiten Zuggurt um seine Brust legte, kam Andreas zur Besinnung. »Jons!« schrie er, die Umstehenden zurückstoßend. »Mein armer Jons, was tust du?«

Er umfaßte die gebeugten Schultern des Stehenden und versuchte mit zitternden Händen, ihn vom Pfluge fortzuziehen … »Jons,« schluchzte er, »ach, weshalb tust du mir das an? Höre die Lerchen, Jons, wie sie dich bitten, fortzugehen von diesem bösen Orte … min Lewark … weißt du nicht mehr? Min leiwe Lewark … wie wir auf dem Holze saßen und der Fluß rauschte und wir warteten auf Grita … Grita, was willst du hier, du Arme? O Gott, was tun sie, was tun sie nur?«

Als Jons ihn sanft zur Seite schob, blieb er stehen, die Hände vor den weinenden Augen, das Antlitz zum Himmel gehoben. Dann stürzte er an den Wagen zurück. »Herr Bulck!« schrie er. »Es war ein Scherz … lassen Sie alle nach Hause gehen. Weshalb quälen Sie uns? Weshalb steht dieser Teufel da und lacht über uns? Die Sterne, Herr Bulck, erinnern Sie sich nicht? Wie Sie zu ihnen aufsahen … ernst und strahlend, sagten Sie … und heute nacht, wie wollen Sie aufblicken zu ihnen? Wie wollen Sie leben und atmen, Herr Bulck, nach diesem?«

»Geh fort, Andreas,« sagte Bulck müde. »Du weißt, daß es geschehen muß … die Sterne, was gehen mich die Sterne an? So hoch waren sie, Andreas, so kalt und hoch …« Er hob den Stock und gab Karsubke ein Zeichen.

Aber als dieser die Pistole hob, stand Andreas am nächsten Zugseil, Grita zwischen sich und Jons reißend. »Wir … wir drei …« schrie er. »Niemand kann uns trennen … zusammen werden wir leiden … meine Schuld ist es … ihr Leute, ihr Guten, nehmt einer den Pflug, um Christi willen … helft uns, damit wir …«

»Kascheike!« schrie Bulck, im Wagen aufstehend. »Kannst du pflügen, Kascheike?«

»Gewiß,« antwortete er lächelnd, als ob er die Frage erwartet hätte.

»An den Pflug!« brüllte Bulck. »Karsubke, die Reitpeitsche vor! Paß auf seine Hände auf!«

»Ich tue es gern,« sagte Kascheike lachend, während der Haß seine Züge entstellte. »Ich tue es gern, es ist eine Vorübung … wir werden noch einmal zusammen pflügen, Herr Bulck!«

Der Pistolenschuß knallte, und ein entfesselter Schrei der Menge klang über das Feld. Andreas taumelte in seinem Geschirr, und er sah den gelben Schein der Stoppel in wilden Kreisen sich vorwärtsrollen, wie die Speichen eines flammenden Rades. Er hörte Jons' keuchenden Atem und das trockne Rauschen der Schollen, und ihm war im Brausen des Blutes, als höre er die Stimme des begrabenen Heilands laut und schrecklich über das Feld schreien: »Ihr Brüder, ihr Brüder … weshalb habt ihr mich verlassen?«

Auf der Mitte des Feldes brach Grita in die Knie, mit den Händen die Erde erfassend. Noch einmal riß sie sich empor, und wieder fiel sie zu Boden … »Jons!« rief sie klagend. »Jons …«

Er starrte auf sie nieder, tonlos die Lippen bewegend. Dann warf er das Zugseil mit einer wilden Bewegung von sich, und ehe Andreas ihn hindern konnte, war er mit einem Sprunge am Pfluge, hob die Faust und schlug sie Kascheike mitten in die Stirn, daß er lautlos in die Furche sank. Dann ging er langsam quer über das Feld, die Hände wie gegen eine tote Wand hebend, aber aufrecht und ungebeugt, mit gleichmäßigen Schritten, als trüge er die Fahne aus einer verlorenen Schlacht.

Erst als seine Gestalt hinter der Höhe verschwunden war, blickte Andreas sich um. Die übrigen Pflüge hatten die Ziellinie erreicht, und neben ihnen hielt nur Karsubke. Der Wagen war auf seinem Platz geblieben, und noch immer stand Bulck aufrecht, die Hände auf seinen Stock gestützt, und sah mit müdem Widerwillen über die Menschen hinweg, als sinne er darüber nach, wohin er fahren solle, um das alles weit und unwiederbringlich hinter sich zu lassen.

Nur als Kascheike sich mühsam von der Erde erhob, blickte er auf ihn nieder. »Die Idee war gut, Kascheike,« sagte er, ihm zunickend, »nur die Finessen waren anders, als du erwartet hattest, nicht wahr? ›Gott läßt sich nicht spotten,‹ wird Andreas wohl sagen, und der muß es wissen, denn er ist sein Gesandter. Stimmt es, Andreas?«

Aber dieser hob Grita von der Erde, legte den Arm um ihre Schulter und führte sie, ohne sich umzublicken, die Höhe hinauf, die Jons vorher gegangen war, und hinter der die Pappeln des Vorwerks den Horizont zerschnitten.

Er kehrte erst zurück, als die Sonne mit düsterer Glut aus dem Gebälk des Abendgewölkes brach, den Himmel bis zum Zenit mit drohenden Bränden füllend, so daß auf den leuchtenden Wegen die heimkehrenden Menschen standen und unruhig nach dem mild verschleierten Tag in die großen Feuer blickten.

Auch Jons, der ihn noch über die Stoppel begleitete, sah nachdenklich in die Höhe. »Grita wird wieder meinen, daß es etwas bedeutet,« sagte er. »Aber es geht wohl nur auf Regen, und das ist gut … es war wohl auch die Hitze, Andreas, was meinst du?« Er lächelte in leiser Verlegenheit.

»Es war etwas Böses über der Erde, Jons, da hast du recht. An solchen Tagen sät der Teufel auf unserem Acker, und wenn man ihn niederschlägt, dann kann auch wieder die Sonne scheinen. Wenn du es Grita so erklärst, dann wird sie schon ruhig sein.«

»Du kannst es sehr schön erklären, Andreas, auch das vom Teufel … nun geh man zurück, sie werden dich wohl wieder brauchen.«

Er verabschiedete sich hastig und kehrte um, denn sie standen schon auf der Höhe, von der man den Heckenweg sah. Die vier schwarzen Furchen schnitten sich scharf in den sanften Schein des Unterganges. Drohend standen die Pflüge im weiten Feld, wie Messer in einer Leiche, und der vierfache Schein der Pflugscharen blitzte grell in den Abend. Noch immer hingen die Lerchen über der Erde, als trügen sie oben Halme zu einem Nest.

Vor dem Schafstall am Rande des Gutshofes saß der Schäfer, den Oberkörper an die Lehmwand gelehnt. Seine Augen öffneten sich aus dem Dunkel des Rausches, als Andreas traurig vor ihm stehen blieb, und flüchteten sich scheu in den brennenden Himmel hinein. »Wat schall wi doahne, Herr?« murmelte er und schüttelte bekümmert den Kopf. »All supe se … Herres und Lüd … wat schall wi doahne?«

Lachen und Gläsergeklirr erfüllten den Garten, als Andreas von der Diele zu seinem Zimmer emporstieg. Im Dämmerlicht des Ganges traf er auf Martha, die ihm leise singend entgegenkam. »Da ist er!« sagte sie, sich schwer an die Wand lehnend. »Der Vater hat mich eben nach Ihnen geschickt. Kommen Sie mit.«

»Was soll ich bei euch?« fragte er finster.

»Was du sollst?« Sie trat so nahe an ihn heran, daß er bis an die Wand zurückwich. »Dasselbe was du dort tatest: das Kreuz tragen, verstehst du? Auch hier schlagen sie, auch hier weinen sie, du Blinder im Herrn! Oder glaubst du, daß sie jauchzen?«

»Sie haben getrunken,« flüsterte er erschreckt. »Sie auch!«

»Ja, ich auch,« sagte sie höhnisch. »Sehen Sie nun, daß Sie kommen müssen?«

»Ich werde kommen,« erwiderte er leise.

Die Tafel stand unter den beiden Linden am Rande des Rasenplatzes. Die beiden großen Schalen waren noch zur Hälfte mit Krebsen gefüllt, und in den grünen Römern spiegelte sich das letzte Leuchten des Abendhimmels. Bulck hörte abwesend auf die getragene Stimme des Pfarrers, die, von Schluchzen unterbrochen, durch den stillen Abend schwang. Der Oberinspektor zerbrach die Krebsscheren, als ob er Nüsse knacke, und das Gespenst, das Kinn in die Hände stützend, sah finster auf Kascheike, der schweigend, eine schwarze Binde um die Stirn, in seinem Stuhl lag, die Augen mit schon verschleiertem Blick auf Martha gerichtet. Sie trank hastig, in kleinen Schlucken, stieß oft mit Karsubke und dem Pfarrer an und tastete dann wieder unruhig nach der Rose, die sie in ihr Haar gesteckt hatte. Jedesmal fiel der Ärmel ihres weißen Kleides zurück, und jedesmal zuckte es um Kascheikes bösen Mund.

»Kommt er immer noch nicht?« flüsterte er höhnisch. »Ach, die Rosen welken all!«

»Sie bedürfen der Schonung, Herr Kascheike,« erwiderte sie lässig. »Vermeiden Sie jede Aufregung … Gehirnerschütterung kann schlimm auslaufen.«

Als Andreas an den Tisch trat, schnitt Bulck mit einer Handbewegung dem Pfarrer das Wort ab. »Endlich bist du da,« sagte er aufatmend. »Nun, wie findest du es? Von Jahr zu Jahr wird es langweiliger.«

»Als ich herkam,« antwortete Andreas, müde Platz nehmend, »fand ich den Schäfer an seinem Stall. Er war nicht mehr nüchtern. Aber er fragte: ›Was sollen wir tun?‹«

»Was du immer für Worte findest, Andreas,« sagte Bulck leise. »Nun schwatzen sie hier den ganzen Abend. Reimarus hat sogar schon gesungen, ein Passionslied. Aber es ist alles schal wie dieser Wein. Und da kommst du und sagst: ›Was sollen wir tun?‹ Ja, was sollen wir tun? Weißt du es, Reimarus?«

Der Pfarrer stützte seinen großen Kopf mit dem spärlichen Haar in die immer zitternden Hände. »O Vater aller Geschlagenen,« sagte er mit seinem traurig singenden Tonfall. »Was können wir tun als an unsre sündige Brust schlagen?« Er hob die schweren Augenlider, den starren Blick an Nylands Antlitz heftend. »Du glaubst, daß ich heuchle, Nyland,« fuhr er mühsam fort, »aber nein, ich heuchle nicht. Ich weiß, daß ich ein Sünder bin, ein Unreiner in Gottes Kleid …«

»Und wenn Sie es wissen, weshalb tun Sie es?« fragte Andreas.

»Ja, siehst du, so fragt man. ›Weshalb tust du es?‹ So als wenn ein Kind einen Apfel gestohlen hat. Es gab eine Zeit, Nyland, da tat ich es nicht. Da war ich so wie du: ich hatte Gott in mir. Und wenn man Gott in sich hat, weshalb sollte man trinken? Aber dann kam das Amt, die Frau, die Kinder, Amtsbrüder und so weiter, was man so die gereiften Mannesjahre nennt. Du kennst das noch nicht. Und sie schlagen langsam den Gott in dir tot. Oder vielmehr, sie erwürgen ihn. Sieh mal, die Predigten. Die erste Leiche, die erste Trauung, die Weihnachtsandacht: das ist herrlich. Du denkst gar nicht nach, sondern du hörst nur auf deinen Gott und schreibst. So wie die Evangelisten auf den alten Bildern. Den Blick etwas in die Höhe gerichtet, die Lippen halb offen und so weiter … ja … Prosit, Nyland! Es war eine schöne Zeit …«

»Trinken Sie nicht mehr, Herr Pfarrer.«

»Warte doch … aber dann wird es langsam anders. Die zweite Leiche, sie ist schon ganz anders. Du merkst schon, wenn es regnet, du machst dir Gedanken über deine nassen Füße, und so weiter. Jahr für Jahr, Nyland! Kann es anders werden? Wie eine große Pflanzenpresse drückt es dich zusammen, immer enger, immer fester. Mit den Blüten geht es schnell. Die Blätter leisten schon mehr Widerstand. Aber endlich ist alles platt, auch der Stengel, keine Lücke mehr. Dann nimmt man zwei dünne Streifen, klebt die Sache fest, schreibt darunter ›Pastor Dei‹, und die Sache ist fertig. Fehlt nur noch die Katalognummer. Gott ist gestorben, Nyland, flach gedrückt, gepreßt, katalogisiert. Und was ist lebendig geblieben? Der Teufel, Nyland. Das ist nämlich sehr merkwürdig: Gott läßt sich immer totschlagen, der Teufel niemals.

»Und nun bist du allein mit dem Teufel. Das ist bitter, sehr bitter. Kein Mensch ist gerne mit dem Teufel allein. Dann redest du, viel und laut, du donnerst und säuselst mit deiner Stimme, wenn du predigst, du spielst eben Theater. Aber hinter jedem Wort flüstert ein andres Wort, es lächelt, es lacht: das ist der Teufel. Du wirst ihn nicht los, weder in der Kirche, noch unter deinen Kindern, noch im Schlaf. Du führst Reden mit ihm, Nyland, lange, geistvolle und stumpfsinnige Reden. Aber er behält immer das letzte Wort.

»Und dann fängst du an zu trinken. Ganz durch Zufall kommst du darauf. Und sieh, da geschieht etwas Merkwürdiges. Der Teufel spricht weiter, aber ein andrer wacht auf, ein Toter: Gott erwacht. Wahrhaftig, Nyland, er erwacht. So schön ist das, wenn er wieder aufersteht. Und er nimmt Platz in deiner Seele, auf dem besten Stuhl, und nun reden sie beide miteinander. Herrliche Gespräche führen sie, Tod und Leben, Himmel und Hölle, die großartigsten Dinge behandeln sie. Und du hast nur zu trinken. Ach, wie herrlich ist dies Ausruhen! Was sollte der Teufel noch mit dir zu sprechen haben, wenn er so einen erstklassigen Gegner findet? Du lehnst dich zurück und hörst zu. Du bist wie ein Mensch, der furchtbar gequält worden ist. Dein Todfeind lag über dir und schlug auf dich ein. Aber da kommt ein dritter, und nun prügelt er sich mit dem. Und du wischst dir dein Blut ab und bringst deinen Anzug ein bißchen in Ordnung und siehst zu. Kannst dich auch ein wenig davonmachen und dir die Landschaft besehen, dich irgendwo niederlegen und schlafen. Ohne Teufel, Nyland! Zwar, wenn du wieder aufwachst, dann ist er wieder über dir und nimmt doppelte Rache für die Prügel, die er bekommen hat, aber es war doch eine Atempause … Siehst du, so ist das. Nun weißt du auch, weshalb ich es tue.«

Er hob das neu gefüllte Glas und trank. Dann stützte er wieder den Kopf in die Hände und lauschte, die Augen auf einen fernen Punkt gerichtet, und über sein von allen Fesseln entbundenes Gesicht lief der Widerschein unhörbarer Gespräche wie zitternde Kreise über einen toten Wasserspiegel.

»Ja, Andreas,« sagte Bulck nachdenklich, »das ist seine Theorie. Wir haben jeder eine Theorie. Ich die von der Langenweile und er die vom Gottesbad. Und du hast deine Mitleids-Theorie … Das ist ja ganz schön, aber es ist auch ein bißchen traurig. Denn wenn alles in Ordnung wäre, wozu brauchen wir denn eine Theorie? Meine Rehe im Wald haben keine Theorie … eine dunkle Affäre … bring' Lichter, Martin, und Sekt … Hochwürden braucht ein etwas schärferes Bad, damit der Teufel seinen Kompagnon bekommt.«

Vom Hofe erklangen die heiseren Lieder der Instleute, und sie lauschten eine Weile schweigend. Über dem Garten standen die Sterne, und Andreas dachte voller Ergriffenheit des schwarzen Wassers unter den dunklen Erlen und der weißen, steilen Nebelwand. »Was sollen wir tun?« sagte er und erschrak über dem Laut seiner absichtslosen Worte.

Bulck beugte sich nahe zu ihm. »Trinke, Andreas,« bat er eindringlich, »nur heute! Weißt du, daß deine Augen mich quälen? Es waren wohl nicht die Sterne gestern nacht, sondern deine Augen. Ich kann mir denken, daß Kascheike dich ermorden könnte wegen dieser Augen. Weißt du, früher pflegten die Könige ihre Söhne zu blenden, die ihnen im Wege waren. Es wird schon seine Gründe gehabt haben … Einmal nur trinke, Andreas. Es wird mir leichter ums Herz sein, wenn deine Augen für eine Stunde so sind wie unsre.«

»Ich kann nicht, Herr Bulck.«

»Auch nicht um Jons?« flüsterte Bulck.

»Um Grita, mußt du sagen,« warf Martha lächelnd ein. »Damit sie Kinder haben kann … das macht ihm mehr Schmerzen.«

»Schweig!« rief er böse. »Das ist nicht deine Sache.«

Sie zuckte die Achseln, stand auf und ging leise singend in den Park hinein. Nach einer Minute folgte Kascheike ihr.

»Nun, Andreas?«

»Was ist mit Jons? Was meinen Sie?«

»Trinke mit mir, und Jons bekommt morgen sechzig Morgen …« Er atmete schwer und schloß die Augen vor dem erschreckten Blick, der ihn traf.

»Herr Bulck!«

»Ich kann dich nicht blenden, Andreas, versteh mich doch! Du wolltest das Leid auslöschen, weshalb schreckst du zurück? Bist du auch feige wie die andern?«

»Sie wollen Sünde mit Sünde löschen, Herr Bulck … er wird es niemals annehmen.«

»Ich schenke es dir, Andreas … du kannst es weiterschenken oder verpachten, ganz wie du willst … er ließ sich kreuzigen, und du willst nicht trinken?«

»Ich kann nicht!«

»Weiß du nicht mehr, wie er auf den Hocken saß, Andreas? Hast du vergessen, wie er heute fortging, übers Feld?«

»Tu es, Nyland!« sagte Reimarus seufzend. »Auch in dir wird Gott auferstehen. Weshalb sollst du nicht auch einmal zusehen und ausruhen? Du kannst es ruhig tun. Ich bin dein Vorgesetzter, und ich erlaube es dir. Ich bin zwar ein Sünder, aber doch bin ich, sozusagen, dein Vorgesetzter.«

Aber Andreas hatte das Gesicht mit den Händen bedeckt und hörte nicht, was er sprach.

Als Martha nach einer halben Stunde zurückkehrte, eine flackernde Angst in den heißen Augen, lehnte Andreas mit bleichem Gesicht über dem Tisch, die Sektschale in der unsicheren Hand, und blickte ihr mit wirrem Lächeln entgegen. »Es ist … um Jons, Fräulein Martha,« stammelte er, »nur … um … Jons …« Seine Augen waren verschleiert, seine Lippen hilflos und verzerrt, und nur auf seiner Stirn lag eine wüste, beschmutzte Traurigkeit, als sei sein Körper, seinem Willen entrückt, von häßlichen Krämpfen befallen.

Zuerst stand sie erstarrt. Dann stieß sie, sich weit über den Tisch beugend, ihr Glas an das seine und lachte ihm ins Gesicht. »Auf dein Wohl, Jochanaan! Du mußt trinken, um Kinder zu erwecken, und ich muß trinken, um zu töten … Trinke aus, die Laima befiehlt es … morgen können wir leiden.«

»Jetzt, Andreas, kann ich in deine Augen sehen,« murmelte Bulck, seine Hände streichelnd. »Jetzt … können wir fröhlich sein … denn niemand sieht uns …«


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