Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

5

Der Winter ist die große Zeit der Einsamen. Unter den Menschen und unter den Wölfen. Und unter denen, die auf der Grenze leben. Er deckt das Leben zu, auf das man tritt, und enthüllt das Leben, zu dem man aufblicken muß. Er ist nicht die Zeit der Tiere und der Blumen, sondern die der Sterne. Schon der Schnee wächst nicht aus der Erde herauf, er fällt von den Sternen. Er ist kalt und rein wie die Sterne selbst.

Es gibt keine verborgene Spur im Winter weder für den Menschen noch für den Wolf. Wer über den Schnee geht, muß es verantworten. Der Schnee steht nicht auf, wie die Gräser aufstehen. Der Mensch in der Landschaft ist so groß wie eine Feuersäule in der Wüste. Er muß Mut haben, die erste Spur durch die Öde zu ziehen. Er muß ein Gleichmaß des Herzens haben, um vor der Öde zu bestehen.

Das Lebendige im Winter ist das Feuer. Es beherrscht den Abend und die Nacht. Wer davor sitzt, muß die Gespenster entlassen haben, die im Herzen wohnen, oder sie werden ihn aus jeder Flamme ansehen. Er muß die Schreie der Vergangenheit vergessen haben, oder er wird sie aus dem leisen Gesang hören, der über jedem Feuer ist. Man muß sein weißes Haar in Frieden gewonnen haben, um still vor einem Feuer sitzen zu können, die Hände um die Knie gefaltet, die Schatten der Dinge um sich herum.

Der Winter ist die Zeit der langen Nächte, und alle Dinge werfen große Schatten in ihnen. Wenn der Hahn kräht, ist es, als ob die Bahn der Erde zum erstenmal beginnt. Zu den Einsamen kommt niemand, und sie gehen nirgendwohin. Sie sind mit sich allein wie in einer Kerkerzelle. Hinter ihrer Tür ist der Tod.

Manche schreiben Verse oder spielen eine Melodie. Manche lesen Bücher oder blicken zu den Sternen auf. Manche mahlen das Korn der Vergangenheit und wiegen das Mehl in ihrer Hand. Manche zeichnen die Bilder der Zukunft an die Wand und blicken den Fußspuren nach, die über ein erträumtes Feld gehen.

Aber alle, um die die große Einsamkeit schweigt, sind ernst, und die meisten sind wahrhaftig. Es ist niemand da, vor dem sie eine Rolle spielen könnten. Niemand, vor dem sie ein Lächeln erfinden könnten, wenn das Herz traurig ist. Niemand, vor dem es lohnte, eine freundliche Lüge zu sprechen. Der Spiegel, vor dem sie leben, ist unbestechlich. Es gibt keinen Beifall für sie, keinen Hervorruf. Es ist nicht Theaterzeit für sie, sondern Gerichtszeit. Die Richter sitzen verhüllt, ihre Hände liegen still auf dem dunklen Tuch. Sie sprechen nicht, sie hören nur zu.

Der Einsame spricht, er allein. Es gibt keine Zeugen und kein Publikum. Das Feuer im Herde brennt und wirft seine Schatten. In dem kleinen Raum steht keine Zukunft, nur Vergangenheit. Gesichter, die ihre Lippen öffnen, Hände, die sich bewegen. Aber sie sind nicht Zeugen. Sie sind nur Schatten, die vorübergleiten, und der Einsame sieht ihnen zu. Die Gesichter der Richter sind verhüllt, und man weiß nicht, ob sie sehen.

Man kann aufstehen und in dem kleinen Raum umhergehen. Man kann an das kleine Fenster treten und das Mondlicht auf der toten Öde des Moores sehen. Sie ist so tot wie der Mond selbst. Sie könnte ein Spiegelbild des kalten Gestirnes sein. Man kann vor dem Cello stehenbleiben und mit dem Finger über eine Saite streifen. Es gibt einen leisen, verklingenden Ton, der da ist und wieder fortgeht. Er hat keine Bedeutung, und er ist nicht eingefügt in eine Melodie.

Es ist Gefahr in einer solchen Kammer zur Winterszeit. Daß die Dinge und Schatten Gewalt bekommen über den Einsamen, wie die Wölfe über ein krankes Wild Gewalt bekommen. Wie die Dinge in einem Kerker Gewalt bekommen über den Gefangenen. Man muß die Hand heben können, um sie zu bannen wie ein Zauberer. Man muß sagen können: »Ich will morgen über das Moor gehen und nicht dorthin, wo ihr gehen wollt. Ich will nicht in den Raum gehen mit euch, wo die Rinnen im Fußboden waren, damit das Blut abfließen konnte.«

Und man muß es nicht nur sagen, sondern auch tun. Man darf zugeben, daß man zerbrochen worden ist, aber man muß sich aufrichten wollen, auch mit zerbrochenen Füßen. Man muß glauben, daß sie die Füße zerbrochen haben, aber nicht das Herz. Es gehört viel dazu, ein Herz zu zerbrechen, und selten gelingt es in vier Jahren. Es gehört ein ganzes Leben dazu, und auch dann gelingt es nur selten.

Wenn Amadeus die Augen schließt, daß der Schein der Flammen sie nicht mehr erfüllt, sieht er manchmal das verhüllte Gesicht der Frau vor sich, die unter dem Gekreuzigten gesessen hat und vielleicht noch sitzt. Er hört den Hund heulen und den Schnee gegen das Kirchentor treiben, an dem das geneigte Haupt des Gekreuzigten hängt. Sein Haar ist nun weiß geworden von dem Schnee, der darauf liegt, seine Augenhöhlen sind mit Schnee gefüllt. Er ist so tot wie das Holz, an das er genagelt ist, und doch geht eine ungeheure Kraft von diesem Haupte aus, die über Hunderte von Meilen bis in diese Kammer strahlt. Eine symbolische Kraft, der kein Tod, keine Erstarrung, keine Verwesung etwas anhaben kann. Die Kraft des Sieges über die Schatten. Daß er nicht geschrien hat, wie die verhüllte Frau bezeugt hat. Daß er wahrscheinlich gelächelt hat, stumm, gütig und unverletzlich. Ein junger, einfacher Dorfpfarrer aus dem Dorfe »Namenlos«.

So wie der Schäfer gesagt hatte, als sie ihn fortführten: »Hier ist Geduld und Glaube der Heiligen.« Er hatte seinen Stab gehoben unter die großen ziehenden Wolken und es ihm mitgegeben auf den schweren Weg. Er hatte es nicht verstanden und es nicht erworben, Geduld und Glauben. Aber die Geduld verstand er nun vielleicht, den »Becher zur Freude«, und damit hatte er viel verstanden.

Er öffnete die Augen wieder und sah sich um. Die Dinge waren noch da, die Schatten, die Bewegung der Lippen und der Hände. Aber sie überwältigten ihn nicht mehr so wie am Anfang. Andere Schatten waren unter sie getreten, die der Brüder und der Christophs, der mit der Peitsche in der Hand vor der Himmelstür stand.

Der Freiherr Amadeus hatte ein Paar Schneeschuhe von Oberleutnant Kelley bekommen, und auf ihnen fuhr er nun über das Moor. Der trügerische Boden war gefroren und trug ihn überall. Es gab keine Beschränkung des Raumes für ihn. Die Sonne warf seinen Schatten auf die weiße Fläche, oder der treibende Schnee hüllte ihn ein. Er war auf eine wunderbare Weise allein, noch viel mehr als im Sommer. Aus der Ferne hörte er die Axtschläge der Gutsleute, die im Walde die Bäume fällten, und am Morgen sah er die Torfschlitten, vor die die Frauen sich spannten. Sie fuhren in die Ebene und verkauften den Torf. Vor der Mittagszeit waren sie wieder zurück.

Wenn der treibende Schnee die Spuren des Vortages verweht hatte, spannte sich der Freiherr Amadeus vor den ersten der Schlitten, damit die Frauen es leichter hatten. Es kostete ihn keine Überwindung mehr, mit ihnen in die Dörfer hinunterzusteigen. Es fiel den Menschen nicht auf, daß ein Mann unter den Frauen war, auch wenn er anders aussah. Es gab so viele Bilder in dem Leben der Flüchtlinge, daß man sie nicht mehr bemerkte.

Die Frauen wußten, daß er nicht sprechen wollte, und so waren auch sie stumm bei der schweren Arbeit. Es bedrückte sie zuerst, daß der »Herr« sich einen Zuggurt um die Schultern legte, aber dann nahmen sie es hin. Sie waren scheu vor ihm, aber das war ihr altes Erbteil. Sie wußten, daß er gelitten hatte, und das vertiefte ihre Scheu. Herren hatten nicht zu leiden nach ihrer altertümlichen Meinung.

Später schickte Ägidius eines der Pferde zurück, die er auf das Gut genommen hatte, weil es in der Försterei kein Futter für sie gab, und nun hatten sie es leichter. Das Pferd konnte den Torf in die Dörfer ziehen und Brennholz an die Hütten bringen, und das war nun Christophs Arbeit.

Keiner von ihnen war nun allein außer dem Freiherrn Amadeus. Auch die Brüder nicht. Sie hatten begonnen, neue Wurzeln zu schlagen, und der Wind ging nun schon leise durch ihr neues, junges Laub. Man mußte noch vorsichtig und behutsam mit ihnen sein, man konnte sich noch nicht zu fest an ihren jungen Stamm lehnen, aber sie standen doch schon wieder in der Zeit, und die Zeit begann leise, sie zu heilen.

Nur Amadeus war noch ohne Zeit. Er lebte zwischen Tag und Nacht, wie alles irdisch Geborene leben muß, aber es war eine Zeit außer ihm, er hatte sie nicht in sein Blut und in sein Herz genommen.

Manchmal kam Kelley zu ihm, und sie saßen vor dem Herdfeuer.

Aber wenn er gegangen war, fiel die Zeit wieder ab von Amadeus. Man konnte über die Dinge der Welt sprechen, aber man hielt sie nicht in der Hand. Oder man hielt sie nur wie ein Spielzeug, und nach einer Weile legte man es beiseite.

»Schreiben Sie es auf«, hatte Kelley einmal gesagt. »So wie ich es aufschreiben werde. Was man aufschreibt, stellt man außer sich. Man nimmt es aus dem Blut und legt es auf die Schwelle. Die Sonne und der Wind trocknen es, und dann ist es ein anderes. Nicht mehr wir selbst. Ein Geschöpf, das uns verlassen hat. Und hinter den Schmerzen der Geburt kommt die Stille. Schreiben Sie es auf.«

Er hatte es sehr ernst gesagt, und es verließ den Freiherrn nicht mehr. Auch der andere war in etwas gestürzt worden, das seiner Natur widersprach, ja, das ihm zuwider war. Er war nicht untergegangen, und er wartete nur auf die Zeit, in der er aus der Grube aufsteigen und sich reinigen konnte. Er war viel jünger als Amadeus, aber er hatte sich nicht verloren. Er wollte auf seinen Spuren zurückgehen bis zum Ausgangspunkt, und wenn er ihn erreicht hätte, würde er wieder anfangen können. Der Nebel hatte ihn nicht verstört, die Schlacht nicht und die Worte der Propaganda nicht. Er hatte eine Uniform getragen und ein Banner, aber darunter war sein Herz nicht verwandelt worden. Er hatte sein Herz gerettet, und das war viel mehr, als daß er sein Leben gerettet hatte.

Und eines Abends begann der Freiherr Amadeus. Er stand noch einmal auf, um zu sehen, ob die schwere Tür fest geschlossen sei, und dann legte er die weißen Blätter auf die Knie und begann. Es waren nun keine Verse mehr und keine Träume. Es war die Wirklichkeit, eine ganz nackte und erbarmungslose Wirklichkeit, aber er schrieb sie nicht ab. Sie war nur der rohe Stoff, und er versuchte, sie zu formen. Er sah, daß der rohe Stoff weit zurückreichte, über das Bild des Schäfers hinaus, der den Stab zu den Worten der Offenbarung gehoben hatte, bis zu dem Lied, das die Kinderfrau gesungen hatte:

Aber dieser dritte, aber dieser jüngste,
hat sich tief, ja tief betrübt …

Und noch darüber hinaus wahrscheinlich, bis zu dem Liljecrona, der den Kutscher hatte umkehren lassen, weil er gesagt hatte: »Um Christi willen, Bruder.«

Vielleicht lächelte der Freiherr, als er die ersten Seiten überblickte, aber dann lächelte er nicht mehr. Die Richter hatten sich verhüllt, aber sie hörten zu. Er fühlte, daß sie zuhörten, weil jemand beichtete und bekannte.

Auch der Freiherr Amadeus war nun wohl nicht mehr allein. Es war niemand da, den er rufen konnte, und doch war die ganze Kammer erfüllt mit Schatten. Von der Kinderfrau an bis zu der verhüllten Frau unter dem Gekreuzigten, und darüber hinaus bis zu der Gestalt Christophs mit der Peitsche in der Hand und zu der Gestalt des Mädchens, das die »Goldene« an das Herz gedrückt hatte.

Er erfuhr den Zauber und auch den Segen der Arbeit. Daß man versank, wie eine Insel versinkt, der Raum, die Zeit, der eigene Atem und der eigene Herzschlag. Und daß das andere aufstieg, lautlos und geheimnisvoll: ein anderer Raum, eine andere Zeit, Gesichter, die das Tuch von der Stirn nahmen, Hände, die sich öffneten und schlossen, Lippen, die zu sprechen begannen. Sie waren nicht da, und im Schein des Feuers verblaßten und versanken sie. Aber sie waren so da, daß kein Raum und keine Zeit sie fortnehmen konnten. Mit einer Überwirklichkeit, die noch in den Schlaf hineinreichte.

Allein am Moor war nun wohl nur das Mädchen Barbara. Und niemand wußte es, außer vielleicht Christoph, dessen Augen soviel wußten. Er sah am Morgen, wenn sie die Schneeschuhe anlegte, ihr stolzes, wie erstarrtes, Gesicht. Er allein sah hinter diesem Gesicht das Kindergesicht, das so schrecklich allein war wie das der Frau auf der Kirchenschwelle, aber er rührte es nicht an. Er allein hatte die »Geduld der Heiligen«.

Barbara hatte die jungen Leute fortgeschickt, die im Sommer hinter den Büschen des Waldrandes gestanden hatten. Sie verachtete Leute, die Telefondrähte durchschnitten und Angst hatten, das Schloß in die Luft zu sprengen, um die Abendzeit, wenn die Sieger an ihren goldenen Tafeln saßen. Und wer verachtete, war allein. Sie liebte niemanden als ihren Vater, aber er war hinter dem Stacheldraht, und sie hatte längst erkannt, daß ihre Hände zu schwach waren, um ihn zu befreien.

Sie hatte in einem Rausch gelebt, viele Jahre, seit ihrer Kinderzeit, einem glühenden und edlen Rausch, der sie wie eine Entrückte vor Symbolen knien ließ. Nun lagen die Symbole im Staub, und sie haßte, weil sie nicht mehr knien konnte. Diejenigen, die die Symbole gestürzt hatten, und diejenigen, die sie nicht aufrecht gehalten hatten. Und am tiefsten vielleicht sich selbst, weil ihr Glaube schwankend geworden war.

Sie war zu klug, um alles für Lüge und Propaganda zu halten, was die Sieger nun verbreiteten. Sie fühlte, daß jemand ihre Wurzeln durchschnitt, und da sie ihn nicht erkennen konnte, haßte sie jedermann, weil jedermann »jemand« sein konnte.

Am tiefsten aber diejenigen, die nicht gekniet hatten und die nun einen »Schein des Rechtes« an sich trugen. Und am allertiefsten den Freiherrn Amadeus, weil sie ihn einmal geschlagen hatte. Sie wußte noch nicht, daß sie ihn haßte, weil sie sich selbst haßte. Sie war nicht zu jung für Leidenschaften, aber sie war zu jung für Erkenntnisse.

Auch sie fuhr über das Moor, weil dort der große Raum und das große Schweigen für die Gedanken waren, und wenn sie über die verwehten Spuren des Freiherrn Amadeus fuhr, preßten ihre Lippen sich zusammen, als wenn sie über sein Leben führe.

Bis er eines Tages im Schneetreiben aus den Wacholderbüschen herausglitt und vor ihren Schneeschuhen anhielt.

Er sah sie ohne Zorn an, als er sagte: »Ich wünsche nicht, daß du hier fährst. Ich will allein sein, und die Erde ist groß genug für dich.«

Er konnte sehen, daß sie die Hände um ihre Stöcke preßte, als sie erwiderte: »Sind Sie immer noch ein Herr, daß dieses Ihnen allein gehört?«

»Vielleicht kein Herr, wie du es meinst«, sagte er leise, »aber vielleicht jemand, den man allein lassen sollte.«

»Und ich?« erwiderte sie mit einer jähen Wildheit in ihrem Gesicht und ihrer Stimme. »Und wer bin ich, daß man mich nicht allein lassen könnte?«

Er zog den rechten Handschuh aus, nahm ihn in die linke Hand und sah sich in der schneeverhangenen Öde um, als suche er sich dort die Antwort zusammen. »Du bist ein armes Kind«, sagte er gütig und glitt mit seiner Hand über ihre erblassende Wange. »Nicht weil du geschlagen wirst, sondern weil du geschlagen hast.«

Sie stand noch da, als er längst wieder hinter den Büschen verschwunden war. Sie starrte vor sich nieder, auf seine Spur, die der treibende Schnee wieder zudeckte, als stände er selbst noch in dieser Spur. Und erst als sie im kalten Wind zu frieren begann, wendete sie sich und fuhr langsam zum Forsthaus zurück.

Als ihre Schneeschuhe getrocknet waren, rieb sie die Schienen mit Wachs ein und trug dann alles auf den Boden hinauf, wo sie es in einer dunklen Kammer verwahrte.

Sie hatten es miteinander so besprochen, daß sie den Weihnachtsabend bei Amadeus feiern wollten, mit den Gutsleuten zusammen. Es war Amadeus nicht recht gewesen, aber Erasmus hatte ihn sehr gebeten. »Wenn das Haar grau oder weiß wird, lieber Bruder«, hatte Erasmus gesagt, »zünden wir ja die Kerzen nicht mehr für uns an, sondern für diejenigen, die den Kerzenschein brauchen. Und das glaubst du doch auch, daß sie ein bißchen davon nötig haben, nicht wahr? Und wer soll es ihnen geben wenn nicht ihre »Herren«? Sieh, die sogenannten Herren der letzten Jahre hatten es ihnen nicht gerade verboten, aber sie haben sich lustig gemacht darüber, und das war schwer für sie. Man soll sich ja auch nicht lustig machen über etwas, was unsere Kinderherzen beglänzt hat. Und nun haben sie ja doch nur uns drei. Der liebe Gott hat sie ein bißchen im Schatten gelassen in diesen Jahren, aber wir sind doch immer noch da. Uns können sie sehen, wir sind noch wirklich für sie, meinst du nicht auch?

Und ein Herr ist doch nicht jemand, der zuerst an sich denkt. Ein Edelmann denkt immer zuerst an die anderen. Und ein Bruder, lieber Bruder, denkt doch immer zuerst an die beiden andern Brüder, nicht wahr? Auch wenn man traurig ist, soll man nicht traurig machen. Du warst so lange fort, lieber Bruder, daß du nun wohl eine Stunde bei uns sein kannst, ja?«

Darauf hatte Amadeus sich nicht mehr geweigert.

Erasmus schmückte den Baum, und Christoph reichte ihm zu, was sie gegen Holz und Torf eingetauscht hatten und was Kelley ihnen gebracht hatte. Amadeus saß vor dem Feuer und sah ihnen zu. Sie sprachen nicht. In Christophs Gesicht war die Aufmerksamkeit des Mannes, der mit vier Pferden fuhr, und Erasmus sah aus, als ob er gern leise vor sich hingesungen hätte, aber er sang nicht. Er trat nur zurück, betrachtete sein Werk und nickte Christoph zu.

»Sieh zu, daß das Mädchen mitkommt«, sagte Amadeus, bevor sie zum Forsthaus zurückgingen. »Sie hat es am nötigsten.«

Vor der Dämmerung kam Jakob und legte drei Päckchen unter den Baum. Er hob nur die Hand, als Amadeus sich bedankte, und saß noch ein Weilchen vor dem Feuer. »Wir haben es nicht gefeiert«, sagte er, »aber es ist mir feierlich. Wie sie flohen nach Ägypten, mit einem Esel, und die Kriegsleute des Herodes suchten sie, das war der Anfang, Herr Graf. Sie haben auch gesucht in diesen Jahren und gefunden, nicht nur die Zweijährigen. Und sie werden suchen wieder, nach zwei oder zweitausend Jahren, und werden finden wieder. Aber es wird immer sein ein Esel, Herr Graf, der wird tragen eine Mutter und ein Kind. Immer.

Als ich bin gekommen durch den Wald, habe ich gesehen den ersten Stern über diesem Stall. Ich habe gewußt, daß hier nicht wird sein eine Krippe und ein Kind. Aber daß hier wird sein einer, den Gott der Gerechte hat verborgen vor den Kriegsknechten. Es ist geworden ein bißchen Raum in dem Gesicht des Herrn Grafen, so viel Raum, wie ein kleiner Vogel braucht für seinen Fuß im Schnee. Auf diesen kleinen Raum im Gesicht des Herrn Grafen wird scheinen der Stern über dem Stall. Jakob wird zurückgehen glücklich in das Lager, wo sie bekommen Pakete aus aller Welt. Es wird ihm sein, als ob der Engel des Herrn hat gelächelt über diesem Dach.«

Er stand auf und verneigte sich.

»Und du, Jakob?« fragte Amadeus wie früher.

Jakob blickte auf den schimmernden Baum und lächelte mit seinen traurigen, uralten Augen. »Jakob ist entgangen dem König Herodes und seinen Knechten«, erwiderte er, »aber er hat verloren den Esel, und was der Esel hat getragen auf seinem Rücken. Jakob ist allein, und seine Spur ist wie ein schmales Band in der Wüste. Der Stern wird scheinen auch über die schmalste Spur.«

Amadeus stand in der Tür des Stalles und sah ihm nach. Es schneite nicht mehr, und die Sterne traten aus dem Dunkel hervor. Ein Hund bellte in der Ferne, und er konnte das matte Licht in den kleinen Fenstern der Moorhütten erkennen.

Nur der kann groß werden, dachte er, der die Kleinheit seines Leidens erkennt.

Dann zündete er eine von Kelleys Kerzen an und wartete.

Sie kamen alle, auch Ägidius und Kelley und die Förstersfrau mit ihrer Tochter. Erasmus führte sie beide herein, und sie setzten sich hinter den Herd, wo es am dunkelsten war und einer der alten Balken, die das Dach stützten, sie halb verbarg. Sie trugen beide schwarze Kleider, und die Frau hatte ihr Umschlagtuch tief in die Stirn gezogen.

Es war für alle Raum, nur die Kinder standen an den Knien der Mütter, und Kelley saß auf dem Holz neben dem Herde. Die Eltern der Gutsleute hatten noch ihre Schuhe ausgezogen, wenn sie zur Bescherung in den Saal geführt worden waren. Sie konnten das nun nicht mehr tun, weil der Schnee hoch vor der Schwelle lag, aber ihre Gesichter sahen aus, als ob sie es getan hätten.

Nur Christoph fehlte, aber dann hörten sie eine kleine Glocke vor dem schmalen Fenster, so wie in der Kinderzeit, zuerst leise und dann ganz nahe, als ob sie von den Sternen herunterkäme. Sie wußten alle, daß die Kinder nun ein paar Verse hätten sprechen müssen, aber es war keine Zeit für Verse gewesen, und sie hatten auch nicht gewußt, daß Christoph sich der alten Sitte erinnern würde.

Sie blickten scheu und bekümmert zur Erde nieder, aber dann stand die Förstersfrau hinter dem Herde auf, legte ihre Hände zusammen und sprach mit ihrer leisen Stimme die Verse des Kirchenliedes vor sich hin, als sei sie das Kind, das von der Glocke aufgerufen wurde, die Frömmigkeit des Herzens zu bezeugen.

Durch so viel Angst und Plagen,
durch Zittern und durch Zagen,
durch Krieg und große Schrecken,
die alle Welt bedecken,

gib mir und allen denen,
die sich von Herzen sehnen
nach Dir und Deiner Hulde
ein Herz, das sich gedulde …

Schleuß zu die Jammerpforten
und laß an allen Orten
auf so viel Blutvergießen
die Freudenströme fließen …

Die feierlichen Worte aus den Zeiten des Dreißigjährigen Krieges klangen noch in dem kleinen Raum, lange nachdem sie sich wieder gesetzt hatte wie ein Kind, das seine Aufgabe erfüllt hatte.

Die Tochter war ohne Bewegung geblieben. Sie hatte den Kopf an die Schilfwand gelegt und blickte mit großen Augen in den Kerzenschein des Baumes.

Dann kam Christoph herein, und die Freiherren Erasmus und Ägidius nahmen die Geigen aus ihrer Umhüllung und stimmten leise die Saiten. Der älteste der Brüder sah Amadeus bittend an, aber dieser schüttelte den Kopf.

Dann spielten sie eine alte italienische Weihnachtsmusik, und Amadeus bewegte, ohne es zu wissen, leise die Finger seiner linken Hand, als lägen sie auf den Saiten seines Instrumentes.

Und dann las der Freiherr Erasmus als der älteste der Brüder das Weihnachtsevangelium. Sie hatten keine Bibel gerettet, und er las von einem Blatt, auf das er es niedergeschrieben hatte. Das Kerzenlicht lag auf seinem weißen Haar, und sein Gesicht blieb im Dunklen, aber es war Amadeus, als leuchte dieses dunkle Gesicht mehr als das weiße Haar.

Amadeus hatte nie gewußt, ob der älteste von ihnen gläubig wäre oder nicht. Und auch in diesem Augenblick kam es ihm als etwas Gleichgültiges vor. Soviel »Glaube der Heiligen« war in dieser Stimme und um diese schmalen Lippen. Und selbst wenn es nur war, um Trost und Zuversicht in die Herzen der Bedürftigen zu senken, selbst dann war es Glaube der Heiligen und vielleicht noch etwas mehr.

Da stand er nun, der sein halbes Leben auf dem Rücken der Pferde verbracht hatte, beauftragt, junge Männer zum Handwerk des Krieges zu erziehen, zum Töten und zum Siegen, und las die Worte von dem Kind in der Krippe, als ob der Engel hinter ihm stände, der das alles einmal gesehen hatte. Stand so da, als wäre niemals ein anderes Dach als das eines Schafstalles über ihm gewesen, kein anderer Boden als der Lehmboden der Kammer unter seinen Füßen. Und stand doch ohne die geringste Traurigkeit da, einer, der sich des Irdischen gänzlich entäußert hatte und der fröhlich zu sein hatte, weil die Augen der Traurigen an ihm hingen. Einer, der sich zu sorgen hatte, aber nicht um sich. Einer, der verloren hatte, aber der sich nicht beugte, um nach dem Seinigen zu suchen, sondern nach dem der anderen.

Und was er nachher noch mit leiser Stimme sagte, ging auch nicht mehr um die Frömmigkeit. Auch nicht um die Heimat oder das Verlorene. Sondern nur um die Kinder. Daß sie ein paar von ihnen gerettet hätten und daß das für sie die Frucht dieses Jahres und ihres ganzen Lebens sei. Daß sie das Hilflose gerettet hätten und sich nun aller Hilflosen zu erbarmen hätten. Aller, sagte er noch einmal. Und daß sie nun fröhlich sein wollten, solange auch nur ein einziges Kind unter ihnen sei. Und dabei blickte er auf »die Goldene« nieder, die ihn mit ihren gelben, zerstörten Augen ansah und die das Kind zu seiner Seite an das Herz gedrückt hielt.

Und als er geendet und das Blatt mit dem Evangelium wieder in seine Rocktasche gesteckt hatte, ging er für eine Weile in den dunklen Winkel hinter dem Herd und saß still bei den beiden schwarzgekleideten Frauen, die ohne Bewegung wie zwei Schatten dasaßen.

Während der Freiherr Ägidius verteilte, was er von dem Gut mitgebracht hatte, rührte Kelley in einem großen eisernen Topf über dem Feuer den Inhalt der Flaschen zusammen, die Christoph neben ihm öffnete. Sie tranken den heißen Punsch aus Bechern und irdenen Töpfen, und die Kinder aßen vorsichtig von dem Gebäck, das die große Frau für sie gebacken hatte.

Sie sprachen nicht viel, sie waren auch nicht besonders fröhlich. Sie blickten in die Kerzen des Baumes und hörten zu, wie der fremde Leutnant von den Weihnachtssitten seiner Heimat erzählte. Aber sie waren geborgen. Die langen Straßen der Flucht verloren sich im Nebel unter den Sternen. Die Toten und die Vermißten verloren sich, das Stöhnen und die Seufzer. Ihre Herren waren da, das Unerschütterliche des Lebens. Sie hatten sie nicht ausgestoßen und versinken lassen. Sie hielten ihre Hand über sie wie seit Jahrhunderten. In der Welt mochte eine neue Ordnung vor sich gehen, ohne Herrschende und Dienende, aber sie wollten in der alten Ordnung bleiben. Sie sahen noch keine »Freudenströme«, aber sie sahen ein Dach über den Kerzen, und wenn sie zurückgingen unter den Sternen, würden sie wieder ein Dach sehen, ihr eigenes, und nach jener Nacht an den verkrümmten Weidenbäumen war ein Dach etwas Wunderbares, so wie die Krippe für die Mutter Gottes etwas Wunderbares gewesen war.

Und dann sagte eine der Frauen aus dem Schatten: »Wenn die Herren es erlauben, erzähle ein bißchen, Christoph.«

Christoph saß auf dem Herdrand, neben den Frauen aus der Försterei, lächelte mit seinem etwas schiefen Munde und stopfte frischen Tabak in seine kurze Pfeife. Sein blauer, fadenscheiniger Tuchrock war sauber gebürstet, und das Kerzenlicht schimmerte in seinen Wappenknöpfen und auf seinem weißen Haar. Hinter ihm lag sein Schatten ruhig und groß auf der hellen Wand.

Er sah die Brüder der Reihe nach lächelnd an, und dann blickte er in das Licht und die Schatten des Baumes.

»Mein Großvater hat so erzählt«, begann er: »Als der Vater seines Vaters die Pferde fuhr, hatten sie einen Herrn, der war streng und schnell mit seinen Worten, und er hatte lange in Kriegsdiensten gestanden, noch zu Zeiten des Kaisers Napoleon. Er war kein harter Herr, aber er hatte viel Hartes gesehen auf seinen Reiterzügen, und er war gewohnt zu befehlen, nicht zu gehorchen.

An einem Weihnachtsabend kam der Urahn mit ihm aus der kleinen Stadt gefahren, und er fuhr schnell, weil es schon Zeit war, den Baum anzuzünden. Sie hatten sich verspätet, und der Schnee fiel dicht. Es waren auch Wölfe in den Wäldern damals, und sie hatten die Laternen am Schlitten angezündet, und der Herr hielt ein Gewehr über den Knien.

Und als sie aus dem Walde kamen und die Lichter des Hofes schon wie einen matten Schein erblickten, hielt der Urahn plötzlich die vier Pferde an, denn im Schein der Laternen stand ein Kind am Wege. Es war ein kleines Kind, ein Knabe, und der Schnee lag auf seinen Schultern. Und der Urahn sagte, daß er erschrocken gewesen sei, weil der Knabe auf seinem Haar keinen Schnee getragen hatte, nur auf den Schultern. Und es schneite sehr. Aber das Haar war wie Gold gewesen, ohne eine einzige Schneeflocke.

Das Kind hatte die rechte Hand ausgestreckt, mit der Handfläche nach oben, als wollte es etwas hineingelegt haben. Es sah aus wie ein Scharwerkerkind, nur zarter. Es hatte ein frohes, lächelndes Gesicht, und es war doch ganz allein am Rand des tiefen Waldes, und nun, wo die Schlittenglocken schwiegen, konnte man in der Ferne die Wölfe hören.

Die Pferde standen still und waren nicht erschrocken.

›Fahr zu, Christoph‹, rief der Herr ungeduldig. ›Es ist spät.‹

Aber der Urahn fuhr nicht. Er hatte seine Hände in den schweren Pelzhandschuhen über den Leinen gefaltet und sah das Kind an. Er hat später gesagt, daß man den Blick nicht von dem Kinde hatte abwenden können.

›Fahr zu, Christoph‹, rief der Herr und stand im Schlitten auf.

Aber der Urahn fuhr nicht. Er nahm die Decke von seinen Knien und hob sie ein bißchen auf, und das Kind setzte seinen Fuß auf die Kufen des Schlittens und setzte sich neben den Urahn. Es lächelte immerzu.

Der Herr war so zornig, daß er sich vergaß. Er war nicht zornig über das Kind, sondern darüber, daß der Urahn nicht gehorcht hatte, aber das Kind war die Ursache davon.

So stand der Herr im Schlitten, aufrecht, in seiner schimmernden Uniform unter dem Pelz, ergriff das Kind bei beiden Schultern und wollte es in den Schnee stoßen.

Aber das Kind rührte sich nicht. Es saß da, blickte auf die Pferde, die große Schatten warfen im Licht der Laternen, und lächelte. Der Urahn hielt die Zügel und sah zu. Er sagte, daß er auch nicht den kleinen Finger seiner Hand bewegen konnte. Es graute ihm ein wenig, aber er hatte nicht Angst.

Dann sprang der Herr mit einem schrecklichen Fluch aus dem Schlitten, und den Fluch hatte er zwischen Krieg und Sterben gelernt. Er stand neben den Kufen, hob beide Arme in die Höhe und wollte das Kind aus dem Schlitten reißen.

Aber das Kind rührte sich nicht. Es hob sogar beide Hände, als ob es zeigen wollte, daß es sich nicht festhalte. Und es lächelte.

Der Schnee fiel immer noch in das Licht der Laternen, und es war so still, daß der Urahn sein Herz klopfen hörte. ›Steigen Sie ein, Herr‹, sagte er leise. ›Um Christi willen, steigen Sie ein!‹

Und das war das Wunder, daß der Freiherr gehorchte. Er stieg ein, und sie fuhren weiter. Der Urahn konnte wieder seine Hände bewegen. Das Kind saß still neben ihm. Keine Schneeflocke war auf seinem goldenen Haar zu sehen.

Aber als sie auf den Hof fuhren, fürchteten sie sich sehr. Denn in dem Augenblick, als der Schlitten unter dem steinernen Wappen war, wurden alle Fenster in dem großen Haus und in allen Katen und Ställen wie mit einem Schlage hell. So hell, daß der ganze Hof im Licht war. In einem Licht, sagte der Urahn, das nicht von der Erde war. Und alle Gutsleute traten aus den Häusern, und in allen Stalltüren waren die Köpfe der Tiere zu sehen, als ob man die Tiere losgebunden hätte. Die Köpfe der Pferde und der Kühe und der Schafe. Und alle sahen ohne einen Laut dem Schlitten zu, wie er in einem großen Bogen vor die Freitreppe fuhr. Und alle sahen das Kind, alle. Da war nicht einer, der es nicht gesehen hätte.

Das Kind stieg zuerst aus dem Schlitten. Aber es stieg nicht, sagte der Urahn, sondern es schwebte. Ohne Schwere, wie eine Schneeflocke. Es drehte sich einmal um zu dem Schlitten und lächelte und ging über den Hof zu der Kate, in der ein Kind am Sterben lag. Sie wußten alle, daß es die Christnacht nicht überleben würde.

Und als das Kind aus dem Schlitten über die Schwelle der Kate trat, erloschen mit einem Schlage alle Lichter auf dem Hof, und die Leute waren wie geblendet und tasteten sich nach den Ställen, um die Tiere wieder festzumachen.

Der Urahn aber stieg aus dem Schlitten und half dem Herrn die Treppe hinauf, weil er allein nicht gehen konnte. Und drinnen, in der großen Halle, wo der Baum stand und die Geweihe und die Bilder hingen und die ausgestopften Vögel, sah der Freiherr sich um wie in einem großen, fremden Wald und sagte mit einer ganz fremden Stimme:

›Ich danke dir, Christoph …‹

Das Scharwerkerkind aber wurde gesund in der Nacht …«

»Ja«, schloß Christoph mit seiner leisen, sanften Stimme, »das war die Nacht, in der der Urahn das Jesuskind fuhr.«

Und er stand auf, nahm eine Kohle aus dem Feuer für seine Pfeife und setzte sich wieder auf den Herdrand.

Die Kerzen brannten nieder, mit ganz unbewegter Flamme, und in der großen Stille konnten sie hören, wie der Frost im Walde das Holz der Bäume spaltete.

»Wenn die Herren es erlauben«, sagte eine andere Frauenstimme nach einer langen Weile, »erzähle noch ein bißchen, Christoph.«

Wieder sah Christoph die Brüder an und nahm die Pfeife aus dem Munde. »Mein Großvater hat so erzählt«, begann er. »Als der Großvater seines Vaters die Pferde fuhr, hatten sie einen Pfarrer in der Gutskirche, der war ein schüchterner und demütiger Mann und sehr arm. Und er hatte sieben Kinder. Und im Schloß lebte nach einem guten Herrn, den sie den ›Heiligen‹ nannten, ein wilder Herr, wie sie manchmal da waren in wilden Zeiten. Und es war noch die Zeit der Leibeigenschaft.

Und am Weihnachtsabend behielt der Herr den Pfarrer zurück, weil es ihm einsam war, und er behielt ihn zurück wie eine Art von Spielzeug, das man aus einem Kasten nehmen oder wieder zurücklegen kann.

Und als der Herr von dem heißen Punsch getrunken hatte, wollte er mit dem Pfarrer ein Würfelspiel machen um ein paar Goldstücke, und er wußte, daß der Pfarrer arm war wie eine Kirchenmaus.

Und der Pfarrer weigerte sich.

Er hatte sich noch nie geweigert, solange er auf dem Gut war, und er wußte, daß es gefährlich war, einen eigenen Willen zu haben. Und er weigerte sich auch nicht, weil er arm war. Er weigerte sich, so sagte er in seiner demütigen Art, weil die Kriegsknechte um den Rock dessen gewürfelt hatten, der in dieser Nacht geboren worden war und in einer Krippe gelegen hatte.

Der Herr sah ihn lange an und schüttelte unterdes die Würfel leise in dem Lederbecher. ›Würfele, Pfarrer!‹ sagte er.

Aber der Pfarrer schüttelte den Kopf.

›Noch einmal sage ich: Würfele, Pfarrer!‹ sagte der Herr, und seine Lippen wurden nun blaß und dünn.

Aber der Pfarrer schüttelte den Kopf und faltete nur die Hände auf dem weißen Tafeltuch.

›Wenn du nicht würfelst und also nicht tust, wie dein Herr dir befiehlt‹, sagte der Freiherr, ›werde ich dich peitschen lassen als meinen ungehorsamen Knecht, und ich werde dir so viel Peitschenhiebe geben lassen, als ich Würfelzahlen aus diesem Becher werfen werde. Würfele also, Pfarrer!‹

Aber der Pfarrer schüttelte den Kopf.

Da stand der Freiherr langsam auf, bewegte den Becher in seiner Hand und ließ die Würfel auf das weiße Tuch rollen. Und er sah immer noch den Pfarrer an und erst nach einer langen Weile auf die Würfel. ›Sieben, Pfarrer‹, sagte er. ›Soviel, wie du Kinder hast, und für jedes Kind wird die Peitsche dich einmal treffen.‹

Und er ließ sein ganzes Gesinde und alle Gutsleute wecken, Männer und Frauen, und sie in den großen Saal kommen. ›Dieser Mann‹, sagte er, ›hat sich geweigert, mit mir zu würfeln, und hat mich als seinen Herrn verachtet. Bindet ihn, damit ich ihn peitschen lasse, siebenmal, nach der Zahl seiner Kinder. Und damit ihr erfahrt, was es heißt, mich zu verachten.‹

Aber die Leute rührten sich nicht. Der Urahn stand in der vordersten Reihe, und er hörte, wie die Männer stöhnten und die Frauen weinten. Aber sie rührten sich nicht.

Der Herr sah sie an, jeden einzelnen von ihnen, und lächelte. ›So wird auch an euch die Reihe kommen‹, sagte er. Und dann rief er den Vogt vor.

Der Vogt war ein harter Mann, noch härter als der Herr, und er weigerte sich nicht.

Er band den Pfarrer an eine der beiden Säulen, die die Decke des Saales trugen, riß ihm das Gewand von den Schultern und schlug ihn siebenmal über den Rücken. Das Blut lief von der weißen Haut, und die Männer und Frauen lagen auf den Knien und beteten. Sie hatten die Augen mit den Händen bedeckt. Der Pfarrer gab keinen Laut von sich.

Als er losgebunden war, trat er an die Tafel, blickte einmal auf die Würfel nieder, die noch so dalagen, wie sie aus dem Becher gerollt waren, zwei, drei, zwei, und dann auf den Freiherrn. ›Betet‹, sagte er leise, ›daß das Kind Euch ansehe diese Nacht, sonst wird es Euch nie mehr ansehen.‹

Und dann ging er mit den Leuten hinaus.

Am nächsten Morgen fuhr der Herr in die Kirche, wie es Sitte war seit undenklicher Zeit. Er ging nicht zu Fuß, obwohl es nicht weiter war, als man einen Stein mit der Schleuder werfen konnte. Der Urahn ging hinter ihm in die Kirche und ließ sein Enkelkind bei den Pferden.

Die Kirche war ganz voll, und der Herr saß in seinem geschnitzten Stuhl und hatte die Hände in den weißen Stulphandschuhen über dem Gesangbuch gefaltet. Es war so still wie in einem Grabe.

Der Pfarrer war bleich, aber sonst war ihm nicht anzumerken, daß ihm etwas widerfahren war.

Als die kleine Orgel nach dem Vorspiel mit der Melodie des Eingangsliedes begann, sah der Pfarrer einmal von seinen gefalteten Händen auf und sah seine Gemeinde an. Denn die Gemeinde sang nicht. Kein Mund öffnete sich, und alle Augen waren stumm auf den Pfarrer gerichtet. Man hörte, daß der Freiherr einmal mit dem Fuß aufstampfte. Man hörte es, weil das silberne Sporenrad klirrte.

Aber dann saß der Freiherr still und sang. Er sang die drei Strophen des geistlichen Liedes, mit seiner hohen, wohlklingenden Stimme, und er sang sie allein mit dem Pfarrer. Niemand sonst bewegte die Lippen. Der Urahn sagte, daß wenige Dinge in seinem Leben so schrecklich gewesen waren wie dies.

Der Pfarrer aber sah den nicht an, der allein außer ihm das Weihnachtslied sang. Er sah seine sieben Kinder an, die mit ihrer Mutter der Kanzel gegenüber saßen, und die Mutter war eine schmale und gebeugte Frau.

Und dann las der Pfarrer das Weihnachtsevangelium vor, aus dem Buche Lukas, und es war, wie es immer gewesen war.

Aber als es zu Ende war, kam das, worunter die Herzen der Gläubigen noch einmal erzitterten, denn der Pfarrer legte das Evangelium nicht aus, sondern er begann, einen leisen und feierlichen Nachruf auf Leib und Leben des verstorbenen Freiherrn Hjalmar von Liljecrona, und der Verstorbene saß ihm gegenüber in dem alten, geschnitzten Eichenstuhl und starrte ihn an wie einen, dem Gott die Sinne verdunkelt hatte.

Er sei gestorben, sagte der Pfarrer, weil er um die Windeln des Kindes in der Krippe gewürfelt habe und weil das Kind seine Augen abgewendet habe von ihm. Und er sei gestorben, weil er nicht nur um die Kleider dieses heiligen Kindes gewürfelt habe, sondern um die Kleider von sieben armen Kindern der Erde, und mit ihnen um die Kleider von siebenzig mal sieben Kindern.

Und so schrecklich sei er gestorben, daß er umhergehe wie ein Lebendiger, ohne von seinem Tode zu wissen, aber daß alle andern in dieser Gemeinde seinen lebenden Leichnam erblickten und vor ihm zur Seite wichen und das Gesicht verhüllten, weil er rieche wie der Tote in der Geschichte vom Lazarus.

Und so weit war der Pfarrer gekommen, als der Freiherr mit einem schrecklichen Fluch auf die Füße sprang und seinen Degen aus der Scheide riß. ›Widerrufe, Pfaffenknecht!‹ schrie er mit einer heiseren Stimme, ›widerrufe!‹

Aber der Pfarrer tat, als sei nur ein Lufthauch durch die Kirche gegangen, und er legte seine Hände zusammen, um für den Toten zu beten und wies seine Gemeinde an, dasselbe zu tun.

Und da geschah das Schreckliche, daß der Freiherr unter die Kanzel sprang und seinen Degen in der Mitte nahm und ihn hinausschleuderte gegen das Herz des Pfarrers.

Nun war in der Kanzelwand eine Mutter Gottes kunstvoll geschnitzt, wie sie das Jesuskind in den Armen hielt und die Hände schützend um seinen Scheitel legte. Und das Schwert, so aus der Nähe es auch geschleudert war, verfehlte den Pfarrer und traf mit der Spitze das Herz des Jesuskindes und zitterte darin für eine Weile wie der Schaft eines Pfeiles, und senkte sich, von dem schweren Handkorb gezogen, und fiel auf die Fichtenbretter und zersprang in tausend Stücke. Und mein Urahn hat es mit vielen andern gesehen, daß aus der Wunde im Holz ein schmaler Blutfaden herunterrann und auf den Boden tropfte und auf den Stahl der Klinge, der sich rötlich färbte.

Und dann, zum erstenmal an diesem Morgen, blickte der Pfarrer den Freiherrn an, der unter ihm stand. Er blickte ihn nicht zornig an und nicht einmal mit einem Vorwurf. Er blickte ihn nur schmerzlich an, wie man das Bild eines Gestorbenen anblickt, und blieb auch so, als der Freiherr schon in die Knie gesunken war, die Hände in den langen, weißen Handschuhen vor das Gesicht geschlagen.

Und so führte er ihn auch hinaus, durch die Gemeinde hindurch, die in die Knie gesunken war, langsam, Schritt für Schritt. Und da der Freiherr sich weigerte, in den Schlitten zu steigen, so führten sie ihn durch den Schnee nach dem Hof, der Pfarrer auf einer Seite, barhaupt und mit einem glücklichen Lächeln, und mein Urahn auf der anderen Seite, die Peitsche in der freien Hand, und mit einem verstörten Gesicht.

Und der Freiherr verwandelte sich von Stund an, wie viele vor ihm sich verwandelt hatten, weil es ihnen so im Blute lag.

»Ja«, schloß Christoph mit seiner leisen, sanften Stimme, »das war die Nacht, in der um das Jesuskind gewürfelt wurde in dem alten Haus …«

Wieder nahm Christoph eine Kohle aus dem Feuer für seine Pfeife, saß still auf dem Herdrand und blickte in die verlöschenden Kerzen.

Sie brachen nun bald auf, und wie sie langsam durch den Schnee davongingen, war es, als gingen die alten Geschichten mit ihnen mit, die Geschichten aus den alten, dunklen Häusern, in denen soviel geschehen war, aber in denen die Menschen noch verwandelt werden konnten, wenn eine Stimme ihr Herz berührte.

Sie gingen nicht traurig fort. Es war ihnen nur, als wären sie für eine Weile aufgehoben gewesen aus diesem fremden Land und zurückgestellt in ihre verlorene Heimat, wo das Jesuskind noch im Schnee an den Waldrändern stehen oder das Menschenschwert empfangen konnte, ohne zu unterliegen.

Die Brüder saßen noch eine kurze Weile an dem Herdfeuer, und Erasmus war der erste, der den Kopf schüttelte. »Wenn man bedenkt«, sagte er grübelnd, »wie sie waren – und sicherlich waren sie so –, dann ist es ein Wunder, wie wir es bestanden haben.«

»Und weißt du, ob wir es bestanden haben?« fragte Amadeus.

Erasmus legte ihm lächelnd die Hand auf die Knie.

»Wir sind so, lieber Bruder«, sagte er liebevoll, »daß es keiner großen Stimme bedarf, um uns zu verwandeln. Sie haben es leichter mit uns. Auch das Jesuskind …«

»Bist du dessen gewiß?« fragte Amadeus.

»Ja, lieber Bruder, ganz gewiß. Und auch du bist es, ohne es zu wissen. Auch du.«

Amadeus sah ihnen von der Schwelle des Schafstalles nach, wie der eine den Berg hinunterstieg und der andere in den Schatten des Waldes vor der Försterei versank. Der Wintermond stand hoch über dem funkelnden Moor, und der Gürtel des Orion leuchtete im Süden über den verschneiten Wäldern. Der Hund bellte wieder auf dem einsamen Gehöft, und für eine Weile dachte der Freiherr Amadeus an das namenlose Dorf, wo nur die Frau und der Hund und der gekreuzigte Pfarrer gewesen waren. Sie waren nun wohl alle drei nicht mehr, sie waren nun wohl schon Symbole geworden, über ihr Sterbliches hinaus.

Und auch an den Weihnachtsbaum des letzten Jahres dachte der Freiherr für eine kurze Zeit. Einen richtigen Baum, den man auf dem Appellplatz aufgestellt hatte und in dessen starken, von Lichtern beschienenen Zweigen der kalte Wind die Körper der drei Gehängten leise bewegt hatte. Und sie hatten um den Baum stehen müssen, viele Stunden lang, ohne Bewegung, Menschen fast aller Nationen, indes die Symbole einer neuen Zeit mit ihren gebrochenen Augen über sie hinweggeblickt hatten, in eine Ferne, die von keinem Lichterglanz erhellt gewesen war.

So sicher war Erasmus gewesen, daß es keiner großen Stimme bedürfe, um sie zu verwandeln. So schrecklich sicher.

Aber der Freiherr Amadeus, als er die schwere Tür wieder hinter sich schloß, war dessen nicht so ganz gewiß.


 << zurück weiter >>