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14

Als der Freiherr Erasmus eine Stunde später unter dem zerbrochenen Wappen den Schloßhof wiederbetrat, hatte sich wahrscheinlich nichts an dem Bild geändert, das er mit seinen Augen empfing. Aber ihm schien es, als habe der Regen der Nacht und nicht nur der Regen auch dieses Bild verändert, wie er das Moor und die ländliche Erde verändert hatte. Es war ihm, als sei dies alles rein gewaschen worden in der Nacht, die halb erblindeten und halb zerschlagenen Fenster, die Mauern, von denen der Putz abbröckelte, das steile Dach, in dem hier und da ein Ziegel fehlte. Und auch die Wipfel des Parkes, in denen die Tropfen glänzten, waren wie neue Wipfel, aus der Tiefe heraufgehoben, wo sie für diesen neuen Morgen zubereitet worden waren.

Er blieb stehen und sah dies alles wie zum ersten Male. Nicht den Verfall, nicht das, was an ein gestrandetes Schiff erinnerte, sondern das in den Stürmen der Zeit ungebrochen Gebliebene, das für die Gescheiterten wieder ein Stück Heimat geworden war.

Und auch er selbst stand nun hier wie zum erstenmal. Nicht ohne Angst und nicht ohne Scham, und voller Einsicht, daß er immer ein schlechter Kapitän für dieses gescheiterte Schiff sein würde. Aber doch mit einer leisen Fröhlichkeit, die sich aus diesem rein gewaschenen Bilde aufhob und auch ihn erfüllte. Er war geflohen, aber er war wiedergekommen, und nun würde er bleiben.

Es fiel ihm nicht besonders auf, daß im Hof und in den Gängen des Schlosses kleine Gruppen von Menschen standen und leise miteinander sprachen. Es fiel ihm nur auf, daß sie ihm bereitwillig und fast behutsam Platz machten und daß sie ihm auf eine andere Weise zunickten als sonst. Er dachte sich nur, daß der große Regen vielleicht auch die Herzen der Menschen hier rein gewaschen hätte, wie es mit seinem eigenen Herzen geschehen war.

Während der ganzen Zeit ging Christoph still hinter ihm.

Erst vor der Schwelle seiner Tür zögerte der Freiherr einen Augenblick. Er sah auf das abgetretene Holz nieder, und er begriff, daß dies nun doch ein endgültiger Schritt war, den er tun wollte. Ein Schritt der Entscheidung, den man nicht mehr ungeschehen machen konnte.

Aber dann drückte er doch den Türgriff nieder, nicht ohne leise angeklopft zu haben, wie es seiner Rücksicht entsprach. Aber es kam keine Antwort auf sein Klopfen.

Der erste Raum war so, wie sie ihn in der Nacht verlassen hatten, aber doch mit den Anzeichen, daß noch etwas geschehen war nach ihrem Fortgang. Der Tisch war umgestürzt, und der Teppich war mit zerbrochenen Gläsern, mit verstreuten Karten und mit verschütteter Asche bedeckt. Einer der hohen Fensterflügel stand offen, und der Sturm hatte den Regen in den Raum geschleudert. Die alten Seidenvorhänge wehten leise im Morgenwind.

Sie standen eine Weile und blickten schweigend auf das Bild der Verwüstung. Dann richtete Christoph den Tisch wieder auf und begann, die Scherben zusammenzulesen. In dem geneigten Spiegel mit dem alten Goldrahmen erschien seine gebeugte Gestalt zum zweiten Male und Erasmus sah den Doppelgängern zu, wie sie sich lautlos bei ihrer Arbeit bewegten.

Die Tür zum zweiten Raum war nur angelehnt, und auch über diese Schwelle trat der Freiherr endlich, nachdem er wieder geklopft hatte. Auch dieser Raum war verwüstet, aber auf eine andere Weise. Die Schranktüren und Schubladen waren geöffnet, der Teppich war mit Bändern, Schleifen und Papieren bedeckt, das Bett war nicht benutzt worden.

Der Freiherr blickte sich nach einem Brief um, der vielleicht zurückgeblieben wäre, an ihn gerichtet. Aber es war kein Brief da. Es war nur die Leere eines verlassenen Raumes da und der strenge Duft aus einer umgestürzten Parfümflasche.

Er setzte sich auf den Sessel neben der Tür, faltete die Hände um die Knie und blickte schweigend vor sich hin. Es überwältigte ihn, weil er nichts dergleichen erwartet hatte. Es veränderte das Bild der Nacht und damit auch das Bild dieses Tages. Er wußte noch nichts, aber dieses sprach nun doch auf eine unüberhörbare Weise zu ihm, auch ohne daß er einen Sinn darin zu finden vermochte.

Dann klopfte es leise, und Wittkopp kam herein. »Man hat es mir gesagt, daß Sie da sind, Herr Baron«, sagte er und setzte sich an das offene Fenster, hinter dem die Sonne die nassen Wipfel trocknete.

Er sah so aus wie immer, etwas müde, als wären noch ein paar Falten in seinem Gesicht dazugekommen, aber still und heiter wie immer. Und wie sonst suchte er die Tabakreste aus seiner Tasche zusammen, stopfte sie in seine kurze Pfeife und begann zu rauchen, nachdem er um Erlaubnis gebeten hatte.

Eine Weile war es still. Nur die Vögel waren zu hören und ein Kinderlied aus der Tiefe des Parkes.

Erasmus lehnte den Kopf an die Rückwand des Sessels, schloß die Augen und hörte zu. Es war nun wie im Traum, wenn das Wirkliche sich auflöst und die seltsamen Bilder aus der Tiefe vorüberzuziehen beginnen.

»Man rief mich um die Mitternacht«, begann der Pfarrer und blickte immer noch zum Fenster hinaus. »Es muß einen Streit gegeben haben, und dort, auf dem anderen Bett, lag einer der jungen Leute und hatte einen Messerstich in der Brust. Es war anscheinend ein gefährlicher Stich, und ich schickte gleich zum Arzt. Sonst war niemand da als die Baronin. Sie packte einen Rucksack oder eine Handtasche, und bevor sie ging, kam sie bis an die Schwelle. ›Er hat falschgespielt‹, sagte sie, auf den Verwundeten blickend, ›aber ich weiß nicht, wer es getan hat. Ich gehe nun, und Sie brauchen dem Baron nur dies zu sagen, daß ich gehe. Nicht mehr.‹ Ihr Gesicht war nicht viel anders als sonst, und auch auf den jungen Mann blickte sie wie auf etwas Selbstverständliches. Ihre Gedanken waren wohl schon bei ihrem Weg, den sie gehen wollte.

Ich fragte sie, ob es nicht besser wäre, zu bleiben, zum mindesten, bis diese Gewalttat aufgeklärt sein würde. Aber sie schüttelte den Kopf. ›Die anderen werden sie aufklären‹, erwiderte sie. ›Dies und wahrscheinlich noch mehr. Aber sagen Sie ihm, daß ich ihm danke. Was falsch zu machen war, hat er falsch gemacht, aber er hat es gut gemeint. Er konnte nicht dafür, daß er unter die Wölfe geriet und ihre Spielregeln nicht kannte. Er ist ein Baron geblieben, und das war sein Irrtum. Wir anderen haben andere Irrtümer gehabt. Ich auch. Helfen Sie ihm ein bißchen, soweit ihm zu helfen ist.‹

Dann ging sie.

Der Arzt hielt den Stich für gefährlich, aber es gab keinen Krankenwagen. Er sagte nur, was zu tun wäre, und auch, daß er eine Anzeige machen müßte. Das verstand ich.

Ich saß bei dem Verwundeten, der aus dem Fieber erwachte, und als er mich erkannte, verlangte er, daß ich etwas aufschriebe, was er dann unterschreiben wollte. Er war überzeugt, daß er die Nacht nicht überleben würde.«

»Und er hat es dann unterschrieben?« fragte Erasmus.

»Ja, er hat es unterschrieben, und ich habe keinen Zweifel, daß er die Wahrheit unterschrieben hat. Sie waren alte Bekannte, die Frau und er.«

»Sagten Sie ›die Frau‹?« fragte Erasmus leise.

»Ja, so sagte ich, Herr Baron«, erwiderte Wittkopp und sah ihn an. »Sie war Frau Knolle, und ist es heute noch. Der Mann lebt, soweit wir das von hier aus sagen können. Auf Bigamie steht ja Gefängnis, und man sagt mir, sie sei mit dem anderen der jungen Leute fortgegangen in der Nacht. Sie wird nicht wiederkommen. Ich habe das Schreiben, das der Verwundete unterzeichnet hat, mit einem Boten an das Gericht geschickt. Damit die Ehe für ungültig erklärt wird.«

»Hätten Sie nicht etwas warten sollen?« fragte Erasmus nach einer Weile. »Sie hat wenig Spielraum, wenn das Gericht es schon weiß.«

»Sie wird immer Spielraum genug haben, Herr Baron«, erwiderte Wittkopp.

Die Kinder sangen nun wieder, und sie hörten beide zu. Und erst als Christoph nebenan die letzten Scherben zusammenfegte, erschrak Erasmus. Er erschrak so, daß der Pfarrer aufstand und zu seinem Sessel kam. Er stand ganz still, als Erasmus die beiden Hände um seinen Arm schloß und mit einem verstörten Gesicht zu ihm aufblickte. »Er hat es mir zu leicht gemacht«, sagte er leise und voller Angst. »Weshalb hat er es mir so leicht gemacht?«

»Was hat er leicht gemacht?« fragte Wittkopp und streichelte mit seiner anderen Hand die Hände des Freiherrn.

»Daß ich es auf mich nehmen wollte«, sagte Erasmus. »Daß ich wiederkommen wollte und bleiben. Ohne Liebe zwar. Aber doch bleiben.«

»Und zuerst wollten Sie nicht wiederkommen?« fragte Wittkopp leise.

»Nein, zuerst wollte ich niemals wiederkommen. Niemals. Auch ich bin geflohen diese Nacht, ehe dies geschehen war. Und ich wollte so weit gehen, daß nur die Kröten mich gefunden haben würden.«

Der Pfarrer blickte lange auf das weiße Haar nieder, das sich an seinen Arm lehnte. »Er hat es Ihnen nun doch wohl nicht leichter gemacht«, sagte er endlich. »Wenn es Sie gefreut hätte, würde es nicht gut gewesen sein. Aber es hat Sie nicht gefreut?«

Erasmus schüttelte den Kopf.

»Wenn einer zum Gericht geht«, sagte Wittkopp, »und die Tür des Gerichts ist verschlossen, das kann ihn erschrecken und betrüben. Es kann ihn auch veranlassen, leise umzukehren und zu sagen: ›Es hat nicht sein sollen. Weshalb haben sie die Tür auch so früh zugeschlossen?‹ Aber es kann ihn auch veranlassen, seine Schuld auf die Schwelle zu legen, damit sie sie am nächsten Morgen finden. Oder dazubleiben, bis sie wiederöffnen werden. Dann ist es ihm nicht leicht gemacht. Dann ist es ihm schwerer gemacht, denn es ist schwer, dazubleiben und zu warten, wenn man ebensogut gehen könnte.«

»Meinen Sie es so?« fragte Erasmus und sah ihn an.

»Ja, so meine ich es. Die anderen sind fortgegangen, außer diesem mit der Wunde in der Brust. Und auch er würde fortgegangen sein, ohne die Wunde. Und es wird auch keiner von ihnen wiederkommen. Aber Sie sind wiedergekommen, auch wenn die Tür nun verschlossen ist, und Sie wollen auf der Schwelle bleiben. Deshalb sage ich, daß es alles recht so ist. Nicht zu leicht und nicht zu schwer.«

»Aber ich bin ohne Liebe wiedergekommen, Herr Pfarrer.«

»Dafür können wir wohl nicht. Das läßt sich nicht befehlen. Und wir wissen auch nicht, wie das in dem großen Buch gerechnet wird, wenn einer mit Liebe wiederkommt oder nur aus Demut. Und aus Demut sind Sie doch wohl gekommen, Herr Baron?«

Ja, das sei er wohl, sagte Erasmus leise. Oder doch wenigstens als einer, der nichts mehr haben wollte.

»Und diese pflegen nun am meisten zu bekommen«, erwiderte Wittkopp. »Nicht vom Äußerlichen, aber doch von dem, in dem wir eigentlich leben sollten.«

Er blieb noch eine Weile so stehen. Zuerst blickte er noch auf das weiße Haar des Freiherrn nieder, aber dann sah er wieder nach dem Fenster, vor dem ein Pirol in einem wilden Kirschbaum rief. »Man erzählt«, sagte er, »daß auch dieser Vogel aus dem Paradies ausgetrieben worden sei, und im Paradies hätte er am schönsten von allen Vögeln gesungen. Aber nach der Austreibung hätte er das Lied vergessen und nun versuche er immer von neuem, es wiederzufinden. Sie können hören, daß jede Melodie ein bißchen anders ist als die vorhergegangene. Er gibt sich so viel Mühe. In keinem Vogellied ist so viel Rührendes wie in diesem.«

»Und wir?« fragte Erasmus.

»Auch bei uns ist es so, Herr Baron. Auch bei denen, die heute Nacht fortgegangen sind. Wir erinnern uns noch, und solange wir uns erinnern, ist alles gut. Nur wenn wir darüber lächeln und im Ausgetriebenen so zu Hause sind, als wäre es nie anders gewesen, ist es nicht gut.«

Die Ehe des Freiherrn Erasmus wurde für nichtig erklärt, und man erließ Steckbriefe hinter der Frau und dem jungen Flieger. Aber man fand sie nicht. Der Verwundete genas wider Erwarten, und eines Morgens war auch er verschwunden. Die anderen Gäste der kleinen Tafelrunde wendeten sich wieder ihren Geschäften zu und vermieden es, dem Freiherrn zu begegnen. Nur der alte Graf wich ihm nicht aus, wenn er, auf seinen Stock gestützt, durch die Gänge des Schlosses ging, um an einer der vielen Türen anzuklopfen. Er blieb stehen, hob mit Mühe seine Augenlider und äußerte die karge Weisheit seines Lebens, daß es »toujours la canaille« sei. Aber es war nicht verständlich, wen er damit meinte.

Langsam schloß die Welt des großen, verfallenden Baues sich wieder zu hinter dem Lärm und der Gewalttat, und durch diese stiller gewordene Welt ging der Freiherr Erasmus freundlich und niemals ungeduldig und versuchte, das Recht zu finden, das die Frauen mit den Scheuertüchern von ihm verlangten. Niemand verspottete ihn mehr, seitdem »das Unglück« gewesen war, wie die Frauen es nannten, und wenn er in eines der vielen Zimmer trat, um einen der Wünsche oder eine der Klagen anzuhören, wischte die Frau mit der Schürze über einen der Holzstühle und bat den Herrn Baron, sich zu setzen. Und er hörte freundlich und geduldig zu, versprach, das Seinige zu tun und strich zum Abschied den Kindern über das Haar. Auf diesen Gängen begleitete ihn Christoph nicht mehr.

Über das Gewesene sprach er nur einmal mit der Schwägerin und ab und zu mit Amadeus. Er sprach nicht wie über eine große oder gar tragische Sache darüber, sondern mit einem leisen Lächeln, aber das Lächeln war ernst und ohne Spott. Er liebte die Schwägerin sehr, und er scheute den weiten Weg nicht, um von Zeit zu Zeit bei ihr einzukehren und das »helle Kind« auf den Knien zu halten. Es hatte noch immer beide Augen, im Gegensatz zu der Prophezeiung der Frau Gräfin, und auch von den Scharwerkerkindern war keines seit der Taufe geschlachtet worden, wie sie vorausgesagt hatte.

»Es ist merkwürdig«, sagte er dann, »wie wir leben können, auch wenn wir fast alles im Leben falsch gemacht haben. Es liegt wohl daran, daß ich im Triptychon immer in der Mitte gestanden habe und die Brüder standen rechts und links von mir, um mich zu stützen. Ich war der älteste, aber ich habe immer das Falsche getan, schon als ich vor meiner Schwadron gehalten habe.«

Sie ließ die Nadeln und das Wollknäuel sinken und sah ihn mit ihren warmen Augen an. »Aber deshalb lieben wir dich doch so, Erasmus«, sagte sie lächelnd. »Weißt du das immer noch nicht?«

Er erwiderte ihren Blick fast erschrocken. »Deshalb?« fragte er.

»Ja, deshalb«, sagte sie. »Ägidius ist wohl tüchtiger, und Amadeus ist sicherlich größer als wir beide. Aber du bist doch der rührendste von ihnen. Du bist so rührend wie ein Kind mit weißen Haaren. Wußtest du nicht, daß unsere tiefste Liebe denen gehört, die alles richtig machen möchten und fast immer alles falsch machen?«

»Aber ist es nun nicht ein bißchen kränkend für mich«, fragte er nach einer Weile, »mit meinen weißen Haaren für ein Kind gehalten zu werden?«

Sie stand auf, um das Wollknäuel aufzuheben, das aus ihrem Schoß auf den Teppich gerollt war, und als sie sich wieder aufrichtete, blieb sie bei ihm stehen und strich einmal mit der Hand über sein Haar. »Eine Frau kränkt niemals«, sagte sie leise, »wenn sie einen Mann für ein Kind ansieht.«

Auch mit Amadeus konnte er ohne Scheu über die Vergangenheit sprechen. Für ihn war Amadeus schon jenseits der menschlichen Grenzen, und trotz dem Widerspruch des Bruders beharrte er mit einem stillen Eigensinn darauf. »Du mußt mir das lassen«, sagte er, »weil es mir so eine Art von Gleichgewicht gibt. Je höher deine Waagschale steigt, desto weniger schmerzt es mich, wenn die meinige sinkt oder doch früher gesunken ist. Ich bin wohl der einzige von uns, der uns drei schon als eine Einheit betrachtet. Ich weiß, daß jeder von uns anders ist als die anderen, aber es ist mir leichter, dies zu vergessen und uns als ein Ganzes zu sehen. Es gleicht so vieles aus für mich, weißt du. Nicht daß ich ausweichen wollte, aber ich weiß nun doch, daß der Mensch in vielem unabänderlich ist. Und es ist mir schön, daß ich uns noch so sehen kann, wie wir einmal den anderen erschienen. In diesem Bild, über das sie lächelten. Und das ist doch selten, daß ein Bild so lange bewahrt werden kann, wenn das Haar nun weiß geworden ist.«

»Und es ist gut«, erwiderte Amadeus nach einer Weile lächelnd, »daß man so wenig von der Geduld der Heiligen weiß. Ja, daß man so wenig von den Heiligen selbst weiß. Man weiß es nur aus den Legenden.«

»Wittkopp sagt, daß in ihnen die tiefste Weisheit niedergelegt sei, die tiefste Frömmigkeit und auch die tiefste Liebe«, sagte Erasmus.

»Wittkopp hat ganz recht«, erwiderte Amadeus, noch immer lächelnd, »aber er ist auch einer von den wenigen, die wissen, daß heute keine Legendenzeit ist. Für ihn sind die Heiligen heute nicht so zahlreich wie die Wacholderbüsche auf dem Moor.«

Dann sprachen sie von Christoph, und sie sprachen mit Sorge von ihm. Das erste, was ihnen beiden nach der Gewitternacht und dem Morgenrot dahinter aufgefallen war, war dieses, daß er kleiner geworden zu sein schien. Als hätten die Nacht und der Morgen seine hohe, gerade Gestalt gebeugt. Als hätte das Alter ihn zum ersten Male angerührt, wie im Märchen ein kühler Hauch den Menschen verwandelnd anrühren kann.

Und das zweite war, daß er nun ganz schweigsam geworden war. Er erzählte keine Geschichten mehr, und auch die Bibel war ihm nicht mehr so geläufig wie früher. Er tat seine Arbeit wie früher, und seine hellen Augen wachten wie früher über der Ordnung des Tages.

Aber seine Sicherheit hatte ihn verlassen. Das Nichtzweifeln an dem, was er sagte oder tat. Das mit tiefen Wurzeln in der Vergangenheit Ruhende, nicht nur in der Kindheit, sondern weit darüber hinaus in der Welt der Vorfahren und in der Zeit, als das Jesuskind noch in den Schlitten gestiegen war. Es war, als hätte er in dem vertrauten und ganz behüteten Walde seines Lebens plötzlich eine Wolfsgrube entdeckt, von unbekannten Händen für ein unbekanntes Tier gebaut, und nun zögerte er bei jedem Schritt, seinen Fuß auf die veränderte Erde zu setzen.

»Es kann nicht das Alter allein sein«, sagte Erasmus nachdenklich. »Es muß noch etwas anderes sein, was er niemals vermutet hat und was ihn nun erschreckt hat.«

Amadeus sah seinen Bruder von der Seite an und wartete, ob er noch mehr sagen würde. Aber Erasmus wußte nichts mehr zu sagen.

»Sieh, lieber Bruder«, sagte Amadeus dann, »mit diesen alten Leuten aus der Heimat ist es nun doch so, daß sie durch Geschlechter hindurch uns als die Herren betrachtet haben. Und wenn es auch bei uns nicht an solchen gefehlt hat, die das mißbraucht haben, so waren die meisten doch wirkliche Herren für sie. Nicht nur solche, die Gewalt hatten, sondern die gleichsam dicht bei Gott standen, für sie. Das kommt noch aus den uralten Zeiten her, als die Könige auch die Hohenpriester waren. Sie verstanden nicht alles, was wir taten, aber auch über dem Unverstandenen lag für sie noch ein Glanz einer höheren Welt.

Aber sie selbst fühlten sich auch immer als die kleinen Könige unter den Gutsleuten. Sie haben uns gefahren, hundert und zweihundert Jahre und noch länger. Ihr Gelöbnis war, treu zu dienen und den Wagen oder Schlitten nicht umzuwerfen, in dem wir saßen. Und keiner von ihnen würde bei aller Ergebenheit jemals gedacht haben, daß einer von uns besser fahren könnte als er.

Und davon, daß sie nun bei Tag und bei Nacht die Pferde für uns lenkten, ist ihnen langsam das Gefühl gekommen, daß sie auch unser Leben leise lenken müßten. Es begann ja bei ihnen auf der Futterkiste, wenn sie uns vorsichtig in ihre Märchen und ihre Weisheit hineinführten. Manche von ihnen waren schon grau, als wir noch Kinder waren.

Und sie hatten den alten Glauben, wie sie es nannten, einen älteren als den unsrigen, weil sie doch aus der Knechtschaft aufgestiegen waren und keine Wissenschaft sie berührt hatte. Ihre Wurzeln waren noch die Wurzeln alter Völker, nicht die Wurzeln junger Philosophien. Und davon kam es, daß sie sich langsam als Hüter fühlten, die über uns zu wachen hatten. Nicht über unsrem Tagwerk und unsren Festen, aber über dem, wie wir es mit Gott hielten. Es war wirklich noch etwas aus den alten Sagen und Märchen in ihnen, aus der großen Einfachheit des Alten Testaments. Und du wirst dich erinnern, daß in allen Geschichten, die Christoph erzählt hat, etwas von diesem Hüteramt verborgen war. Von den alten Leuten aus den Märchen, die auf der Schwelle sitzen und den wandernden Königssöhnen den Weg zeigen.

Das gab ihnen ihre Würde und ihre Sicherheit. Sie waren nicht hochmütig, aber sie waren ohne Zweifel. Sie hielten die Hand immer ausgestreckt, um uns beim Gürtel zu nehmen, wenn, nach ihrer Ausdrucksweise, der liebe Gott nach uns rief und wir nicht hörten. Oder wenn das Jesuskind in den Schlitten steigen wollte und wir wollten nicht anhalten.

Darin lag ihre Größe und auch ihre Gefahr. Die Zeit überholte sie. Eine Zeit, in der das Menschenleben nicht mehr so einfach war wie in den alten Zeiten. In der es Konflikte gab, die sie nicht mehr auffassen und beurteilen konnten. Und dann gab es einmal einen Augenblick, in dem sie die Hand ausstreckten, wenn es nicht Zeit war. In dem sie nur an den Herrn dachten, während sie an größere Dinge hätten denken sollen. In dem sie sich irrten und des Irrtums dann bewußt wurden.

Und in diesem Augenblick fiel ihnen die Sicherheit des Lebens auseinander. Dann begannen sie, auch an dem zu zweifeln, was sie bis dahin ein Leben lang richtig gemacht hatten. In diesem Augenblick rührte das Alter sie an. Es war ihnen zum ersten Male, als gingen die Pferde mit ihnen durch.

Und dies, lieber Bruder, ist der Augenblick, in dem wir eine besondere Liebe an sie wenden müssen. Die ganze Summe der Dankbarkeit, die wir ihnen schulden. Und auch der Ehrfurcht, denn wir schulden ihnen Ehrfurcht. Sie sollen wissen, daß sie es trotzdem recht gemacht haben, alles, auch in ihrem Irrtum. Es soll ihnen immer so sein, als könnten nur sie allein uns in den Himmel fahren, niemand außer ihnen, weil nur sie allein diesen letzten dunklen Weg wissen, von dem wir selbst bei aller unsrer Klugheit gar nichts wissen.«

Erasmus hatte den Kopf in beide Hände gestützt und hörte zu.

»Wie kommt es, lieber Bruder«, fragte er endlich, »daß sich vor deinen Augen alles so entwirrt und so einfach wird?«

»Nicht alles«, erwiderte Amadeus. »Lange nicht alles. Als sie hier saß zum ersten Male, hat sich nichts entwirrt vor meinen Augen. Ich war nicht freundlich zu ihr, und ich schämte mich.«

»Und du meinst, du hättest freundlich sein sollen?«

»So freundlich wie zu einem Kind, das immer nur geschlagen worden ist.«

Erasmus seufzte. »Auch sie hat wohl gesungen wie der Pirol«, sagte er. »Sie hat sich noch erinnert, und wir haben nur die falschen Töne gehört …«

Dann stand er auf, ein bißchen beunruhigt, ein bißchen getröstet. Aber wenn auf dem schmalen Bergpfad zum ersten Male die Lichter des Schlosses vor ihm aus der Dunkelheit auftauchten, blieb er doch jedesmal stehen und fühlte die leise Wärme des Herzens, die ihn überkam. Er stieg nun ohne Angst hinunter. Er sah alle die vielen Türen vor seinen Augen und die vielen verhärmten Gesichter hinter den Türen. Aber keines von ihnen wendete sich nun in Zorn oder Spott dem Klang seiner Schritte zu, die von den steinernen Wänden der Gänge widerhallten. Der Herr kam nach Hause, und sie hörten, wie er leise auftrat, um die Kinder nicht aus dem ersten Schlaf zu wecken. Er hatte »Unglück gehabt«, aber er ließ es sie nicht entgelten. Er hatte sich wieder aufgerichtet. Er war dageblieben und nicht fortgegangen wie die anderen.

Mit den ersten Herbstnebeln wurde die Welt des Moores wieder langsam abgeschieden von der übrigen Welt. Das Jahr schritt seine Furchen aus, und es hatte tief gepflügt. Jedesmal hatten die Menschen gedacht, sie hätten das Schwerste nun überstanden, aber es war immer noch mehr zu überstehen gewesen als im Jahr zuvor. Aber nun war es doch vielleicht so, daß die Erde ausgezürnt hatte, wie Christoph es genannt hatte. Es war Geburt und Tod gewesen, Hochzeit und Taufe, und eine schmale Menschenspur hatte sich aufgemacht aus dem Moor und war in der Ferne versunken. Regen und Staub war über sie dahingegangen, und man wußte so wenig von ihr wie von den Vögeln, die sich nach Süden aufmachten. Ein Mann stand immer noch am Moor um die Abendzeit, vor dem großen Feuer des Himmels, bis das Feuer erlosch und die Nebel ihn verhüllten. Aber dann entzündete sich der schwache Lichtschein in dem kleinen Fenster des Schafstalles, und man konnte hinaufsteigen zu der dunklen Schwelle und an die schwere Tür klopfen, wenn das Herz einen darnach verlangte.

Auf den Feldern des Freiherrn Ägidius grünte die Wintersaat, und die beiden Kinder wuchsen auf, die in diesem Jahr geboren worden waren. Das mit dem alten Namen und das namenlose, und beiden mangelte es nicht an Liebe. Über den ältesten der Freiherrn war das Unglück gefallen, aber er hatte sich aufgerichtet. Christoph war kleiner und stiller und gebeugter geworden, aber er war noch da, und sein blauer Rock mit den Silberknöpfen sah so aus, als könnte das Alter ihm nichts anhaben. Noch einmal begann der Wald, von den Axtschlägen und dem Gang der Säge widerzuhallen, und der Pfarrer stand noch immer am Moor und stützte sich auf seinen Spaten, um das Abendrot zu erwarten.

Es war kein Friede im Land, und nicht für alle gab es ein Dach, einen Rock und ein Brot. Aber das Jahr ging seinen ruhigen Schritt, nicht getrieben und nicht aufgehalten von der Zeit, und die Leute am Moor gingen mit, weil sie nicht anders konnten als an der Hand des Jahres gehen, wie ihre Vorfahren vor tausend Jahren gegangen waren. Das Jahr gab das Korn für das Brot und den Flachs für das Spinnrad. Es gab Beeren und Pilze, Sonne und Regen. Es war das Beständige der Erde, auch einer zerstörten Erde, so beständig wie der liebe Gott, der es an der Hand hielt. Es war mitgegangen mit ihnen aus einer verlorenen Heimat. Weder Sieger noch Besiegte konnten es fortnehmen, es für sich behalten, es anders machen, als es war. Man war nicht verloren, solange man sich seinem Willen fügte. Man wußte nicht, was es bringen würde, aber man wußte, daß es da blieb und nicht fortgehen würde.

Mit den Herbstnebeln lösten auch die beiden sich von der Moorwelt los, die ab und zu von draußen eingekehrt waren. Als könnten sie nun dieses kleine Stück Erde sich selbst überlassen, an dem sie Anteil genommen hatten. Als sei es nun geprüft worden, so daß es ohne Hilfe auskommen könnte, und aus der Ferne könnte man ruhig zurückdenken an diese kleine Welt, die wie eine Insel im Ozean der Zeiten war.

Zuerst geht Kelley fort, der Oberleutnant John Hilary Kelley, den es nun nach seiner großen Heimat verlangt und darnach, die Uniform auszuziehen, die er wie ein geborgtes Maskenkleid getragen hat. Sein Lächeln ist noch immer dasselbe, aber seine dunklen Augen und seine schmalen Lippen sind mit Schwermut gefüllt. Mit der Schwermut dessen, der Heimweh hat, oder der Schwermut dessen, der fremd ist in dieser Welt. Der Welt der Uniformen, der Gesetze, der Eroberer und der Herren. Und auch jetzt, da er doch zurückkehren will in die große Heimat, ist die Schwermut nicht erloschen, als ahne er, daß für seinesgleichen nirgendwo eine rechte Heimat sei. Für die jungen Leute, die unter den großen Überschriften ausgezogen waren, aber die die kleine Schrift unter den Überschriften hatten lesen müssen, viele Jahre lang, bis die Augen sie schmerzten von dem, was sie gelesen hatten. Für diejenigen unter ihnen, die nirgends zu Hause waren in diesen glanzvollen Zeiten. Die aus diesen Zeiten herausgefallen waren. Die wie Kinder hatten mitspielen müssen, in eine Uniform gesteckt, um nicht ausgestoßen und verachtet zu werden.

»Sie wissen nun alles, nachdem sie drei Jahre hier gewesen sind«, sagte Kelley und machte mit seiner Hand eine Bewegung, die das Schloß oder die Landschaft oder einen ganzen Erdteil zu umfassen schien. »Sie sitzen vor ihren Lautsprechern oder in ihren Jeeps und wissen alles. Was eine Demokratie ist oder was Schuld und Sühne ist oder was Recht und Unrecht ist. Wer braun und wer nicht braun war und was mit denen zu geschehen hat, die besonders braun gewesen sind. Sie haben wenig Zweifel und fast gar keine Probleme. Sie lassen Feuer vom Himmel regnen wie im Alten Testament, und es macht ihnen nichts aus, hundertzwanzigtausend Menschen mit einem kleinen Spielzeug zu vernichten, das sie an einem Fallschirm herunterlassen wie einen Kinderballon. Die meisten von den Toten unschuldige Menschen, und viele Frauen und viele Kinder. In einer einzigen Sekunde, ja in dem Bruchteil einer Sekunde. Sie haben das sicherste und großartigste Leben von allen Völkern, und sie haben den gründlichsten Tod, der jemals auf dieser Erde war.«

»Aber wenn sie ihn nicht gehabt hätten«, erwiderte Amadeus, »würden wir beide wohl nicht hier sitzen und in das Feuer sehen.«

»Und was würde daran liegen?« fragte Kelley. »Sind wir so sicher, daß wir hundertzwanzigtausend aufwiegen? Oder daß wir die Zerstörung des Menschlichen aufwiegen?«

»Es sind nicht wir beide allein«, sagte Amadeus. »Die Kugel oder der Galgen oder das Beil waren nicht nur auf uns beide gerichtet.«

»Sie waren auf das Vergängliche gerichtet«, erwiderte Kelley. »Und man soll nicht das Unvergängliche zerstören, um das Vergängliche zu retten.«

»Und was ist das Unvergängliche?«

Kelley sah ihn eine Weile an. »Ich habe viel gesehen und viel gelernt in diesen Jahren«, sagte er. »Aber wenn ich nun fortgehe, werde ich fast allein dieses in der Erinnerung mitnehmen. Diesen Stall und das kleine Feuer. Das Moor und die Menschen. Und wie hier etwas von dem aufgerichtet worden ist, was ich das Unvergängliche nenne. Ihre Hand hat Anteil daran gehabt, Herr von Liljecrona.«

Amadeus schüttelte den Kopf. »Wir haben weder den Irrtum noch den Gram, weder das Heimweh noch den Tod aufhalten können, Kelley.«

»Das sollen wir ja auch nicht, weil wir ja das Leben nicht aufhalten wollen. Aber hier ist ein Bild aufgerichtet worden, während überall in Ihrem Land nur Bilder gestürzt werden. Ich habe viele von Ihren jungen Menschen gesehen, und fast keiner von ihnen fragt: ›Was sollen wir tun?‹ Fast jeder von ihnen fragt: ›Wer ist schuld?‹ Und fast jeder von ihnen sagt: ›Die andern.‹ Sie meinen nicht einmal so die Partei oder die Gewalt oder das Böse. Sie meinen die alte Generation, und viele meinen die Sieger. Sie urteilen und sie richten. Und sie verhöhnen. Sie haben vergessen, viele von ihnen, wieviel Anteil sie gehabt haben, durch Tun oder Schweigen. ›Seht unser Leid!‹ sagen sie, aber sie sagen nicht: ›Erinnert euch des anderen Leides!‹

Aber hier, vor diesem Feuer, ist das Bild aufgerichtet worden. Es ist nicht gesagt worden: ›Seht unser Leid!‹ Hier ist das Leid verborgen worden, damit die anderen glauben, es gebe kein Leid mehr. Für eine Weile wenigstens. Der alte Mann am Weihnachtsabend, wenn er seine Geschichten erzählte. Und alles andere, was hier gewesen ist, alles andere. Man kann es mitnehmen, Herr von Liljecrona, selbst wenn man es nicht glaubt, kann man es mitnehmen.«

»Und was werden Sie nun tun, wenn Sie wieder heimkommen?« fragte Amadeus.

Kelley stand auf und zog seine Uniform zurecht. Die Kappe hielt er in der Hand, und nun sah er ganz wie ein verkleidetes Kind aus. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Nur die Menschen mit einem Dogma wissen immer, was sie tun werden. Besonders wenn sie jung sind und schon ein Dogma haben, ein sogenanntes weltanschauliches. Aber ich habe keines. Vielleicht werde ich ein Buch schreiben. Über die Spielregeln der Welt. Bücher tun nicht weh. Bücher sind keine Gesetze oder Urteile. Man kann sie einmal zurücknehmen, wenn man sieht, daß man sich geirrt hat. Man muß es nur sagen, daß man sich geirrt hat. Und man hat dann auch einen Beruf. Bücherschreiben gilt noch immer als ein Beruf. Und manchmal ist er einträglich. Und vielleicht ist er so einträglich, daß man einmal aufhören kann, Recht zu sprechen oder zu verurteilen oder auszutreiben oder eine andere Dummheit zu tun. Daß man dann Waisenkinder aufnehmen kann oder ein Gartenland umgraben. Meinen Sie nicht, daß man am Himmelstor freundlich empfangen werden wird, wenn man nur einen Spaten in der Hand hat? Nichts weiter?«

Amadeus wußte es nicht, aber er glaubte es.

»Good bye, Sir«, sagte Kelley und setzte seine Kappe auf. Er würde gern etwas anderes gesagt haben, aber er scheute sich. »Es ist schön«, sagte er nur, »wenn die Sieger sich an den Besiegten wiederaufrichten können.«

Amadeus sah ihm nach, wie er im Abendnebel versank. Er streifte im Gehen die Äste der Kiefernbüsche mit der Hand. Er ging nicht gebeugt und schief wie Jakob, und doch erinnerte er Amadeus an Jakob. Man hatte ihm weder Frau noch Kinder verbrannt, und doch erinnerte er an Jakob. Wie die Leute ohne Heimat einander alle ähnlich sehen. Und wo war die Heimat für diejenigen, die nicht sagten: »Seht unser Leid?« Die gesiegt hatten und keine Früchte haben wollten? Wo war die Heimat für die jungen, verstörten Herzen, gleichviel ob der Sieg oder die Niederlage sie verstört hatten? Die noch so jung waren, daß sie kein Bild in ihrem Herzen aufrichten konnten, sondern sich umsahen, ob nicht woanders ein Bild aufgerichtet war? Denn auch die Ungläubigen unter ihnen, ja die gar nichts Glaubenden verlangten doch heimlich nach einem Bild. Und auch das Nichts war ja ein Bild, so wie das Alles ein Bild war. Aber ihr Haar war noch nicht grau. Sie dachten immer noch einmal zu blühen, auch die Trostlosesten unter ihnen. Sie wußten noch nicht, wieviel auszuschreiten war, damit man sein graues Haar in Frieden tragen konnte. Sie mühten sich noch um die Welt, um ihren Fortschritt oder ihre Glückseligkeit oder ihre Gerechtigkeit. Sie mühten sich noch nicht um sich selbst. Sie fragten noch: »Wo bist du, Gott?« Sie fragten nicht: »Wo bin ich?« Und keiner von ihnen wußte, daß man immer ist, wo sein Gott ist.

Und dann ging Jakob, und das Unerwartete war, daß er nicht nach Palästina ging, obwohl er es hätte tun können, sondern daß er mit einer kleinen Gruppe in seine Heimat zurückging. »Wie heißt ›Heiliges Land‹, Herr Graf?« sagte er und wärmte seine Hände am Feuer. »Dort schlagen sie tot, wie die Kriegsknechte des Herodes haben totgeschlagen. Dort werden sie machen einen Staat, wie die anderen haben gemacht einen Staat. Dort werden sie machen Vertrag und Bündnis, und ihre jungen Leute werden tragen einen Stahlhelm. Und wenn Gott der Gerechte wird gehen durch die alten Stätten und Heiligtümer, werden sie fragen nach seinem Paß und halten die Bajonette vor seine bloßen Füße.«

»Und dort, wohin du zurückgehen willst, Jakob?«

»Dort wird es sein, wie es ist auf dieser Erde überall, Herr Graf. Sie sind worden geschlagen, und nun richten sie sich auf, um wieder zu schlagen. Und auch uns werden sie schlagen.«

»Aber weshalb gehst du denn zurück, Jakob? Hier schlägt dich niemand. «

Jakob sah ihn lächelnd an und blickte dann wieder in das kleine Feuer. »Wissen der Herr Graf noch nicht«, fragte er, »daß Gott der Gerechte da ist, wo geschlagen wird? Nicht wo die Pakete kommen und die Musik aus den Lautsprechern ist?«

»Aber er kann auch da sein, wo nicht geschlagen wird, Jakob.«

»Ja, Herr Graf. Aber nur dort, wo man schon hat zu Ende geschlagen.

Das Haus wird sein verbrannt«, sagte er nach einer Weile. »Das Dorf wird sein verbrannt. Aber man wird können sehen, wo es hat gestanden. Man wird es können sehen an den Schornsteinen. Und an dem kleinen Friedhof. Sie haben genommen alles, aber sie konnten nicht tragen weder die Schornsteine noch die Grabsteine.

Und da, Herr Graf, wo die kleinen Steine stehen mit der hebräischen Schrift, dort wird sein das richtige ›Heilige Land‹. Und sie haben noch keinen Stein, die Frau nicht und die Kinder nicht. Sie sind geworden Asche, und die Asche wird nicht ruhen dort. Aber der Stein kann ruhen, damit Gott der Herr weiß, wohin er hat die Asche zu blasen, wenn er sie sammelt in seiner Hand. Er erbarmt sich auch der Asche, wenn nichts ist geblieben vom Menschen als sie.«

»Es kann sein, Jakob, daß sie die Steine noch einmal umstürzen werden, auch dort.«

Jakob lächelte. »Wenn Gott der Herr einmal hat gelegt seine Hand auf einen Stein, Herr Graf, ist es gleich, ob sie umstürzen den Stein oder nicht. Weil sie nicht können umstürzen Gottes Hand. Ich werde nicht sein im Frieden, ehe ich habe aufgerichtet den kleinen Stein. Andere gehen zurück, um zu handeln oder um zu werden reich. Auch solche müssen sein. Aber ich will nicht mehr werden reich. Auch der Herr Graf wird bleiben arm. Aber wenn ich sein werde angekommen hinter dem großen Strom, werde ich sehen das kleine Feuer in diesem Herd. Ich werde ausstrecken meine Hände, und sie werden sein warm, wie sie jetzt sind warm von dem kleinen Feuer. Ich danke dem Herrn Grafen.«

Der Nebel stand dicht um den Stall. Die Büsche sahen wie Riesen aus, die sich anschickten, über das Moor zu gehen. Unter den unsichtbaren Sternen zogen die Wildgänse nach Süden. Es tropfte leise von allen Zweigen in das Moos.

Jakob verneigte sich, und nach ein paar Schritten hatte der Nebel ihn verschlungen. Seine Schritte waren noch eine Weile zu hören, und ab und zu stieß sein Fuß an einen Stein. Dann verklangen auch sie, und das lautlose Schweigen schloß sich wieder zu. Nur die Tropfen fielen leise, überall, aber sie waren nicht außerhalb des Schweigens. Sie fielen wie Sandkörner aus einer großen, unsichtbaren, dunklen Uhr.

Spät am Abend kam die junge Frau. Sie trug eine Laterne in der Hand, ihre Schuhe waren durchnäßt, und der Nebel lag in tausend Tropfen auf ihrem Haar.

»Ich fürchtete mich«, sagte sie leise. »Wenn der Nebel fällt, denke ich, daß einer am Moorrand liegt und der Nebel fällt in seine brechenden Augen.«

Ihre Schultern zitterten, und er führte sie vor das Feuer zu dem Stuhl, in dem Jakob gesessen hatte. Er legte Holz auf die Glut und streifte ihre Schuhe ab. »Wärme deine Füße«, sagte er. »Und fürchte dich nicht. Vor dem Feuer gibt es keine Furcht.«

Sie wollte die Füße zurückziehen, aber er legte sie auf den Holzklotz vor der offenen Herdtür. »Hast du vergessen«, sagte er, »daß der Mann ihre Füße wusch?«

Ihre Tränen fielen langsam auf ihr dunkles Kleid. »Ich kann nicht immer im Märchen sein«, sagte sie leise. »Es kann nicht immer heißen: ›Es war einmal …‹«

Amadeus stand am Herd und goß das kochende Wasser auf den Tee. »Hier wird es immer heißen: ›Es war einmal …‹«, sagte er. »Nicht weil wir wie im Traum leben wollen, sondern weil wir durch das geworden sind, was einmal war. Für uns war vieles, mehr als für andere. Wir wollen es nicht vergessen. Einmal standest du an der Schwelle und blicktest auf mich wie auf einen Gezeichneten. Nun sitzest du hier und weinst. Damals konntest du nicht weinen. Und alles ›war einmal‹, damit du wieder weinen kannst.« Sie nahm die Tasse und trank. Ihre Hände wurden ruhiger. »Keine Gewalt …«, sagte sie leise. »So ist es hier. Immer. Und nur hier. Keine Gewalt …«

Er sah ihr zu, und durch ihre Gestalt hindurch sah er den gebeugten Mann im Nebel, wie er nach Osten ging, um den kleinen Stein aufzurichten. »Er ist der letzte, der fortgeht«, sagte er, in Gedanken verloren. »Alle anderen werden nun bleiben.«

Sie verstand ihn nicht, und er erzählte es ihr.

»Auch ich möchte gehen«, sagte sie. »Manchmal. Wenn das Abendrot kommt. Aber ich gehe immer nur hierher. Und welchen Stein sollte ich aufrichten, solange Sie leben?«

»Und weshalb möchtest du gehen?«

»Weil ich es nicht verdiene. Nichts verdiene ich. Ich möchte eine Magd sein, nichts als eine Magd. Aber sie würden mich nicht nehmen. ›Du hast schon einen Herrn‹, würden sie sagen. ›In deinen Augen steht es geschrieben. Gehe zurück zu ihm, weil er nach dir ruft.‹ Aber er ruft nicht.«

»Er braucht nicht zu rufen«, sagte Amadeus. »Du bist immer da. Seitdem wir zusammen über das Moor gingen und der Hund war in unsrer Spur, bist du immer da. Einmal wolltest du eine Herrin sein, nun willst du eine Magd sein. Aber hier hat dies nun aufgehört, vor diesem Feuer. Hier gibt es keinen Herrn und keine Magd. Ich kann die Menschen nicht mehr so sehen. Sie lächeln über uns, aber auch ihr Lächeln tut mir nicht mehr weh. Manchmal denke ich, daß nichts mehr mir weh tut, und ich erschrecke darüber. Es hat angefangen, als ich unter den Büschen lag und in die Sterne blickte. Du hast das meiste daran getan. Du darfst nun nicht mehr weinen. Du mußt nun ganz fröhlich sein. Das ist doch das große Wunder, das uns geschehen ist, daß ich hier einmal lag, vor diesem Feuer, die erste Nacht, und sie war so finster wie keine Nacht in meinem Leben. Und daß ich nun fröhlich bin. Auch dann, wenn ich traurig bin, und das ist schwer zu verstehen. Aber doch ist es so. So fröhlich wie eine Blume unter dem Schnee. Ich kann es nicht sagen, wie es ist.«

Sie wendete keinen Blick von seinem Gesicht, in dem die tiefen Falten immer noch eingegraben waren und über dem das graue Haar lag. Aber das so von innen heraus leuchtete, als sähe er etwas Wunderbares, das allen anderen verborgen war.

»Er war nicht der letzte, der fortgegangen ist«, sagte sie dann leise. »Denn nun gehen Sie fort, immer weiter, immer weiter. Ich strecke meine Hand aus, aber ich erreiche Sie nicht mehr. Und deshalb fürchte ich mich ja.«

Er stand neben ihrem Stuhl und legte wieder die Hand auf ihr Haar. Es war noch feucht vom Nebel, wie es damals von der Angst feucht gewesen war. »Ich werde niemals fortgehen von hier«, sagte er. »Auch nicht so, wie du es meinst. Wovon ich mich langsam löse, sind nicht die Menschen, sondern das an ihnen, worum man die Hand legen kann wie um eine Frucht. Aber ich werde immer so sein, daß jeder die Hand um mich legen kann, der sich Trost davon verspricht. Auch du. Und du am meisten, weil du am meisten gelitten hast. Du warst schon hinter der Grenze, du allein. Nicht hinter der des Todes, denn das ist nicht die letzte Grenze. Aber dort, wo die Welt auseinanderfällt, und dort allein ist das Grauen. Dort war ich bei dir, und seither habe ich deine Hand nicht losgelassen.«

Sie lauschte mit geschlossenen Augen. Wie damals, als sie das Kind geboren hatte. Dann nahm sie seine Hand von ihrem Scheitel und legte sie unter das Tuch, das sie um ihren Hals geschlungen hatte. Dorthin, wo der Pulsschlag ihres Lebens leise in den Adern klopfte.

Seine Hand lag ganz still, und sie fühlte ihre Wärme in sich übergehen. Er zog sie nicht fort, und sie wußte, daß er über ihren Scheitel hinweg in das Feuer blickte. Sie wußte nicht, was er dachte. Sie fühlte nur, daß es ihn ihrer erbarmte und daß keine Gewalt da war, solange er so hinter ihr stand. Vielleicht war es das fröhliche Herz, von dem er gesprochen hatte. Vielleicht war es die sanfte Traurigkeit über dem fröhlichen Herzen, und auch von ihr hatte er gesprochen.

Das Feuer erlosch, und noch immer saß sie so da. Die Nebeltropfen fielen auf das Schilfdach, und nun war es wohl so, wie sie zu Anfang gesagt hatte: »Es war einmal –« Aber es verschlang sich nun mit der Wirklichkeit. Es war nicht mehr etwas, das außer ihr stand. Es umhüllte sie und durchdrang sie, und deshalb saß sie so still wie ein Kind im Abendrot.

 

Und dann fiel der Schnee, und sie feierten ihr drittes Weihnachtsfest. Sie feierten es still, und wahrscheinlich wußte nur der Freiherr Amadeus, daß das Jahr und die Zeit ihnen nun nichts mehr anhaben konnten. Daß die Erde ausgezürnt hatte und daß sie nun auf dem Wege waren, das fröhliche Herz zu gewinnen. Das ganz fröhliche oder doch das von einer ganz leisen Traurigkeit beglänzte fröhliche Herz. Und auch aus der leisen Traurigkeit konnte ein Glanz über das Herz und das Leben fallen, und vielleicht war sie es erst, die den letzten Glanz zu verschenken hatte.

Und deshalb waren die Augen der Frauen und der schweigsamen Männer am meisten auf den Freiherrn Amadeus gerichtet. Alle erinnerten sich des ersten Weihnachtsabends, und wie er als ein fremder Gast unter ihnen gesessen hatte. Einer, der »an den Pforten der Hölle« gewesen war, und sie wußten nicht, was für Bilder vor seinen Augen gestanden hatten. Sie wußten nur, daß er den Kopf geschüttelt hatte, als die Brüder auf sein Cello geblickt hatten. Und daß er den Schlitten nicht angehalten haben würde, wenn das Jesuskind barfuß im Schnee gestanden hätte.

Und nun saß er unter ihnen wie einer, der einen Schatz gefunden hatte. Und am meisten rührte die Frauen, daß er der Puppe, die »die Goldene« hieß, neue Augen eingesetzt hatte. Er hatte Jakob gebeten, auf seinen vielen Gängen zwei Glasaugen zu finden, von Puppen, die man beiseite geworfen hatte, und er hatte sie selber eingesetzt, an Stelle der halb zerstörten gelben Stoffaugen. Er hatte nicht mehr gewollt, daß die alten Augen ihn an eine schreckliche Vergangenheit erinnerten, und es war ihm gewesen, als würde alles Leben in den Moorhütten sich verändern, wenn die »Goldene« ein neues Augenlicht bekäme. »Ja«, sagte er und strich dem entzückten Mädchen über das Haar, »nun hat sie alles überstanden, den Flecktyphus und die Blindheit. Nun hat sie ein fröhliches Herz gewonnen, und du kannst sehen, wie die Kerzen sich in ihren Augen spiegeln. In den alten Augen spiegelten sie sich nicht.«

Auch in diesem Jahr las der Freiherr Erasmus das Weihnachtsevangelium vor, und auch er las es mit einer hellen und gewissen Stimme, als wäre kein »Unglück« über ihn gefallen im Laufe des Jahres. Sie blickten alle auf sein weißes Haar, wie es dicht und glatt um seine Stirn lag, und auf seine schmalen Lippen, von denen Angst und Bitterkeit fortgewischt waren in dieser Stunde.

Und dann sahen sie eine Weile still in die Kerzen und dachten an diejenigen, die nicht mehr da waren. Der Mann Donelaitis saß nun im Schatten des Balkens, wo die »junge Frau« einmal gesessen hatte, und seine Augen mochten wohl von allen Augen am weitesten in den Raum und die Zeit hinaussehen.

Sie hörten nicht, wie draußen der Schnee fiel, aber sie sahen ihn und alle Spuren, die er bedeckte. Die der jungen Frau und die des alten, gebeugten Mannes, der hinter ihr her ging, um den kleinen Stein aufzurichten hinter dem verbrannten Dorf. Die Spuren, die aus dem Schloß in das Dunkle führten, und diejenigen, die über das große Wasser führten. So groß war die Welt hinter dem Moor, so dunkel und voller Gefahr, und so klein war der Raum des Lebens, in dem sie nun geborgen waren. Aber neben der Weite der Welt, wo die großen und heldenhaften Dinge geschahen und mit ihnen die bösen und noch immer unheilträchtigen, mußte es wohl auch die kleinen Räume geben, die man nun mit dem erfüllte, womit schon die Vorfahren sie erfüllt hatten: mit dem Tagwerk der kleinen Leute und mit der großen Geduld, die nur die kleinen Leute hatten. Auch sie hatte das große Schicksal gestreift, der Krieg und der Tod, die Gewalt und die Verstörung der Herzen. Aber niemand hatte davon geschrieben in den Zeitungen oder in den Lautsprechern davon berichtet. Der Pflug war über sie hingegangen, und die Großen der Welt, die die Pflugschar hielten, blickten auf das Ziel der Furchen und nicht auf die Furchen selbst. In den Furchen hob das Schicksal von Millionen sich auf, wie die Stoppel sich aufhob, wurde vom Licht beglänzt, wendete sich und sank wieder in die Tiefe. Aber das Schicksal der Millionen war das Schicksal kleiner Leute, und eines solchen Schicksals achtete man nicht besonders.

Und nun waren sie zurückgeblieben hinter dem Gang der Pflugschar, wie sie nach allen Kriegen und Seuchen und Revolutionen zurückgeblieben waren. In den stillen Räumen, wo das Brot wuchs und Kinder geboren wurden. Aber die Augen der Herren ruhten immer noch auf ihnen. Auch sie waren nicht den Weg des Glanzes gegangen, hinter einer Fahne her oder hinter den großen Worten. Sie bestellten die Felder wieder, oder sie sprachen Recht in einem verfallenden Schloß, oder sie setzten einer Puppe neue Augen ein. Vielleicht tadelte die Welt sie, oder sie lächelte über sie. Aber die Leute vom Moor tadelten nicht und lächelten nicht. Sie sahen nur den Schild ihrer Herren, der aufgehoben war über sie, einen uralten Schild, und auch die dunkle Zeit hatte ihn nicht zerbrechen können.

Und nun lagen die beiden Kinder nebeneinander, in den kleinen Weidenkörben, die die junge Frau geflochten hatte. Als hätte der dunkle Strom der Jahre sie in das Schilf des Ufers gespült und man hätte sie aufgehoben und an das feste Land getragen. So wie es in der Bibel erzählt war. Und so einfach wie in den biblischen Zeiten war nun alles andere mit ihnen geschehen. Die Feuersäule in der Nacht und das Meer des Todes, das sich vor ihnen auseinander tat. Und nun die kleine Flamme im Herd, das Tröstende und Unvergängliche, und der Schnee, der lautlos auf das Schilfdach fiel. Die alte, ewige Zeit, in der die großen Reiche aufgestanden und gestürzt waren, und auf ihrem dunklen Grund die kleinen Leute, die wieder den Torf stachen und die Bäume fällten. Die immer von vorn anfingen, wenn die Herren der Welt nicht mehr wußten, wo sie anfangen oder aufhören sollten.

Und dann stimmten die Brüder ihre Instrumente und hoben die Bögen[???ich meine, der Plural hieß sonst im Buch "Bogen"!?] auf, als wären nicht vierzig oder fünfzig Jahre vergangen, sondern als wäre es gestern gewesen. Und als ständen »die drei Ahorn« noch an des »Njemen anderm Rand«.

Nur als die Frauen Christoph leise baten, eine Geschichte zu erzählen, schüttelte Christoph den Kopf. Er saß im Schatten, auf dem Herdrand, die kurze Pfeife in den zitternden Händen, und blickte auf die beiden Kinder, die in den kleinen Weidenkörben lagen. »Vor einem Jahr«, sagte er, »konnte man noch erzählen, weil sie noch nicht geboren waren. Sie sind nun ohne Mal und Makel. Nun braucht man nur zuzuhören, wie sie atmen.«

Die Kerzen brannten aus, und die Männer hoben die schweren Pakete auf die Schultern, die Kelley geschickt hatte. Das Kind hüllte die »Goldene« in das Umschlagtuch, und sie schoben die Tür des Schafstalles auf. In dem Schein des Feuers sahen sie den Schnee fallen, lautlos und dicht. Keine Spur führte an die verschneite Schwelle. Die Frauen zündeten das Licht in der Laterne an, und der rötliche Schein glitt mit ihnen hinaus, den Abhang zum Moor hinunter. Die schneebeladenen Zweige der alten Bäume schimmerten auf, und wenn die Männer mit ihren Paketen an die Äste stießen, sah es aus, als fielen kleine silberne Sterne vom Himmel herunter.

»Bleibe noch«, sagte Amadeus zu der jungen Frau, und sie kauerte sich wieder vor dem Herd auf die Erde, hüllte sich ganz in ihr dunkles Tuch und barg das Kind an ihrer Brust.

»Ich habe nachgedacht, lieber Bruder«, sagte Ägidius nach einer Weile, »ob wir nicht diese Wand tiefer in den Stall hineinrücken, damit du mehr Raum hast. Es ist mir immer so, als könntest du nicht ordentlich auf und ab gehen hier, wenn du Lust dazu hast. Und wir würden dir ein großes Brett mit Büchern bringen und es dir etwas schöner machen, da du doch hierbleiben willst.«

Aber Amadeus schüttelte den Kopf. »Laß es so, wie es ist, lieber Bruder«, sagte er. »Ich gehe nun nicht mehr viel auf und ab. Ich sitze lieber hier vor dem Herd, und für diejenigen, die zu mir kommen, ist es immer noch Platz genug. Der Mensch braucht nicht mehr Raum als in einer Zelle. Im Kloster wie im Gefängnis. Und seitdem ich angefangen habe, Verse zu schreiben, denke ich gern, daß ich in einer Zelle bin.«

»Schreibst du nun Verse?« fragte die Schwägerin leise.

Amadeus lächelte ein bißchen schüchtern und verlegen. »Es kommt mir vor«, erwiderte er, »als sollte auch ich nun etwas tun, wo doch in der Welt soviel getan wird. Und Verse zu schreiben, war ja immer erlaubt, auch in den dunkelsten und tätigsten Zeiten. So wie es den Kindern zu spielen erlaubt ist.«

»Ich habe immer gewußt, daß du unsren Namen einmal berühmt machen wirst, lieber Bruder«, sagte Erasmus.

Aber nun sah Amadeus ihn voller Fröhlichkeit an. »Pflanze keinen Lorbeer in deinen Garten, lieber Bruder«, sagte er lächelnd. »Laß es bei den Küchenkräutern bewenden. Wer allein ist, schreibt nicht um des Ruhmes willen, sondern weil er mit seinem Herzen sprechen will. Er spricht ihm zu wie einem Kind, und manchmal antwortet das Kind ganz leise.«

»Wir leben wie die Versunkenen«, sagte Wittkopp, »und wir sind ja auch auf den Grund gesunken. Manchmal zweifle ich, ob wir recht tun, aber dann bin ich wieder ganz ruhig und gewiß. Wir sollen wohl die verachteten Dinge sammeln, und einmal, in kommenden Zeiten, werden die Menschen von ihren großen Schiffen hinunterblicken in die Tiefe und den Schimmer auf dem Grunde sehen. Sie werden denken, daß es ein Schatz sei, und ein Schatz kann ja für sie nur aus Gold sein. Aber für uns ist er nicht aus Gold. Für uns ist er viel mehr, und auch Verse gehören dazu, damit er leuchtet. Sie werden eines ihrer Unterseeboote hinschicken und einen ihrer Taucher, aber wenn er wieder an Bord kommt, wird er die leeren Hände aufmachen und lächeln. ›Es war nur die gute, alte, fromme Zeit‹, wird er sagen, ›und die Algen wachsen schon darüber. Wo man sie anstößt mit dem Fuß, fällt sie auseinander.‹

›Aber vielleicht sollte man sie nicht anstoßen‹, wird vielleicht einer der Fahrgäste sagen. ›Wenn es wirklich die fromme Zeit ist …‹

›Man muß alles anstoßen, was leuchtet‹, wird der Taucher sagen, ›damit man weiß, ob es wertbeständig ist. Aber mit diesem Schatz ist es wie mit den Quallen. Wenn man sie anstößt, sind sie nichts als eine graue Masse.‹

›Und wenn nun das Geheimnis der Schönheit darin bestände, daß man sie nicht berührt?‹ wird dieselbe Stimme vielleicht fragen.

Dann wird der Taucher lächeln und seinen unförmigen Helm abnehmen. Solange er ihn noch trug, sah er so aus wie ein Wesen seiner Zeit, aus Nacht und Kälte. Aber nun erschien darüber ein kümmerliches, kleines Menschengesicht, und nun sah er wie ein ganz fremdartiges Wesen aus. ›Ich kann nicht dafür, lieber Freund‹, wird er sagen, ›daß Sie den Ruf der Zeit nicht verstanden haben.‹«

»Wir haben es leichter, lieber Pfarrer«, sagte Ägidius nach einer Weile. »Wir leben im Beständigen, im Acker oder im Wort Gottes. Uns mißt man nicht an der Zeit, vorläufig noch nicht. Aber mit einem alten General ist es schon anders, und ganz anders mit einem, der Verse schreibt.«

»Solange sich einer mit seinem Herzen bespricht wie der Herr Amadeus«, erwiderte Wittkopp, »braucht er keine Angst zu haben. Nur wenn einer sich mit der Zeit bespricht, ist es anders. Weil er dann nicht mehr er selbst ist. Und weil er überholt wird, jede Stunde, von denen, die schneller laufen. Aber wer einen Psalm schreibt oder ein Kinderlied, wird nicht überholt. Weil sie außer der Zeit sind. Die Zeit kann ihnen nichts anhaben.«

Amadeus stand lächelnd auf und legte Notenblätter auf die Pulte. »Ich möchte gern«, sagte er, »daß wir heute ›das Letzte‹ spielen.«

Die Brüder sahen ihn an, aber dann gehorchten sie. Sie erinnerten sich beide, was »das Letzte« in ihrer Sprache gewesen war. Es waren mehr als zehn Jahre vergangen, seitdem sie es gespielt hatten.

»Das Letzte« war das Larghetto aus dem letzten Klavierkonzert, das Mozart geschrieben hatte. Amadeus hatte es für ihre Instrumente gesetzt. Es war ein Notbehelf, aber es hatte ihm geschienen, als bliebe das Unsterbliche noch immer unsterblich, auch wenn man es nur auf einem Lindenblatt spielte.

Für ihn war es das letzte, was einem Menschen gelingen konnte, wenn Gott ihn anrührte. Oder wenn ein Mensch leise mit seinem Gott zu sprechen versuchte. Man konnte es erst schreiben, wenn man das letzte Abendrot zu sehen vermeinte, unter den ersten Schatten der letzten Dunkelheit, aber doch noch so, daß das Abendrot über den Schatten stand. Nur dann hatte man die Zeit hinter sich gelassen, alle Zeiten dieser Erde. Und erst dann sprach man wieder, wie die Kinder sprechen. Mit der großen Einfachheit, in der sich Wort an Wort fügte, Satz an Satz. Mit der großen Furchtlosigkeit eines geborgenen Kindes und mit der großen Seligkeit eines Kindes. Ohne Dissonanzen und ohne Sündenfall. Wo die Melodie sich so aufhob wie der Duft aus einem Blumenkelch, ohne Mühe, ohne Bewußtsein sogar. Als sei sie immer dagewesen, aber nun erst, am Abend des Lebens, hob sie sich auf, wie die Nachtviolen am Abend duften.

Zwischen diesen einfachen Tönen stand die Verheißung, daß der Mensch doch gesegnet war. Nicht als eine religiöse Verheißung, sondern weil ein Mensch diese Töne hatte schreiben können, gerade diese und keine anderen als diese. Daß er sie auch während der dunkelsten Zeiten der Erde hätte aufschreiben können, während einer Pest oder während eines Religionskrieges. Daß alle Gewalt der Zeit ihn nicht verhindern konnte, solches aufzuschreiben. Daß die Zeit machtlos war vor dem, der zum ersten Male diese Töne vernommen hatte. Daß es gleichgültig war, wie man sie benannte. Ob man sie überirdische oder göttliche Töne nannte. Weil man ja damit nur sagen wollte, daß sie die Erde und die Zeit schon verlassen hatten.

Und deshalb eben durfte man sagen, daß der Mensch gesegnet sei. Nicht nur dieser einzelne, der die Melodie empfangen hatte, sondern der Mensch im allgemeinen, die ganze Menschheit. Daß dies in ihrem Bereich lag. Nicht nur die Verfluchung durch Krieg und Seuchen, nicht nur der Mord und die Lüge, der Hochmut und die Lästerung. Sondern auch dieses, die stille und kindliche Zwiesprache mit Gott. Und deshalb nannte Amadeus es eben »das Letzte«.

Als er den Bogen sinken ließ, sah er die junge Frau an. Unter dem dunklen Tuch, unsichtbar, trank das Kind immer noch an ihrer Brust. Ihre Augen waren die ganze Zeit unbeweglich auf sein Gesicht gerichtet gewesen. Und er meinte in ihren Augen zu erkennen, daß sie nun über die Schwelle getreten war. Die dunkle und ungeheure Schwelle, die sich zwischen diesen Tönen und jenem Kinderlied erhob, das sie in der Zerstörung des Fiebers gesungen hatte.

Und als hätte das Kind mit der Nahrung aus ihrer Brust auch diese Töne eingetrunken. Als sei auch das Kind nun unberührbar und gesegnet geworden. Hinausgehoben über allen Ursprung und alle Zeit. Als hätte er es noch einmal gerettet, wie er es damals am Moorrand gerettet hatte. Als er nicht gewollt hatte, daß seine geschlossenen Augen seinem Sterben zusahen, wie das Mädchen seinem Sterben hatte zusehen wollen.


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