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13

Wenn hier und da über das, was geschehen war, gelächelt wurde, so war die junge Frau Daisy zunächst nicht diejenige, die beiseite stand. Aber sie war auch die einzige, die in den Nächten darüber weinte, und das wußte nicht einmal der Freiherr Erasmus. Er sah von seiner Frau mehr, als andere sahen, und in manchen Dingen wußte er von ihr vielleicht auch mehr als andere.

Aber wenn er ihr am Morgen das Frühstück an das Bett brachte und sie ihm entgegenblickte, die Arme unter dem Kopf gekreuzt, und wenn es ihm schien, als stände jeden Morgen die Sonne höher am Himmel und als sei es eine Unsitte, den Tag so spät zu beginnen, so vermochte er doch aus dem fernen, fast prüfenden Blick dieser Augen nichts von dem zu erkennen, worauf diese Augen in der Nacht geruht hatten.

Denn wenn das Spiel zu Ende gewesen war oder das Trinkgelage, oder der Tanz, an dem nun neben den beiden jungen »Helden« auch amerikanische Offiziere teilnahmen, so war es nicht so, wie er vermutete, daß seine Frau, müde und auf ihre Weise glücklich, in den Schlaf fiel. Nicht sehr glücklich vielleicht, daß sie ihn geheiratet hatte, aber doch glücklich, daß sie nun eine Freifrau war, herausgehoben aus dem Elend der Vertriebenen und hineingenommen in die Sicherheit derjenigen, die alles verloren hatten, aber nicht ihren Namen.

Aber darüber war die junge Frau nun nicht mehr so glücklich wie am Anfang. Wenn sie mit offenen Augen dalag und das vielfältige Leben im Schloß längst in den Schlaf gesunken war, begann die Schicksalskette ihres Lebens vor ihren getrübten Augen langsam abzurollen, jede Nacht, ohne ihr Zutun, und sie lag da und sah ihr zu, manchmal ohne Teilnahme, nur mit einer kühlen Neugier, und manchmal mit Händen, die sich falteten und wieder lösten, wie in einem Gebet oder wie in tiefen Schmerzen. Und das waren die Stunden, in denen sie über die beiden Kinder weinen konnte, bittere, verzweifelte und manchmal haßvolle Tränen.

Darin hatte Christoph wohl recht gehabt, daß sie keine Kinder haben würde, aber in dem, was er für die Ursache gehalten hatte, war er nicht im Recht gewesen. Und in vielem anderen auch nicht.

Vielleicht hätte er wissen können, daß ein durch ein wildes Leben zerstörter Körper keine Kinder tragen konnte, weil die Natur es nicht wollte. Aber er hatte nicht gewußt, daß auch ein zerstörtes Herz noch nach Kindern verlangen kann, ja mit Leidenschaft darnach verlangen wie nach einer Verzeihung der Natur und des Schicksals. Daß sie das Gericht fühlte, das die Natur über sie gehalten hatte, und um so tiefer fühlte, als selbst einer in ihrer Seele Verstörten geschenkt worden war, was ihr selbst versagt wurde.

Die Tür zu dem zweiten Raum war geöffnet, und sie hörte den Freiherrn Erasmus leise atmen, den Mann, den sie gewonnen hatte, und mit ihm einen Namen und Titel, nach dem sie mit Klugheit und Leidenschaft gestrebt hatte, um ein zerfallendes Leben noch einmal an das Sichere anzuknüpfen. Aber nach dem ersten Triumph war dies alles schnell versunken. Die Gespenster waren wieder da, das nicht mehr Abzuschüttelnde der Vergangenheit, das überall wieder auftauchte und ihr folgte, wie die beiden jungen Leute ihr gefolgt waren. Nicht die Schuld, die vor einem Gericht hätte abgeurteilt werden können. Nicht der Mann namens Knolle, der nicht unter einem Grabstein ruhte oder von den Bomben wieder an das Tageslicht geschleudert worden war, sondern der auf einem der schwarzen Märkte des Landes eine dunkle, aber wahrscheinlich einträgliche Rolle spielte, auch wenn er nie in seinem Leben eine Fabrik besessen hatte.

Aber dieses, daß sie noch einmal versucht hatte, einen Boden unter die Füße zu bekommen, wenn auch mit Täuschung und Schuld, und auch er glitt in dem dunklen Wirbel unter ihren Füßen fort: daß sie noch einmal versucht hatte, das Traumbild einer harten und erniedrigten Kinderzeit mit ihren Händen zu verwirklichen, und nachdem es ihr gelungen war, konnte sie seiner doch nicht froh werden, weil sie es aus der Wirklichkeit nicht lösen konnte. Weil soviel düstere und nackte Wirklichkeit in ihrem Leben gewesen war, daß nicht einmal ein Traumbild sich unbefleckt darin bewahren konnte.

Und weil ihr versagt werden würde, auch hier, worin allein sie sich hätte erneuern können wie in einem Märchenbrunnen: das Kind. Das Kind, das die anderen hatten empfangen und tragen dürfen, auch die Verspotteten und Verstörten, aber das sie niemals tragen würde mit ihrem preisgegebenen und zerstörten Körper.

Sie hatte niemals Daisy geheißen, sondern den für sie schrecklichen und gehaßten Namen Emilie getragen, und eigentlich hatte sie ihr ganzes Leben darangesetzt, diesen Namen und mit ihm seinen Ursprung zu überwinden. Sie hatte schreckliche Kinderjahre unter einem rohen, betrunkenen Vater und einer verwahrlosten Mutter verbracht, und sehr früh schon hatte es kaum etwas gegeben, das sie nicht gesehen und erfahren hätte. Aber sie war nie aufgegangen darin, sie hatte sich niemals tiefer fallen lassen, als es nötig gewesen war, um einen Strich mehr an den Lebensplan zu fügen, der vor ihren Augen schwebte.

Sie hatte als Zimmermädchen in einem kleinen, schmutzigen Hotel im Osten der Reichshauptstadt begonnen. Sie war vom Osten der Stadt langsam über das Zentrum zum Westen aufgerückt. Bis sie hinter der Bar eines kleinen, zweideutigen Nachtlokals Fuß gefaßt hatte. Das Nachtlokal hatte Herrn Knolle gehört, und ihn hatte sie geheiratet. So kühl und berechnend, wie sie die Kassenzettel zusammenzählte.

Es war eine Plattform auf der Leiter gewesen, ein Atemholen in den dunklen, verzehrenden Jahren, nach aller Demütigung und Erniedrigung des Körpers und der Seele. Über Herrn Knolle gab es keinerlei Illusionen. Er war ein kleiner, schon beleibter Bürger mit der Seele eines Zuhälters, und er wollte hochkommen im Leben oder doch das tun, was er darunter verstand.

Sie verstanden nicht beide das gleiche darunter, aber sie hatten beide den Boden für ihre Füße gewonnen, und der Boden wurde immer fester und zukunftsgewisser, bis der Krieg und die Bombenangriffe ihn wie alle anderen Böden zerstörten. Und nach der Preisgabe einer Jugend und eines halben Lebens, nach der Preisgabe des Körpers und der Seele war vor Daisys Augen noch einmal das Nichts gewesen. Nicht nur das Nichts der Existenz, sondern auch das Nichts dessen, was selbst in der Verworfenheit vor ihren Augen gestanden hatte: der stille, nie erblickte und nur geahnte Raum eines Lebens, in dem es keinen Mann mehr geben würde, sondern nur ein Kind. Die stille Insel einer Schiffbrüchigen, auf der nun erfüllt werden würde, worauf auch sie einen Anspruch zu haben glaubte: das stille Dasein eines zu Tode erschöpften Lebens, das ein Kind am Herzen halten würde, gleichviel, von wem das Kind stammen mochte.

Sie hatten sich getrennt, nach einer der feuerglühenden Nächte, ohne Bedauern, ohne Übereinkunft wegen der Zukunft, so als hätten sie einander nie gekannt. Was sie mit ihren Händen ausgegraben und nach einem Ziel geschleppt hatten, war ihnen zerbrochen worden, und es war nun nichts mehr da, was sie hätten tragen können. Sie gingen wieder auf den Markt des Lebens, er auf denjenigen, den er mit früher Klugheit sich aus den Trümmern erheben sah, sie auf denjenigen, auf dem sie mit dem einzigen handeln konnte, was sie besaß: mit ihrem Körper und dem wenigen, das sie in diesen Jahren erworben oder angelernt hatte. Mit dem, was der Freiherr Erasmus in seiner kindlichen Seele das »Mondäne« nannte.

Und auf diese kindliche Seele hatte sie ihre Augen gerichtet. Sie hatte ohne die geringsten Gewissensbisse erobert und gewonnen. Aber unter ihren Plänen und Täuschungen war doch wohl noch etwas anderes gewesen, und das hatte sie nicht gewonnen. Sie hatte nicht gewonnen, daß jemand, ein Freiherr oder kein Freiherr, sich zu ihr geneigt hatte, aus keinem anderen Grunde, als sie aufzuheben aus dem Schmutz ihres Lebens. Es hatte sich jemand zu ihr geneigt, um ein Kind von ihr zu gewinnen, und es war ihm gleich gewesen, von wem er es gewann.

Und so war es nun doch nicht so gewesen, daß sie wie eine Betrügerin erobert und gewonnen hatte. Es war eher so gewesen, daß sie wie eine Ertrinkende die Hand ausgestreckt hatte. Nicht der Name war das letzte gewesen, was sie begehrt hatte, obwohl er sie lockte wie bei einem Spiel. Auch in ihrem Geschlecht waren einmal Generationen gewesen, die in der alten Ordnung gelebt hatten, ehe die Ordnungen für die Kinder und Kindeskinder zerbrochen waren. Und ein Nachhall dieser alten Ordnungen war auch in der am tiefsten Gesunkenen noch da als ein fast blindes Verlangen, zurückzukehren in die Stille des Verschollenen und beim Einfachsten der Menschennatur wieder anzuknüpfen, bei der Hingabe an einen Mann und an ein Kind.

Und als es sich erwies, daß die Fäden nicht mehr anzuknüpfen waren, weil sie verrottet und verfault waren in einem verwüsteten Leben, blieb nichts anderes, als was in den langen Jahren immer gewesen war: der Rausch. Der Rausch der Männer oder des Spiels oder der schweren Getränke, deren Nebel sich wohltätig vor die Bilder schoben, für die es niemals eine Wirklichkeit geben würde.

Und wie hätte der Freiherr Erasmus also wissen sollen, was ihn aus den Augen seiner Frau anblickte, wenn er das Frühstück zu ihrem Bett trug und mit der Schuhspitze die Zigarettenreste zur Seite schob, die von der langen, schlaflosen Nacht dort lagen?

Auch ihm war nicht anzumerken, was er dachte, wenn er in dem schadhaften Sessel neben ihrem Bett saß und ihr zusah, wie sie den Zucker in den Kaffee tat. Er trat nun immer weiter an den Rand dieses Lebens zurück. Er spielte nicht, er trank nicht, er tanzte nicht. Er hielt es nur für seine Pflicht, dazusein, wenn dies alles getan wurde, wie ein höflicher Gastgeber dazusein hatte. Zuerst betrachteten die Gäste ihn mit einer höflichen Scheu und dann mit einem leisen Spott, und dann sahen sie nicht mehr, daß er da war. Für die meisten von ihnen war seine Erscheinung etwas, das gänzlich unglaubhaft war, aber an das man sich gewöhnen mußte, weil der Augenschein bewies, daß er wirklich da war. Als sei er aus dem Märchen übriggeblieben. Die Märchen waren längst versunken, aber diesen hatten sie vergessen, mit in die Tiefe zu nehmen. Sie hatten ihn aus den Händen verloren und liegenlassen. Er ließ sich nicht beiseite räumen. Man mußte einen Bogen darum machen oder darüber hinwegsteigen.

Aber wenn der Freiherr um die Mitternachtsstunde in der Tür zwischen den beiden Räumen stand, die Hände auf dem Rücken gefaltet und den Rücken an den Pfosten der Tür gelehnt, und mit seinen stillen, traurigen Augen dieses Bild betrachtete, das nun das Bild eines neuen Lebens war: das Bild eines unsauberen, mit Asche, Gläsern, Karten und Geld bedeckten Tisches, die kalten oder gierigen oder erschöpften Gesichter, die Hände, die sich ausstreckten oder wieder zurückzogen, diese ganze, an keine Form mehr gebundene Äußerung eines ganz und gar fremden, wilden und rohen Lebens, das aus der Todesnähe noch einmal aufgestiegen war, um im Rausch zu vergessen: dann begann er zu erkennen und nur er allein, was für ein Sinn in allem diesen für ihn lag. Der einzige Sinn, mit dem man fortfahren konnte, dortzustehen und zuzusehen. Der Sinn, daß ihm dieses als eine Buße zugeschrieben war.

Nicht als eine Buße für seinen schrecklichen Irrtum etwa. Auch nicht als Buße für jene Nacht auf der verschneiten Landstraße, von der die Stimmen der Kinder sich nun immer lauter erhoben, statt zu verstummen, seitdem auch sie in der schneeverhangenen Ferne erkannt hatten, daß der Freiherr dies nicht ihretwegen getan hatte, um ihre Stimmen mit der Liebe still zu machen. Sondern daß er es getan hatte, um diese Stimmen nicht mehr zu hören. Daß er ein Kind hatte haben wollen, um ihrer zu vergessen. Daß er ein neues Leben hatte haben wollen, um ihren alten Tod zu vergessen.

Nicht als eine Buße also für jene Nacht, in der er die Sterbenden allein gelassen hatte. Sondern für jenen Tag, an dem er nach seinem eigenen Glück verlangt hatte. An dem es ihn nicht mehr der Kinder, sondern seiner selbst erbarmt hatte und an dem er diese Frau genommen hatte, nicht weil es ihn auch ihrer erbarmt hätte, sondern weil sie ein willfähriges Werkzeug gewesen war, ihm vielleicht ein Kind und damit ein Vergessen zu geben.

So hatte er also nicht gebüßt, der Freiherr Erasmus. Er hatte dieses alles nicht als eine Buße auf sich genommen, sondern als ein vermeintliches Glück. Er hatte nicht auf sich genommen, was der Bruder Amadeus still auf seinen Schultern trug, obwohl dieser doch nichts zu büßen hatte. Er hatte nicht einmal auf sich genommen, was sogar sein Bruder Ägidius am Anfang vielleicht hatte auf sich nehmen müssen. Er war der älteste von ihnen, und seine Last war immer die kleinste gewesen, die bequemste, nicht die größte, wie es ihm zugekommen wäre.

Aber diese hatte er nun zu tragen, so still, daß nicht einmal die Brüder erkennen durften, daß es eine Last war. Mit dieser Frau hatte er eine Ehe geschlossen, und über sie hatte er nun den Schild zu halten wie über das einfachste Scharwerkermädchen, das auf den Schutz seines Herrn vertraute.

Was ihn so tief bedrückte in diesem neuen Leben, war nicht das Böse, das er anzusehen hatte, das an keine sittliche Ordnung mehr Gebundene. Auch nicht das Niedrige und Gewöhnliche, das an keine Form mehr Gebundene. Nicht das Häßliche, das sich der Häßlichkeit nicht mehr schämte. Und auch nicht das Schamlose, das sich nicht mehr verhüllte. Und es kam ihm auch nicht zu, zu denken, als trüge er allein den Schmutz an seinen Händen und Schuhen, den die anderen aufwühlten, ohne es zu merken.

Sondern daß es ihm nicht gelang, sich mit Güte zu allem diesen zu neigen. Daß es ihm nicht gelang, sich zu entäußern und zu erbarmen. Nicht einmal der Frau, von der er ein Kind erwartet hatte, geschweige denn ihrer Vergangenheit, mit der sie durch ihr Leben gebunden war. Daß er der Freiherr Erasmus blieb, der einen Irrtum begangen hatte und dem nichts weiter gelang, als still in der Tür zu stehen und zuzusehen, was geschah, ohne daß die anderen aus seinem Gesicht abzulesen vermochten, was er dachte.

Er war erniedrigt worden in einem behüteten Leben. Man hatte ihn nicht gebunden oder geschlagen, wie man es mit Amadeus getan hatte. Er war so behütet gewesen, als wäre er in einer Muschel aufgewachsen und diese Muschel hatte ein Leben lang auf dem Grunde eines tiefen, stillen Meeres gelegen.

Und nun gelang es ihm nicht, sich aus Liebe zu erniedrigen. Er erkannte nicht einmal, daß nichts den Menschen erniedrigte, was er aus Liebe oder Erbarmen tat.

Er versuchte niemals, den Gang dieses furchtbaren Rades aufzuhalten oder zu wenden, an das er nun geflochten war. Er sprach niemals ein Wort des Vorwurfs zu seiner Frau. In seinen Formen trat niemals die geringste Änderung ein.

Aber das war nun auch alles, was er konnte. Und er konnte es, ohne viel dazu zu tun, weil seine Geburt und seine Erziehung es ihm ermöglichten.

Er wußte nicht und konnte nicht wissen, daß der Schimmer des Hasses, der mitunter in den Augen dieser Frau auftauchte, gerade darin seine Ursache hatte. Vielleicht würde sie ihn geliebt haben, soviel sie der Liebe noch fähig war, wenn sie erkannt hätte, daß es ihn ihrer erbarmte. Und als sie erkannt hatte, daß er dieses nicht tat und niemals tun könnte, würde sie ihn vielleicht noch geliebt haben können, wenn es ihr gelungen wäre, ihn in die Dämmerung hinabzuziehen, in der sie lebte und atmete. Damit sie dort nicht allein zu leben und zu atmen hatte.

Aber es gelang ihr nicht, und sie wußte, daß es ihr niemals gelingen würde. Daß er besaß, was weder mit Mühe noch mit Fleiß, noch mit Geduld zu erlernen war: das Unberührbare und Unnahbare der Geburt und der Erziehung. Daß er ein Edelmann war, der ihr seinen Namen gegeben hatte, wie man einem armen Mädchen ein Kleid gibt. Und der nun zusah, ohne eine Falte seines Gesichtes zu verziehen, wie sie dieses Kleid anzog und glattstrich und zu zeigen versuchte, daß es ihr paßte.

Aber es würde ihr niemals passen, und er würde ihr niemals mehr ein anderes Kleid schenken.

Er zeigte weder Zorn noch Verachtung, nicht einmal Ungeduld. Seine Augen blickten über alles hin, was vor ihnen geschah, über die Gewinner und Verlierer, die Betrunkenen und die Nüchternen, als hätte man ihn gebunden und in ein schlechtes Theater geschleppt und ihn gezwungen, dem schlechten Spiel zuzusehen. Es berührte ihn nicht mehr, weil er nur seinem eigenen schlechten Spiel zuzusehen hatte. Wenn er in einem Zuchthaus sitzen und Tüten kleben müßte, würde er ebenso aussehen. Sie erkannte niemals, daß er sich nicht des Theaters oder des Zuchthauses schämte, sondern seiner selbst. Es war ihr langsam aus der Erinnerung gekommen, sich ihrer selbst zu schämen.

Und trotzdem erbarmte es sie seiner. Nicht oft, aber doch manchmal. Und immer, wenn es sie ihrer selbst erbarmte. Dann verlangte es sie darnach, zu bekennen, daß sie ihn betrogen hatte. Daß sie sich ebenso geirrt hatte wie er. Aber sie wußte nicht, daß dieses nicht mehr wichtig für ihn war. Daß vor seiner Schuld jede andere Schuld versank.

Und sie war nun schon viel zu müde, um zu bekennen. Es gab auch keine Zeit mehr für sie. Es gab den Abend und die Nacht, die mit Lärm und Rausch erfüllt war. Und es gab keine Zukunft, weil sie kein Kind haben würde.

Der einzige, der von dem Leben des Freiherrn Erasmus etwas sah, war Christoph. Aber er sah es mit den Augen des treuen Dieners und nicht anders. Es war wohl, daß er die weißen Haare seines Herrn nicht anders ansehen konnte als auf diese Weise. Mitunter blieb er am Abend da, wenn der Herr ihn mit einem scheuen Blick in den Augen angesehen hatte, half bei den Vorbereitungen und stand dann in einer der tiefen Fensternischen, ungesehen und unbemerkt, und blickte mit seinen hellen Augen auf die Welt, die sich vor ihnen auftat. Und manchmal blickte er auf seinen Herrn, der ihm gegenüber in der Tür lehnte, und es war ihm, als hätte sein Urahn so gestanden, die Peitsche in der linken Hand, und darauf gewartet, daß er den Gürtel seines Herrn fasse und ihn langsam die Treppe hinunterführe zu dem Schlitten, vor dem die vier Pferde standen.

Dann flossen ihm die Jahre und Zeiten unmerklich zusammen, die Stimmen und die Gesichter, und auch die Gestalten der Vorfahren flossen mit der seinigen zusammen, als lösten die Grenzen der Zeit sich unmerklich auf und als sei das Ganze ein einziger, ununterbrochener Strom, ein graues und trübes Wasser, an dessen Ufern sie alle ständen, treue Diener ihrer Herren, um zu warten, daß man nach Hause fahren könnte, wo die Edelfrau wartete oder die Kinder, die Äcker und das Vieh, oder der liebe Gott, an den man nur zu erinnern brauchte, damit der Herr aufstände und diesem allen den Rücken kehrte.

Und wenn dann alles zu Ende war, das Spiel oder das Trinken oder der Tanz; wenn er seinem Herrn zugenickt hatte und die Gläser in die kleine Küche getragen hatte; wenn er etwas aufgeräumt und die Fenster wieder geschlossen hatte, ging er langsam und schon etwas mühsam den schmalen Weg zum Moor hinauf, in tiefen Gedanken, und manchmal streckte er in diesen Gedanken die rechte Hand aus, um den Gürtel des Herrn zu fassen, aber der Herr war nicht da. Nur die warme Luft war da und die Sternbilder und die Stimmen der Nachtvögel. Und die leise Kühle des Alters, die er mit sich trug, und die schwere Erkenntnis, daß es doch noch etwas auszuzürnen gab für die Erde. Daß er zu früh in der Sicherheit gewesen war, zu leichtfertig, zu vorschnell, und daß die Knoten des Schicksals nicht so leicht aufzuknüpfen waren wie die Knoten in einer Peitschenschnur.

Aber eines erkannte auch Christoph nicht, trotz seinem weißen Haar und seinen hellen Augen. Er erkannte es nicht, weil ihm nichts anderes gegeben war, als den Arm um die Schulter des Herrn zu legen, wenn der Herr in Not und Gefahr sich befand. Aber es war ihm nicht gegeben, den Arm um diejenigen zu legen, die nach seiner Meinung den Herrn in Not und Gefahr gebracht hatten. Das dienende Leben hatte ihn treu gemacht, aber mitunter hatte es ihn blind gemacht vor Treue. Er sah nicht, wieviel hier gelitten wurde. Er sah nur, daß sein Herr litt.

Aber er sprach so wenig, wie der Freiherr Erasmus sprach. Wenn er vieles nicht wußte, so meinte er doch zu wissen, wann es Zeit sein würde, zu sprechen, und wie lange man nur zusehen und warten mußte.

Und es bedurfte seines Sprechens auch nicht. Seitdem die Augen des Freiherrn Amadeus nicht mehr jedem Fußtritt der jungen Frau in Angst und Sorge zu folgen brauchten, seit dem Tag des großen Regens also, waren sie wieder für alles geöffnet, was rings um ihn geschah. Und wenn der Bruder Erasmus manchmal um die Abendstunde bei ihm saß, auf dem Erlenstamm vor der Schwelle, und niemals vor der Dämmerung, war es für ihn immer noch hell genug, dieses Gesicht von der Seite zu betrachten, das die Maske der Fröhlichkeit trug, eine immer starrere Maske, und unter ihr nach dem zu suchen, was auf dem Grunde des Gesichtes in eine immer tiefere Traurigkeit sank.

Erasmus sprach nun fast ausschließlich von ihrer Kinderzeit und der Jugend, und es war, als lägen sie in einem unwirklich beglänzten Licht vor seinen traurigen Augen. Auch von dieser Zeit sprach er mit Fröhlichkeit, ohne Heimweh gleichsam, aber mit einer tiefen, fast frommen Versunkenheit, und manchmal versuchte er, mit seiner Hand den Fäden nachzugehen, die damals gesponnen worden waren, und sie bis in die Gegenwart zu verfolgen. Nicht nur die Fäden des eigenen Lebens, sondern ebenso die der Brüder. Als könnte daraus für ihn eine Klarheit gewonnen werden für alles, was geschehen war, ja, vielleicht auch für das, was noch geschehen würde.

Dann erbarmte es den Freiherrn Amadeus dieser stillen, fast lautlosen Würde, mit der hier vor seinen Augen nur die Last eines schweren Irrtums getragen zu werden schien; aber er erkannte auch, daß dies alles ja mehr war als eine einmalige Täuschung des Augenblicks. Daß auf dem Grunde der Täuschung ja mehr lag als die Verführung durch ein Menschengesicht. Sondern daß auf dem Grunde die Summe eines ganzen Lebens lag, eines zu behüteten und zu arglosen Lebens. Eines gleichsam romantischen Lebens, das seine Entschlüsse und Taten so vornahm, als ruhe auch das Leben der anderen, ja der ganzen Welt noch in den Formen und Anschauungen einer längst versunkenen Epoche. Eines Lebens, das niemals ganz wirklich gewesen war, aber von dem die »Romantiker« des Geschlechts geglaubt hatten, daß es ganz wirklich sei und daß es nicht nur für sie wirklich sei, sondern auch für alle anderen wirklich sein müßte.

Dieser rührende Kinderglaube, der der Meinung war, auch eine »mondäne« Frau brauche nur bei der Hand genommen zu werden, um ohne Mühe über die Schwelle geführt zu werden, hinter der das Reich der Liljecronas beginne. Oder doch wenigstens das Reich des Erasmus von Liljecrona, in dem die Güte, die Rücksicht, das Helfen und Heilen und nicht zuletzt das sanfte Schweigen der Unaufdringlichen so selbstverständlich war wie das Atmen der eigenen Brust.

Aber nun war dieses »romantische« Leben auf eine schreckliche Weise erwacht. So wie Kinder erwachen, wenn in der Nacht etwas Dunkles und Grauenhaftes sich vor ihren Augen abspielt. Ein Überfall, eine Gewalttat, ein Brand oder ein Erdbeben. Was vor den Augen des Freiherrn Erasmus sich abspielte, war nichts von diesen gewalttätigen Erscheinungen des Menschen oder der Natur. Es war auch nicht nur das viel Schrecklichere: daß er an einen Menschen und an einen Kreis gebunden war, die sich vor seinen Augen auf eine nie gedachte und furchtbare Weise verwandelten, wie im Traum Menschen sich in Gespenster verwandeln. Und daß seine eigene Hand an die Hände gefesselt war, die die Decke aufhoben von dem, was für ewig verhüllt zu bleiben hatte. Von dem Bösen, dem Häßlichen, dem Lärmenden und Gewöhnlichen. Als hebe man sie auf von den Gesichtern von Verstümmelten und Erschlagenen.

Wenn der Freiherr Amadeus nur dieses erkannt hätte, so würde er nicht mehr erkannt haben, als es Christoph, ohne es im einzelnen benennen zu können, erkannt hatte. Die Not seines Herrn, so wie Amadeus die Not seines Bruders erkannte. Aber Amadeus vermochte hinter dieser Not auch die andere zu sehen, die tiefere und nicht zu heilende Not: daß es dem Bruder nicht gegeben war, sich zu entäußern. Ja, daß es ihm selbst, Amadeus, am Anfang nicht gegeben gewesen war, sich dieser Frau zu erbarmen, wie er sich des Mädchens erbarmt hatte. Er selbst hatte sich erinnern können an die Jahre, in denen er gebunden und geschlagen worden war, aber der Bruder hatte nichts dergleichen, an das er sich hätte erinnern können. Der Bruder hatte sich nicht erinnern, sondern vergessen wollen. Er hatte nicht gewußt, daß man nur vergessen konnte, wenn man die Hefe der Erinnerung bis auf das Letzte ausgetrunken hatte. Aber er hatte den Becher wieder gefüllt, ehe er den Bodensatz getrunken hatte. Er hatte gedacht, daß man den Bodensatz nicht mehr schmecken würde über dem neuen Wein.

Manchmal kam es Amadeus in den Sinn, sich neben den Bruder zu setzen, wie er neben Barbara gesessen hatte, und leise, sicher und fröhlich zu ihm zu sprechen, wie er zu der verstörten Seele des Mädchens gesprochen hatte. »Einmal, vor langer Zeit, saß ein Mann am Feuer, der hatte ein großes, altes Buch auf den Knien und las von den Zeiten, in denen das Jesuskind noch über die Erde gegangen war. Und wie er so las, hörte er auf dem Moor …«

Aber dann erkannte er, daß man zu dem Bruder nicht so sprechen konnte wie zu einem Mädchen, das in einem dunklen Märchen lebte. Weil der Bruder der schweren Märchen nicht Herr werden konnte, der letzten, in denen man das Herz vor dem Messer entblößte.

Und so blieb wohl nichts, als still bei ihm zu sitzen und zuzuhören, wie er von der Kindheit und der Jugend sprach. Und ihn nur dieses fühlen zu lassen, daß die Fäden ja nicht zerrissen waren. Daß weder die winterliche Landstraße mit den Rufen der Kinder noch das Lager hinter dem Stacheldraht, noch diese Welt der Gestrandeten in den kleinen Räumen des Schlosses die Macht hatten, solche Fäden zu zerreißen. Daß Irrtum und Täuschung in jedem Leben sein konnten, aber daß nichts verloren war, solange die Hände der Vergangenheit noch da waren, die sich immer ausstreckten, um die sinkende Hand zu ergreifen.

Er sagte es nicht mit deutlichen Worten. Er sagte es eigentlich überhaupt nicht. Es genügten eine Gebärde der Hand und ein tröstliches Lächeln, um es den andern erkennen zu lassen. Und es genügte schon, den Abschiednehmenden bis zu dem Beginn des Fußpfades zu begleiten, den Arm um seine Schulter gelegt, und ihn daran zu erinnern, was Christoph von der guten Zeit gesagt hatte und daß die Erde nun aufhören werde zu zürnen.

Nur ein einziges Mal unterließ der Freiherr Erasmus, bei seinen Besuchen von der beglänzten und versunkenen Welt der Kindheit zu sprechen, in die er sich flüchtete. »Ich bin einen falschen Weg gegangen«, sagte er und starrte in das Feuer des Herdes. »Niemand weiß es, nicht einmal Christoph, der soviel weiß. Aber ich weiß es nun. Ich habe mein Eigenes gesucht und nicht das der anderen. Ich habe es nicht gutgemacht, was auf der Landstraße war. Ich habe es noch schlechter gemacht. Und ich weiß, daß ich es niemals gutmachen werde, weil es mir nicht gegeben ist. Ich hätte es schon vor meiner Schwadron wissen können und jedesmal später, wenn es darauf ankam, das Letzte zu tun. Ich habe immer nur das Vorletzte tun können. Ich bin der Älteste, aber ich bin auch der Geringste.«

»Wer das von sich weiß oder zu wissen meint, lieber Bruder, ist niemals der Geringste«, erwiderte Amadeus. »Der Geringste ist nur, wer sich für gnädig hält, wenn er sich zu den Geringen neigt. Und das tust du nicht.«

»Nicht mehr«, sagte Erasmus, »jetzt nicht mehr. Aber ich habe es wohl getan. Und das ist es, weshalb ich die Kinder noch einmal verlassen habe. Und auch das ist es, daß ich das Geringe nicht lieben kann. Ich möchte es, aber ich kann es nicht. Und ich bin zu alt, um mich zu verwandeln.«

»Und weshalb gehst du nicht fort?« fragte Amadeus nach einer Weile.

»Das kann ich nicht, lieber Bruder. Ich kann nicht aussteigen, wenn ein anderer im Boot ist und wir die Stromschnellen hören. So viel Adel ist noch in mir, auch wenn keine Liebe in mir ist. Ich bin über die Schwelle getreten, und die Tür hat sich geschlossen. Es tut nichts, daß es eine falsche Schwelle war.«

»Aber dieses sollst du nun wissen, lieber Bruder«, sagte Amadeus und legte die Hand auf seine Schulter, »daß nichts verloren ist. Solange man ein Urteil spricht, außer über sich selbst, ist vieles verloren. Aber wenn man ein Urteil spricht, außer über die anderen, ist nichts verloren. Du bist nicht der Geringste, du leidest nur am meisten. Und das nimm ruhig noch eine Weile auf dich. Ganz ruhig, hörst du?«

»Du bist nun der einzige, der dabei ist«, sagte Amadeus am nächsten Morgen zu Christoph, »du wirst wissen, wann es Zeit ist, ihn beim Gürtel zu halten, Christoph. Wirst du das wissen?«

Christoph glaubte, es zu wissen. Er versprach es nicht, aber es sei ihm, sagte er, als erhalte der liebe Gott ihn nur deshalb so lange am Leben, damit er noch einmal tun könne, was der Urahn vor Jahren getan habe.

Zu den Hütten am Moor oder zum Forsthaus kam keine Kunde von diesen Dingen. Hier war es, als hätte die Erde wirklich ausgezürnt. Die Spaten an den Torflöchern blitzten wie sonst in der Sommersonne, oder der Schlag der Äxte klang aus der Tiefe des Waldes über die stille Welt. Die Kinder spielten und sangen oder knieten vor den Blumenbeeten, die der Freiherr Amadeus angelegt hatte. Und wenn in der Dämmerung der Mann Donelaitis am Moorrand stand, unbeweglich, und über die sich verdunkelnde Fläche hinausblickte in eine Ferne, durch die vielleicht eine junge Frau wanderte, ein Bündel in der Hand, oder in der sie vielleicht schon ausgestreckt ruhte, Sand und Erde über den geschlossenen Augen, dann sahen die anderen ihm wohl von den Bänken zu, auf denen sie vor den Hütten saßen, aber sie sprachen nicht darüber. Jemand hatte sich aufgemacht, die verlorene Heimat zu suchen. Eine, die kein Kind hatte, das sie zurückgehalten hätte, und auch keinen Mann, der sie gebunden hätte, weder um ihre Handgelenke noch um ihr Herz. Sie war nun gegangen, und man konnte nichts tun, als die Hände zusammenlegen im Abendrot und ein Gebet für sie sprechen.

Nur für den Freiherrn Amadeus war es anders, wenn er dem Mann zusah, und einmal, als er ihm unvermutet begegnete in solch einer Stunde und der Mann ihn ruhig ansah mit seinen noch vom Abendrot erfüllten Augen, wußte er, daß es richtig gewesen war, ihm anders zuzusehen als die Leute vor den Hütten.

Denn die Augen dieses Mannes waren nun anders als in der Silvesternacht vor dem kleinen Feuer. Sie waren nicht ohne Traurigkeit, die dumpfe Traurigkeit eines Kindes, das man allein gelassen hat. Aber sie waren nicht nur von dieser Traurigkeit erfüllt. Etwas wie eine stille Ruhe, ja wie eine stille Gewißheit war in sie eingekehrt. Nicht etwa, daß die Frau nun die Ufer des Stromes erreichen würde, um den weißen Sand aus ihrer Hand rinnen zu lassen, sondern daß dieses nicht mehr das letzte war, woran man zu denken hatte. Daß es vielleicht schon etwas Vergängliches war, was der Mann am Abend hier sah, wenn er den erloschenen Spuren nachblickte; und daß statt dessen etwas anderes vor seinen Augen zu erscheinen begann. Daß das Abendrot immer noch leuchtete, ob er nun allein hier stand oder sie noch zu zweien wären. Daß die Bäume wuchsen und der Torf wuchs und in hundert Jahren noch nicht verschwunden sein würden. Daß Laima, die Schicksalsgöttin, über seinen Gram still hinwegsah wie über die Spuren der Frau. Und daß auch der Sand der Dünen, den der Wind in das Haff trieb, immer weitertreiben würde, ob die Hand der Frau nun nach ihm greifen konnte oder nicht.

Vielleicht irrte der Freiherr sich. Vielleicht legte er nur seine Gedanken in die Augen des Mannes hinein. Aber doch war ihm, als ginge etwas von diesen Augen in ihn über, was ihn still und sicher machte, und als müßte es also dort liegen unbemerkt von den anderen, was der Mann für niemanden als für sich gewonnen hatte.

Um diese Zeit kam auch die junge Frau vom Forsthaus zum Schafstall gegangen. Nicht jeden Abend, aber doch so, daß es immer schien, als sei sie erst gestern dagewesen. Manchmal brachte sie das Kind mit, und manchmal kam sie allein. Sie war nun scheuer als früher so wie das Wild, das erst nach dem Abendrot aus den Wäldern tritt. Und sie lehnte auch ihre Wange nicht mehr an die Knie des Freiherrn, wenn sie neben ihm auf der Schwelle saß. Sie faltete die Hände um ihre Knie und lehnte den Kopf an die Tür hinter sich, und dann blickten sie beide hinaus in das verglühende Himmelsfeuer, vor dem manchmal die Gestalt des einsamen Mannes stand.

»Manchmal ist mir«, sagte sie einmal leise, »als sollte ich fortgehen wie sie, das Kind in einem Tuch auf dem Rücken, barfuß, wie man gehen sollte, wenn man weit zu gehen hat. Aber wohin soll ich gehen? Sie hatte etwas, wohin sie zu gehen hatte, einen Strom oder eine Düne. Und sie konnte auch gehen, ohne daß etwas ihre Schultern beugte. Sie war ohne Schuld.«

Dann legte Amadeus doch wieder seine Hand auf ihren Scheitel oder um ihre Schultern und lächelte, wie er bei seinen Märchen gelächelt hatte. »Um dich habe ich doch nun gekämpft«, sagte er, »wie ich niemals um einen Menschen gekämpft habe. Das weißt du doch. Willst du mir nun wieder aus der Hand nehmen, was ich aus einem Brunnen herausgeholt habe? Wo du doch weißt, wie tief der Brunnen war und was auf seinem Grunde wartete?«

Dann beugte sie sich schnell nieder und küßte seine andere Hand, so schnell, daß er es nicht verhindern konnte, und bat ihn um Verzeihung. »Es ist wohl nur, weil ich es mir nicht denken kann«, sagte sie, »daß diese Hand es getan hat. Ich möchte es mir denken, aber ich kann es nicht. Es ist zuviel Wunder dabei.«

»Wenn ein Herz sich um ein anderes müht, ist immer Wunder dabei«, erwiderte er. »Mir kommt es vor, als sei kein einziges Leben hier so erfüllt wie das deinige. Von einem Kind erfüllt, das wir gerettet haben, als der Hund und der Wolf hinter ihm her waren. Von einem hellen Kind, das wieder einmal Kinder haben wird in dieser dunklen Zeit. Mit einem solchen Kind sollte man nicht Heimweh haben.«

»Es ist noch immer kein Makel an ihm in Ihren Augen?« fragte sie nach einer Weile.

»Es wird niemals ein Makel an ihm sein«, antwortete er. »Weil es mit seiner Wange auf dem großen Buch gelegen hat und weil die Frau das Buch nicht fortgeworfen hat, als sie über das Moor lief.«

Er spürte, wie ein leiser Schauer über ihren Körper lief, als rühre die Erinnerung sie mit einer kalten Hand an, und er fuhr fort, ihren Scheitel zu streicheln. »Vergiß nicht«, sagte er tröstend, »daß nichts mehr Gewalt über dich hat, seitdem du dich erbarmt hast. Nichts und niemand. Wer sich erbarmt hat, hat alles ausgelöscht. Es gibt keine Angst und keine Gefahr mehr für den, der sich erbarmt hat. Niemals!«

Sie blieb, bis die ersten Sterne aufzogen, und dann stand sie auf. Sie küßte ihn nun nicht mehr. Sie legte höchstens die Wange an seine Schulter und blieb so eine Weile stehen, mit geschlossenen Augen, als werde er sie nicht fortweisen von seiner Schulter, wenn sie die Augen geschlossen hätte.

Und er tat es auch nicht.

Auch für den Freiherrn Amadeus kamen Stunden, in denen er schlaflos auf seinem Lager ruhte und den Stimmen lauschte, die draußen über der nächtlichen Erde waren. In denen sein Leben ihm nicht mehr so ruhig und klar und ohne jeden Zweifel erschien. Sein Buch wurde nun gedruckt, und er blickte mit einer kühlen Neugier auf die schmalen Fahnen, die er in der Hand hielt und wo er am Rande die Fehler anmerken konnte, die der Setzer gemacht hatte. Es erschien ihm als eine fast vermessene Einfachheit, sein Leben oder doch ein paar Jahre seines Lebens so in der Hand zu halten und mit einem Bleistift die Fehler aufzuzeichnen, als seien es nicht die Fehler des Setzers, sondern die Fehler eben dieses Lebens. Und als sei es ebenso vermessen, dieses gleichsam korrigierte Leben nun von seiner Schwelle hinausgehen zu lassen in die große Welt.

Diese ganz leise Schamlosigkeit, mit der man einen Vorhang von dem zurückzog, was doch nur für die eigenen Augen bestimmt war, mit der einzigen fadenscheinigen Begründung oder Entschuldigung, daß es ja doch des Persönlichen entkleidet sei, so sehr, daß jedermann sich selbst darin erblicken könnte und daß hinter dem Einzelnen das Allgemeine erscheine, das Schicksal eben, oder wie man es nennen wollte.

Aber es war ihm nicht wohl dabei, wie es ihm auf einem Jahrmarkt nicht wohl gewesen sein würde, wo er seine Ware anzupreisen gehabt hätte, um sie zu verkaufen. Er hatte noch nicht erkannt, daß die Schmerzen des Schreibenden geringer waren als die desjenigen, der das Geschriebene nun aus der Hand gab, in andere Hände. So als ob man ein Kind verkaufte und nun mit dem Erlös in der Tasche wieder heimging.

Aber vielleicht, dachte er, war es nun der Sinn seines Lebens, sich langsam zu entäußern, wie die Sprache es nannte. Ein Kind zu haben, das nicht ihm gehörte. Ein Buch zu schreiben, das nicht mehr für ihn da war oder doch nicht für ihn allein. Ein Mädchen auf der Schwelle neben sich sitzenzulassen, das sich an einen andern verschenkt hatte. Blumen zu säen, die um andere Häuser blühten.

Dieses ganze seltsame Leben, das sich langsam loslöste von ihm, damit andere es für eine Weile in Besitz nehmen konnten, die eines Haltes oder eines Trostes bedurften. Vielleicht war es der einzige Weg, in Ehren alt zu werden, ohne Bitterkeit, ohne die Gier und Angst des Geizhalses. Sich wegzugeben, weil man so viel gesammelt hatte, daß es unrecht gewesen wäre, es für sich selbst zu bewahren.

Aber hatte er soviel gesammelt, und gab er es wirklich ohne Mühe weg? Rief nicht in diesen Stunden der Nacht eine ganz leise Stimme, die ihn mahnte oder verlockte, etwas zu behalten? So leise, wie die Kinderstimmen für den Bruder Erasmus riefen? War sein Haar schon so grau, daß ihm nichts anderes mehr erwiesen werden konnte, als daß man seine Hand küßte?

War er soweit gekommen mit seinen Gedanken, dann konnte es sein, daß die tiefe Traurigkeit der Einsamen über ihn fiel. Derjenigen, die nach »einer Idee« lebten und die die »Geduld der Heiligen« brauchten. Die ihre vermeintliche Sicherheit jede Nacht neu erwerben mußten, damit die anderen nicht unsicher würden, wenn sie am Morgen auf der Schwelle standen, um die ganze Sicherheit für ihr Tagwerk zu finden.

Dann ging er wieder über das Moor, wie er es am Anfang getan hatte, und saß eine Weile bei den beiden Wacholderbüschen, wo der »Dunkle« gelegen hatte und nach ihm er selbst, und langsam gewann er wieder die Einsicht in das Gewebe, in das er hineingeflochten war. Daß alles gut war, wie es gewesen war, und daß der Mensch sich hüten sollte, es besser machen zu wollen. Auch der mit grauem Haar nicht, ja, dieser vielleicht am wenigsten.

Und dann konnte er wieder ruhig auf einem der Torfhaufen sitzen und zusehen, wie der Pfarrer Wittkopp sich auf seinen Spaten stützte und mit ihm zusammen den Abend erwartete.

Sie hatten dem Pfarrer nun eine Gemeinde angeboten, in einer großen Stadt, mit einem unzerstört gebliebenen Pfarrhaus. Aber der Pfarrer hatte die Berufung abgelehnt. »Ich mag nun nicht fortgehen von hier«, sagte er und suchte aus seiner Tasche die Tabakreste für seine Pfeife zusammen. »Die Frauen lächeln nicht mehr, wenn sie mich ansehen, und die Kinder singen keine Spottverse mehr. Sie haben so viel Not zu mir getragen, daß sie nicht mehr lächeln, weil sie sonst über sich selbst lächeln würden. Wir haben keine Kirche und keine Kanzel und keinen Altar, aber mir ist, als sei der liebe Gott trotzdem ein bißchen näher gekommen. Als sei es ihm nicht mehr immer wohl in den großen Kirchen, wo es nun so weitergeht, wie es immer gegangen ist. Nach einem alten Programm sozusagen, als ob nichts Besonderes geschehen wäre. Aber es ist doch etwas geschehen. Es ist sogar vieles geschehen, und es reicht doch vielleicht nicht ganz aus, es eine Prüfung zu nennen und so dazustehen, als ob man die Prüfung einigermaßen bestanden hätte. Denn viele haben sie doch eben nicht bestanden, weder auf der Kanzel noch unter der Kanzel. Und vielleicht war es auch mehr als eine Prüfung …«

»Und was kann es sonst gewesen sein?« fragte Amadeus.

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Wittkopp. Er saß nun auf einem anderen Torfhaufen, Amadeus gegenüber, hatte die Arme auf seine Knie gestützt und sah dem blauen Rauch seiner Pfeife nach. »Ich weiß es nicht, Herr Baron. Es ist mir nur so, als sollten wir uns ein bißchen näher zu Gott stellen, näher an seine Knie, und als sei eine Kirche etwas, in der man das nur mit Mühe kann. In der man es vielleicht in den alten Zeiten konnte, in denen man von der ›Gemeinde der Gläubigen‹ sprach. Aber nun nicht mehr. In der Zeit nicht mehr, in der es eine ›Gemeinde der Ungläubigen‹ gibt, eine große Gemeinde, die so erschrocken ist, wie Kinder erschrocken sind, wenn sie sehen, daß ihr Vater einen Spiegel zerschlägt.

Manchmal ist mir, als liege der Unterschied darin, daß die Menschen früher kein Schicksal gehabt haben, kein eigenes, das nur jedem allein gehörte. Als sei es nur das allgemeine Schicksal der Gemeinde oder des Staates gewesen, und zu ihnen konnte man von einer Kanzel sprechen, in allgemeinen Worten, weil sie für alle galten.

Aber nun haben die Menschen ein Schicksal gehabt, jeder einzelne. Jeden einzelnen hat der Tod angefaßt, das Feuer, der Henker, die Gewalt. Und bei jedem ist es anders gewesen, ganz anders. Und nun kann man nicht mehr das Allgemeine sagen, das für jeden Verständliche und Verbindliche, weil es eben nicht mehr für jeden verständlich und verbindlich ist. Es ist nun wieder jeder allein geworden vor Gott, verstehen Sie? So wie in den alten Geschichten Abraham allein war oder Jakob oder der König Saul. Denn in diesen Jahren hat Gott mit jedem allein gesprochen und gehandelt, so als ob jeder allein von ihm ›auserwählt‹ worden wäre. Er hat nicht mehr zu den Kirchen gesprochen, es hat ihm nicht genügt. Und vielleicht genügt es ihm auch nicht mehr, wenn die Pfarrer nun wieder auf der Kanzel stehen. Vielleicht scheint es ihm zu bequem, bei allem guten Willen, den die meisten haben. Ich kann mir nicht denken, daß er die Dämonen geschickt hat, damit nachher wieder alles beim alten bleibt. Er hat sich etwas gedacht dabei, und ich grüble daran herum, was er sich gedacht haben mag.«

»Und so lange wollen Sie auf keiner Kanzel stehen?« fragte Amadeus.

»Nein, so lange nicht. Er wird mir schon Zeit lassen. Er ist geduldiger als die Konsistorien. Und ich denke auch, daß er ganz zufrieden ist, wenn ich hier noch eine Weile Torf steche und am Abend an einem Krankenbett sitze. Oder zuhöre, was die junge Frau Baronin im Schloß mich fragt.«

»Fragt sie manchmal?« sagte Amadeus.

»Ja, sie fragt. Sie tut so, als ob sie so nebenbei frage, aber sie fragt nicht nebenbei. Auch sie ist angerührt worden, auch wenn sie ihre Lippen anmalt. Auch sie ist nicht reich geworden dadurch, daß sie nun Kronen in ihre Taschentücher stickt. Sie ist nur arm geworden, viel ärmer, als sie es gewesen ist. Und sie fragt, weshalb Sara fruchtbar geworden sei mit ihren weißen Haaren.«

»Und Sie wissen es nicht?«

»Nein, ich weiß es nicht, wie ich ja im allgemeinen so schrecklich wenig weiß. Wenn ich im Dunklen die Hand ausstrecke, von meinem Lager im Schloß, fühle ich immer, wie Gott diese Hand nimmt und hält. Aber wenn er mich etwas fragen wollte, würde ich nichts wissen. Gar nichts. Wie ein Kind, das seine Aufgaben nicht gelernt hat. Aber er will das auch gar nicht, daß ich etwas weiß. Er ist ganz zufrieden damit, daß ich meine Hand ausstrecke. Aber wenn ich auf das Konsistorium gehe oder zum Bischof, wollen sie immer, daß ich ihnen nun zeige, was Gott hineingelegt hat in diese meine Hand. Eine leere Hand ist leer für sie. Sie können den leisen Schimmer nicht sehen, den Gott hineingelegt hat. Allein dadurch, daß er meine Hand gehalten hat für einen Augenblick. Wie er ihn in jede Hand hineinlegt, die sich in der Nacht ausstreckt nach ihm. So wie sie keine Kirche sehen können, in der es keine Kanzel und keine Liturgie und keine der alten Ordnungen gibt.«

»Aber es kann sein, daß sie Sie einmal absetzen, wenn Sie sich immer weigern, eine Gemeinde zu übernehmen?« fragte Amadeus.

»Das kann schon sein«, erwiderte Wittkopp. »Und sie brauchen ja auch Gehorsam. Es kann keine Ordnung ohne Gehorsam geben, und eine Kirche ist doch eben wie ein Staat im kleinen. Das ist ja das schreckliche an ihr, daß sie so geworden ist und wahrscheinlich so hat werden müssen. Das Wort ist geblieben, wie es vor zweitausend Jahren war, oder sie meinen doch wenigstens, daß es so geblieben ist. Aber die Ordnung des Wortes gleichsam ist so, wie sie heute ist. Und nicht alle können über einen Raum von zweitausend Jahren springen. Ich wenigstens kann es nicht. Und wenn sie mich nun entlassen, will ich doch lieber beim Wort bleiben als bei der Ordnung des Wortes. Es ist zuverlässiger als die Ordnungen, weil die Ordnungen doch eben Menschenwerk sind und das Wort nicht.«

»Aber Sie sind kein Ketzer, Herr Pfarrer?«

Wittkopp lächelte auf eine schöne, kindliche Weise. »Ach nein, Herr Baron«, sagte er, »das bin ich nun wohl nicht. Die Häretiker waren die großen Söhne Gottes, und ich bin nicht groß. Sie liebten so sehr, daß sie hassen konnten, und die Kirche verbrannte sie nicht, weil sie haßten, sondern weil sie so liebten. Die Kirche will niemals, daß jemand Gott über das Übliche und Vorgeschriebene hinaus liebt. Das erscheint ihr gefährlich. Und das ist ja auch das Zeichen ihrer Armut, daß sie an Gefahr denkt. Wer sicher ist, denkt nicht an Gefahr. So wie der Staat ja auch zwölf Jahre lang getötet hat, weil er nicht sicher war. Aus Angst. Und aus Angst kann man mehr Blut vergießen als aus Haß.«

»Und Sie meinen, für Sie sei kein Raum in der Kirche, wie sie heute ist?«

»Ach nein, auch das meine ich wohl nicht. Man soll niemals von sich so denken, als brauchte man nun eine besondere Kirche für sich, die erst gebaut werden müßte. Wenn man so besonders an sich denkt, dann fängt man an, eine Sekte zu gründen oder gar eine neue Religion. Man muß von sich so denken, als sei man gar nichts Besonderes, sondern eben nur wie ein Kind, das im Dunklen die Hand ausstreckt. Und die meisten Pfarrer sind nun eben doch nicht wie Kinder. Sie sind so schrecklich erwachsen, weil nur die Erwachsenen immer wissen, was sie zu sagen und zu tun haben und was recht ist. Und es fällt ihnen gar nicht auf, daß die Erwachsenen eigentlich alle dasselbe tun und sagen und denken. Die Kinder aber denken immer anders, ja, jedes für sich allein denkt anders. Sie sind noch am Ursprung des Denkens und Tuns. So wie ich in der Bibel bin. Ich denke nicht daran, was die großen Kirchenlehrer über die Bibel gesagt oder gedacht haben. Ich denke an kein Dogma und nicht daran, daß jede Kirche ihr eigenes Dogma hat. Ich lese die Bibel noch so, wie sie am Anfang war, verstehen Sie mich? Wie ein großes Märchen, in dem jede Seite wunderbar ist. Das von Joseph und seinen Brüdern etwa, oder das von dem Stern über Bethlehem. Es ist so nahe vor meinen Augen wie das Moor hier, als ob ich nur die Hand auszustrecken brauchte, um es zu greifen und für immer zu behalten.

Und deshalb passe ich auch in keine Kirche, Herr Baron. Kinder gehören nicht in eine Kirche. Und ich bin nun doch wohl ein Kind des Glaubens, während die meisten ›Herren des Glaubens‹ sind, und der Bischof wohl am allermeisten.

Und deshalb passe ich eben besser hierher. Sie sind nun alle wie die Kinder, die dort leben im Schloß. Verstörte Kinder, die etwas Schreckliches gesehen haben. Alle, trotz ihrer vorgetäuschten Sicherheit. Auch die junge Frau Baronin. Für sie alle hat die Erde wirklich gewankt, und das Feuer ist vom Himmel gefallen. Von demselben Himmel, in dem doch nach ihrem Kinderglauben der liebe Gott gewohnt hat. Nur Kinder können so verstört sein, wie sie es sind. Für sie ist nicht nur die Erde eingestürzt, sondern auch der Himmel.

Was sollen sie nun in einer Kirche tun, Herr Baron? Wo die Großen und Erwachsenen wieder dastehen und reden, wie sie vor zwölf oder zwölfhundert Jahren geredet haben? Daß alles wieder fest und geordnet und sicher sei. Aber sie haben es doch erlebt in hundert schrecklichen Nächten, daß nichts geordnet und fest und sicher war. Für sie fällt doch noch alles, was vom Himmel fällt, von Gott. Nicht von den bösen Menschen, wie man ihnen nun erzählt. Und für diese Menschen haben doch andere Pfarrer auch gebetet, daß sie heil und behütet zurückkommen möchten von ihrer Feuerfahrt.

Und ich denke nun, daß sie es bei mir stiller haben als in einer Kirche. Was ich sage, hallt nicht so wider von den steinernen Wänden wie in einer Kirche. Und ich sage es auch nicht so sicher, wie man es dort sagt. Sie sehen noch an meinen Augen, daß auch ich verstört bin, immer noch. Sie wissen ja auch von meiner Frau und meinen Kindern. Und ich trage auch keinen Talar, nur diesen Rock, in dem ich Torf steche. Zuerst haben sie gespottet über diesen Rock, aber nun spotten sie nicht mehr. Sie verstehen, daß der liebe Gott mir für eine Weile den Talar ausgezogen hat, und das macht es ihnen leichter, wenn ich mit ihnen spreche. Die anderen haben ihn nicht ausgezogen, und manche haben sogar zwei übereinander gezogen.«

Amadeus hörte ihm zu, und auch ihm war es, als gehe der große Frieden aus seinem Gesicht in ihn über. Der Friede dessen, der noch einmal anfängt, ganz von vorn anfängt. Wie Kinder, denen ein Kartenhaus zusammengefallen ist. »Wenn ich bei Ihnen sitze«, sagte er, »ist mir so, als sei alles recht, was ich in diesen Jahren getan habe.«

»Ja, wie sollte es nicht recht gewesen sein?« fragte Wittkopp. »Das große Feuerwerk ist nun vorbei, und nun bleiben nur die kleinen Lichter übrig, die still für sich brennen. Und das Wunderbare an ihnen ist ja doch, daß sie gar nicht für sich brennen, sondern für viele andere, die kein Licht mehr haben. Sie werden schon wieder anfangen mit ihrem Feuerwerk, die anderen, sehr bald sogar. Und mit Verachtung auf die kleinen Lichter blicken, die die Welt nicht vorwärts führen, wie sie sagen. Die romantischen Lichter. Aber wir wollen es ihnen ruhig überlassen, die Welt vorwärts zu führen. Wir haben ja nun ein paar tausend Jahre Erfahrung darin, wohin sie geführt wird. Und die Leute hier wollen kein Feuerwerk mehr sehen. Sie wollen lieber die kleinen Lichter sehen, die still den Abend brennen. Im Schafstall zum Beispiel. Und dann wollen sie sagen: ›Der Herr Baron ist noch wach.‹ Das ist schön für sie, daß sie das sagen können, und wenn ihr Herz bedrückt ist, können sie sich noch aufmachen und an die Tür klopfen. Es gibt einfache Leben, Herr Baron, und man soll nicht grübeln, wie man sie weniger einfach machen kann.«

Sie standen zusammen auf und gingen über das Moor zurück. Rings um die Hütten blühten nun die Sommerblumen, und die Kinder knieten um den Ziehbrunnen im Heidekraut und sangen. »Für sie ist die Erde wieder fest und sicher«, sagte Wittkopp. »Man sollte jeden Abend herkommen und ihnen eine Weile zuhören.«

Beim Abschied zögerte der Freiherr Amadeus, aber dann fragte er doch leise, was der Pfarrer von Erasmus denke. »Ich denke nicht über ihn«, erwiderte Wittkopp ruhig. »Ich sehe ihm nur zu. Christoph und ich sehen ihm zu. Er ist wie ein Kind in einen finsteren Wald gegangen, und wir beide stehen jeder hinter einem Baum, und wenn es Zeit ist, werden wir ›Hier!‹ rufen. Zuerst war er sehr sicher, und er brauchte uns nicht. Er hatte seinen Bogen und seine Pfeile, wie Kinder sie haben. Aber nun ist es nicht mehr viel mit seinen Pfeilen, und das weiß er. Aber seien Sie nur ohne Sorge, Herr Baron.«

Aber Amadeus konnte nicht anders als in Sorge sein.

Doch dann geschah es ein paar Abende später, daß Christoph in seiner Fensternische stand und der Freiherr Erasmus wie gewöhnlich in der Tür lehnte, die zu dem anderen Zimmer führte. Die Fenster waren geöffnet, weil die Luft schwül und drückend war, und mitunter glitt der bläuliche Schein des Wetterleuchtens über das Kerzenlicht, und man hörte, wie die Bäume im Park einmal aufrauschten und dann wieder in das lautlose Schweigen versanken. Die Stimmen in dem kleinen Raum waren lauter und gereizter als sonst, und es wurde mehr und hastiger getrunken. Die amerikanischen Offiziere waren ausgeblieben, und es hatten sich neue Gäste aus dem Schloß eingefunden. Leute, die auf eine unbekannte Weise Geld verdienten und von deren Namen und Titeln man nicht wußte, ob sie den nächsten Regen überdauern würden.

An der Schmalseite des Tisches saß einer der jungen Fliegerhelden und hielt, wie es Christoph schien, die Bank. Er hatte den Sweater ausgezogen, und seine behaarten Hände verteilten schnell und lautlos die Karten und die Geldscheine. Um seine schmalen Lippen lag ein immer gleichbleibendes Lächeln wie das Lächeln einer Maske, und nur wenn der ferne Donner hinter dem Park über die Erde rollte, hob er etwas die Augenbrauen wie über einer kindlichen Einmischung in ein ernsthaftes Geschäft, das die Großen unter sich abzumachen hatten.

Er gewann fast unaufhörlich, und je finsterer die Gesichter der Verlierenden wurden, desto freundlicher wurde das Lächeln um seinen Maskenmund. Außer ihm lächelte nur Frau Daisy, obwohl auch sie verlor, aber ihr Lächeln war nur wie der Widerschein des seinigen, als hätten sie einen geheimen Vertrag geschlossen, zusammen zu lächeln, und als wüßten nur sie beide, aus welchem Grunde es geschah.

Nun hing an der Wand zur Rechten des Fliegerleutnants ein großer Spiegel in einem altmodischen goldenen Rahmen, und an diesem Spiegel blieben Christophs Augen nun plötzlich haften. Die Kerzen flackerten im Wind, und ihr Licht war schwankend und ungewiß, aber auch in dem ungewissen Licht erkannte Christoph, daß dort im Spiegel etwas Seltsames vorging. Und wenn es im Spiegel vorging, mußte es auch dort vor sich gehen, wo der Ursprung der Spiegelung lag.

Er blickte eine Weile mit seinen hellen Augen auf das matt schimmernde, etwas geneigte Glas und sah dann den Freiherrn Erasmus an. Aber dieser blickte in die brennenden Kerzen, als beleuchteten sie einen Sarg statt eines Spieltisches. Und als hätte er an diesem Sarg zu wachen, über den nun immer schärfer das Licht der ersten Blitze glitt. Der Donner rollte schwer und lange nachhallend über die nächtliche Erde, und die Glasprismen des alten Kronleuchters, der verstaubt über dem Tische hing, klirrten leise, als ginge jemand über ihnen durch die Räume des Schlosses.

Christoph seufzte einmal auf, als habe man ihn zu einem schweren Gang gerufen, und ging quer durch das Zimmer auf den Freiherrn Erasmus zu. Aber als er hinter dem Stuhl des Fliegerhelden vorüberkam, blieb er plötzlich stehen und griff mit beiden Händen nach dem linken Handgelenk des Sitzenden, riß es unter dem Tischtuch hervor und zog, ehe der völlig Überraschte es verhindern konnte, eine Karte aus dessen Hemdärmel heraus. Er drehte sie so langsam herum, daß jeder der Spielenden sie erkennen konnte, ließ sie dann zusammen mit dem festgehaltenen Arm fallen und stand schon beim Freiherrn Erasmus, ehe der nächste Donnerschlag wie eine Last von Erz durch die Fenster hereinstürzte und den wilden Lärm verschlang, der sich um den Tisch erhob.

Ein kalter Wind, der schon nach Regen roch, löschte die Kerzen bis auf eine, und hinter diesem gespenstischen Bild zog Christoph nun die Tür zu und legte den Arm um die Schultern seines Herrn. »Kommen Sie nun, lieber Herr«, sagte er.

Der Freiherr öffnete im Licht der Blitze eine Schublade und nahm Papiere heraus, aber die ganze Zeit blieb Christophs Arm um seine Schulter.

Auf dem steinernen Gang blieb Erasmus noch einmal stehen und lauschte zurück. »Wir sollten sie nicht verlassen, Christoph«, sagte er. »Sie ist mir angetraut. Du tust nicht gut mit mir, Christoph.«

Aber Christoph zog ihn langsam zu der schmalen, steinernen Treppe. »Lassen Sie es nun gut sein, lieber Herr«, sagte er. »Es waren nicht seine Hände allein, die ich unter dem Tisch gesehen habe.«

Aber der Freiherr blieb noch immer stehen. Er zitterte, aber Christoph wußte nicht, daß er vor Angst zitterte. »Ich bin schon einmal gegangen, Christoph«, sagte er, »als sie geschrien haben. Und nun schreien sie wieder. Auch wenn sie im Zorn schreien und nicht vor Angst …, du tust nicht gut mit mir, Christoph …, einmal sollte ich bleiben, wenn sie schreien …«

»Ein Freiherr bleibt nicht, wenn falschgespielt wird, lieber Herr«, sagte Christoph und zog ihn die Treppe hinunter.

Als sie in die große Halle zu ebener Erde traten, begann der Regen niederzurauschen, ein schwerer, wie ein Strom niederstürzender Regen. Der Sturm riß ihnen die große Tür aus der Hand, und einen Augenblick schien es, als wollte der Freiherr zurückweichen vor der entbundenen Nacht[???eher Macht?] in die Sicherheit der schützenden Mauern.

Aber Christoph zog ihn die Stufen hinunter. »Laß es nun regnen, lieber Herr«, sagte er. »Niemand wird unterwegs sein als wir beide.«

Die Luft war kühl, als sei sie neugeboren nach der Schwüle des Tages, und sie schmeckten die Frische des Regens auf ihren Lippen. Er drang durch die Kleider bis auf ihre Haut und schloß sie ein in die große Flut, die vom Himmel niederbrach.

Unter dem Portal mit dem zerbrochenen Wappen blieb der Freiherr stehen und drehte sich noch einmal um. Ein paar der Fenster waren von einem matten Kerzenlicht erhellt, als beteten hinter ihnen die Mütter bei ihren Kindern. Jeder einzelne der Blitze hob den großen, schweren Bau des Schlosses wie aus dem Abgrund herauf, tauchte ihn in ein weißes, gespenstisches Licht und ließ ihn dann wieder in das Bodenlose stürzen. Jede einzelne der gezackten Flammenlinien schien in die steilen Dächer hinunterzufahren. Man konnte erkennen, wie die Wipfel der Parkbäume sich im Sturm bogen.

Das würde er nun niemals wiedersehen, dachte Erasmus. Niemals. Es war ihm, als ginge ein Schiff hinter ihm unter, mit zerbrochenen Masten und zerrissenen Segeln.

Aber es ging nicht lautlos unter. Er hörte die Schreie der Untergehenden, und er legte die Hände über die Ohren, um sie nicht zu hören.

Schon als sie auf der halben Höhe des Berges waren, zog das Gewitter in die Ebene hinunter. Der Regen ließ nach, und über dem Moor erschienen die ersten Sterne. Der Wald duftete mit einer wunderbaren Reinheit, und jeder Windstoß warf eine Flut von Tropfen in ihr bloßes Haar.

Der Freiherr blieb stehen, weil sein Herz ihm Mühe machte beim Steigen. »Weißt du, daß wir beide weißes Haar haben, Christoph?« fragte er plötzlich.

»Das weiß ich wohl, lieber Herr«, erwiderte Christoph, »und nun werden wir uns dessen freuen können.«

»Meinst du das, Christoph?« fragte Erasmus. »Ja, viel später wirst du nun eine neue Geschichte erzählen können. Nicht nur die von deinem Urahn, der den Herrn an seinem Gürtel führte. Aber ich weiß nicht, ob es eine wahre Geschichte sein wird.«

»Ich werde nicht mehr viele Geschichten erzählen, lieber Herr«, antwortete Christoph still. »Und ich habe kein Enkelkind, das sie von mir erzählen wird.«

»Auch ich nicht, Christoph«, sagte Erasmus leise. »Auch ich nicht, und ich hatte es doch gedacht …«

»Es sind zwei Kinder geboren worden in diesem Jahr, lieber Herr«, sagte Christoph und begann nun, langsam wieder hinaufzusteigen. »Wir sollten wissen, daß sie auch für uns geboren sind. Wir haben Anteil an ihnen gehabt, lieber Herr, viel Anteil, und mehr war uns nicht zugemessen. Wir haben zuwenig in den Spiegel gesehen, lieber Herr.«

»Ja, wir beide, Christoph«, erwiderte Erasmus. »Wir beide …«

Es war kein Licht mehr in dem kleinen Fenster des Schafstalles, aber sie blieben noch eine Weile stehen. Über dem Moor leuchteten nun schon alle Sterne, und die Nachtvögel riefen, als hätte der Regen ihren Flügeln neue Kraft gegeben. Das ferne Wetterleuchten glitt nur wie ein Scheinwerferlicht über den Horizont.

»Hier sind wir nun zu Hause, lieber Herr«, sagte Christoph. »Es war alles ein Versehen, aber nun sind wir zu Hause.«

In seiner Kammer im Forsthaus entkleidete Christoph den Freiherrn und brachte ihn zu Bett. Er deckte ihn zu und zog den Vorhang vor das kleine Fenster.

»Ich schlafe nebenan«, sagte er, »und Sie brauchen mich nur zu rufen. Ich habe schon einen leisen Schlaf.«

Aber er blieb noch stehen, die Kerze in der Hand, und blickte auf die Dielen vor seinen Füßen. »Manchmal kommt es, lieber Herr«, sagte er, »daß man meint, man müsse sich schämen. Auch ich habe mich geschämt in meinem Leben. Und ich habe gelernt, daß es gut ist, sich zu schämen. Erst wenn Gott sich unser schämt, lieber Herr, ist es nicht gut. Dann muß man umkehren, schnell und ganz. Aber bis dahin ist es gut. Und in diesem Hause ist viel Scham getragen worden, lieber Herr, viel Scham …, gute Nacht, lieber Herr.«

Christoph schlief hinter der Schwelle auf den Dielen, aber Erasmus wußte es nicht. Eine Weile blickte er auf das kleine Fenster, dessen Viereck mitunter leise aufleuchtete, und lauschte dem fernen Donner, der immer tiefer hinter den Horizont sank. Und eine Weile lauschte er dem Nachhall der Worte Christophs: »Dann muß man umkehren, schnell und ganz …«

Das Haus war still, und auch die Erde wurde nun still. Die Bettücher waren kühl, und die Luft war kühl, die von draußen die Falten des Vorhangs bewegte. Aber nach einer Weile bemerkte Erasmus, daß seine Wangen brannten. Und wieder nach einer Weile, daß sie nicht von dem Regen brannten, den der Sturm gegen sie geschleudert hatte, sondern daß sie vor Scham brannten.

Er wußte, daß die Scham ihn brannte, aber er wußte nun schon, daß Christoph nicht gut mit ihm getan hatte. Auch Christoph hatte sich geirrt mit seinem weißen Haar. Christoph hatte gedacht, daß ein Freiherr Liljecrona das Höchste auf dieser Erde sei und daß dieser Freiherr über eine falsche Schwelle getreten sei. In einen Raum, wo falschgespielt wurde, außer allem anderen, was dort getan wurde. In einen Raum, in dem auch die Hände der angetrauten Frau falschgespielt hatten, von Anfang an. Und daß man den Freiherrn beim Gürtel fassen müßte und ihn aus dem Irrtum hinausführen müßte, wie die Vorfahren Christophs getan hatten.

Aber nur der Freiherr Erasmus wußte, daß auch Christoph geirrt hatte. Nicht das »Höchste auf dieser Erde« war über eine falsche Schwelle getreten, sondern das Hochmütigste dieser Erde. Jemand, der nur an sich gedacht hatte und ein Glück und ein Kind hatte haben wollen, um die alte Schuld zu vergessen. Ein Spieler wie die anderen, der mit einem neuen Einsatz den alten Verlust hatte einbringen wollen.

Und als er verloren hatte, auch mit dem neuen Einsatz, war er geflohen. Heute nacht war er zum zweiten Male geflohen, so wie er auf der winterlichen Straße geflohen war. Ja, so wie er wahrscheinlich sein ganzes Leben lang geflohen war, wenn die Not gerufen hatte, die nackte Not, die nach den nackten Händen rief und nicht nach den mit Handschuhen bekleideten. Nicht weil er Angst um sein Leben gehabt hatte, heute, als die Karte auf den Tisch fiel, sondern weil er Angst um seine Hände gehabt hatte. Daß sie sich vor seine Frau hätten breiten müssen und um das Schmutzige, an dem sie Anteil gehabt hatte. Er hatte gefühlt, was Christoph nicht gefühlt hatte: daß er hätte bleiben sollen, und er war nicht geblieben. Er würde niemals bleiben, weil es nicht eingeboren war in ihn und nicht erworben in einem langen Leben. Und das einzige, was geblieben war, war dieses, daß seine Wangen noch immer brannten vor Scham.

Er hörte die Regenrinne des Daches tropfen, in eine alte, verwitterte Tonne, die unter dem Fenster stand. Aber er hörte nicht den Regen tropfen, sondern seine Schande. Die wirkliche Schande, nicht die eingebildete, in der er bis jetzt gelebt hatte. Nicht die Schande, daß er über eine falsche Schwelle getreten war, sondern daß er Handschuhe angezogen hatte, als er diejenigen erblickte, die hinter der Schwelle standen. Und daß er die Tür wieder aufgebrochen hatte und geflohen war, als es nicht mehr genügt hatte, Handschuhe zu tragen.

Mit schlagendem Herzen aufrecht sitzend in der Dunkelheit, sah er die Gesichter aller Schlafenden dieses Hauses, die nun nicht mehr schliefen. Die aufgewacht waren und die Stirn aus ihren Kissen hoben, um zu lauschen, wie die Schande des Freiherrn von ihrem Dach tropfte. Und obwohl es nicht ihre eigene Schande war, richteten sie sich auf und saßen so da, wie der Freiherr Erasmus dasaß, auf ihre Hände gestützt, mit schlagenden Herzen, und lauschten, ob es nicht einmal aufhören würde, zu tropfen.

Aber es würde niemals aufhören, weder bei Tage noch bei Nacht.

Es hatte viele Nächte gegeben für sie alle, in denen sie so gelauscht hatten. Aber damals hatten sie auf ihre eigene Schande gelauscht. Die des Irrtums oder der Gewalttat. Nun aber war es die Schande dessen, der in ihren Augen niemals auch nur einen Hauch davon würde tragen können. Die Schande eines Freiherrn, der mit weißem Haar geflohen war, statt sich zu erbarmen.

Aber nun hörten sie die Tropfen fallen, eintönig, langsam, immerzu. Die Schande des Herrn tropfte von ihrem Dach. Die bitterste, die sie sich denken konnten, und jeder Tropfen rief das Echo wach, weit in der ganzen Runde. Bis zu der winterlichen Straße, wo man schon einmal nach dem gerufen hatte, der sich verborgen hatte, wie er sich nun in dieser Kammer verbarg.

Es graute den Freiherrn Erasmus, und er hatte nie gedacht, daß es einen Menschen so grauen könnte. Nicht einmal damals, als er die Stirn in den Schnee des Waldes gedrückt hatte, um die Schreie nicht zu hören.

Er stand leise auf und zündete mit zitternden Händen die kleine Kerze an. Es lagen noch Blätter in der Schublade des kleinen Tisches, und er legte sie zurecht und begann zu schreiben.

»Erasmus Liljecrona« begann er mit seiner altmodischen Schrift und seiner altmodischen Ausdrucksweise. »Erasmus Liljecrona an seine geliebten Brüder, die Freiherren Ägidius und Amadeus von Liljecrona …«

Er schrieb, bis der Morgen dämmerte, und wenn er müde werden wollte, hob er den Kopf und lauschte auf den Fall der Tropfen aus der Regenrinne. Er wußte, daß es niemals aufhören würde, aus dieser Regenrinne zu tropfen. Niemals.

Als er fertig war, legte er die wenigen Dinge, die er in den Taschen trug, neben die Briefblätter, sah sich einmal um in der Kammer und ging leise hinaus. Als er die Tür öffnete, erschrak er, weil er Christoph vor der Schwelle liegen sah, aber er stieg behutsam über ihn hinüber, und blieb dann für einen Augenblick stehen, um in das schlafende Gesicht hinunterzublicken. Und er erschrak noch einmal und viel tiefer, als der Schlafende die Hand leise hob und sie um das rechte Fußgelenk des Freiherrn legte.

»Wir wollen zusammen gehen, lieber Herr«, sagte die ganz wache Stimme.

»Ich muß allein gehen, Christoph«, erwiderte der Freiherr und beugte sich, um die Hand von seinem Fuß zu lösen.

Aber der Ruhende richtete sich auf. »In meinen Geschichten war keiner, der allein ging«, sagte er. »Immer war einer dabei.«

Er nahm den Freiherrn bei der Hand und stieg mit ihm die Treppe hinunter. Auf der Schwelle begann der Freiherr, sich zu wehren, und es schien, als wollte er Christoph in das dunkle Haus zurückstoßen. »Schlage mich ruhig, lieber Herr«, sagte Christoph und hielt die Hand fest. »Ich bin alt genug, daß du mich schlagen kannst.«

Dann ging der Freiherr gutwillig mit.

Es schien ihnen beiden, als hätte es noch niemals einen solchen Morgen über dem Moor gegeben. Als sei die Erde zum erstenmal aus der Tiefe der Urnacht heraufgehoben worden, damit die Schöpfung begänne. Sie funkelte von Nässe und Reinheit, und selbst die Stimmen der Heidelerchen klangen so, als hätte es bis dahin keine Heidelerche an diesem Ort gegeben. Das Morgenrot umfaßte die Hälfte des Himmelsraumes. Es stand ganz still und so groß, als verglühe eine ganze Erde hinter ihm. Die alte Erde, die Erde von Jahrtausenden, und als habe die neue Erde dieses Morgens keinen Teil mehr an ihr.

Sie begannen um das Moor herumzugehen, ohne Ziel anscheinend, und wenn der Freiherr stehenblieb, blieb auch Christoph stehen. »Es sollte mich wundern«, sagte er einmal leise, »ob der Herr Vater nicht mitgezogen ist mit uns. Von den Wurzeln der Wacholder in der Heimat bis zu den Wurzeln dieser Wacholder. Und ob ich ihn nicht noch einmal hören sollte: ›Wie geiht di dat, Christoph?‹«

»Und was würdest du sagen, Christoph?« fragte Erasmus und sah ihn von der Seite an.

»›Dat geiht nu woll, Herr Baron‹, würde ich sagen. ›Dat geiht nu woll.‹«

»Vielleicht solltest du es nicht so sicher sagen, Christoph«, erwiderte Erasmus leise. »Nicht ganz so sicher …«

Sie waren bis zu den Hüften durchnäßt, aber sie achteten nicht darauf. Sie sahen Kraniche, die zwischen den Schilfwäldern standen, und sie hörten auch die Rohrdommel aus der Tiefe des Moores. Es war niemand unterwegs außer ihnen, und nur dort, wo von den Basaltsteinen ein schmaler, steiler Weg zur Landstraße hinunterführte, war das hohe Singen eines Motors zu hören, als mühe er sich bis zur Höhe hinauf. Christoph erinnerte sich, daß hier ab und zu amerikanische Soldaten heraufkamen, um das spärliche Wild zu jagen, und er bog zur Seite, um unter dem Fuß der Felsen über die letzten Ausläufer des Moores zu gehen.

Und erst, als sie schon wieder zwischen den Schilfhalmen standen und der Wald hinter ihnen zurückgeblieben war, hörten sie die fremde Stimme. Es war nicht nur die Stimme eines Unbekannten, sondern auch in ihrer Sprache und ihrer Melodie eine fremde Stimme. Sie war tief und laut, als sei sie ganz allein auf dieser Welt der Morgenröte, ja, als gehöre sie gar nicht in diese Welt und singe nur, um sich in ihrer Ursprungswelt wieder für eine Weile zu Hause zu fühlen. Es war eine langsame, getragene Melodie, so allein, als klinge sie vom Rand eines Urwaldes über ein Moor hin, in dem noch die Echsen der Urzeit lebten.

Sie sahen den Sänger am Fuße eines der Felsen sitzen, den Kopf mit dem flachen Stahlhelm an den rotglühenden Felsen gelehnt. Der Karabiner lag über seinen Knien, und er hielt die Hände still um den Kolben und den Lauf gelegt. Es hätte auch eine Keule oder ein Bogen sein können, was auf seinen Knien lag. Seine Haut schimmerte dunkel in der aufgehenden Sonne. Es war ein Neger, der dort saß.

Sie wußten nicht, weshalb er heraufgekommen war. Ob er nur die Sonne sehen wollte oder das Moor. Oder ob er nur singen wollte, fern von den Lautsprechern und den Scherzen seiner Kameraden. Er mochte die beiden Gestalten im Schilf wohl gesehen haben, aber er achtete ihrer nicht. Sie waren gar nicht da für ihn. Nur die Erde war für ihn da und die Sonne, die rotglühend über dieser funkelnden Erde aufging.

Und das Lied, das er mit seiner tiefen, weithin tragenden Stimme sang. Als stände er in einer der Holzkapellen im Staate Florida oder Alabama, im lächelnden Angesicht Gottes, und sänge in Gottes geneigtes Ohr hinein.

Der Wind trug die Worte in den Wald zurück, und es war nicht viel, was Erasmus verstand. Aber den Anfang verstand er:

Oh, nobody knows the trouble I've seen,
nobody knows my sorrow …

Und dazwischen zwei oder drei Male das feierlich getragene: »Oh, yes, Lord …«

Es schien Erasmus, als sänge er nicht ein ganzes Lied, sondern nur einen Anfang. Vielleicht hatte er das übrige vergessen, vielleicht genügte es ihm, diesen Anfang zu singen und immer von neuem zu wiederholen. Er saß wie ein dunkler Zauberer über einer fremden Erde und beschwor sie mit seinem Gesang, die Bäume, die Tiere, die beiden Menschen, die dort zwischen den funkelnden Schilfhalmen standen und lauschten. Er würde auch gesungen haben, wenn eine Armee auf dem Moor gestanden hätte, so allein war er. So ganz für sich, in den tiefen, dunklen Jahrtausenden seines dunklen Erdteils, über dem nun eine Botschaft für die Sünder oder die Leidenden aufgegangen war. Und diese Botschaft sang er.

Die Stimme ging weithin über das schweigende Moor, eine tiefe, leise bebende Stimme wie von einem fremden, dunklen Saiteninstrument. Die Morgensonne beschien das schwarze, wie von Öl schimmernde Gesicht, den Lauf der Waffe, die regungslosen Hände. Es hätte auch ein altes Götterbild sein können, das plötzlich zu tönen begonnen hatte, in dem leisen Wind der Frühe, der über die feuchten Gräser ging.

Und ebenso plötzlich, wie es begonnen hatte, hörte es nun auf. Es trat zurück in das Dunkel des Waldes und verschwand. Der hohe Ton des Motors war wieder zu hören, und dann war alles still.

»Weißt du, was er gesungen hat, lieber Herr?« fragte Christoph.

Der Freiherr lauschte noch immer, als hätte er die ganze Welt über dieser Melodie vergessen. Und erst als Christoph ihn leise beim Ärmel nahm, erwachte er.

»Ob du weißt, lieber Herr, was er gesungen hat?« fragte Christoph noch einmal.

»Nicht alles«, erwiderte der Freiherr. »Aber das ist auch genug … ›Oh, niemand kennt das Leid, das ich gesehen habe, niemand kennt meine Sorge …‹ Und dann hat er nur noch ein paar Mal gesungen: ›O ja, mein Herr und Gott …‹«

Christoph hatte den Kopf geneigt und hörte zu.

Dann gingen sie weiter.

Christoph blieb erst stehen, als sie bei den Wacholderbüschen angekommen waren, zwischen denen der »Dunkle« und der Freiherr Amadeus gelegen hatten. Dort setzten sie sich und rauchten. Die Erde war nun ganz erwacht. Das Moor dampfte von dem nächtlichen Regen.

»Wolltest du, daß wir hier sitzen?« fragte der Freiherr.

»Ja, das wollte ich, lieber Herr. Hier ist viel geschehen. Hier ist alles geschehen. Und hier wollte ich dem Herrn zeigen, daß die Erde ausgezürnt hat. Ich bin schon einmal hier gewesen und bin den ganzen Weg gelaufen, und mein Haar war schon weiß. Heute bin ich langsam gegangen, aber heute sind meine Knie müder. Sie sollten ein bißchen daran denken, daß ich mehr als achtzig Jahre alt bin, lieber Herr.«

»Ich wollte allein gehen, Christoph.«

»Das weiß ich, lieber Herr. Und deshalb bin ich ja mitgekommen. Auch der Urahn hat den Gürtel nicht losgelassen. Wollen Sie mich schlechter machen, lieber Herr?«

Der Freiherr antwortete nicht. Er sah auf die aus den roten Nebeln aufsteigende Erde hinaus, über der für ihn noch immer der Gesang der fremden Stimme zu tönen schien. Sein Gesicht war nun wieder verändert. Es war immer noch müde, aber es war mit ihm wie mit der Erde, als höbe auch sein Gesicht sich langsam aus den Nebeln der Nacht empor.

»Hast du ihn gehört?« fragte er.

Christoph nickte.

»So ist das also, wenn man seinen Gott überall finden kann«, fuhr der Freiherr fort. »Zuletzt war er in Florida oder Carolina, aber nun, an diesem Morgen, war er über dem Moor hier. Für den Mann, der gesungen hat, war er hier. Er war mit dem Mann mitgekommen, er war nicht zurückgeblieben und hatte den Mann nicht allein gehen lassen.«

»Aber das tut er immer, lieber Herr.«

»Nein, das tut er nicht immer, Christoph. Manchmal bleibt er zurück, weit zurück. So weit, daß du ihn gar nicht mehr sehen kannst. Aber dann ist er plötzlich wieder da. So, als ob er aus einem Felsen singt. Du siehst ihn nicht, aber du hörst ihn …, das ist ein wunderbarer Morgen …«

»Wenn ich ein Enkelkind hätte«, sagte Christoph nach einer Weile und stopfte den Tabak in seiner Pfeife fest, »würde es nun wieder eine Geschichte erzählen können. Von dem Mann, der am Morgen über das Moor ging, um seine Schande zu ertränken. Und wie er vor dem Torfwasser stand und sich darüber beugte, und das Kind war plötzlich da oder der Mann aus dem Mohrenland. Und wie sie leise sagten: ›Wolltest du das tun, und wußtest nicht, wie tief es ist?‹

›Aber ich habe ein Mal auf der Stirn‹, sagte der Mann leise.

›Ein Mal?‹ fragten sie lächelnd. Und sie hoben ihre weiße oder schwarze Hand und strichen damit über seine Stirn. Und ihre Fingerspitzen leuchteten, als sie die Hand wieder sinken ließen.

›Hast du dich nicht erbarmt?‹ fragten sie.

›Ja, manchmal habe ich mich erbarmt‹, erwiderte der Mann leise.

›Und wußtest du nicht, daß man leuchtet, wenn man sich erbarmt hat?‹ fragten die beiden.

Nein, das wußte der Mann nicht.

Und sie beugten sein Gesicht über das schwarze Wasser, und es war dem Mann, als sehe er eine Blume dort in der Tiefe leuchten.

›Gehe nun heim!‹ sagten die beiden. ›Damit die andern etwas haben, worauf sie blicken können, wenn es dunkel ist. Im Dunklen leuchten nur diejenigen, die sich erbarmt haben. Nicht die anderen, die einen Leuchter mit Kerzen aufheben.‹

So würde das Enkelkind erzählen, lieber Herr. Aber da es nicht da ist und niemals dasein wird, so mußt du es mich schon erzählen lassen, und du bist nun auch der einzige, der zuhört, lieber Herr. Ein anderer wird niemals zuhören.«

»Wir werden nun dorthin gehen, wo das helle Kind geboren ist«, fuhr Christoph fort, »und ich werde mit dir gehen. Wir haben nun beide weißes Haar, und hier ist es nun so geworden, daß sie uns beide nicht mehr so nötig haben. Aber dort werden wir noch nötig sein. Die Frau ist viel allein, und sie wird Freude an uns haben. Sie ist eine stille Frau. Einmal wolltest du die Hand heben, um andere Stirnen glatt zu machen, lieber Herr. Das ist uns nun nicht ganz gelungen. Aber nun wird sie ihre Hand aufheben, und es wird gut sein mit uns. Die Erde war ein bißchen zu laut und zu gefährlich für uns, lieber Herr. Nun wollen wir auf unser Altenteil ziehen. Und nun wollen wir Freude haben an unsrem weißen Haar, lieber Herr. Nach dieser Nacht wollen wir nun Freude haben.«

Der Freiherr Erasmus hörte zu, die Hände zwischen den Knien gefaltet. Sein Gesicht bewegte sich nicht, aber als Christoph zu Ende war, schien ein ganz leises Lächeln um seine Lippen zu gleiten. So wie Kinder lächeln, wenn sie aus einem Traum erwachen und bemerken, daß die Erde anders ist, als sie im Traum war.

»Ich habe dir nie eine Geschichte erzählt, Christoph«, sagte er dann leise. »Ich war nicht weise genug dazu. Aber nun will ich dir eine erzählen, ja, ich will dir dieselbe erzählen, nur ein bißchen anders. Nach dieser Nacht kann ich sie anders erzählen, und nachdem der Mann vor dem Felsen gesungen hat.

Es ist wahr, daß ein Mann am Morgen über das Moor ging, um seine Schande zu ertränken. Soweit ist deine Geschichte wahr. Aber was du von der Schande gedacht hast, Christoph, ist nicht wahr. Denn du hast ein bißchen zuviel an die Liljecronas gedacht, Christoph, dein ganzes Leben lang. Das war schön von dir, und es wird dir nicht vergessen werden, hier nicht und dort drüben auch nicht.

Aber du hast nicht genug daran gedacht, daß in einem alten Geschlecht nicht nur Hochmütige und Böse sind, sondern auch Schwache und Müde, und solche, die nicht lieben können, wie man lieben soll. Du hast gedacht, es sei meine Schande, daß ich in eine Falle gegangen sei. Aber ich bin nicht in eine Falle gegangen. In eine Falle geht man ahnungslos. Ich aber bin gegangen, um ein Glück und ein Kind zu haben. Ich bin gegangen, um zu vergessen, daß die Kinder riefen. Ich bin nicht mit Liebe gegangen, und ich habe mich nicht erbarmt. Das mußt du ganz verstehen, Christoph, hörst du? Ich habe mich nicht erbarmt, nicht weil ich es nicht wollte, sondern weil ich es nicht konnte. Ich bin ein größerer Sünder als die anderen, Christoph.

Und als ich sah, daß ich es nicht konnte, habe ich nur auf die Gelegenheit gewartet, um mich davonzumachen. Ja, ganz heimlich habe ich darauf gewartet.

Und heute nacht war die Gelegenheit, daß ich mich davonmachen konnte. Aus Angst, Christoph, hörst du? Aus Angst, so wie ich damals geflohen bin. Und deshalb habe ich gesagt, daß du mich nicht gut geführt hast. Denn du hättest mich zurückführen sollen in den Raum, wo die Karte auf dem Tisch lag.

Und in der Nacht, in der kleinen Kammer, habe ich bedacht, daß ich nicht den Mut haben würde, zurückzugehen. Weil ich ja die Liebe immer noch nicht habe und niemals haben werde. Und weil ich nicht den Mut haben werde, ohne Liebe zu gehen. Und deshalb bin ich aufs Moor gegangen. Vielleicht, wenn der Mann nicht gesungen hätte, würde ich deine Geschichte geglaubt haben. Und wenn der Morgen nicht so klar gewesen wäre. Wer ohne Liebe und ohne Mut ist, glaubt solchen Geschichten gern.

Aber nun glaube ich nicht mehr. Es war keine wahre Geschichte, Christoph, und auch du bist nun einmal so gewesen, daß du dich getäuscht hast. Du hast dich aus Liebe getäuscht, und das ist schön. Aber du hast dich doch getäuscht.

Denn in der wahren Geschichte war es so, daß das Kind oder der aus dem Mohrenland wohl fragten, ob der Mann sich erbarmt hätte. Aber da sagte der Mann nicht, daß er sich manchmal erbarmt hätte. Er zögerte ein bißchen, aber dann sagte er: ›Nein, ich habe mich niemals erbarmt …‹

›Niemals?‹ fragten die beiden.

›Nein, niemals. Auch damals nicht, als sie den Bruder fortschleppten. Ägidius hat sich erbarmt, aber nicht ich. Nicht ich.‹

Da schwiegen die beiden, aber dann sagte das Kind leise: ›Wir können das Mal nun nicht fortnehmen, und für alle die, die kein Mal haben, wird es ein Makel sein. Aber du wirst ja nicht mit denen leben, die kein Mal tragen, sondern mit den anderen. Oder möchtest du lieber, daß du ohne Makel wärest?‹

Da erschrak der Mann und hob die Hände auf und sagte, daß er das niemals möchte. Und daß er vielleicht nur möchte, daß das Mal der anderen ihm immer geringer erscheinen möchte als sein eigenes.

Da lächelte das Kind ganz leise und sagte, das wollten sie nun sehen, und darüber solle er sich nun keine Gedanken machen. Ein Mal könne zwar nicht leuchten, aber es könne anzeigen, daß einer Gottes Kind sei. Denn Gottes Kind sei nur, wer in der Sünde sei und es wisse …

So würde das Kind gesagt haben. Und der Mann würde sich nun nicht aufgemacht haben, um in ein behütetes Haus und auf sein Altenteil zu ziehen. Und schon gar nicht, um Freude zu haben an seinen weißen Haaren. Sondern er würde sich aufgemacht haben, um dorthin zurückzugehen, von wo er in Angst und Verstörung geflohen sei. Noch immer nicht mit Liebe und auch durchaus nicht ohne Angst. Aber doch ohne Hochmut nun, wenn auch ohne ein Glück und ohne ein Kind. Als einer, der nun von sich wußte, wie gering er war und daß ihm nichts gelang. Aber der auch wußte, daß er dafür ja das Mal trug, und darüber wolle er nun kein Tuch mehr decken …«

Sie schwiegen nun lange Zeit. Dann stand Christoph auf. »Wer alt ist und fällt, lieber Herr«, sagte er, »fällt hart.«

Sie gingen über das Moor zurück. Christoph hatte den Arm nicht mehr um die Schulter des Freiherrn gelegt. Er ging in seiner Spur, und für die Frauen und Kinder von den Moorhütten sah es so aus, als habe er den Herrn auf einem Morgengang begleitet.


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