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6

Sie bestanden die Winterszeit, alle, auch der Freiherr Amadeus. Manche bestanden sie, wie man eine Krankheit besteht, mit Geduld und Hoffnung, und manche, wie man eine stille Verlassenheit besteht, die dem Herz und den Gedanken wohltut, nachdem man lange im Lärm oder am Rande des Lärms gelebt hat.

Die Gutsleute schlugen die Bäume, und sie gingen im Morgenrot zu ihrer Arbeit, wie man es im Walde der Heimat getan hatte, die Füße mit Lappen umwickelt, die Axt und die Säge auf der Schulter. Der Atem gefror ihnen vor dem Munde, und um die Mittagszeit machten sie ein Feuer, dessen blauer Rauch still über die Kronen stieg.

Die Frauen fuhren den Torf und das Brennholz in die Dörfer, und aus ihren stillen Gesichtern war niemals abzulesen, ob sie nun schwer am Leben und der Zeit trugen oder leicht. Aber da es mit ihnen immer so gewesen war, daß die Heirat ihre Jugend abschloß und sie unter dem schweren Tagwerk nur selten die Gedanken zurückwenden konnten in eine Zeit, in der das Leben geblüht hatte, so war für sie die große Veränderung vielleicht am leichtesten. Und nur Erdmuthe, die junge Frau des Donelaitis, blieb mitunter hinter dem Schlitten zurück, legte die Hand über die Augen, damit die Sonne sie nicht blende, und blickte sich rings in der flimmernden Öde um, als erwarte sie, am Horizont jemanden zu sehen, einen Boten vielleicht, der mit einer großen Kunde zu ihnen käme. Ihr junges, schönes Gesicht mit dem gelben Haar darüber sah dann weder fröhlich noch traurig aus. Es sah nur so aus, als müßte es nicht hier über das Moor blicken, sondern von dem Kamm der heimatlichen Dünen über das Haff oder vom Strand des Meeres nach dem fernen Horizont, ob nicht ein Segel dort erscheine, ein schmales, weißes oder braunes Dreieck, das wie die Schwinge eines Vogels aussah, und dieser Vogel würde in allen Farben leuchten wie die Vögel in den Märchen ihrer Heimat. Wie ihr Mann stammte sie von dem Ufer des Kurischen Haffes, wo nachts die feurigen Arme der Leuchttürme durch das Dunkel kreisten und wo der Sinn der Menschen ungezähmter und wilder war als in der stillen Sicherheit des Binnenlandes.

Aber wenn die Frauen dann nach ihr riefen, ließ sie die Hand sinken und folgte gehorsam den Spuren der anderen. Und die anderen fragten sie auch nie, was sie sich gedacht habe.

Die Kinder wuchsen still und ein bißchen wild heran, und ganz langsam hörten sie auch auf, im Traume aufzuschreien, bis die Mütter sie an ihr Herz nahmen und mit ihren Händen die schrecklichen Bilder von den Augen wischten, die dort aufgehängt waren wie in einem finsteren und blutigen Saal.

Auch die Frauen in der Försterei bestanden die Winterszeit, und der Freiherr Erasmus wie auch Christoph halfen ihnen ein bißchen dabei. Der Freiherr war nicht mehr der Meinung, daß das Mädchen ihn umbringen wollte, aber an jedem Morgen konnte er von neuem sehen, daß es durch ihn hindurchblickte wie durch eine gläserne Wand. Die Wand bedeutete dem Mädchen nichts, nur die Bilder hinter der Wand, und von ihrer Beschaffenheit hatte Erasmus nicht die geringste Vorstellung.

Der Freiherr Ägidius war Tag und Nacht dabei, das verfallene Reich der Gutsherrschaft wieder aufzurichten, und die Frau hinderte ihn weder daran, noch trieb sie ihn an dazu. Sie fügte sich ohne ein Wort in jeden seiner Pläne, und die Güte war unverändert, mit der sie ihn ansprach, ihm Raum ließ, ihn mit Wärme und Dankbarkeit umgab.

Amadeus schließlich hatte sein Leben im Äußerlichen nicht geändert. Er traf nun auf keine fremde Spur mehr im Moor, und am Abend saß er über seine Blätter gebeugt und versuchte, die Fäden seines Lebens und der Zeit zu entwirren, und es erschien ihm doch wie ein Wunder, daß man in einer kleinen Handschrift, in einer fortlaufenden Bewegung der Hand gleichsam, das Verrinnende des Lebens festhalten konnte, nicht nur seine Bilder, sondern auch das, was unter den Bildern lebendig gewesen war: den Schlag seines Herzens und vieler anderer Herzen und die unmeßbare und unzählbare Vielfalt der Gedanken, Gefühle, Hoffnungen und Verzweiflungen, die mit diesem Schlag der Herzen durch das Blut gegangen war.

So wie es ein unbegreifliches Wunder war, wenn unter den Bogenstrichen der Instrumente die unsichtbare Welt aufstand, das in keiner Notenschrift Auszudrückende, weil die Schrift ja nur die Schwingungen der Saiten an das menschliche Ohr trug, klare und mathematisch zu berechnende Schwingungen, die aber in sich nichts mit dem zu tun hatten, was nun aus dem Ohr in die Seele glitt, um dort die Wunder des Daseins hervorzurufen und aufzubauen, eine ganze, große, ungeheure und bezaubernde Welt.

Es verlangte ihn auch nach keiner andern Arbeit, der des »Aufbaus« etwa, von der die Zeitungen soviel schrieben. Er hatte schon nach dem ersten großen Krieg erfahren, wie die Flut der Worte sich über die Trümmer stürzte und wie man auf eine verhängnisvolle Weise vergessen hatte, das eigene kleine Leben aufzubauen als das, was einem zunächst und als das Wichtigste in die Hände gelegt worden war. Und aus der tausendfachen Vielfalt dieser kleinen, nicht aufgebauten Leben war dann das Schreckliche aufgestanden, das die Erde verwüstet hatte und mit der Erde die Herzen.

Er nahm es ruhig auf sich, daß er nun »nichts tat«, wie man das draußen nennen würde und immer genannt hatte. Er nahm es deshalb ruhig auf sich, weil er sich zu jeder Stunde dunkel bewußt war, daß ihm etwas Großes vorschwebte: die zerschnittenen Wurzeln noch einmal in die Erde zu senken und reif zu werden. Ein reifes Alter zu gewinnen schien ihm eine ungeheure Aufgabe zu sein, und er glaubte auch, daß aus einem reifen Alter die Körner so still zur Erde fallen würden wie in einem Weizenfeld, das nicht rechtzeitig geschnitten worden war: Es machte vielleicht keinen sehr großen Unterschied, ob sie nun eine Speise der Vögel oder der Menschen wurden. Es kam nur darauf an, daß sie da waren und daß das Korn nicht »taub« wurde. Vor allem aber, daß es nicht bitter wurde.

Denn das vermochte er auch in seiner Abgeschiedenheit zu erkennen, daß das Land und die ganze Zeit von Bitterkeit erfüllt waren, und es war nicht nur Bitterkeit der Besiegten oder Vertriebenen, die die Zeit erfüllte. Ihnen war nur ein Becher entzogen worden, nach dem sie die Hand schon ausgestreckt hatten. Ihnen war nur der »Reichtum der Erde« entzogen worden. Aber die wenigsten begriffen, daß das kein Korn war, was man ihnen fortnahm. Man hatte das Gesicht des Menschen auf eine entscheidende Weise verändert. Was die Zeit und ihre Dämonen zurückgelassen hatten, war ein Menschengesicht, das nicht mehr reifen konnte, das kein Alter mehr hatte und damit auch keine Zukunft.

Was in den Baracken und Höhlen lebte, war nicht verstört, weil es kein Haus, kein Brot und kein Kleid hatte, sondern weil es nicht mehr in der Stille reifen konnte, weil es sich die Bank im Abendschein nicht mehr vorstellen konnte, auf der man mit gefalteten Händen saß, indes die Vögel und die Kinder auf der Erde vor der Bank saßen, um ihr Abendkorn zu empfangen.

Und die Sieger waren verstört, weil der Lohn des Sieges ihnen in den Händen zerfiel als ein zeitlicher und vergänglicher Lohn, und in den Händen blieb nur die Angst vor der Welt, vor dem schrecklichen, in Einsamkeit versteinten Gesicht der Welt. Einer Welt, die morgen schon die nächste Katastrophe heraufbringen konnte, weil Katastrophen nicht mit Geschützen und Flugzeugen abgewendet werden konnten, sondern nur mit der stillen und fast heiligen Kraft der einzelnen reif und gütig gewordenen Menschenleben. Sieg der Waffen war wie Spreu über der Tenne der Erde, selbst wenn er mit dem Geist gewonnen worden war. Sieg der Herzen aber war das einzige, das auch die Dämonen bezwingen konnte.

Und wo war der Sieg der Herzen in der Welt?

So war dem Freiherrn Amadeus nicht darum angst, ob er etwas tat oder nicht tat. Es war ihm nur darum angst, ob er sich verwandeln oder verwandelt werden würde wie jene, von denen Christoph als einem Beispiel erzählt hatte. Nicht daß er sich aus einem Wolf in ein Lamm verwandeln würde, aber in jemanden, der der Wölfe und Lämmer Meister war. Nicht ein Meister durch Gewalt, sondern durch die Erkenntnis, daß Wölfe und Lämmer in den Kreis der Schöpfung gehörten und daß Reife nicht bedeutete, die einen zu hassen und die anderen zu lieben, sondern es dahinzubringen, daß das Böse gleichsam auswanderte aus der Welt, weil es fremd war in der Welt und es sich nicht mehr lohnte, um ein Lamm zu kämpfen.

Auch dies erkannte der Freiherr über seinen Blättern und in dem Schweigen des Moores: daß, wer in einer harten Zeit hart wurde, die Zeit nicht bezwang, sondern ein Mitspieler und also ein Knecht der Zeit wurde. Die Harten und die Spieler gewannen kein Korn. Sie gewannen nur Beute oder Gold. Und auch die Gleichgültigen gewannen nichts, auch die Redner nicht, auch die Propheten und Sieger nicht. Aber Jakob hatte Korn gewonnen, obwohl er verloren hatte, was auf dem Esel gesessen hatte, um nach Ägypten zu fliehen. Er hatte den schmalen Raum in seinem Gesicht gewonnen, auf dem Gott ruhen konnte, wenn seine Füße müde waren. Und die Zeit war so, daß auch Gottes Füße müde werden konnten. Und er hatte nicht nur Korn gewonnen, er hatte auch die Angst verloren. Er hatte tiefer und dauernder gesiegt als alle Sieger dieses Krieges. Er war die reife Ähre in einem unreifen oder tauben Feld.

Amadeus erinnerte sich an etwas, das er lange Zeit wieder vergessen hatte. Er erinnerte sich an das Gesicht des Mädchens, als es zum erstenmal mit der Mutter bei ihm gewesen war. Er hatte zum Abschied ein paar Worte zu dem Mädchen gesprochen, aber er hatte die Worte vergessen. Er erinnerte sich nur des Gesichtes, mit dem das Mädchen die Worte empfangen hatte. Es war ihm wie ein erfrorenes Gesicht vorgekommen, und er hatte gefühlt, daß der Haß es zum Gefrieren gebracht hatte. Es war ganz gleichgültig, welcher Art der Haß gewesen war und welche Quelle er gehabt hatte. Vor seinen Augen stand nur das Gesicht, in dem der Haß Herr geworden war.

Und als sie wieder gegangen war, hatte er den zerbrochenen Spiegel genommen, den er besaß, und für eine Weile hineingesehen. Und damals hatte er gedacht, daß er nicht so aussehen möchte wie das Mädchen, niemals, und schon gar nicht im Alter. Er hatte nicht daran gedacht, ob er nun hassen oder nicht hassen sollte. Er hatte nur gedacht, daß er nicht mit einem solchen Gesicht in der kleinen Kammer oder auf dem Moor leben möchte. Er hatte gedacht, daß er wohl nicht vermeiden konnte, sich vor den Menschen zu fürchten, aber daß er sich doch nicht vor sich selbst fürchten möchte. Wie sollte es denn ein Leben geben, wenn man sich vor seinem eigenen Gesicht fürchten müßte?

Daran erinnerte er sich nun, und es erfüllte ihn doch mit einer leisen Hoffnung, daß er sich gerade daran erinnerte. Es war nicht hindurchgefallen durch ihn wie durch ein großmaschiges Sieb. Es war bewahrt geblieben, und zur richtigen Stunde tauchte es wieder auf.

Was er von den Dingen der Welt erfuhr, machte ihn nicht geselliger. Es machte ihn auch nicht unsicher. Kelley brachte ihm Zeitungen und Bücher, Jakob und Erasmus brachten ihm Geschichten. Er hörte zu, und er las die Zeitungen und Bücher. Und hin und wieder kam auch jemand zu ihm unter dem Vorwand eines amtlichen Anlasses. Der Flüchtlings-Kommissar oder der Landrat oder ein Vertreter der »Opfer des Nazi-Regimes«. Er sah sie an, während sie sprachen, und er hörte auch zu. Aber er fühlte doch, daß sie »am andern Ufer« waren. Er konnte ihre Stimme noch vernehmen, aber zwischen ihnen und ihm war der Strom. Er wußte nicht genau, ob es der Strom der Zeit war, oder wie man ihn nennen sollte. Aber er war da, eine dunkle, geheimnisvoll ziehende Flut, und er sah weder eine Brücke noch eine Furt.

Er erkannte nur klarer, was wie eine Ahnung in ihm gelegen hatte: daß mit dem Sieg der Waffen nichts oder nur wenig gewonnen worden war. Daß die Akrobaten und Gaukler und Taschenspieler immer noch auf der Bühne standen, wie sie wahrscheinlich schon ein paar Jahrhunderte dort gestanden waren. Die der Politik und der Kunst, der Weltanschauungen und der Worte. Besonders aber der Worte. Daß die ungeheure Kluft zwischen Wort und Leben nicht zugeschüttet worden war. Daß die Gaukler mit den Worten jonglierten, um die Zuschauer zu überzeugen, daß die Worte das Leben bedeuteten. Und daß sie wieder abtraten von der Bühne, die Hände mit Gold, aber nicht mit Korn gefüllt, um andern Gauklern Platz zu machen. Denn im Hintergrund saß etwas Verhülltes, die Frau auf der Kirchenschwelle etwa, und vor ihrem weißen Gesicht ging alles Gaukelspiel zu Ende.

Er tat also nichts, der Freiherr Amadeus, nur daß er schrieb und grübelte und ein bißchen auf sein Gesicht achtete. Daß er also versuchte, abseits der Gaukler sein Leben wiederzugewinnen, das er verloren hatte. Und daß er es nicht unter Plakaten oder Überschriften tat, wie dem Plakat der »Demokratie« oder dem der »Freiheit«, sondern ohne Überschrift gleichsam, aus dem Herzen heraus. Aus der Summe und Vielfalt dessen heraus, das die Vorfahren ihm vererbt und hinterlassen hatten, und mit der Einfachheit der versunkenen Zeiten, in denen etwa Christophs Urahn das Jesuskind gefahren hatte und in denen Menschen »verwandelt« worden waren, die niemals an eine Verwandlung gedacht hatten.

Und damit bestand nun auch der Freiherr Amadeus die Winterszeit, ohne zu meinen, daß nach den letzten Schneestürmen sein Korn gleich aufgehen und Frucht tragen würde.

Auch geschahen, als der Schnee geschmolzen war, ein paar Dinge am Rande seines Lebens, die ihre Schatten bis an die Schwelle des Schafstalles warfen. Das erste war, daß das Schloß von den Siegern freigegeben und von den örtlichen Behörden für die Vertriebenen beschlagnahmt wurde. Das zweite war, daß Ägidius bei einem abendlichen Besuch ankündigte, er werde die Frau, deren Besitz er verwaltete, heiraten. Das dritte war, daß am Rande des Moores »der Dunkle« auftauchte, wie die Leute in der Landschaft ihn nannten.

Bei dem ersten Ereignis zeigte sich, daß Erasmus der zweite der Brüder war, der etwas »tun« konnte. Er führte die Verhandlungen, eine Unzahl von Verhandlungen. Er teilte die Räume ein, ließ sie von den Frauen säubern und instand setzen und trug mit ihnen und Christoph den nötigen Hausrat von einem Flügel in den andern. Und er nahm auch das Angebot der Behörden an, in den beiden kleinen Zimmern zu wohnen, die man ihm überlassen wollte. Christoph sollte mit ihm ziehen, aber zum erstenmal weigerte er sich. Er wolle bei den beiden Frauen bleiben, sagte er, die ihn nötig hätten. Er wolle nicht in einem Schloß leben, das ihm nicht zustehe. Und er wolle auch nicht so weit von dem jüngsten der Herren fortgehen, der ihn doch vielleicht brauchen könnte. Und diesem letzten der Gründe fügte Erasmus sich sofort.

Er kam nun ab und zu am Abend zum Schafstall hinauf, saß in der warmen Frühlingsluft auf der Schwelle und erzählte. »Du kannst es dir nicht vorstellen, lieber Bruder«, sagte er mit seinem gütigen, etwas melancholischen Lächeln. »Wie der liebe Gott das mit der Arche Noah gemacht hat, weiß ich nicht. Aber es war eben der liebe Gott. Dieses aber, was sich nun dort versammelt und eingerichtet hat, geht über meine Kraft und meine Begriffe. Ich versuche ein bißchen, es zu lenken, aber wie willst du eine Schwadron lenken, die am Durchgehen ist? Ich habe Kommerzienräte und Landstreicher, Exzellenzen und Zigarrenhändler, Akrobaten und Gelehrte, einen wirklichen Grafen und einen wirklichen Dichter. Sie wimmeln unter meinen Augen herum wie Karpfen nach einem Fischzug, und wie Karpfen schnappen sie nach Luft. Das ist, was dir am ersten bei ihnen auffällt. Aber jeder tut es auf eine andere Weise, nur daß die meisten es auf eine laute Weise tun. Ich habe nicht gewußt, wieviel Lärm es in einem kleinen Winkel dieser Erde geben kann.«

»Und weshalb bleibst du da?« fragte Amadeus.

»Ja, lieber Bruder, es ist mir doch wie eine Art von Pflicht«, erwiderte Erasmus und blickte in das Abendrot. »Sieh, ich bin vielleicht der einzige dort, der nichts für sich haben will, nicht einmal meine kleinen Zimmer, denn es war viel schöner bei den Frauen im Forsthaus. Aber ich denke mir, wenn sie nun sehen, daß ich im Frieden lebe, dann könnte es ihnen vielleicht ein bißchen helfen, auch den Frieden zu gewinnen.«

»Und sie haben keinen Frieden?«

»Sie würden einander am liebsten die Haare ausreißen, Bruder. Besonders die Frauen. Ich habe nicht gewußt, wieviel Aktivität in einer Frau steckt.«

»Du hättest es in den letzten zwölf Jahren ein bißchen lernen können«, sagte Amadeus lächelnd.

»Ich weiß, ich weiß«, erwiderte Erasmus. »Aber sieh, wir sind doch nun einmal so, daß wir nicht gern auf die Jahrmärkte gegangen sind. Wir haben unseren Verwalter und unsere Leute hingeschickt mit dem, was wir zu verkaufen hatten, aber wir sind nicht gern Karussell gefahren, nicht wahr? Wir mochten diese Musik nicht, und daß rechts und links von uns Leute auf den kleinen Pferden saßen. Wir waren wohl doch zu hochmütig, lieber Bruder.«

»Ich denke nicht, daß wir hochmütig waren«, sagte Amadeus. »Wir waren nur still, und die Stillen gehen eben nicht gern auf einen Jahrmarkt. Wir haben viele Gelegenheiten versäumt, zu lernen, und wir müssen das eben nachholen.«

»Meinst du, lieber Bruder?« fragte Erasmus zweifelnd. »Nun ja, ich will es ja auch, und ich gebe mir ja auch Mühe. Aber siehst du, wenn nun eine der Frauen zu mir kommt, um ›ihr Recht zu bekommen‹, wie sie das nennen, und sie hat einen Scheuerlappen in der Hand, dann denke ich immer, daß sie gekommen ist, um mich umzubringen. Um mir das Scheuertuch in den Mund zu stopfen und ganz behaglich zuzusehen, wie ich daran ersticke. Sie haben Augen wie Wölfe, lieber Bruder.«

»Auch in der Försterei hast du gedacht, daß das Mädchen dich umbringen wollte, lieber Bruder«, sagte Amadeus. »Ich glaube nicht, daß jemand dich umbringen will.«

»Ja, das sagst du so«, erwiderte Erasmus grübelnd. »Du hast sie nicht gesehen. Ich träume von ihnen, aber ich kann doch nicht fortgehen. Ich bin schon einmal fortgegangen, und es ist nun wohl eine Art von Buße. Aber es ist ein strenger und gerechter Gott, der sie verhängt hat, das merke ich nun. Es ist wie im Alten Testament.«

»Du mußt dich damit trösten, daß ich es nicht könnte, lieber Bruder«, sagte Amadeus. »Du bist mehr als ich. Und wenn es unter uns auch nicht üblich war, zu vergleichen, liegt doch vielleicht ein Trost darin.«

»Mehr zu sein als du wird niemals ein Trost für mich sein, lieber Bruder«, sagte Erasmus und stand auf. Es war, als hätte er alles vergessen, die Frauen und ihre Scheuertücher, wie er so dastand und sein ganzes Gesicht von dem Lächeln erleuchtet war, mit dem er auf Amadeus niederblickte.

»Ich denke, es ist dieses«, sagte er nach einer Weile, in der er wieder in sein Grübeln zurückgefallen war, »daß sie so kompakt sind. Verstehst du, lieber Bruder? Es ist niemals ein einzelner da. Es ist, als ob der Neid oder die Gier oder der Haß alle Menschen zu Geschwistern macht. Sie sehen sich dann so schrecklich ähnlich. Und wenn die Frauen zu mir kommen, sehe ich immer dreißig oder dreihundert, und sie haben sechshundert Augen und sechshundert Hände und dreihundert Scheuertücher. Es ist zuviel für mich, und es ist nur ein Glück, daß Christoph doch den größten Teil des Tages da ist. Er sieht so ruhig und stark aus in dem langen blauen Rock mit den silbernen Knöpfen. Und mit dem weißen Haar darüber. Und wer so oft wie er sechs junge Pferde gefahren hat, nimmt es auch mit sechs Frauen auf. Ich fürchte, daß wir selbst doch unsern Zoll an die Jahrhunderte, ja an die Zeit im allgemeinen bezahlt haben. Wir hatten keine Angst vor sechs Morgensternen oder sechs Hellebarden oder Sensen, aber vor sechs Frauen haben wir Angst. Unser Adel ist zu zart geworden, weißt du, zu empfindlich. Wir haben allzulang Handschuhe getragen.«

»Ich denke mir, daß wir nur nicht ganz mitgekommen sind, lieber Bruder«, sagte Amadeus. »Die andern sind zu schnell gegangen. Wir haben uns immer zuviel umgesehen. Nach einem Kind, das am Wegrand saß mit wunden Füßen. Oder nach einer Stelle in der Bibel. Oder nach etwas, was der Vater gesagt hat. Die andern brauchen sich nicht umzusehen. Sie sind ›mit der Zeit‹ mitgegangen. Sie lächeln ein bißchen über die, die es noch mit dem Herzen halten. Sie sind auch am leichtesten durch die Lager gegangen.

Aber wenn wir nun auch ein bißchen hinterherkommen, lieber Bruder, so wollen wir uns dessen doch nicht schämen. Es wird so viel fortgeworfen und verloren auf dem Weg der sogenannten ›Zeit‹, und es ist doch ganz gut, wenn jemand da ist, der es aufhebt. Ich denke mir immer, daß noch einmal die Zeit kommen wird, in der die Menschen plötzlich entdecken werden, daß sie etwas verloren haben, das hinter ihnen und nicht vor ihnen liegt. Daß ein Augenblick in ihrem Leben kommen könnte, in dem sie die Short-Stories oder die Best-Sellers aus der Hand legen und sich an einen Gesangbuchvers zu erinnern versuchen, den sie als Kinder noch gelernt haben. Daß sie das Radio einmal abstellen und in dem ungeheuren Schweigen, das darauf folgt, wie verlassene Gespenster dasitzen, und wenn sie sich umsehen, können sie nichts als andere Gespenster sehen, die gleich ihnen vor den schweigenden Apparaten des Lärmes sitzen. Ein Kühlschrank ist doch nicht dasselbe wie der schwarze Seidenrock der Großmutter, in dessen Falten sie als Kinder das Gesicht verborgen haben, wenn sie Angst hatten.

Und die Angst wird kommen, lieber Bruder, sie ist schon da mit ihrem ersten kalten Atemzug. Die ungeheure Angst vor der schrecklichen Einsamkeit des Menschengeschlechtes, das die Großmutter und den lieben Gott abgesetzt hat, um statt dessen die Atome zu zertrümmern oder Raketen nach dem Mond zu schießen.

Und wenn das sein wird, lieber Bruder, werden sie sich umsehen, wie Gespenster sich umsehen, und dann werden sie vielleicht zu denen gehen, die die alten Dinge im Staub der Straße aufgehoben und bewahrt haben. ›Wie war es damals?‹ werden sie fragen. ›Ist es wirklich wahr, daß es damals anders war? Tut eure Hände auf, damit wir das noch einmal sehen, was damals war.‹

Und dann werden wir es vielleicht sein, lieber Bruder, die die Hände auftun werden, wir oder unsere Enkel. Es braucht nicht der Adel zu sein, der gefunden und bewahrt hat und nun die Hände auftut. Aber ihm wird es am leichtesten fallen, weil er dazu erzogen war, Achtung vor den Jahrhunderten zu haben. Über ihm haben die Geschlechter am meisten gewacht. Die Geschlechter hielten die Waage in der Hand, nicht die Leute, die Leitartikel geschrieben haben. Sie hielten auch die Gesangbuchverse noch in der Hand, die alten Lieder, die alten Melodien. Und auch die alten Gesetze. Nicht das Gesetz, daß die Schwachen ausgerottet werden müßten, sondern das alte Gesetz, daß man die Hand über die Schwachen zu halten habe.

Nicht alle von uns haben es bewahrt, die wenigsten vielleicht. Aber das solltest du doch wissen, lieber Bruder, daß es mir schön war, deine Hände anzusehen, als ich wieder zurückkam. Es gibt wenige Hände heute in der Welt, die so ganz sauber geblieben sind, weder bei den Siegern noch bei den Besiegten. Es geht nicht nur um die Hände der Soldaten oder der Politiker. Es geht um viel mehr Hände. Sieh, ich frage mich immer bei den Büchern, die Kelley mir bringt, ob die Leute, die sie geschrieben haben, nun besser beim Schreiben geworden sind. Verstehst du das? Vielleicht waren sie alle glücklich, daß eine große Arbeit nun beendet war und daß sie Ruhm und Geld gewinnen würden. Aber waren ihre Gesichter reiner geworden, ihre Herzen, ihre Hände? Und das sollten sie doch bei einem guten Buch. Ich denke mir, daß Claudius oder Bruckner oder Mozart ein schönes Gesicht gehabt haben, als sie die Feder fortlegten. So wie ein Engel, der seine Botschaft ausgerichtet hat und die Flügel wieder auftut.

Aber bei denen von heute kann ich es mir nicht denken. Ich kann mir nur denken, daß sie lächeln würden, wenn jemand ihnen das sagte. So wie sie lächeln würden, wenn ihr Enkelkind sie fragen würde, ob sie fromm seien. Kein gutes Lächeln, nur ein Lächeln der Zeit. Nicht so, wie Christoph lächelt, wenn er von dem Urahn erzählt, der das Jesuskind fuhr.

Aber du hast es noch, lieber Bruder. Du hast es auch, wenn die Frauen mit den Scheuertüchern kommen. Und deshalb wird dich niemand umbringen. Weil es nämlich ein ewiges und unsterbliches Lächeln gibt.«

Erasmus stand immer noch da, wie er zu Beginn dagestanden hatte, die Augen in das Abendrot gerichtet. Aber wie er sich nun zu Amadeus zurückwendete, war es doch, als habe sein Gesicht das ganze Abendrot in sich aufgetrunken. »Und ich sollte mehr sein als du, lieber Bruder?« fragte er leise. »Weißt du denn nicht, daß Ägidius und ich nur weitergehen, wie wir immer gegangen sind, und daß du in der Verwandlung bist?«

Er beugte sich zu dem Sitzenden nieder und sah ihn an. »Zu dir würde das Jesuskind auf den Schlitten steigen, lieber Bruder«, sagte er.

Und dann nickte er ihm zu und stieg den Berg hinunter.

Und eines Abends kam also Ägidius zum Schafstall hinaufgestiegen und brachte Erasmus mit, und sie merkten beide, daß er etwas auf dem Herzen hatte. Es ging nicht die alte Ruhe und Sicherheit von ihm aus, und das machte sie sehr betroffen. Er war doch so etwas wie die unerschütterliche Achse ihres Lebens. Einer, der Korn gesät und geerntet hatte sein ganzes Leben lang, indessen sie in ihre Träume versponnen gewesen waren.

Auch wollte er gern vor dem Feuer sitzen, obwohl der Abend still und milde war. Noch ohne Sterne, aber mit der schönen Weite des Moores gefüllt, über dem die Heidelerche noch sang.

»Es wird euch verwundern, wie es mich selbst verwundert hat«, begann er endlich und blickte in die Flamme des Herdes. »Aber mit uns ist es nun doch wohl so, daß keiner von uns das Recht hat, so ohne weiteres aus dem dreiflügeligen Bild herauszutreten. Es ist mir so, als seien zwei von uns immer Vater und Mutter für den dritten, gleichviel wer von uns der dritte ist. Und ich muß euch nun fragen. Früher nannte man das einen Konsens, beim Offizierskorps etwa, und um einen Konsens möchte ich euch nun bitten.«

»Ich denke, daß du heiraten willst, lieber Bruder«, sagte Amadeus ruhig.

»Ja, das will ich. Und das merkwürdige ist, daß sie selbst es vorgeschlagen hat. Nicht auf eine begehrliche oder aggressive Weise etwa, sondern so ganz still wie eine Selbstverständlichkeit. Sie hat gesagt, daß es ihr schwer, ja, daß es ihr wahrscheinlich unmöglich sein würde, mich anders als so im Hause zu haben. Aber sie würde durchaus verstehen, wenn ich nicht wollte. Sie würde verstehen, daß ein Liljecrona sich lieber mit einer andern Frau zeigen würde als mit ihr. Sie hat es alles ganz ruhig gesagt, aber es war doch zu merken, daß es sie eine schreckliche Überwindung kostete. Ja, daß sie wie durch Feuer ging, wie man zu sagen pflegt.«

Amadeus behielt sein unbewegtes Gesicht, aber Erasmus war völlig überwältigt. Nicht nur, daß er erschrocken war, sondern daß er mit einer Art von Verzweiflung auf den Bruder blickte wie auf jemanden, den er liebhatte und dessen Gesicht nun vom Tode gezeichnet war.

»Ihr müßt nun etwas sagen«, bat Ägidius nach einem langen Schweigen. »Es ist nicht ganz leicht für mich, daß ihr nichts sagt …«

Erasmus sah ihn schnell von der Seite an, und seine Lippen fanden das alte Lächeln wieder, auch wenn es ein etwas mühsames Lächeln war. »Du solltest nicht fragen, lieber Bruder«, sagte er. »Wer sind wir, daß du uns zu fragen hättest? Und so wie du immer, ohne jemanden zu fragen, gewußt hast, wann es Zeit war, zu säen oder zu ernten, so wirst du es auch hierbei wissen. Es ist nur, daß ich … etwas Angst habe, lieber Bruder. Nicht daß du ganz fortgehst und nur ein Gast bei uns sein wirst, sondern daß du es nun auf dich nimmst, das Unlösliche. Und daß du es ganz allein auf dich nimmst. Wir können dir nun nicht mehr helfen dabei, wenn du Hilfe brauchen solltest. Frauen sind so gefährliche Wesen, lieber Bruder …«

»Sie ist nicht gefährlich«, erwiderte Ägidius ruhig.

»Ich weiß, ich weiß«, sagte Erasmus schnell. »Sicherlich ist sie ein guter Mensch, aber hat sie nicht doch etwas Bedrohliches, etwas … Antikes, möchte ich sagen?«

Ägidius sah ihn lächelnd an. »Du brauchst nicht den Speer mit ihr zu schleudern, lieber Bruder«, sagte er. »Oder den Stein zu werfen. Und sie wird dir auch nicht das Haupt abschlagen, wenn du verlierst. Ich möchte nur gern, daß du ihr deine Hand reichst, und daß du sagst: ›Sei willkommen unter uns.‹ Denn darauf kommt es doch an, daß ihr nicht sagen könnt: ›Sei willkommen bei mir!‹ Sondern daß ihr sagen müßt: ›Sei willkommen unter uns!‹ Weil wir doch eben Brüder sind, Erasmus, wirkliche Brüder, fast wie im Märchen, und nicht Brüder in einem aufgeklärten Jahrhundert.«

Erasmus war beschämt, und er streckte seine Hand aus. »Vergib, lieber Bruder«, sagte er. »Es ist nun alles gut. Es ist mein Fehler, daß ich nicht immer zuerst das Herz ansehe. Es kommt vielleicht von meinem Beruf her. Und vielleicht auch, daß ich nicht weiß, was dein Herz dazu sagt. Aber das brauche ich nicht zu wissen.«

Darauf blieb Ägidius die Antwort schuldig und fuhr nun fort, in das Feuer zu blicken.

»Ich denke mir, lieber Bruder«, sagte Amadeus endlich, »daß du die Felder heiratest und nicht die Frau.«

Er sagte es ganz ohne Vorwurf, aber es war doch zu sehen, daß es Ägidius traf. »Es ist etwas Richtiges dabei«, erwiderte er, »und deshalb bin ich ja auch gekommen. Ihr habt immer gesagt, daß ich der Stärkste sei, der Verläßlichste und Ruhigste. Das bin ich nicht. Ich war es vielleicht, solange ich die Felder hatte. Felder geben immer Ruhe und Stärke. Aber dann war ich ohne Wurzeln, ich weiß es selbst am besten. ›Sprach der erste: Sie ist mein.‹ Das war ich. Ich sagte nicht: ›Wie Gott will.‹«

»Wir wollen es nun für dich sagen, lieber Bruder«, antwortete Amadeus nach einer Weile.

Das Feuer brannte langsam herunter, und durch die offene Tür kamen die Stimmen der Nachtvögel herein, die über dem Moor kreisten oder nach Norden zogen. Sie lauschten den vergehenden Rufen und fuhren fort, in das Feuer zu blicken. Sie wußten, daß es eine ebenso ernste Stunde war wie die, in der man den Bruder gefesselt fortgeführt hatte oder in der sie die Pferde vor den beladenen Schlitten gespannt hatten. Sie wußten nicht, ob sie einander so wiedersehen würden, daß sie ohne Mühe ihre alten Plätze in dem Dreitafelbild würden einnehmen können.

»Ist es adlig?« fragte Ägidius nach einer Weile und faltete die Hände zwischen den Knien.

»Glaubst du, daß du jemals etwas Unadliges tun könntest, lieber Bruder?« fragte Erasmus. »Den Acker zu bestellen und die Wehrlosen zu schützen war immer ein adliges Amt.«

»Auch wenn ich einen Menschen erschlüge, würdest du sagen, daß es adlig sei, lieber Bruder. Für mich wenigstens«, erwiderte Ägidius. »Du bist der reinste von uns. So rein, daß du noch aus einem Flecken das Stück einer goldenen Krone machen würdest.«

»Das weiß ich nicht, lieber Bruder«, erwiderte Erasmus lächelnd. »Im Schloß habe ich aus den Scheuertüchern noch keine Kronen gemacht.«

»Aber bei mir, lieber Bruder, bei mir. Darauf kommt es an.«

Als der Mond aufgegangen war, erhob Ägidius sich von seinem Platz. »Ich danke euch«, sagte er. »Wenn sie einmal kommt, laßt sie so vor dem Feuer sitzen wie mich. Sie wird mehr Angst haben als ich.«

»Sie braucht keine Angst zu haben, lieber Bruder«, sagte Erasmus. »Wer deinen Namen trägt, braucht nicht Angst zu haben.«

Und das dritte war nun, daß »der Dunkle« auftauchte. Die Leute, die ihn gesehen hatten, nannten ihn so, weil sein Gesicht geschwärzt und verhüllt war. Er erschien zur Nachtzeit auf den einsamen Höfen, klopfte und verlangte Einlaß. Wenn man ihm gehorchte, ließ er sich Lebensmittel, und was ihm sonst nötig schien, in seinen Rucksack legen und verschwand. Wenn man ihm nicht gehorchte, sprengte er das Schloß der Haustür mit einem Pistolenschuß und nahm sich selbst, was er brauchte. Wenn sich Widerstand gegen ihn erhob, schoß er ohne Besinnen und ohne Warnung. Man wußte sehr bald, daß ein Menschenleben für ihn soviel war wie ein Sandkorn, das man von der Hand blies.

Nach seiner Sprache wurde er für einen Norddeutschen gehalten. Die Leute wußten nur, daß er groß und schlank war.

Zweimal war er in der Dämmerung gesehen worden, einmal am Morgen, einmal am Abend. Und beide Male am Rand des Moores, dort wo es nach der Erfahrung der Landschaft unzugänglich und todbringend war.

Ein paarmal wurde das Moor von amerikanischen Soldaten umstellt und langsam durchgetrieben. Aber es gab große Strecken, die keines Menschen Fuß trugen und in die man nicht hineinblicken konnte, weil große Schilfwälder ringsherum standen. Auch waren Raub, Plünderung und Mord noch so an der Tagesordnung, daß die Erscheinung des »Dunklen« nichts Außergewöhnliches bedeutete außer für diejenigen, die es gerade betraf. Was die Sieger auf seine Existenz achten ließ, war nur die Meinung der Leute, daß es sich nicht um einen fremdländischen Räuber aus den Lagern handle, sondern um einen »Eingeborenen« und daß sie unter ihm irgendeinen der großen Namen und Henker der vergangenen Jahre vermuteten.

Amadeus erfuhr es erst durch Kelley, und dieser bat ihn, sich doch etwas darum zu bekümmern, da niemand das Moor so kenne wie er. Wenn die Atlantik-Charta bei den Siegern so schlecht aufgehoben sei, meinte er mit seinem halb spöttischen, halb melancholischen Lächeln, so möchte er sie doch gern, ehe er in die Staaten zurückkehren müsse, in die Hände des Freiherrn Amadeus legen.

»Um Ihretwillen kann ich mich bekümmern«, sagte Amadeus. »Nicht um meinetwillen.«

»Vielleicht weder eines noch das andere«, erwiderte Kelley ernst. »Sondern um der Kinder willen, die keine Nacht ruhig schlafen. ›Liberty from fear‹ ist ein schönes Wort, und vielleicht ist es bei Ihnen besser aufgehoben als bei einem amerikanischen General, der wenig Zeit hat, sich um Kinder zu kümmern.«

Darauf versprach Amadeus es.

Aber es verwunderte ihn, daß es ihn nun auf eine andere Weise bewegte, als es noch vor einem Jahr der Fall gewesen wäre. Es bewegte ihn nur so, als ob es sich um einen Wolf oder ein anderes Raubtier handelte. Er konnte sich keinen Menschen unter dem »Dunklen« vorstellen. Es war ihm, als hätte sich schon der große Schatten der Zeit über das Menschliche gelegt. Es kam ihm nicht mehr zu, die Henker zu richten, wenn dies einer der Henker war. Sie waren schon an den Rand seines Lebens getreten. Sie waren Gejagte geworden, und er war nie ein Jäger gewesen. Und nur das beschäftigte ihn, was Kelley von den Kindern gesagt hatte. Die Kinder sollten nun ihren Teil des Leidens und Grauens hinter sich gebracht haben. Und es könnte ja auch sein, daß der »Dunkle« eines Nachts bei den Moorhütten erschiene und zum Beispiel die »Goldene« raubte. Und die Goldene war wie ein Symbol eines arm gewordenen Kinderhimmels. Er brauchte nicht mehr ärmer zu werden.

So begann Amadeus wieder seine Wanderungen. Ihm war die Gegend des Moores wohl bekannt, wo ein Wolf leben könnte, auch wenn er nicht wußte, wie es dort im Innern aussah. Und so lag er viele Stunden vor der Morgen- und Abenddämmerung und bei vollem Mond auch des Nachts zwischen den Wacholderbüschen am Rande des Moors und wartete.

Es war schön, wenn die Erde still wurde oder noch im Schweigen der Frühe lag. Die ganz leisen Töne im Heidekraut, wo unsichtbare Wesen auf der Wanderung waren. Der leise Morgenwind in den Kronen der Bäume, in dem die trockenen Nadeln fielen. Der beglänzte Nebel, der sich aufhob oder zwischen den kleinen Birken dahintrieb. Die Sterne, die sich langsam entzündeten oder wieder verblaßten. Das Bellen des fernen Hundes oder der Ruf der Rohrdommel aus der Tiefe des Moores.

Es war auch schön, wenn der warme Frühlingsregen fiel und es aus den Bäumen tropfte, sobald er weitergezogen war. Dieses leise Flüstern der jungen Blätter, der Nadeln und des Mooses, das wie eine besondere Sprache um ihn war und verging und wiederkam. Die Sprache unbekannter Wesen, die sich etwas zuflüsterten, eine Botschaft oder einen Befehl. Eine Sprache, die über wie unter der Erde war und die ohne Furcht gesprochen wurde, weil das Menschenwesen, das dort kauerte oder lag, sie nicht verstand.

Und es war auch schön, den Duft der jungen Blätter zu atmen, der etwas ganz Erstmaliges und nie sich Wiederholendes hatte. Etwas, das sich nicht beschreiben ließ, so wie eine Farbe oder ein Ton sich nicht beschreiben läßt. Aber der da war, mit einer unerschütterlichen Existenz, an deren Rand man wie ein Fremder war, höchstens wie ein Gast, vor dem eine Tür geöffnet wurde, aber der immer wußte, daß hinter der einen geöffneten Tür tausend ungeöffnete blieben, über deren Schwelle die kleinen Käfer gehen konnten oder die Eidechsen oder die Vögel, aber niemals der Mensch, der sogenannte Herr der Natur.

Wie gleichmütig sie doch war, diese Natur, dachte Amadeus, wie großartig unbekümmert um das, was nun geschehen war unter den Menschen. Und auch um das, was sich nun in einem ihrer kleinen Räume verbarg und auf das der Lauschende wartete. Ein Mensch oder ein Wolf, ein Jäger oder ein Gejagter. Die Tropfen rannen an den Grashalmen herunter, langsam, ohne einen Laut, und das war das Wichtige für die Erde, nichts anderes. Der Himmel rötete sich mehr und mehr, die Kraniche begannen zu rufen, der Tag stand wieder auf über dem geheimnisvollen Wirken der Erde, und der Freiherr Amadeus erhob sich und ging langsam seinen Weg zurück, ohne daß seine Gedanken sich viel um denjenigen bekümmerten, der dort hinter den Schilfwänden leben mochte oder auch nicht.

Und nur darum bekümmerten sich seine Gedanken, wieviel doch von seinem Wesen abgefallen war in solchen Stunden, als ob der Regen auch ihn eingeschlossen hätte in sein großes Werk der Säuberung und der Fruchtbarmachung.

Und schließlich war es so, als ob er nicht des Dunklen wegen die langen, langen Stunden im Moose liege, sondern nur um seiner selbst willen. Als ob die Stunden nur dazu wären, daß der Frühling sich gleichsam seiner erbarmte. Als ob ihm gezeigt werden sollte, daß es auch andere Wege für den Menschen gebe, aus der Unordnung in die Ordnung zu kommen, als den des Geistes etwa oder den der Arbeit oder den des Glaubens.

Aber dann, an einem dunklen, von tiefen, zerklüfteten Wolken beschatteten Abend, geschah es nun doch, daß die Wirklichkeit sich plötzlich vor ihm erhob, das mit den Augen zu Erblickende und nicht einfach Fortzudenkende. Daß die Wirklichkeit die Gestalt eines Mädchens annahm, das aus den Schilfwäldern heraustrat, einen langen Stock in jeder Hand, als wollte es sich den sichern Boden damit ertasten. Das sich lange Zeit prüfend in der Runde umsah, ehe es sich noch einmal zurückwendete, und einen der Stäbe wie zum Gruße erhob. Und das dann langsam, Schritt vor Schritt, über die trügerische Decke dem Walde zugeschritten kam, in dem der Freiherr zwischen den Wacholderbüschen kniete.

Lange, bevor er das Gesicht erkennen konnte, wußte er, daß es die Försterstochter war, aber er versuchte, seine Gedanken von dieser Erkenntnis und deren Folgerungen abzuwenden und nur mit aller Klarheit und Schärfe auf die Windungen des schmalen Pfades zu richten, auf dem sie sich mit aller Vorsicht näherte.

Und erst als er gesehen hatte, daß der Pfad zwischen zwei seltsam geformten Wacholdern auf den festen Boden mündete und er sich diese Stelle in das Gedächtnis geprägt hatte, dachte er daran, daß er nicht gesehen werden wollte, und hielt sich tief im Schatten des Erlengebüsches, bis das Mädchen schnell und ohne zu zögern nach der andern Seite am Moor entlangzugehen begann.

Dann erst dachte er nach, lange und mit Sorgfalt, wie ein Richter, der aus ein paar Fäden ein Gewebe zu fertigen hatte.

Er hatte es nicht erwartet, und er bedachte es mit Bitterkeit. Er hatte es als etwas Fremdes betrachtet, das sich hier eingenistet hatte, wie ein fremdes, gejagtes Tier für einige Zeit sich in einer Dickung oder einer Höhle einnistet. Aber nun hatte es Hilfe und Freundschaft gefunden und hatte das Unberührte und Schuldlose der Landschaft in sich hineingenommen. Es hatte eine Art von Heimat erworben, und ein Mensch dieses Lebenskreises hatte daran teilgenommen. Nicht an dem Leben eines Flüchtlings oder eines Heimatlosen, sondern an dem Leben eines Mörders. Es war also nicht wahr, daß die Zeit langsam von dieser Landschaft und ihren Menschen abgefallen war, damit sie wieder die alte Ordnung gewännen. Sie war wieder da, unverändert, blutig wie bisher und der alten Gesetze nicht achtend wie bisher.

Es würde anders gewesen sein, wenn einer der Männer oder der jungen Burschen aus der Landschaft die Hand dazu geboten hätte. Es würde in der Natur des Mannes gelegen haben, der das Gift nicht so schnell aus seinem Blut ausscheiden kann. Der sich an ein blutiges Handwerk so schnell gewöhnt wie an ein unblutiges. Und der noch einen Schein des Rechtes dazu findet.

Aber nun war es so, daß ein Mädchen die Hand dazu geboten hatte. Und das machte die Verzerrung der Natur eindringlicher und schrecklicher. Es war nicht so wichtig im Augenblick, daß das Mädchen Barbara hieß und daß er es kannte. Ja, daß er nicht weit von hier im Winter seine bloße Hand auf ihre Wange gelegt hatte.

Es war nur wichtig, daß es jemand war, der dazu geboren war, Kinder zu gebären und sie an seiner Brust zu halten. Jemand, den die Natur zum Bergen, Trösten und Schützen bestimmt hatte. Und der nun die Hand in die Hand eines Mannes legte, vor dessen Pistolenmündung ein Kind soviel wie ein Insekt war, und der in den vergangenen Jahren vielleicht tausendmal lächelnd ein solches Insekt zertreten hatte.

Es war dies, daß die Zeit wieder aufgestanden war, rings um das ganze Moor, um die Kammer im Schafstall, um den Ablauf der Gedanken, die blutige, gesetzlose und schreckliche Zeit. Und daß sie den Frieden wieder mit sich fortnahm, das kleine, mühsam gewonnene Stück des Friedens, das so empfindlich und bedürftig war wie ein junges, eben geborenes Lamm.

Von diesem Abend an ging Amadeus nicht mehr zu den beiden Wacholderbüschen. Er wußte nicht genau, was ihn daran verhinderte.

Aber es waren wohl nicht so sehr Überlegungen wie diese, daß ihm nicht aufgetragen war, die Zeit zu heilen. Und sicherlich nicht, sie mit einer Pistole zu heilen. Es war nun doch wohl ein Gefühl des Widerwillens, ja des Ekels, dort zu sitzen und zu warten, bis das Mädchen aus den Schilfhalmen herauskäme, allein oder mit demjenigen, an dessen Dasein es nun teilhatte. Es war der Widerwille gegen Menschenjagd, der ihn erfüllte, und auch um der Kinder willen konnte er ihn nicht bezwingen. Und vielleicht war es auch die Angst, in dem hinter den Schilfwäldern eine Art von Doppelgänger zu erblicken aus vergangener Zeit, etwas, an dessen Anfang auch er einmal gestanden hatte.

Aber während er noch über die Pflicht grübelte, es Kelley mitzuteilen, ohne Aufschub, geschah etwas, das ihm einen Ausweg zeigte. Die junge Frau des Gutsmannes Donelaitis wurde, als sie nach Feierabend am Rand des Moores Morcheln zum Verkauf suchte und der Zeit nicht geachtet hatte, in der Dämmerung von jemandem überfallen, der nach ihrer Beschreibung der »Dunkle« sein mußte. Sie würde verloren gewesen sein, wenn sie nicht das kleine, spitze Messer in der Hand gehabt hätte, mit dem sie die Pilze an der Wurzel abschnitt. Mit diesem Messer stieß sie zu und traf das Gesicht des Angreifers und gewann soviel Zeit, daß sie sich verbergen und flüchten konnte, ehe der Schmerz ihm Zeit ließ, sich wieder um sie zu bekümmern.

Amadeus ließ sich von ihr die Richtung zeigen, in der das Ganze sich abgespielt hatte, und in der nächsten Morgendämmerung stand er mit Donelaitis vor den beiden Wacholderbüschen. »Hier wird er kommen«, sagte er. »Ich habe festgestellt, daß es keinen andern Pfad gibt als diesen. Ich möchte dir meine Pistole geben, aber dann wirst du Scherereien mit den Amerikanern haben.«

Er brauche keine Pistole, erwiderte Donelaitis und blickte auf das Moor hinaus. Vor langer Zeit hätten sie in seiner Heimat den Wolf mit den Händen gefangen und erwürgt. Und es sei für keinen Menschen und für keinen Wolf dieser Erde gut, an seine Frau zu rühren.

Der Freiherr Amadeus sah einmal in sein finsteres, verschlossenes Gesicht und kehrte dann mit ihm zu den Hütten zurück.

Er wartete vor dem Schafstall, bis Christoph auf seinem Weg zum Schloß vorüberkam. »Du mußt nun ein paar Tage dort bleiben, Christoph«, sagte er und deutete auf das Forsthaus. »Und dafür sorgen, daß das Mädchen nicht das Haus verläßt. Wirst du das können?«

»Mädchen hüten ist schwerer als Pferde hüten«, erwiderte Christoph ohne Verwunderung, »aber es wird so sein, wie der Herr befiehlt.«

Und er kehrte um, ohne eine Frage zu stellen.


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