Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

15

Das Frühjahr nimmt die alten Leute, wie seine Stürme die alten Bäume nehmen. Der Frost hat sie gespalten und ihre Wurzeln starr gemacht. Während des dunklen Winters haben die alten Leute am Feuer gesessen und doch gefroren. Sie haben ihre Hände über die Flammen gehalten und auf die blauen Adern geblickt, die sich aus der matten Haut herausheben. In der erlöschenden Glut haben sie die Gestalten ihres Lebens gesehen, von der Kinderzeit an bis zu ihrer Gegenwart. Das ganze Gewebe ist ausgebreitet gewesen vor ihnen, die dunklen und die hellen Fäden, und die dunklen sind immer in der Mehrzahl gewesen. Manche blicken mit Reue darauf nieder und manche mit Angst. Aber manche können es doch ansehen wie einen Acker, auf dessen grüne Saat der Schnee fällt. Und sie sehen, wie er auch auf die dunklen und die leeren Stellen fällt. Sie sind müde, wie Kinder am Fenster müde werden, wenn sie lange in den Fall der Flocken hinaussehen, aber sie lächeln doch, wie auch die müden Kinder lächeln.

In den langen Abendstunden im Schloß, in den beiden kleinen Räumen, die nun keine Gäste mehr haben, hatte Christoph wieder zu lächeln begonnen. Er saß mit dem Freiherrn Erasmus vor der geöffneten Ofentür, ehe er sich zur Försterei aufmachte, und der Freiherr sprach zu ihm. Er hatte niemals so viel gesprochen wie in diesem Winter, aber am Ende der dunklen Tage hatte er es nun doch erreicht, daß Christoph wieder lächelte. »Du hast nie gewußt, was ein Irrtum ist«, sagte er, »oder du hast es doch sehr selten gewußt. Und du hast nichts vom Segen des Irrtums gewußt. Du hättest mir auch sagen können damals: ›Bleiben Sie da, Herr!‹ Aber das wäre nicht gut für mich gewesen. Weil ich noch nicht reif war, dazubleiben. Du hättest mich um die Nacht im Forsthaus gebracht, in der ich die Tropfen aus der Regenrinne hörte. Du hättest mich auch um das Morgenrot gebracht, als wir den Mann aus dem Mohrenland singen hörten. Du hättest mich um die Erkenntnis gebracht, Christoph, um die Demut, um die Rückkehr. Wenn du mich nicht beim Gürtel genommen hättest, würde es keine Rückkehr für mich gegeben haben. Du hast dich geirrt, aber auf diesen Irrtum hat der liebe Gott gewartet. Ohne diesen Irrtum würde er mich nicht haben überreden können.«

Und das sah Christoph ein. Und er sah auch die Warnung ein, die für ihn darin gelegen hatte. »Wer immer mit Pferden zu tun hat, wird leicht hochmütig, lieber Herr«, sagte er. »Sie sind immer gehorsam, wenn man sie richtig behandelt, und es bekommt uns nicht gut, weil wir denken, daß auch die Menschen uns nun immer gehorsam sein müßten. Besonders die Fußgänger, auf die wir herabsehen von unserem Kutschbock. Und erst wenn die Pferde einmal durchgegangen sind, werden wir ein bißchen unsicher und ein bißchen bescheiden. Und ich bin nun bescheiden geworden, lieber Herr.«

Als der Schnee geschmolzen war und die Heidelerchen wieder riefen, gab Christoph seinen Dienst im Schloß auf. Er war nun immer müde, und es machte ihm große Mühe, den Berg zur Försterei hinaufzusteigen. Aber bevor er den Freiherrn Erasmus allein ließ, ging er ein paar Tage lang durch alle bewohnten Räume des Schlosses und saß eine kleine Weile am Herd oder auf einem Stuhl am Fenster. Die Frauen fürchteten sich nun nicht mehr vor seinen hellen Augen, und sie sprachen auch nicht mehr von den Rechten, die ihnen zuständen. Sie ließen ihre Arbeit für eine Weile aus den Händen sinken und hörten zu, wie er mit den Kindern sprach. Er erzählte keine Geschichten mehr, aber er erzählte, wie sie als Kinder die jungen Kraniche gefangen hatten oder in den Wipfeln der hohen Tannen gesessen hatten, wo der Wind sie gewiegt hatte, sie und die alten Lieder, die sie gesungen hatten.

Und in jedem der Räume blieb er, bevor er wieder ging, an der Tür stehen, verneigte sich und sagte leise: »Vergebt mir um Christi willen ….« Auch in dem Zimmer des alten Grafen sagte er so, und er hatte die Tür schon geschlossen, bevor der Graf die Augenlider aufhob und ohne Verständnis auf die leere Schwelle blickte.

Auch am Moor saß er bei den Leuten in den Holzhütten, am Abend, wenn die Männer von der Arbeit gekommen waren, und auch dort verneigte er sich und sprach dieselben Worte. Aber während die Frauen im Schloß verwirrt gewesen waren und nicht immer verstanden hatten, was er meinte, verstanden die Leute am Moor ihn sehr wohl, und sie blickten ihm von der Schwelle lange nach, wie er langsam wieder zum Schafstall hinaufstieg und der Abendwind sein weißes Haar bewegte.

Er war jeden Tag bei Amadeus, aber dann saß er die meiste Zeit in einem alten Lehnstuhl vor dem Feuer in der Försterei oder vor der Schwelle, wenn die Sonne ihn beschien. Der kleine Weidenkorb mit dem Kind stand neben ihm auf der Erde, und der Hund legte seinen Kopf auf seine Knie, so daß er mit der Hand das weiche Haar streicheln konnte. Die junge Frau ging ab und zu, und mitunter saß sie auf der Schwelle hinter seinem Stuhl und nährte das Kind. Er brauchte sie nicht zu bitten, daß sie ihm vergeben möchte, weil er wußte, daß sie es getan hatte. Lange Zeit schon seit dem Morgen, als er sie die Treppe hinaufgetragen und sie ihn geschlagen hatte. Damals hatte er sie bei ihrem Gürtel genommen, und damals hatte er sich nicht geirrt.

»Es ist nun recht so, lieber Herr«, sagte er an einem dieser Abende, als Amadeus bei ihm saß. »Du hättest wieder in die Welt fahren können, mit vier oder sechs Pferden, und sie würden die Türen vor dir aufgetan haben, denn es ist ja noch nicht alle Ehrfurcht vor dem Leid verschwunden in der Welt, wenn das Leid sich verhüllt hat wie bei dir. Aber es ist nun doch besser, daß du nicht gefahren bist. Weil es besser ist, der »Goldenen« zwei neue Augen einzusetzen als der Welt. Die Welt will keine neuen Augen von solchen, wie du einer bist. Höre nur der Heidelerche zu, lieber Herr, und denen, die zu dir in den Schafstall kommen. Sage nicht, daß du dein Leben vertust. Es werden genug andere sein, die es sagen. Sieh dies Kind an, lieber Herr, und die junge Frau, die du beide aus dem Moorwasser aufgehoben hast. Es sind nicht viele unter denen, die dich tadeln, die dies getan haben. Es war dir bestimmt, ein Vater der Vaterlosen zu sein. Bleibe dabei, lieber Herr, auch wenn sie lächeln …«

Und eines Abends, als die junge Frau kam, um das Kind aufzuheben, saß er in seinem Stuhl, und sie sah, daß er eingeschlafen war. So leise, daß nicht einmal der Hund es bemerkt hatte, und daß er seinen Kopf noch immer auf den Knien hielt, die langsam erkalteten.

Sie hielt den Atem an, bevor sie seine Hände leise berührte. Und dann stand sie eine Weile, das Kind an ihrer Brust, und hörte zu, wie die Drossel in den Fichten sang. Das Abendrot verblieb hinter dem Moor, und der leise Wind, der sich vor der Nacht aufmachte, bewegte das weiße Haar, auf das sie niederblickte.

Es fand sich ein Zettel in Christophs Bibel, auf den er mit einer großen Kinderschrift geschrieben hatte, daß er am Moor begraben sein wollte und daß man die Peitsche in seinen Sarg legen möchte. Nichts weiter. Und das taten sie auch.

Amadeus und Wittkopp suchten die Stelle aus, nicht weit von den Hütten und so, daß man von ihr weit über das Moor sehen konnte. Ein leiser, warmer Regen fiel aus dem halbblauen Himmel, und über der dünnen Wolkenschicht hörte man die Kraniche rufen. Es schien, als hätte das ganze Schloß sich versammelt, und hinter den ärmlich gekleideten Frauen stand der alte Graf in seinem grünlich schimmernden Frack, und die Orden auf seiner Brust glänzten wie der Abendstern, der sich durch eine Lücke in den Wolken seinen Weg bahnte.

Von den Brüdern sprach der Freiherr Erasmus als der älteste, aber nur die am nächsten Stehenden verstanden seine Worte.

Dann hielt der Pfarrer Wittkopp die Grabrede. Von dem alten Mann, der mit einem Stab das Wasser aus dem Felsen geschlagen hatte, und von dem Berge Nebo, von dem er in das Gelobte Land geblickt hatte. Sie wüßten nicht, sagte er, wo für den alten Mann dieses Gelobte Land gelegen habe, ob in der fernen Vergangenheit oder in der fernen Zukunft. Sie wüßten nur, daß es immer da gewesen sei, wo der alte Mann gewesen sei, weil dort das Land der Güte gewesen sei. Und ein anderes Gelobtes Land als das der Güte könnten sie sich wohl nicht vorstellen.

Sie wüßten nicht, wo er jetzt sei. Trotz allem Wissen und Glauben wüßten sie es nicht. Aber ihm, dem Pfarrer, scheine es, als könnte er nun in der Abendsonne, ganz, ganz weit hinter dem Moor, den Wagen sehen, den Christoph noch einmal lenke. Und wie er die Pferde eben anhalte, weil ein Kind barfuß am Wege stehe. Und wie er dem Kinde Platz mache neben sich und das Kind zeige ihm lächelnd den Weg zwischen den dunklen Mooren der Welt und des Todes.

Aber es war doch nicht so, daß sie traurig waren, als die Erde auf den Sarg fiel. Die Frauen nicht, die Kinder nicht, und auch die Brüder nicht. Weil sie alle fühlten, daß er »fertig« geworden war, ehe man ihn gerufen hatte. Er war das Kostbarste gewesen, was sie aus der Heimat mitgebracht hatten, und mit ihm versank der lichte Glanz einer gewesenen Zeit. Aber es war ihnen, als leuchte er nach, wie die sinkende Sonne nun nachleuchtete und den Himmel über dem Moor entzündete.

Und es war ihnen schön, zu denken, daß es nun einer der Ihrigen war, dem Ehre angetan wurde. Einer von den Geringen, der nur die Leine und die Peitsche gehalten hatte. Ein ganzes, langes Leben lang. Aber der doch, wenn es Zeit war, die Hand hatte ausstrecken können, um die Ratlosen oder Versinkenden beim Gürtel zu halten. Einen Freiherrn, oder eine junge Frau mit verstörtem Sinn, oder ein Kind, für das er um einen Vater gebeten hatte.

Und als sie sich wieder langsam zerstreuten und die Schloßleute schon den schmalen Pfad hinunterstiegen, erinnerten sie sich der vielen Geschichten, die der Tote erzählt hatte. »Einmal, als mein Urahn den Freiherrn fuhr –« Und es war ihnen, als gebe es um den Toten keine Zeit mehr. Und wo keine Zeit war, konnte einer auch nicht fortgehen, sondern er blieb da, und keine Jahre waren um ihn zu zählen.

 

Ja, so saß es sich also vor einer Schwelle, wenn das Leben und der Tod das verloren hatten, was man die Angst genannt hatte. Wenn das Unberührbare schimmernd auf dem Grund der Tiefe lag und der Taucher seinen Helm abgenommen hatte, um besser auf das hören zu können, was er den »Ruf der Zeit« nannte. Wenn die Vögel das Korn aus der Hand nahmen und die Kinder im Heidekraut saßen, um zuzuhören, wie das Spinnrad des Lebens sich langsam drehte. Wenn die junge Frau die Hand auf den Stuhl stützte und in dem andern Arm das Kind hielt und wenn man fühlte, daß man sie noch leise halten und leiten mußte, bis einmal das Leben eine andre Tür vor ihr öffnen würde. Nicht die Tür der Entsagung, weil Entsagung erst dann das natürliche ist, wenn das Haar sich färbt und die Hand sich nicht mehr zuschließt, um zu halten und zu behalten, sondern wenn sie sich öffnet wie vor den Vögeln, die ihre Körner haben wollen. Wenn die Verse kamen, die man aufschrieb, und es war immer, als fielen sie aus den Wipfeln der hohen Bäume, und dorthin waren sie von den Sternen gefallen. Man formte sie nicht, wie man Lehm formt, den man aufhebt. Man formte sie vielleicht, aber das Wunder lag nicht im Formen, sondern darin, daß man empfing, und man wußte nicht, wer es schenkte.

So saß es sich, wenn der Abend kam und seine große, feierliche Röte, die letzten Stimmen am Moor, Kinderstimmen und Vogelstimmen, und dann die Sterne, die er immer noch nicht gezählt hatte. Und wenn die junge Frau wieder ging und zum Abschied den Kopf an seine Schulter legte, und die leise Traurigkeit über das Herz fiel, unter der erst das erglänzte, was man das fröhliche Herz nannte. Wenn an jedem Abend aus dem Dunklen der Erinnerungen und der dunklen Zeit jene Süße des Lebens sich wieder aufhob, die nur aus dem Bitteren steigen konnte, wenn man das Bittere verwandelt hatte.

So saß es sich also, wenn das graue Haar sich immer mehr mit weißen Fäden durchzog, als ob es noch einmal blühen wollte. Aber es war der Schnee, der von ferne wie ein Blühen aussah, und wenn jemand die Hand danach ausstreckte, mußte man lächelnd sagen, daß es Schnee war, damit die Hand nicht erschrak. Man mußte so lächeln dazu, daß auch das Lächeln nicht erschreckte, und man durfte nie vergessen, daß vor den Augen der Jugend alle Dinge dieser Erde anders aussahen, die Bäume, die Vögel, die Kinder und auch das Lächeln und das graue Haar. Nicht geringer oder fremder und kühler, sondern nur eben anders und daß man gar nicht soviel Weisheit oder Erkenntnis brauchte, um sie einmal so zu sehen, wie man sie nun selbst sah, sondern einfach den Lauf der Jahre und die Summe der dunklen Stunden, die sie mitgebracht hatten.

Die Summe der Stunden hinter dem Stacheldraht zum Beispiel, wo man, wie die Leute sagten, »an den Pforten der Hölle« gewesen war. Wo nicht nur das Leid, das Grauen und der Tod sich enthüllt hatten, sondern, was mehr war, wo der Mensch sich enthüllt hatte. Und wer das überstanden hatte, nicht nur den Tod, sondern auch den Menschen; wer das Bild des Menschen nicht verloren hatte für alle Zeit und damit das Bild Gottes, der konnte nun auch still dastehen, wenn die Wange des Mädchens an seiner Schulter ruhte. Nicht ungerührt und nicht in der großen Sicherheit, wie Christoph sie geglaubt hatte, aber doch still und mit der Geduld, die man erworben hatte. Mit der Geduld, die sich auf die Jahre verließ, auf das Heilende und Tröstende der Jahre, auch wenn es lange noch nicht die »Geduld der Heiligen« war.

Und man konnte den kleinen Kreis des Lebens auch ganz langsam erweitern, ohne Mühe, weil es einem von selbst zufiel. Daß zum Beispiel die Kinder des Schlosses immer öfter zum Schafstall hinaufkamen und daß man in ihr armseliges Leben doch ein bißchen Glanz hineintragen konnte. Eine Laterna magica, die die Frau des Bruders aus ihrer Bodenkammer herausgesucht hatte, mit den einfachen Bildern einer verschollenen Zeit, aber in dem verdunkelten Raum des Schafstalles leuchteten sie doch, wie die Schätze in der Höhle unter Aladins Wunderlampe geleuchtet hatten.

Oder ein Marionettentheater, an das Amadeus nun einen ganzen Winter wendete und dessen kleine und fast gespenstische Welt wie eine Verzauberung vor den großen Kinderaugen ablief.

Alle die kleinen Wunder, die über der eigenen Kinderwelt geleuchtet hatten und die nun versunken waren in einer Zeit, in der nur die Scheinwerfer und die großen Brände geleuchtet hatten. Und für die man außerhalb des Schafstalles keine Zeit hatte, weil man in den freien Stunden ausziehen mußte, um ein Brot zu suchen, einen Rock, ein Paar Schuhe. Weil es keine alte Frau mehr gab, die in der Dämmerstunde vor einem Herdfeuer saß, den Faden des Spinnrades in den Fingern, und die uralten Märchen erzählte, in denen die Guten und Tapferen ihren Lohn gewannen. Weil die gnadenlose Zeit auch mit den Kindern gnadenlos gewesen war und viele von ihnen gelächelt haben würden, wenn die alte Frau begonnen hätte: »Es war einmal …« So wie der Taucher lächelte, wenn jemand von der Unberührbarkeit des versunkenen Schatzes sprach. Weil dieses »Es war einmal …« selbst für die Kinder einen anderen Sinn bekommen hatte. Einen Sinn des verlorenen Besitzes gleichsam und nicht den eines verlorenen Zaubers. Und es dauerte lange, bis man ganz langsam und leise den Zauber wieder über die hellen und prüfenden Augen legen konnte.

Und der Freiherr war der Meinung, daß man das mit aller Hingabe tun mußte, wenn der Schimmer des Schatzes nicht ganz in der Tiefe versinken sollte, so tief, daß kein Auge und kein Ohr ihn mehr hinter dem »Ruf der Zeit« erkennen könnten. Und daß mit dem Schimmer des Schatzes auch der letzte Schimmer eines Volkes versinken würde, bis die Künstler und die Kinder dann einmal die gleiche Sprache sprechen würden, die schreckliche Sprache der Taucher, die nur noch mit dem Fuß an das Versunkene rührten. Die Sprache ohne Zauber und Geheimnis, die Sprache der Lautsprecher und der Mondraketen.

Und man konnte, eingesponnen in diese zeitlose Zeit, seine Verse aufschreiben, die einem aus der Stille der Erde zufielen. Denn sie war immer noch da, diese Stille der Erde, selbst in dem Zeitalter der Dämonen. So weit war auch der Mensch der Zeit noch nicht gekommen, daß er sie überall ausgetrieben hätte. Weder den Morgenwind in den Wipfeln der alten Bäume noch das Abendrot. Weder den Gang der Jahreszeiten noch ihren Abglanz in den Herzen der kleinen Leute. Und auch wenn die Kommission unter der Führung des Landrates, die das Moor erwerben und eine Torfindustrie einrichten wollte, die Achseln zuckte, als der Freiherr Amadeus das abwies und von dieser »Stille der Erde« sprach.

Man konnte die Verse aufschreiben, auch wenn sie kein Brot, keinen Rock und keine Wärme für die Bedürftigen gaben. So wie ja auch die »letzte« Melodie Mozarts nichts von allem dem gab. Aber man konnte die wunderbare Verwandlung des Herzens dabei spüren, wenn Wort an Wort und Reim an Reim sich langsam fügte. Wenn es so war, als begänne der versunkene Schatz in der Tiefe zu leuchten, das Unberührbare, auch wenn man nicht wußte, ob ein anderes Menschenohr diese Verse jemals hören würde. Und auch wenn man nicht gläubig war wie Wittkopp, oder wie Christoph es gewesen war, so konnte man doch meinen, daß man sich dabei leise mit Gott bespreche, so wie es früher einmal am Rand der Wüste gewesen war, wenn der Verzagte im Sande kniete und plötzlich stand der Engel vor ihm und lächelte mit seinen schmerzlosen Lippen und sagte die Botschaft, die ihm aufgetragen worden war an den Verzagten.

Und der Freiherr Amadeus meinte immer noch, daß ein paar übrigbleiben müßten in dieser Welt des Geistes, die nichts anderes zu tun hätten, als die »Herzen zu wärmen«, wie er es nannte. Und es kam gar nicht darauf an für ihn, ob es ein paar Moorkinder waren oder die sogenannte »Elite einer Nation«. Und auch nicht darauf, ob man diese Herzen mit einem Märchen wärmte oder mit einem Marionettenspiel, mit dem farbigen Bild einer Laterna magica oder mit der Geschichte von Joseph und seinen Brüdern. Es kam nur darauf an, daß man sie hin und wieder davon überzeugte, daß ein geteiltes Brot besser war als eines, das man ganz und ungeteilt unter dem Rock verbarg. Und daß es auch in allen Märchen und biblischen Erzählungen für besser galt. Ja, daß es vielleicht sogar in den dunklen Bildern der Geschichte schließlich für besser galt oder sich doch am Ende als besser erwies, selbst in der letzten Geschichte des Volkes, dem sie angehörten.

Er wußte nicht immer, ob es ihm gelang, jemanden davon zu überzeugen, aber das machte ihn nicht unsicher oder verzagt. Und auch wenn er wußte, daß das Jesuskind nun nicht mehr am Wegrande stand, um einen Schlitten anzuhalten, so wußte er doch, daß auf den Wegen der meisten dieser Kinder einmal etwas stehen würde, bei dessen Anblick sie sich an die kleine Kammer im Schafstall erinnern würden, an das tröstende Feuer im Herd, an den Mann mit dem grauen Haar, der den Faden seiner Geschichten vor ihnen spann und der am Ende des Abends sich an das seltsame Instrument setzte, um mit seinem Bogen die Klänge hervorzurufen, die wie die Klänge im Märchen waren, wenn in dem dunklen Wald der Verzagte und Verirrte aus der Ferne die Stimme hörte, die ihn vor das goldene Tor führte und von allen Schmerzen erlöste.

Auch das einfachste Leben konnte also noch voller Wunder sein. Von dem Morgenrot, das über dem Moor stand, bis zu der späten Abendstunde, in der die junge Frau aus einer Berührung seiner Schultern den Sieg über die Angst gewann. Man durfte nur nicht nach dem Unbeschränkten streben, sondern mußte seine Hände um das legen, auf das einer sich beschränkt hatte. Um das, was die Natur einem gegeben hatte, und um das wenige, das man dazu hatte erwerben können. Es war weniger, als andere bekommen oder erworben hatten, aber auch ein kleines Licht konnte weithin über das Moor scheinen, in der Nacht, wenn jemand des Lichtes bedurfte.

Und wenn das Licht ohne Angst brannte, so wie die Hände ohne Angst waren, die es entzündeten. Und das war mehr, als die große Welt im allgemeinen gewonnen hatte. Weder die Völker waren ohne Angst aufgestanden aus den Jahren der Knechtung noch die Führer der Völker.

Aber der Mann in der Kammer des Schafstalles hatte die Angst nun überwunden, soweit es dem Menschen gegeben ist, sie zu überwinden. Auch die schreckliche Angst, die ihn am Anfang bedrückt hatte, die Angst vor dem Menschen. Nicht die vor dem Tode oder der Folterung, sondern die vor dem Gesicht der jungen Bäuerin, die ihn in jener Nacht verraten hatte.

Denn auch diese Angst verging, wenn man erkannte, daß sie verraten hatte aus Angst, selber verraten zu werden. Wenn man erkannte, daß im Bösen soviel Irrtum und Angst lag, daß das Böse fast darunter verschwand.

Und wenn es nun gelang, auch nur dem kleinsten Kreise gelang, die Angst der Menschen zu besiegen, die Angst vor dem Hunger oder der Gewalt, und die Angst vor der schrecklichen Leere, in die das Abendland nun hineintrieb, die Angst vor der einfachen Existenz, in die man hineingeworfen wurde wie ein Stück Holz in einen Strudel: dann hatte man das meiste gewonnen, was auf dieser Erde zu gewinnen war. Wenn die Menschen am Abend nicht mehr zu fragen brauchten: »Was sollen wir tun, bis der Schlaf endlich kommt?« Wenn sie nicht mehr von der schrecklichen Begierde erfüllt zu sein brauchten, »die Zeit totzuschlagen«, wie die Sprache es so schrecklich benannte, dann war das meiste gewonnen. Denn sie wollten sie ja totschlagen, weil sie ahnten, daß die Zeit, die unaufhaltsame Zeit, sie in das Nichts trug, in das schreckliche, unendliche, tödliche Schweigen des Nichts. Und je lauter die Lautsprecher schrien und je buntfarbiger die Raketen zersprangen, je schneller die Flugzeuge flogen und die Zeitungen aus dem Rachen der Maschinen herauskamen, je weniger sich das Wort zu scheuen brauchte, das Letzte zu sagen, an Lüge, an Gewalt, an Verführung, an Schamlosigkeit: desto schneller glitten die Ufer vorüber an der rasenden Strömung, mit Fratzen bedeckt, statt mit den stillen Geheimnissen der Bibel oder der Märchen, und das Geschlecht, dem es gelungen war, Millionen totzuschlagen in dem Ablauf einiger Jahre, fühlte mit angstgeweiteten Augen, daß es ihm niemals gelingen würde, die Zeit totzuschlagen, das was sie trug, gleichgültig und erbarmungslos, der eisigen Küste entgegen, wo das Letzte geschehen würde, das Allerletzte, schweigend oder in dem lang nachhallenden Donner der Vernichtung.

Aber hier, in dieser kleinen Welt brauchten die Menschen die Zeit nicht totzuschlagen. Sie brauchten nur die Hände zu öffnen, um sie zu empfangen, und meistens reichten die Hände nicht aus, um die Fülle der Zeit zu fassen. Weder die Fülle der Arbeit noch die Fülle des Feierabends. So wie die Hände des Freiherrn Amadeus nicht ausreichten, um die Fülle der Schicksale zu umfassen noch den Glanz des Morgenrotes, noch die »letzte« Melodie Mozarts, noch das Lächeln des Kindes, noch die scheue Gebärde, mit der die junge Frau Abschied nahm am Abend.

Manchmal zog der Pfarrer Wittkopp aus für eine Woche, um ihnen Nachricht zu bringen von der Welt. Wenn der Bischof ihn wieder rufen ließ oder wenn es eine Tagung jener religiösen Akademie gab, die man nun gegründet hatte und in denen Pfarrer und Laien sich um einen neuen Sinn des Lebens bemühten. Oder wenn die Vertriebenen sich versammelten, um über ihre Zukunft zu sprechen.

Er zog aus, wie die Taube aus der Arche Noah ausgeflogen war, aber er kam mit keinem Ölblatt wieder. Die Wasser hatten sich noch nicht verlaufen, der große Regen hatte noch nicht aufgehört.

Es wurde ihm immer erst nach der Heimkehr bewußt, daß er ja gar nicht ausgezogen war, um das Ölblatt zu finden oder eine neue Küste, die aus der großen Flut auftauchte, sondern daß er nur ausgezogen war, um das Älteste und Einfachste zu finden: die Liebe. So wie man im Märchen auszog, um das Wasser des Lebens zu finden.

War er dann zurückgekommen, so erzählte er. Sie waren dann in Ägidius' Hause zusammen, wo es am meisten Raum gab und wo sie alle zusammen vor dem Feuer sitzen konnten. Er war dann wie ein Gesandter, den sie an einen fremden, großen Hof geschickt hatten, ohne Geschenke, aber doch in der leisen Hoffnung, man würde seinen weiten Weg anerkennen und über das Dürftige seines Gewandes hinwegsehen.

Er suchte immer noch die Tabakreste aus den Taschen seines alten Rockes zusammen, und immer erschien es ihnen wie ein Symbol seiner Unerschöpflichkeit, daß seine Taschen nie leer waren.

»Sie geben sich Mühe«, sagte er. »Es ist kein Zweifel, daß sie sich Mühe geben und daß sie guten Willens sind. Aber mir ist immer, als ob sie vergessen oder verlernt hätten, an den einzelnen Menschen zu denken. An das einfache Menschenherz. Als ob sie nur in Gattungen denken könnten oder in Sammelbegriffen, wie man die letzten anderthalb Jahrzehnte gedacht hat. Die Kirche oder das Bekenntnis oder die Gläubigen oder die Besiegten oder die Flüchtlinge. Als ob die Welt so groß geworden wäre, daß es keinen Einzelnen mehr gibt.

Es kommt ihnen gar nicht in den Sinn, zu fragen, ob die Kirche nun bleiben solle, wie sie es tausend oder zweitausend Jahre gewesen ist. Ob die Pfarrer so bleiben sollen, das Wort der Pfarrer, der Trost der Pfarrer. Ob die Konfessionen nicht vielleicht eine Sünde sind. Ob die sogenannte Herrschaft einer Kirche nicht vielleicht eine Sünde ist.

Und so war es denn ja auch ganz recht, daß der Bischof gekränkt war, als er mich am letzten Abend traf, wie ich durch die leeren Räume ging, und mich fragte, ob ich etwas suchte. ›Ja, die Fußspuren Gottes‹, sagte ich. Und das war ja nun nicht recht für eine Versammlung, in der manche das ganze Herz Gottes in ihrem Mantel zu tragen meinten.«

»Es ist alles so viel einfacher«, sagte der Freiherr Ägidius nach einer Weile, »wenn man nur für die Kinder zu sorgen hat, für die Saaten und das Vieh. Weil dann alles andere von selbst kommt.«

»Ja«, antwortete Wittkopp, »nur daß die wenigsten von uns das noch haben, weder Kinder noch Saaten noch Vieh. Und daß fast alle anderen denken, sie hätten nun gar nichts, wenn sie dieses nicht hätten. Ohne erkannt zu haben, auch nach diesen Jahren noch nicht, daß es immer das Geringste ist, was wir mit den Händen umspannen können. Daß der Begriff des Besitzes uns so leicht verdirbt.«

»Und wenn Sie ihnen nun erzählt hätten von unsrer Welt«, fragte Erasmus, »wie wir hier leben und gelebt haben, Christoph oder die junge Frau, oder Jakob oder mein Bruder Amadeus, was würden sie gesagt haben? Der Bischof oder die Pfarrer oder die jungen Leute?«

Wittkopp lächelte zuerst, und dann klopfte er seine kurze Pfeife am Kaminrand aus. »So würden sie wohl getan haben«, erwiderte er. »So wie man eine Pfeife ausklopft, die nur noch Asche enthält. Nein, es hat wohl wenig Zweck, in der Welt davon zu erzählen. Wir wollen nur fortfahren zu tun, wie wir getan haben, und wenn wir es einmal beendet haben, was man das Leben nennt, wollen wir uns vor der letzten Tür ganz hinten anstellen, wie Leute mit einem zweifelhaften Paß, und warten, was der liebe Gott nun zu uns meinen wird, wenn wir mit unsren Spaten erscheinen oder mit der ›Goldenen‹ mit den neuen Augen oder mit dem Kind, das keinen Namen hat. Und wir wollen es uns nicht angst sein lassen wie vor dem Bischof etwa. Nein, wir wollen es uns kein bißchen angst sein lassen.«

»Aber wenn der liebe Gott nun fragen wird«, sagte Amadeus lächelnd, »ob Sie nicht ein Pfarrer gewesen sind und weshalb Sie nun in einem geflickten Rock und mit einem Spaten in der Hand zu ihm kommen, was werden Sie dann antworten?«

Auch Wittkopp lächelte, als verstehe er den Freiherrn sehr wohl. »Dann werde ich wohl sagen müssen«, erwiderte er heiter, »daß ich nach dem Schatz habe graben wollen, nach dem Schatz aus der Urzeit. Und daß ich so altmodisch gewesen sei, daß ich nicht mit Worten oder Gedanken, sondern mit dem Spaten gegraben hätte. Und vielleicht wird der liebe Gott einem seiner Engel winken und sagen: ›Gib ihm ein Stück Land aus der Zeit, als das Senfkorn noch im Acker lag und nicht auf der Kanzel.‹«

Fuhren sie dann heim nach einem solchen Abend, durch die stille Sommernacht, und nichts war in der Runde zu hören als der Ruf des Wachtelkönigs aus den reifenden Kornfeldern oder der Hund, der immer noch hinter dem Moor bellte, so schwiegen sie nun, und der Freiherr Amadeus versuchte nicht mehr, die Sterne zu zählen, die über ihnen am Himmelsgewölbe standen. Es war ihm nun genug, daß sie da waren, wie sie in der ›Urzeit‹ dagewesen waren, und daß sie dasein würden, auch wenn es keine Zeit mehr für diese Erde und dieses Menschengeschlecht geben würde.

Es war ihnen genug, daß die Erde ausgezürnt hatte, und auf dieser nicht mehr erzürnten Erde gab es ja genug für sie zu tun. Sie waren nicht ohne Schmerz und Angst durch die Zeit hindurchgegangen, nicht ohne Bitterkeit und nicht ohne Anklage. Aber nun waren sie nicht mehr bitter, und einige von ihnen waren auch ohne Angst. Sie trugen die Toten nicht mehr auf ihren Schultern, sondern in ihren Herzen, und dort drückten die Toten sie nicht mehr. Sie hörten die Kinder noch rufen aus der Ferne, aber sie riefen nicht mehr in Angst. Sie hatten die Angst längst hinter sich gelassen. Der Hund bellte noch vor dieser oder jener Schwelle, aber er hatte »keine Gewalt« mehr. Es war nun immer jemand da, der mit den Verlassenen über das Moor ging und leise dazu half, daß die Verlassenen nicht das große Buch aus der Hand fallen ließen.

Die dünnen Nebel standen über den Wiesen, und die einzelnen Bäume hoben sich wie beglänzte Türme aus ihnen heraus. Manchmal wehte die Luft kühl über sie hin, und manchmal stand sie warm und nach Brot riechend über den großen Feldern. Und manchmal fiel eine Sternschnuppe lautlos und golden in die schwarzen Wälder hinab.

»Ich weiß es nun doch«, sagte Amadeus einmal leise und hob die Hand, als hätte er ein Rätsel gelöst, an dem er während der ganzen Fahrt gegrübelt hätte.

»Was wissen Sie?« fragte Wittkopp, ohne den Blick von dem Sternbild des Silbernen Wagens zu wenden.

»Das was sie sang in der Kinderzeit«, erwiderte Amadeus. »Tanze, lieber Knabe, wenn auch traurig, denn du sollst nur fröhlich sein …«

»Ich denke, daß ich es schon lange gewußt habe«, sagte der Pfarrer.

Und jetzt, von diesem Sommer ab, geschah nun wohl nichts mehr auf dem Moor und in dem kleinen Kreise hinter seinem Rand, als was die Zeit überall geschehen ließ, wo der Mensch sie als eine Ordnung hinnahm. Sie ließ die Arbeit geschehen zwischen dem Morgen- und dem Abendrot, die ersten Flüge der jungen Vögel, die ersten Früchte an den Bäumen, die ersten Blumen an Christophs Grab, die von den Kindern gesät worden waren. Und zwischen Abend und Morgen ließ sie den Schlaf geschehen oder die Träume oder die Verse des Freiherrn Amadeus oder die Bilder, die vor den offenen Augen der »jungen Frau« standen. Die Zeit erschreckte die Menschen nicht mehr. Sie schickte nicht mehr Krankheit oder Unfrieden, als sie auch an andere Orte schickte, aber es war, als schickte sie sie mit leichter Hand. Und als könnten sie hier leichter geheilt werden als anderswo. Als ob nicht nur der Pfarrer oder der Freiherr Amadeus auf eine besondere Art dazu befähigt wären, sondern als ob hier schon das Morgenrot so klar über der Erde stände, daß das Dunkel der Nacht »keine Gewalt« vor ihm hätte.

Es war nicht etwa so, daß die Frauen im Schloß ihre Scheuertücher oder ihre Tafeln des Rechts niedergelegt hätten, um den ganzen Tag Kirchenlieder zu singen. Sie sangen noch immer keine Kirchenlieder, seitdem das Feuer ihre Häuser zerstört und man sie wie Vieh in die Fremde getrieben hatte. Aber sie wischten immer noch den Küchenstuhl mit der Schürze ab, wenn der Freiherr Erasmus oder Wittkopp bei ihnen eintrat, und die Zeit lag doch nicht sehr lange zurück, in der sie mit leichten Herzen Glasscherben auf diesen Stuhl gestreut haben würden.

Es war auch nicht so, daß es dem Pfarrer nun gelang, sie zu Gott zurückzuführen, so wie vielleicht der Bischof es gemeint haben würde. Über das Bild Gottes waren für sie so viele Steine gestürzt, seitdem die brennenden Dächer über sie gestürzt waren, daß auch die Hand des Pfarrers mit allen Schwielen nicht damit fertig geworden wäre, die Steine beiseite zu räumen. Aber es war doch schon viel, daß sie mitunter vor einem anderen Steinhaufen stehenbleiben konnten, ja, daß sie ihn überhaupt zu sehen vermochten neben den Steinen, die über ihrem eigenen Lebensraum lagen. Daß sie erkennen konnten, daß über den Freiherrn Erasmus »Unglück gefallen« war und daß auch die halbgeschlossenen Lider des alten Grafen etwas bedeckten, worüber man nicht nur lächeln dürfte.

Es war auch nicht so, daß die »junge Frau« nun fröhlich durch ihren Tag ging und daß das Vergangene so tief für sie begraben lag, als wäre der Pfarrer mit seinem Spaten nur deshalb auf das Moor gegangen, um es zu begraben.

Und auch nicht so, als wären für den Freiherrn Amadeus nun alle Rätsel dieses Lebens gelöst, seitdem er die Verse seiner Kinderfrau begriffen hatte.

Auch für diese kleine, abseitige Welt war das Leben das geblieben, was es überall war: das dunkle Rätselgesicht, in dem man niemals mit Sicherheit erkannte, ob es nun lächelte oder ob auf dem Grunde der unerforschlichen Augen etwas vor sich ging, von dem man nichts wußte. Nicht einmal, ob es den Anfang oder das Ende bedeutete.

Aber das doch nun ein Gesicht war, in das man mit einem leisen Vertrauen blickte. Nicht ohne Bangen, aber doch mit einer scheuen Zuversicht, weil einige unter ihnen waren, die ohne Angst hineinblickten. Mit der Zuversicht, daß auch dort ein stilles Gesetz lebte. Daß die Zeit der Gewalt vorüber sei, des Feuers, des Beiles, und daß nun die Zeit der Ordnung wiederkommen würde.

Und vielleicht blickte keiner von ihnen mit solcher Zuversicht in dieses Gesicht des Lebens wie der Freiherr Amadeus, wenn er am Abend vor der Schwelle saß, an die er den alten, zerschlissenen Lehnstuhl gerückt hatte. Er hatte keine Frau und keine Kinder verloren, aber er war der Gewalt und dem Beil und dem zerstörten Menschengesicht am nächsten von ihnen allen gewesen. Er war am tiefsten getäuscht und am tiefsten entwürdigt worden. Er war vielleicht auch am meisten gehaßt worden.

Und doch war ihm manchmal, als wäre seine Zuversicht nicht geringer als die des Pfarrers. Wahrscheinlich war es eine andere Zuversicht, und sie war nicht so kindlich und einfach wie die Wittkopps, und vor den Augen des Bischofs würde sie vielleicht als noch geringer gelten. Aber dafür hatte er sie wohl mit mehr Schmerzen gewonnen als die anderen. Sie war ihm nicht nur zugefallen, er hatte sie mit wunden Händen ausgegraben aus den noch glühenden Trümmern. Er war der einzige unter ihnen, der getötet hatte, und doch war die Zuversicht gekommen. Er war der einzige, der wiedergekommen war mit der Bereitschaft, von neuem zu töten, wenn es nötig sein würde, und doch war die Zuversicht da.

Und sie war gekommen, weil er dem Menschen wieder vertraute, und er wußte nicht, wie es begonnen hatte. Ob bei den Brüdern oder bei Jakob oder bei Christoph oder bei dem Pfarrer, wie er zum erstenmal bei ihm auf dem Moor gestanden hatte. Er hatte so vertraut, daß er dem Mädchen die Pistole in die Hand gegeben hatte, und das Mädchen hatte sie unter der Schürze verborgen und war über das Moor gelaufen, um Christoph zu holen. Dieselbe Pistole, deren Lauf zur Seite gewichen war, als er von neuem hatte töten wollen.

Aber sie war nun da, die große Zuversicht, in einer Zeit, in der nicht einmal die Sieger Zuversicht hatten. In einer Zeit, in der die Galgen so unerschüttert standen, wie sie zwölf Jahre lang gestanden hatten, und der Stacheldraht so lächelnd um Millionen von Menschen gezogen wurde, wie die Kinder am Moor weiße Zwirnfäden um ihre kleinen Blumenbeete zogen. Sie war da, und sie würde nicht mehr fortgehen, weil sie nicht mehr auf die Völker vertraute oder ihre Führer oder das Abendland oder die Kultur, sondern auf ein paar Menschenherzen, von denen doch einigen gelungen war, die letzte Melodie zu schreiben oder ein Kinderlied, oder sich aus dem Haß so weit wieder aufzurichten, daß ein trauriges Gesicht an einer Schulter ruhen konnte, um in der Traurigkeit das ganze Glück der Erde zu fühlen.

»Komm nun«, sagte er zu der jungen Frau, als sie neben seinen Stuhl trat, und streckte die Hand aus. »Komm und sieh, wie schön die Erde ist, wie sicher und wie nahe …«

Sie kniete zu seinen Füßen im Heidekraut, aber als sie eine Weile in das Abendrot geblickt hatte, in das der Rauch aus den Schornsteinen der Hütten langsam und gerade aufstieg, wendete sie ihr Gesicht wieder ihm zu und sah ihn an. »Weshalb ist Ihr Gesicht so froh?« sagte sie leise.

Er lächelte und fuhr fort, in den Abend zu blicken. Die Heidelerchen sangen noch, und er dachte darüber nach, daß wahrscheinlich bei ihnen schon die »letzte« Melodie gewesen war, ehe jene Menschenhand sie aufgezeichnet hatte.

»Ich habe ein Lied aufgeschrieben«, sagte er, »zum Einschlafen für das Kind. Und ich habe auch gedacht, daß wir es Irene nennen sollten, weil es den Frieden bedeutet.«

»Und weshalb haben Sie ›wir‹ gesagt?« fragte sie leise und legte ihr Gesicht in seine Hand.

»Weil es doch nun unser Kind ist«, erwiderte er. »Das weißt du doch nun.«

»Und wie ist das Lied?« fragte sie nach einer Weile.

»Es ist eines zum Singen«, antwortete er, »und du mußt nun den Heidelerchen zuhören. Ich möchte gern, daß es dieselbe Melodie hat.«

Er sah sie immer noch nicht an, sondern blickte über ihren Scheitel hinweg in das Abendrot, und dort hinein sagte er auch die Worte:

Schlafe, schlafe still, mein Kind,
um den Schafstall geht der Wind.
Ist der Wind vom Abendrot,
riecht nach Korn und riecht nach Brot,
schlafe, schlafe still, mein Kind …

Schlafe, schlafe still, mein Kind,
um den Schafstall geht der Wind,
und der Mond am Himmelszelt
seine Lampe für dich hält,
über Nacht und über Welt,
schlafe, schlafe still, mein Kind …

Schlafe, schlafe still, mein Kind,
um den Schafstall geht der Wind …
Hörst du, wie das Spinnrad geht,
das die Mutter für dich dreht?
Auch der Wind, auch der Wind
an dem goldnen Faden spinnt …,
schlafe, schlafe still, mein Kind …

Die Worte fielen so leise, wie der Tau zu fallen begann, als wäre es gar nicht der Freiherr Amadeus, der sie gesprochen hätte, sondern nur die Stimme des Abends, die sich nun leise erhob, nachdem der Tag versunken war. Und aus diesem Abend kehrten die Augen des Freiherrn erst zurück, als die junge Frau sich aufrichtete und mit ihren Armen seine Knie umfing.

Da erst beugte er sich nieder und blickte in ihre Augen. Sie waren nun wie ohne Schleier, und auf ihrem Grunde sah er, woran sie so viele Jahre ihres jungen Lebens gegeben hatte, soviel Stolz, soviel Härte, soviel Leidenschaft, ja, woran sie Leib und Seele gegeben hatte, ohne es zu gewinnen: das Land ohne Angst. Es lag so still auf dem Grunde der Augen, als wäre es immer dagewesen, nur zugeschüttet, wie ein Brunnen zugeschüttet wird, aber nun fiel das Abendrot wieder tief in seinen Grund.

Er legte beide Hände um ihr Haar und blickte in ihre Augen. Und sie sah ihn ohne Angst an, nur daß ihr Gesicht weiß war vor Erschütterung, und während sie seine Knie noch enger umfing, sagte sie schluchzend, mit einer Glückseligkeit ohnegleichen: »Ich will dir dienen …, ich will dir dienen mein Leben lang …«

Er beugte sich noch tiefer und blickte immer noch in ihre Augen. Und dann erinnerte er sich. Er erinnerte sich, wie er als Kind im Garten gegraben hatte, und plötzlich war unter seinem kleinen Spaten eine Quelle aufgebrochen, von der niemand gewußt hatte. Er sah die kleine Grube vor sich, mit dem feuchten Sand der Ränder, und plötzlich war aus diesen Rändern das Wasser getreten, langsam und geheimnisvoll, so lange, bis auf dem Grunde ein kleiner Spiegel gestanden hatte, und in dem Spiegel hatte er sein Gesicht gesehen.

Und so, wie in jener Kinderquelle, erfüllten die beiden dunklen Brunnen vor seinen Augen sich von den Rändern her, langsam und geheimnisvoll, bis auf dem Grunde die beiden Spiegel der Tränen standen, in denen er sein eigenes Gesicht erkannte.

Er blickte lange hinein, bevor er sich wieder aufrichtete, und dann erst, die Hände immer noch auf ihrem Scheitel, sagte er: »Weißt du denn nicht, daß es das Kind ist, dem du dienen sollst ein Leben lang?«

Und dann hob er ihr Gesicht auf, bis es mit ihm über das Moor blicken konnte.

Vor dem roten Schein stand nun der verlassene Mann Donelaitis, wie er an den meisten Abenden zu stehen pflegte, unbeweglich, als reichten seine Wurzeln in die dunkle Erde. Das Abendrot umfing ihn, wie es die Büsche und Bäume umfing. Er stand ohne eine Gebärde da, und man wußte nicht einmal, ob er die Augen geschlossen hatte. Aber man meinte zu wissen, daß er etwas sah hinter dem großen Feuer des Himmels, ja, daß er noch hinter der Gestalt einer Frau mit einem Bündel in der Hand und noch hinter den fernen Strömen der fernen Heimat etwas sah, was sich nun Abend für Abend immer mehr vor ihm aufgeschlossen hatte. Und vielleicht konnte man es die Unvergänglichkeit des Lebens nennen.

Und der Freiherr Amadeus, während seine Hand über das taufeuchte Haar des knienden Mädchens glitt, und seine Augen sich immer tiefer mit dem großen Abendrot erfüllten, glaubte dasselbe zu sehen, was der Mann am Rande des Moores vielleicht sah: die Unvergänglichkeit des Lebens.

Er benannte es nicht so, und seine Lippen formten kein Wort dafür. Aber sein Herz schlug ihm so still und gewiß, als wenn er es so benennen könnte.

 

Ende

 


 << zurück