Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

2

Amadeus weigerte sich, eines der Lager zu benutzen, das die Brüder für sich gerichtet hatten, und da er sich mit einer ihnen unverständlichen Heftigkeit weigerte und darauf beharrte, vor dem Feuer auf der Erde zu schlafen, breiteten sie ein paar Kissen auf dem Lehmboden aus und legten zwei Decken darüber.

Als sie sich zu entkleiden begannen, nahm Amadeus aus seinem Rucksack einen braunen Schlafanzug, den ihm amerikanische Soldaten geschenkt hatten, schob die schwere Tür auf und verließ den Raum. Die beiden blickten einander schnell und verstohlen an, aber sie sprachen nicht. Die Kerze gab einen so matten Schein, daß keiner den Kummer aus des anderen Gesicht ablesen konnte. Sie bedurften dessen auch nicht.

Als Amadeus wiederkam, trug er sein uniformähnliches Gewand auf dem Arm und die schweren Schuhe in der Hand. Sein Gesicht war abwesend und verschlossen, als er das Kleid sorgfältig auf einem Stuhl zusammenlegte und die Schuhe darunterstellte. Er ging noch einmal zurück, um sie so nebeneinander zu stellen, daß die Spitzen in einer Linie standen, parallel mit der Kante des Stuhles. Aber er tat es wie im Traum, und er hörte auch den leisen Seufzer nicht, mit dem Erasmus die Augen schloß.

Als er vor dem Herde lag, den Kopf in die Hand gestützt und das Gesicht der erlöschenden Glut zugewendet, löschte Erasmus die Kerze.

»Gute Nacht«, sagte Amadeus leise.

Es war nun dunkel und still, nur von den letzten Torfstücken fiel ein ganz matter Schein in den Raum, und in dem Schilfdach rührte sich leise eine Maus. Erasmus und Ägidius hatten die Augen geschlossen und atmeten tief, als ob sie schliefen. Aber sie schliefen nicht, und von Zeit zu Zeit öffneten sie die Augen und blickten verstohlen zum Herde hinüber. Die Haltung des dort Ruhenden veränderte sich nicht, nur daß er von Zeit zu Zeit die linke Hand ausstreckte, um eine Zigarette an der letzten Glut zu entzünden. Aber sie sahen dann nur den dunklen Umriß der Hand, von einem roten Schein gesäumt, und die Hand schien ihnen fremd und so für sich allein, als ob sie keinem lebenden Körper angehörte. Der Körper bewegte sich nicht, die ganze Nacht nicht.

Der schmale Balken des Lichtes, den der sinkende Mond durch das kleine Fenster warf, wurde länger und matter. Er wanderte langsam über den Lehmboden, bis er das Fußende des Lagers vor dem Herde erreichte. Dort erstarb er, und die beiden Brüder hielten ihre Augen immer noch dorthingerichtet, auch als dort nichts zu sehen war als die Schwärze des nächtlichen Raumes. Es war so still, als ob ein Toter dort läge.

Erasmus war der erste, der es nicht mehr ertragen konnte. »Du schläfst nicht, lieber Bruder?« fragte er.

»Nein«, erwiderte Amadeus leise.

Auch die beiden Stimmen hatten etwas Unwirkliches in der Dunkelheit des Raumes, als schlüge kein lebendiges Herz hinter ihnen, sondern als stiegen sie aus der Tiefe der Erde auf, die sich schweigend um das Haus breitete. Über einem Moor gab es solche Stimmen, in der Nacht, versunkene Stimmen, und der späte Wanderer hielt den Schritt an und lauschte, fröstelnd in dem Nebelhauch, der seine Stirne streifte.

»Ich will es dir nun zu erzählen versuchen, lieber Bruder«, fuhr Erasmus fort. »Das wenige, das zu erzählen ist. Man erzählt es besser in der Nacht als unter der Sonne des Tages.«

Er richtete sich nicht auf und stützte den Kopf nicht in die Hand. Er blieb so, wie er gelegen hatte, die Arme über der Decke ausgestreckt, und er sprach dort hinauf, wohin seine offenen Augen gerichtet waren: in das hohe Schilfdach, über dem die Sterne standen, die man nicht sah.

»Als du fortgingst«, sagte er, »waren sie auf der Höhe ihrer Triumphe. Es war das Zeitalter der Fanfaren. Sie versuchten immer wieder, mich in den Dienst zurückzuholen, aber ich weigerte mich. Ein Generalmajor konnte sich schon ein bißchen weigern, und es war auch kein Zweifel, daß ich nicht gesund war. Die Ärzte nennen das eine Erkrankung der Kranzgefäße. Und darauf beharrte ich. Ägidius aber hatte seine sechstausend Morgen, und das war ihnen nun doch wichtiger als ein Infanteriegewehr.

Wir sind viel um dich unterwegs gewesen, lieber Bruder, aber es war zwecklos. Was sie hatten, hielten sie wie in einem stählernen Netz. Ägidius hatte sich erboten …«

»Du sollst nur die wichtigsten Dinge erzählen«, unterbrach ihn Ägidius schnell. »Die Nacht ist bald vorüber.«

»Wie du es willst, lieber Bruder, obwohl es nichts Wichtigeres gibt, als sein Gewand zu öffnen und zu sagen: ›Adsum! Hier bin ich!‹ So wie Isaak unter dem Messer tat. Nichts Wichtigeres und auch nichts Größeres … Nun, sie lachten nur. Man könne Kleider gegen Zigaretten tauschen, sagten sie. Aber nicht Leben gegen Leben.«

»Bruder!« bat Ägidius noch einmal.

»Es ist gut«, fuhr Erasmus fort.

Amadeus streckte wieder die Hand mit einer Zigarette nach dem Rest der Glut aus, und es war Erasmus, als sei die Hand in ihrer Bewegung nicht so sicher wie bisher. Aber der Schein des Feuers war nun ganz matt geworden, und es war möglich, daß er sich täuschte. Er wartete, bis er den glühenden Punkt wieder vor dem Herde sah.

»Wir hatten viel Mühe mit der Mutter«, fuhr er fort. »Sie empfand es als eine Schmach, so wie damals, als der Vater fortgegangen war. Nicht als ein Unrecht, lieber Bruder, verstehst du? Sondern als eine Schmach. Etwas, das nur den Liljecronas widerfahren könnte, weil sie Bauern seien und keinen Sinn für Größe hätten. Für den Bauern, sagte sie, gebe es nur die Heiligkeit der Mistgabel, nicht die Heiligkeit des Schwertes. Sie hatte auch den Redestil dieser Leute angenommen.

Aber uns beiden war sie von Nutzen. Man sah uns vieles nach um ihretwillen.

Als die Fanfaren aufhörten, ging sie übrigens fort, zu ihren Leuten ins Münsterland, auf eine Wasserburg. Dort leben die ›Standesgenossen‹ noch wie zu Zeiten Karls des Großen.

Wir blieben da, bis die Panzer kamen. Man ließ uns auch nicht früher fort. Wir trieben das Vieh zusammen und beluden die Schlitten. Christoph saß auf dem vordersten, so feierlich, als ob er zur Kirche führe …«

»Christoph …«, sagte Amadeus leise.

»Ja, er war schon weit über Siebzig, vielleicht war er schon achtzig. Aber sein Kinn war sauber ausrasiert, und er trug den großen Wolfspelz, den schon der Großvater getragen hatte. Wir hatten fünfundzwanzig Grad Frost, und der Schnee trieb von Osten über das Land.

Wir fuhren einen Tag, und dann waren die Panzer über uns. Es war so dunkel wie im Grab, aber sie hatten die Scheinwerfer angemacht und fuhren über die Schlitten hinweg, über das Vieh, über Frauen und Kinder. Sie fuhren vorwärts und rückwärts, ein paar Male. Es hörte sich an, wie wenn ein Rad über feuchtes Reisig geht. Sie feuerten aus allen Rohren, weil ein paar Schlitten im Graben lagen und ein paar auf das freie Feld entkommen wollten.

Wir verloren einander. Wir liefen auf einen Wald zu, der mitunter im Licht der Scheinwerfer auftauchte. Wir stürzten, und dann liefen wir wieder. Und im Walde verloren wir einander ganz. Wir verirrten uns und fanden die Straße nicht wieder, auch im Morgengrauen nicht.

Aber ich fand Ägidius. Er hatte einen Schuß durch die linke Schulter und war am Erfrieren. Er sagte es mir erst am Abend, daß er verwundet war und als es fast zu spät war.

Wir sind dann langsam hierhergekommen. Es hat fast drei Monate gedauert. Ich hatte gedacht, wir würden hier jemanden finden, von unterwegs. Sie wußten es alle, daß sie hierher sollten. Aber es war niemand da …«

»Die Toten stehen langsam auf heute«, sagte Amadeus nach einer Weile. »Und die Lebenden wahrscheinlich auch.«

Erasmus schwieg, und dann fuhr er mit einer veränderten, leisen Stimme fort: »Ich bin wohl kein Held gewesen, Bruder«, sagte er. »Ich hätte nicht laufen sollen, außer als letzter. Es kommt immer darauf an, als der wievielte man läuft. Aber der Ton hat mich wohl verstört, mit dem die Raupenketten über die Schlitten fuhren …, und sie schrien so, Bruder, sie schrien so entsetzlich …, auch die Pferde schrien …«

»Wir haben es verlernt, Bruder, dort«, sagte Amadeus wieder nach einer Weile, »uns unter ein Rad zu werfen, freiwillig. Das Rad holt uns schon ein, wenn Laima es will. Auch wenn wir auf einem Turm sitzen.«

»Aber sie rufen«, sagte Erasmus nun ganz leise. »Ich höre sie rufen. Jede Nacht. ›Herr Baron!‹ rufen sie. Und manchmal rufen sie noch anders. ›Ja‹, sage ich. ›Ich komme ja.‹ Aber ich komme nicht. Es ist zu spät. Ich habe sie verlassen. Der Vater würde sie nicht verlassen haben.«

»Wir wissen nichts vom Vater«, sagte Ägidius. »Wir wissen nur, daß er gut war. Gut sein und sich opfern ist nicht dasselbe.«

Ein ganz leises frühes Licht fiel durch das Fenster, und sie hörten den ersten Kuckuck draußen über dem Moor. Es war wie der Klang einer fernen Glocke, als würde das Sakrament durch die Frühe getragen. Sie lauschten alle drei, und zum erstenmal ließ Amadeus sich auf sein Lager zurücksinken und verschränkte die Arme unter dem Kopf.

Wie anders das alles ist bei ihnen, dachte er. Wie ganz anders … Das waren zehn oder zwanzig, und der Krieg hat sie genommen, wie der Blitz einen Baum nimmt … Aber die anderen, die Millionen wahrscheinlich, die man geschlachtet hat, wie man Vieh in einem Schlachthaus schlachtet …, und man kann es ihnen nicht sagen, weil sie sonst denken, daß man die Toten nach der Zahl mißt …, und auch alles andere kann man ihnen nicht sagen … Ägidius sagt auch nicht, daß er sich opfern wollte für mich … »Adsum! Hier bin ich!« Das ist etwas Großes …, aber ich kann nun nicht jede Nacht hier liegen und darüber sprechen … Das fanden wir doch unter des Vaters Papieren: »Derjenige, der weiß, spricht nicht. Derjenige, der spricht, weiß nicht.« Es hat ihn getroffen, an der Wurzel, daß er auf das Feld gelaufen ist. Es wird ihn vielleicht zerstören. Er denkt noch wie ein Edelmann, und wer heute so denkt, wird zugrunde gehen. Er ist der Letzte des Geschlechtes, nicht Ägidius, nicht ich. Er ist der Wehrlose. Alle Adeligen sind wehrlos heute. Der Tank ist das Sinnbild der Zeit, nicht das Schwert. Der Tank und die Peitsche …

Der Kuckuck rief immer noch, und Amadeus stand auf. Er nahm eine Büchse mit Kaffee aus dem Rucksack und stellte sie auf den Herd. Dann nahm er seine Kleider und Schuhe und ging hinaus.

Der Morgen blendete ihn, und er blieb eine Weile stehen, den Rücken an die Wand des Stalles gelehnt. Daß die Erde so neu sein konnte jeden Morgen, so auferstanden aus der Nacht wie aus einem Grabe! Das Moor dampfte in der Morgensonne. Die Felsen dahinter leuchteten wie fließendes Gold. In den niedrigen Kiefern schimmerte das Netzwerk der Spinnen. Nichts bewegte sich als der erste Bussard, der über den Torfhügeln seine Kreise zog. Hier war kein Böses gewesen, nicht gestern, nicht vor tausend Jahren. Das Harte der Natur und der Geschöpfe war gewesen, immer, aber nicht das Böse des Menschen. Es war zu einsam gewesen hier für das Böse.

Nur der Schäfer war gewesen, und er war zu alt gewesen für Menschenrache. Es hatte nicht gelohnt mit ihm. Und seitdem sie ihn, Amadeus, fortgeführt hatten von hier, war dies alles unberührt geblieben. Wie ein Bad, das die Engel bereitet hatten für alle, die noch einmal auferstanden waren. Auch für die Geschlagenen und Gezeichneten, ja, für sie am meisten.

Aber gab es das Heilende in der Natur? Gab es überhaupt ein Heil auf dieser Erde? Ja, wenn Christoph gerettet worden wäre, das würde es leichter gemacht haben. Er hatte »den Glauben« gehabt. Man brauchte nicht denselben Glauben zu haben, aber es war schön, jemanden anzusehen, der ihn hatte. Jemanden, der keinen Stab brauchte, keine Philosophie, aber der das kleine Licht im Heidekraut sah. Für den keine Grenzen zwischen dem Unterirdischen und dem Überirdischen waren. Der eingeschlossen war in den großen Kreis und der überall und zu jeder Stunde sagen konnte: »Hier bin ich, Herr!«

Der es auch sagen konnte, wenn die Eisenbänder über seine Augen rollten und seinen Leib zerbrachen. Der nicht zu fragen brauchte: »Weshalb bin ich fortgelaufen?« Sondern der nur zu sagen brauchte: »Hier bin ich, Herr!«

Amadeus seufzte und ging langsam durch den niedrigen Wald zu dem kleinen Wasser, das am Rande des Moores lag. Der Tau näßte seine bloßen Füße, und er spürte die Kühle der Erde bis an sein Herz. Er sah sich lange um, ehe er das Nachtkleid abstreifte und in das Wasser stieg. Der Grund war sandig und weich, und erst ein Stück vom Ufer entfernt schimmerte er dunkel und moorig aus der Tiefe.

Der Kuckuck rief noch immer, aber Amadeus zählte die Jahre nicht, die er ihm versprach. Das Leben zählte nicht mehr nach Jahren.

Man muß ihm helfen, dachte er. Ehe es sich weiterfrißt in ihm und die Wurzeln zerstört. Man muß ihm sagen, daß ich, ohne die Hand zu rühren, Tausende habe sterben sehen. Daß man aufhören muß zu fragen: »Wo ist dein Bruder Abel?« Weil es Millionen Brüder geworden sind. Ja, daß man wahrscheinlich überhaupt aufhören muß zu fragen, statt nur zu sein, still und ohne Frage zu sein. Das Fragen hat die Welt verdorben, seitdem die Schlange die erste war, die gefragt hat …

Er kleidete sich langsam wieder an und ging zurück. Das Feuer brannte schon im Herd, und sie tranken den Kaffee vor der Tür. Erasmus hatte den kleinen Tisch und drei Stühle hinausgetragen. Ein Reiher flog über das Moor, und sie sahen ihm lange nach. Es war so still wie am Anfang der Welt, nach den sieben Schöpfungstagen.

»Aber wovon lebt ihr?« fragte Amadeus endlich.

»Ach, Bruder, es ist schon immer etwas da«, erwiderte Erasmus. »Sie schlagen Holz aus den Wäldern, und es ist ja auch nicht alles gestohlen worden aus dem Schloß. Die Amerikaner kamen zu schnell. Und von dem, was nicht gestohlen ist, verkaufen wir ein Stück nach dem anderen oder tauschen es ein. Jakob kommt alle zwei Tage herauf.«

»Wer ist Jakob?«

»Ja, so einer aus Polen, weißt du. Wir nennen ihn Kuba, weil es bei uns zu Hause so hieß. Er lebt nun in einem Lager, ziemlich weit von hier. Er stand eines Morgens hier und beteuerte, daß er ein ehrlicher Mann sei. Er wolle nur tauschen, sagte er. ›Von der rechten Hand in die linke Hand, von der linken Hand in die rechte Hand.‹ Er betrügt uns vielleicht ein bißchen, aber das tut nichts. Wenigstens kommt er allein.

Und außerdem haben wir einen Freund unter den amerikanischen Offizieren dort unten. Oberleutnant Kelley. John Hilary Kelley. First lieutenant. Es ist mir lieb, daß er Hilary heißt, Hilarius, das paßt so gut zu unsren komischen Namen. Und auch er selbst paßt zu uns. Er lächelt immer, aber sein Lächeln ist immer ein bißchen traurig. Für ihn sieht der Krieg anders aus als für die meisten. Er spricht sehr gut deutsch.«

»Und was will er bei euch?«

»Ach, gar nichts, weißt du. So ein bißchen dasitzen und seine eigenen Leute vergessen. Er liebt sie nicht sehr. Er sagt, sie hätten alle keine Ohren mehr, sondern nur Antennen. Aus Draht. Er könnte gut ein Vetter von uns sein, aus einer anderen Linie. Er denkt nicht, wie die anderen denken, in Schuld und Strafe. Er denkt nicht wie ein Sieger, weißt du. Sondern wie jemand, der eben hat mitspielen müssen. Und wer mitspielt, ist eben beteiligt, am Gewinn wie am Verlust.«

»Aber was soll nun werden?« fragte Amadeus weiter.

»Das weiß niemand, Bruder«, erwiderte Ägidius. »Manchmal in der Geschichte gibt es wohl kurze Zeiten, in denen nichts wird. Nichts jedenfalls, was unsre Augen sehen können. Es war so viel, daß das Gewesene sich erst niederschlagen muß, ehe etwas wird. Und dann werde ich versuchen, etwas zu finden. Arbeit, weißt du. Ein Feld, eine Herde, einen Pflug. Es ist mir schwer, ohne einen Pflug zu leben, Bruder, verstehst du das?«

Ja, das verstand Amadeus. Ägidius war der einzige, der etwas getan hatte. Sein Leben lang. Erasmus und er selbst, sie hatten nichts getan, und vielleicht würden sie auch fortfahren können, nichts zu tun. Oder doch das, was die Menschen so nannten.

»Ich kann nun nicht lange bei euch bleiben«, sagte er nach einer Weile und schützte vor der höher steigenden Sonne seine Augen mit der Hand.

»Das ist ein Unsinn, lieber Bruder«, erwiderte Ägidius freundlich. »Weil nämlich keiner von uns ohne die beiden anderen leben kann. Das war schon auf der Schule so, und das hat sich wohl nicht geändert. Man muß nun auch ein bißchen von seinem Schicksal zu erkennen versuchen. Es ist genug daran, daß der Vater fortgegangen ist.«

»Ich kann nur noch allein leben«, sagte Amadeus leise.

Ägidius sah ihn schnell an und blickte dann wieder auf das Moor hinaus. »Es sind nicht mehr die Zeiten des Orest«, erwiderte er ohne einen Zweifel in seiner Stimme. »Und du bist kein Muttermörder, lieber Bruder. Wir werden wieder spielen, Amadeus, hörst du? Wir werden Mozart spielen. Vor Mozart gibt es keine Gespenster.«

»Ich werde nie mehr spielen«, sagte Amadeus noch leiser und blickte auf seine rechte Hand nieder, die auf dem dunklen Holz des Tisches lag.

»Und weshalb sagst du das, lieber Bruder?« fragte Erasmus erschreckt und beugte sich vor. »Wenn ich das sagen wollte, der ich fahnenflüchtig geworden bin …, aber du, der du nur gelitten hast?«

»Ich habe nicht nur gelitten«, sagte Amadeus finster und schloß langsam die Hand zu. »Ich habe auch getötet, mit dieser Hand …, und was mehr ist oder was böser ist, wie ihr sagen würdet: ich würde wieder töten. Jederzeit, wenn eines der Gesichter hier erschiene, die gelächelt haben, wenn sie folterten. Es ist etwas verwandelt worden in mir, dort. Etwas fortgenommen aus mir, was ich hatte. Etwas hinzugefügt, das ich nicht hatte. Euch hat man nichts genommen oder hinzugefügt. Ihr seid dieselben geblieben. Aber wenn jetzt jemand malte, ein großer Maler, der das Letzte sieht, das ganz Verborgene, als ein Triptychon, wie die lustigen Leute sagten, dann würden die Menschen erschrecken vor dem dritten unter uns. Er würde anders sein als die beiden anderen, und die Menschen würden sagen, daß der Böse hinter ihm stehe.«

Sie beugten sich beide vor und nahmen seine Hand, die geballt auf der Tischplatte lag. Sie nahmen sie so, daß sie geborgen in ihren Händen lag. Und sie bemerkten zum erstenmal, daß die Hand den Siegelring nicht mehr trug.

»Lieber Bruder«, sagte Ägidius mit sanfter Stimme, »und wenn dieser Maler, der ganz große Maler, in unsren Gesichtern alle Liljecronas gemalt hätte, bis in die graue Vorzeit zurück, alles was sie gedacht und geglaubt und getan haben: glaubst du nicht, daß die Menschen sich davor bekreuzigen würden? Glaubst du, daß du der einzige bist, der getötet hat?«

»Es hilft nichts, nicht der einzige gewesen zu sein. Es ist dies, daß es nicht in uns gelegen hat. Daß es etwas Fremdes ist und daß ich diesem Fremden das Tor geöffnet habe. Ich habe jemanden mit schmutzigen Schuhen über unsre Schwelle treten lassen. Und ich kann es nicht fortwischen von der Schwelle.«

»Erzähle es nun, Bruder«, bat Ägidius. »Gleich am ersten Morgen. Du hast es noch nicht ganz verstanden, daß du wieder bei uns bist, Bruder, daß wir wieder zu dreien sind. Und das ist, als ob wir eines wären.«

»Wir sind nicht eines«, beharrte Amadeus. Er wendete den Blick ab und sah an den beiden Gesichtern vorbei auf das Moor hinaus. Kleine, weiße Wolken stiegen über den östlichen Horizont und begannen, sich in die Bläue des Morgenhimmels zu erheben. In der Ferne hörten sie den Ruf ziehender Kraniche.

Wieder war es Amadeus, als hätte dies alles auch vor tausend Jahren sein können. Als wäre nichts geschehen, hier wenigstens nicht. Und daß er zu Unrecht hier saß. Daß er wieder fortgehen müßte, ganz schnell, damit dies alles so bliebe, noch einmal tausend Jahre. Damit es wenigstens einen kleinen Ort auf dieser Erde gäbe, wo nichts geschehen war und nichts geschehen würde.

»Es war ein Franzose«, begann er leise. »Klein und schmal und krank. Ein Professor der Kunstgeschichte an der Sorbonne. In den Listen war er schon lange tot. Eine Herzinjektion. Aber wir hatten ihn immer gerettet. Wir hatten die Liste gefälscht. In den letzten Monaten war das schon möglich.

Und da entdeckte ihn der Henker. Von allen Mördern war er der erbarmungsloseste. Er hatte einen hohen Rang im Lager. Er hatte auch das mit den Fleischerhaken erfunden. Wußtet ihr das?«

Sie schüttelten beide den Kopf.

»Man hing die Verurteilten an solche Haken, mit dem Kinn. Es war ein schwerer Tod, der schwerste vielleicht von allen. Und dorthin mußten wir ihn führen. Er war still und tapfer, aber als wir den großen Schlachtraum betraten, sah er mich einmal an. Es waren die Augen, die sich ein Leben lang mit Schönheit getränkt hatten. Mit den Bildern von Domen und Madonnen. Sie waren noch erfüllt von diesen Bildern, so sehr erfüllt, daß die Bilder die Todesangst fast zudeckten. Aber auf dem Grunde der Augen, tief unter den Bildern, sah ich sie. Ich allein.

Es war schon alles in der Auflösung, weil das Geschützfeuer immer näher rückte, und einige von uns waren schon heimlich bewaffnet. Auch ich. Und als wir den Franzosen unter den Balken mit den Haken geführt hatten, sagte ich zu dem Henker, er solle sich umdrehen. Er drehte sich so schnell um, als hätte eine Schlange ihn in die Ferse gestochen. Und er sah in die Mündung meiner Pistole.

Sein Gesicht erstarrte, weil er es nicht begriff. Es war ihm, als ob die ganze Welt in Scherben zerfiele. Aber immer noch blieb es ein böses, ja ein verruchtes Gesicht. Auch in der Erstarrung. Mehr noch als in der Gelöstheit des Lebens.

Er sah sich um, und er sah nichts als das Ende. In keinem Gesicht war Erbarmen. Nur das Ende.

Er fiel auf die Knie und flehte um sein Leben, und wir hatten nicht gewußt, daß hinter diesen Lippen noch Menschenworte leben könnten. Wir hörten zu, wie wir zugehört haben würden, wenn eine Spinne in ihrem Netz zu sprechen begonnen hätte. Oder ein Skorpion. Oder ein Basilisk. Es schauderte uns davor, daß er mit einer Menschenstimme sprach. Es war uns, als hätte es in allen diesen Jahren keine tiefere Schändung des Menschenbildes gegeben als diese seine Stimme. Wir hatten gedacht, daß eine Teufelsstimme in ihm leben würde, oder eine Wolfsstimme, so wie in den Bildern von Hieronymus Bosch.

Der Professor bat für ihn, aber wir schüttelten den Kopf. Die anderen wollten ihn auf den Haken heben, aber bevor sie ihn ergreifen konnten, schoß ich.

Ich hätte ihn durch das Herz schießen können, aber ich schoß in sein Gesicht. Vielleicht dachte ich, daß er mit einem Herzschuß wieder aufstehen würde, weil ja dort nichts war in seinem Körper, wo wir ein Herz tragen. Nichts als ein leerer Raum. Sein Leben war nur in seinem Gesicht, das wir hatten lächeln sehen. Viele, viele Male. Und in dieses gewesene Lächeln schoß ich hinein.

Er sank vornüber, aber für mich hörte er nicht auf zu lächeln. Versteht ihr? Er hörte nicht auf zu lächeln. Es war, als ob sein Lächeln unsterblich wäre. Das unsterblich Böse; und tausend Schüsse würden es nicht ausgelöscht haben. Es war, als hätte ich nach dem Sirius geschossen oder in die Milchstraße.

Die anderen schleppten ihn dann fort, und ich sah ihnen nach. Bei keinem habe ich so gewußt wie bei diesem, daß er auferstehen würde. Und noch bei der Auferstehung würde er das gleiche Lächeln haben.

Der Franzose nahm meine Hand. Die linke, nicht die rechte. Und er sagte etwas sehr Merkwürdiges. Er sagte: ›Ceux qui restent, ce sont les pauvres.‹ Das war sehr merkwürdig, weil es die Wahrheit war. Eine von jenen Wahrheiten, die der Mensch nur sprechen kann, wenn er sich schon des Irdischen entäußert hat. Der Angst, der Hoffnung, des Hasses, und vielleicht auch der Liebe. ›Ce sont les pauvres …‹

Und das ist es auch, weshalb ich allein leben muß.«

Die Brüder hielten noch immer seine Hand. Er sah ihre Gesichter nicht an, weil er wußte, daß etwas in ihnen sein würde, was man das Grauen nennen müßte. Er sah sie erst an, als Ägidius seine Hand auf eine besondere Weise über die seinige legte. Und er sah, daß Ägidius nun lächelte.

»Erinnerst du dich nicht?« fragte Ägidius leise.

»Woran?«

»Erinnerst du dich nicht, wenn wir in der Kinderzeit eine Wunde an der Hand hatten und das Blut sich nicht stillen lassen wollte und wir zu Grita liefen? Erinnerst du dich nicht, was sie sagte?«

»War es …?«

»Ja, das war es. Einer ihrer halb christlichen und halb heidnischen Verse. So nahm sie unsre Hand in ihre Hände, und so sagte sie: ›Hand bedeckt, Tod bedeckt …, an Gottes Herzen auferweckt.‹ Sie wußte selbst nicht mehr, wo es herkam. Von der Urahne. Ein Zauber über rinnendes Blut. Und immer hörte es auf, zu fließen. Immer.«

»Aber dieses hört nicht auf«, sagte Amadeus nach einer Weile.

»Es hat schon aufgehört, Bruder«, sagte Erasmus. »Mit dem Augenblick, in dem du es erzählt hast, hat es schon aufgehört. Und weißt du denn nicht, daß du ein Leben gerettet hast, Bruder?«

»Ich habe es nicht gerettet«, erwiderte Amadeus finster. »Er ist am Flecktyphus gestorben, ein paar Wochen später. Schon als man uns befreit hatte. Und weißt du denn so gewiß, daß man ein Leben mit einem andern Leben retten darf?«

»Es ist mir so«, sagte Erasmus leise, »als seien am Kreuz viele Leben mit einem Leben gerettet worden.«

»Du sollst nicht lästern, Bruder«, erwiderte Amadeus und zog die Hand aus den Händen der Brüder. »Auch nicht aus Liebe zu mir. Oder meinst du, daß meine Hand tun dürfte, was Gottes Hand getan hat?«

»Vielleicht heißt es das«, sagte Erasmus noch leiser, »daß wir ihm zum Ebenbild geschaffen wurden …«

Und dann kam Jakob. Es war sein Tag heute. Er kam um die Ecke des Schafstalles, ein bißchen schief und ein bißchen gebeugt, mit seinem halb listigen, halb traurigen Lächeln. »Djing dobry den Herren Grafen!« sagte er und lüftete seine dunkle Kappe. »Djing dobry, Kuba«, erwiderte Ägidius. »Aber habe ich dir nun nicht oft genug gesagt, daß wir keine Grafen sind?«

Kuba lächelte nachsichtig und wischte sich mit einem spitzengesäumten Taschentuch die Stirn. »Was ist ein Graf und was ist ein Baron?« fragte er heiter. »Ob der Herr Graf haben sieben Zacken in der Krone oder neun, was ist für ein Unterschied? Wenn ein Hirsch hat sechs Zacken im Geweih und Sie sagen, er ist ein Achtender, das ist ein Fehler. Aber wenn ich sage zu Ihnen ›Herr Graf‹, das ist kein Fehler. Weil Sie auch ohne Zacken sind ein Graf.«

»Ach, Kuba«,erwiderte Ägidius und goß ihm einen Becher Kaffee ein, »du willst wieder einen Ring oder ein Armband, und deshalb sind dir die Zacken gleichgültig.«

»Wenn ich will haben einen Ring«, sagte Jakob und hob den Becher an die Lippen, »will ich haben Karate. Und wenn ich will haben Höflichkeit im Umgang, sage ich ›Herr Graf‹.«

»Aber es gibt heute nichts, Kuba«, erwiderte Ägidius. »Komme in einer Woche wieder.«

»Die Herren Grafen haben Besuch«, sagte Kuba und blickte Amadeus an. »Sie werden wieder machen Geschäfte, weil auch der Herr Bruder muß essen und trinken und haben eine amerikanische Zigarette. Der Herr Bruder hat die Haare kurz geschnitten?«

»Unser Bruder war vier Jahre im Lager«, sagte Erasmus.

»Gott der Gerechte!« rief Jakob leise und lüftete seine Kappe. »So werde ich sagen müssen ›Herr Fürst‹ und nicht nur ›Herr Graf‹.«

»Laß es nur gut sein, Kuba«, sagte Ägidius.

Jakob trank schweigend seinen Kaffee aus und erhob sich. »Ich werde bringen eine Flasche Scotch Whisky«, sagte er, in Gedanken verloren. »Das nächste Mal. Ich werde sie nicht bringen gegen Karate, ich werde sie bringen so.«

Er nahm seine Kappe ab und blickte Amadeus an. »Wenn einem alten Mann ist erlaubt zu sprechen«, sagte er leise, »dann möchte er sprechen so: daß er den Herrn Grafen bittet, er möchte wohnen lassen Gott den Herrn in seinem Gesicht und nicht …«

»Und was nicht?« fragte Amadeus.

»Und nicht die Toten, Herr Graf«, erwiderte Jakob.

»Danke, Kuba«, sagte Ägidius.

Jakob verneigte sich, setzte seine Kappe wieder auf und ging.

Später, als Erasmus das Geschirr in den Wohnraum trug, fand er auf dem Fensterbrett eine Schachtel amerikanische Zigaretten. Er brachte sie Amadeus. »Das ist viel für Kuba«, sagte er. »Sehr viel.«

»Ich gehe nun ein bißchen«, sagte Amadeus, als sie das Geschirr gewaschen und getrocknet hatten. »Ich muß dies alles einmal sehen. Es wird vielleicht Abend werden, aber ich werde wiederkommen.«

»Das wissen wir, lieber Bruder«, sagte Erasmus.

Amadeus nahm nur etwas Brot mit sich und eine Feldflasche mit Kaffee. Er ging nach Westen, so daß er die Sonne im Rücken hatte, und er wollte einmal um das ganze Moor gehen. Es war ein Hochmoor wie in der Heimat, mit kleinen Kiefern und Birken zwischen den Schilf- und Wasserflächen, und man brauchte ein paar Stunden, um es zu umgehen. An den Rändern stand ein lockerer Wald. Überall kam der Basalt aus dem Moos heraus, und auf dem warmen Stein sonnten sich die Eidechsen. Der Himmel war hoch und blau, von kleinen, weißen Wolken belebt und von den Zügen der Vögel, die auf der Reise nach Norden waren. Es war ganz still, auch seine Schuhe machten kein Geräusch auf der weichen Erde, nur wo er an den Torfbrüchen vorüberkam, klang es dumpf und leise unter der Erde mit.

Aber er dachte nun nicht an den Tod. Es war, als hätten die Hände der Brüder den Tod zugedeckt, so wie Grita das Blut zugedeckt hatte. Es war ihm leichter, seitdem er gesprochen hatte. Er hatte in vier Jahren kaum ein Wort gesprochen. Es hatte sich nichts geändert, aber es war ihm doch, als sei er aus einem Keller heraufgestiegen.

Er wußte nicht mehr, wie es war: zu gehen ohne Zweck und Ziel. Und niemanden hinter sich zu haben, der eine entsicherte Pistole oder eine Peitsche trug. Er wußte nicht mehr, daß es eine Erde gab, die man nicht zu graben oder fortzukarren brauchte. Etwas, das still da lag, von der Sonne beglänzt, und seinen Füßen den Raum freigab, gutwillig, ohne Arg.

Und über diese Erde konnte er nun gehen, nach allen Richtungen der Windrose, und er konnte stehenbleiben und mit den Händen an den Schilfhalmen auf und ab streichen. Er konnte tief atmen, ohne eine Last auf den Schultern zu spüren. Er konnte sich auf den trockenen Torf setzen und warten, bis die Eidechse wieder aus den Gräsern herauskam.

In der Ferne riefen noch immer die Kraniche, wie sie in der Heimat gerufen hatten. Er legte die Hand über die Augen, aber er konnte die Vögel nicht sehen. Er konnte nur den Himmel sehen, den Raum, den unbegrenzten, wunderbaren, schweigenden Raum. Grita würde gesagt haben, daß man an einem solchen Morgen Gottes Füße sehen könnte, wie sie still und heilig auf einem blauen Schemel ruhten.

Er stand wieder auf und ging weiter, die Hände auf dem Rücken zusammengelegt, und auch dieses war schön, weil er vier Jahre nicht gewußt hatte, daß man die Hände so halten konnte, außer wenn sie gefesselt waren. Er nahm sie auseinander und legte sie wieder zusammen, ein Mal nach dem anderen. Es war wunderbar, ihre Bewegung zu fühlen.

Dann dachte er eine Weile an die Heimat. Es war nun vieles verloren, die Bücher, die Noten, die schönen, kleinen Bausteine, aus denen man einen Tag zusammensetzte. Und das Gefühl, mit dem die Wurzeln des Herzens in die vertraute Erde hinunterreichten. In die kühle, feuchte Tiefe, über die seine Kinderfüße gelaufen waren.

Aber es war nun verloren. Das Schicksal hatte ihn aufgehoben, damals, wie der Wind eine Samenkapsel aufhebt, und einmal würde es ihn niederfallen lassen. Wenn noch Leben in ihm war, würde es auch in fremder Erde Wurzel schlagen. Vielleicht war das Leben unsterblich, wie das Böse unsterblich war.

Er ging und ging. Sein Schatten lag nun schon nicht hinter ihm, sondern zu seiner Seite. Die Höhenzüge im Osten und Westen traten klarer aus der Ferne heraus, aber er streifte sie kaum mit den Augen. Das Nahe war das allein Beglückende, die Gräser, die Halme, das kleine Wasser, das die Wolken spiegelte. Die Kiebitze kreisten um ihre feuchten Brutplätze, und er stand lange, um ihrem Flug zuzusehen und ihrem klagenden Ruf zu lauschen. Er hatte so lange keine Vögel gesehen.

Er dachte mitunter an die Brüder, aber nicht an die Sieger und nicht an das Vaterland. Es gab noch keine allgemeinen Gedanken für ihn. Das Vaterland trank die bittere Hefe des Bechers, und das war nun recht so. Andere hatten sie zwölf Jahre lang getrunken und mit ihr das bittere Sterben.

»Und nicht die Toten, Herr Graf«, hatte Jakob gesagt. Jakobs Volk hatte die meisten Toten getragen, das Schrecklichste, was einem Volke widerfahren war, solange die Schöpfung bestand. Es war viel für ihn, so etwas sagen zu können. Es war mehr als die kleine Schachtel, die er auf das Fensterbrett gelegt hatte. Viel mehr.

Aber er, Amadeus, würde wohl fortfahren müssen, seine Toten zu tragen. Wer keine Liebe hatte, konnte keine Lebendigen tragen. Sie bedürfen der Liebe, die alles trägt.

Um die Mittagszeit lag er am Rande des Moores. Jenseits der leeren, flimmernden Fläche konnte er das dunkle Dach erkennen, unter dem sie nun saßen. Auch sie trugen die Spur der Jahre, eine schwere, tief eingegrabene Spur. Ägidius war der einzige von ihnen, der nicht gebeugt worden war. Das wußte er nun schon. Wahrscheinlich, weil er den Pflug geführt hatte. Er war auch der einzige, der sich hatte opfern wollen. Er hatte gewußt, daß die Scholle gewendet werden mußte. Er war ihnen weit voraus. Sie würden ihn niemals einholen. Sie waren nun nicht mehr zusammengeschlossen in die Tafeln des Triptychons. Sie waren herausgetreten. Sie hielten einander noch bei der Hand, aber ihre Augen blickten nicht mehr zusammen auf Gottes Stirn. Der eine wurde gerufen von den Stimmen, die unter dem rollenden Eisen erstarben. Der andere rief nach dem Acker, den man ihm fortgenommen hatte. Der dritte rief weder, noch wurde er gerufen. Er war nur da. Die Brandung hatte ihn ausgeworfen, und er lag nun da, mit schwerem Atem, und das Wasser der Tiefe tropfte von ihm herunter.

Die Sonnenflecken wanderten zwischen den Stämmen. Es roch nach Harz und nach Öde, und Amadeus fielen die Augen zu. Seine Hände lagen im warmen Moos, mit geöffneten Fingern, und er bewegte die Finger leise hin und her. Sie fühlten weder das Moos noch die Erde. Es war, als ob sie nur das Leben fühlten, das nackte, nur daseiende, nichts wollende und nichts leidende Leben. Die reine Existenz, wie ein Kind sie fühlt, das man in der Sonne vergessen hat.

Nach zwei Stunden stand er wieder auf und ging. Das Licht über dem Moor war anders geworden, die Schatten fielen anders, aber es war immer noch dieselbe Erde. Eine Erde ohne Menschen, ohne Frage und Antwort, nur der Raum, der ihn aufnahm und sich willig ihm öffnete. Der rote Milan horstete immer noch in der hohen Kiefer zwischen den Basaltblöcken. Und die Rohrdommel rief aus dem Moor, wo es am tiefsten war. Sie hatten die brennende, stürzende Erde vor dem letzten Fall bewahrt. Sie allein, nicht die Menschen. Nichts war Wiederkehr für sie, nichts Veränderung. Für sie war alles noch Anfang, erster Tag, erste Angst, erste Liebe.

Amadeus ging und ging, und es war ihm, als ob er in die Ewigkeit hineinginge. Niemals würde er müde werden, über diese weiche, lautlose Erde zu gehen, solange nur die Gräser und die Vögel da waren, der leichte Wind, der große Himmel. Solange keine Menschen da waren, weder Sieger noch Besiegte. Menschen wollten immer etwas und streckten immer die Hände aus, nach dem Körper oder nach dem Herzen. Aber die Gräser und Vögel wollten nichts von ihm. Sie blieben in ihrer Welt. Er könnte durch Gräser hindurchgehen, wie man durch Wasser hindurchgeht. Das Wasser schloß sich zu hinter ihm und hinterließ keine Spur. Und so, ohne Spur, wollte er nun über die Erde gehen.

Die Sonne sank schon, als er wiederkam. Die Brüder saßen auf der Schwelle und blickten ihm entgegen, als ob die Kinderzeit noch da wäre. Die Nacht konnte nicht beginnen, ohne daß sie zusammen waren. So lange mußten die Sterne warten.

Er setzte sich ihnen halb gegenüber und blickte zurück über das sich verdunkelnde Moor. Es war der zersägte Stamm einer Erle, auf dem er saß, und er stützte die beiden Hände auf die warme Rinde. Er war nun müde, und er freute sich auf sein Lager vor der warmen Asche des Herdes.

»Ich habe keinen Menschen getroffen«, sagte er. »Es war schön.«

»Hier geht auch niemand«, erwiderte Ägidius. »Von denen, die Torf gestochen haben, ist niemand zurückgekommen. Wenn von unsren Leuten noch jemand kommt, kann er dort gleich anfangen. Torf ist fast so kostbar wie Brot.«

»Meinst du, daß noch einer kommen wird, Bruder?« fragte Erasmus leise.

»Ja, das meine ich. Aber der Weg ist weit, und wahrscheinlich haben sie alle zerrissene Schuhe, oder sie gehen barfuß.«

Der Kuckuck rief immer noch, und die ersten Nebel stiegen schon langsam auf. Der Abendstern trat leise aus der Dämmerung heraus. Die Frösche erwachten. Die nächtliche Erde begann, leise zu atmen.

»Wir haben es nun so beschlossen, lieber Bruder«, sagte Ägidius, »und wir bitten dich, es dabei zu lassen. Wir verstehen nun, daß du für eine Weile allein sein mußt, und es wird dir guttun. Wir sind heute in das Forsthaus gezogen, es sind nur zehn Minuten zu gehen. Es gehört uns ja jetzt, und sie haben oben zwei hübsche, ganz stille Zimmer. Sie sind sehr wohnlich eingerichtet, besser als hier, und sie nehmen uns sehr gern, schon als einen Schutz. Du weißt wohl nicht, daß sie den Förster abgeholt haben? Er ist in einem Lager, und er hat ja wohl auch seine kleine oder große Rolle hier gespielt. Er war ein ordentlicher Mann, aber er ist wohl mit einem Fuß in das Moor gekommen, und es wird noch eine Weile mit ihm dauern.

Und wir haben gedacht, daß wir jeden Morgen oder Abend ein bißchen zu dir kommen. Auch an uns mußt du dich ja erst ein bißchen gewöhnen. Du kannst bei uns essen oder allein für dich, ganz wie du es willst. Wenn du mir deine Papiere gibst, will ich dich anmelden unten, und du wirst ja auch genug bekommen. Dafür sorgen die Amerikaner schon.«

»Ihr tut es meinetwegen?« fragte Amadeus.

»Ja, natürlich, Bruder. Aber es fällt uns nicht schwer, verstehst du? Es fällt uns sogar leicht, und du sollst doch nicht immer vor dem Herd schlafen. Du sollst vor allen Dingen einmal allein schlafen nach diesen Jahren. Das hätten wir gleich verstehen sollen.«

»Aber weshalb dorthin?« fragte Amadeus.

»Es ist doch in deiner Nähe, Bruder, und wo sollten wir sonst etwas finden? Und die Frau war so glücklich, daß du wieder da bist.«

»War sie das?« fragte Amadeus.

»Ja, wirklich, und ich denke, sie war auch anders als die beiden. In der sogenannten Politik, meine ich. Nur die Tochter ist schwierig.«

»Die Tochter, ja …, wie heißt sie doch?«

»Barbara.«

»Ja, sie hätte Brünhild heißen sollen. Aber damals wußte man das alles ja noch nicht.«

»Magst du die Leute nicht, Bruder?«

»Ich kenne sie wenig. Die Tochter schlug mich einmal mit einer Weidenrute über die Hand. Ich dachte, daß ich sie nie mehr würde bewegen können. Sie schlug sehr ordentlich zu.«

»Ja, aber weshalb?«

»Sie hatte ein Bild des großen Diktators in der Hand. So eine von diesen submissen Postkarten, und sie fragte, ob ich wohl etwas Schöneres auf dieser Erde je gesehen hätte. Ich lächelte natürlich, und da schlug sie zu. Ich hielt die Postkarte in der Hand, und über diese Hand schlug sie. Damals war sie dreizehn oder vierzehn Jahre alt.«

»Ja«, sagte Erasmus seufzend, »die Mädchen verloren als erste den Verstand.«

»Aber sie hält es nun wenigstens nicht mit den Siegern«, sagte Ägidius, »wie die meisten. Ich denke, daß sie gern das ganze Schloß vergiften möchte. Kümmere dich nicht darum, Bruder. Du hast noch wenig von dem gesehen, was sich jetzt abspielt. Und Buschan ist nun gestraft genug. Die Lager sollen kein Paradies sein.«

»Ich hoffe es«, erwiderte Amadeus.

Er ging bis zur Waldecke mit ihnen und sah ihnen dann nach. Die Schatten der Bäume und die dünnen Nebelstreifen nahmen sie auf und deckten sie zu. Es sah aus, als würden sie niemals wiederkehren.

Er ging langsam zurück und saß wieder auf der Schwelle. Hinter ihm lag der kleine Raum im Dunklen. Niemand war da. Er brauchte keines Menschen Atem zu hören. Das Torffeuer im kleinen Herd glühte wie in der letzten Nacht, und wie es nun immer glühen würde. Es war sein Feuer, er brauchte es nicht mehr zu teilen.

Er lehnte den Kopf an den warmen Pfosten und faltete die Hände um die Knie. Der Abendstern war höher gestiegen, und andere Sternbilder hoben sich langsam über das Moor. Eine Eule rief aus dem Dunklen, und in der Ferne bellte ein Hund.

Er war allein, und nun hatte wohl das Zeitalter begonnen, in dem der Mensch lernen würde, allein zu sein. Das Grauen hatte ihn seine Einsamkeit gelehrt. Alle Hände waren zerfallen, die ihn bisher behütet hatten, aller Trost, alle Gewißheit. Der Mensch hatte gezeigt, wessen er fähig war an letzter Verruchtheit. Der Mensch war ein Mörder geworden, ohne Zorn, ohne eine innere Beteiligung. Ein spielender, lächelnder Mörder, und auf der anderen Seite standen die Opfer. Dazwischen gab es nichts. Sie mochten nun jahrelang reden und schreiben, über Schuld und Sühne, über die Freiheit, über die Menschenrechte. Aber wer wieder Gewalt bekam, würde das gleiche wieder tun, noch lächelnder, noch vollkommener.

Der aber nicht Gewalt hatte, war allein. Das Zeitalter der Kindheit war vorbei, in der man eine Hand ausstreckte, um eine andere Hand zu fassen, die der Mutter oder die des Gesetzes oder die Gottes. Man konnte sie immer noch ausstrecken, aber man streckte sie in den leeren Raum. Alle Opfer dieser Jahre hatten die Hand ausgestreckt, bis zur letzten Sekunde, in der sie geschrien oder gebetet hatten, unter dem Galgen, unter dem Beil, unter der Marter. Niemand hatte die Hand ergriffen. Im Tode noch blieb sie ausgestreckt, geöffnet, verkrümmt, allein.

Und er, Amadeus, würde nun eine Weile hierbleiben. Vor diesem Herd, der ihn wärmte, vor diesem Sternenhimmel, der ihn beschien, wie er die Gräser oder die Steine beschien. Er hatte zwei Brüder, und einmal waren sie eines gewesen, so wie sie eines gewesen waren, wenn sie die Bogen an ihre Instrumente gehoben hatten. Aber nun waren sie nicht mehr eines. Nun waren sie jeder allein, wie der Vater schon allein gewesen war. So allein, daß er sich hatte »überreden« lassen. Damals hatte Gott ihn überredet, aber wer sollte heute überreden?

Noch eine Atempause hatte das Schicksal ihm gegeben, und er nahm sie und atmete tief auf. Der Hund bellte in der Ferne, aber es war keiner der Bluthunde. Er hob seine Hände auf und ließ sie wieder sinken. Sie trugen keine Kette mehr. Die Eule rief, aber es war kein Mensch, der in seiner Todesnot schrie. Das war, was er nun hatte und besaß. Es war ihm geschenkt worden ohne sein Verdienst. Es hätte ihm auch nicht geschenkt werden können. Er hätte zertreten werden können wie die anderen. Der Fuß des Henkers war danebengetreten, um Haaresbreite. Es lag kein Gesetz darin, kein Trost, keine Zuversicht.

Es lag auch keine Zukunft in diesem Abend als die Zukunft anderer Abende. Er kannte seine Frist nicht, er wußte nicht, was man mit ihm vorhatte. Er war entkommen, und er kannte die nächste Falle nicht, die für ihn aufgestellt war. Er war so allein wie der Wolf, der durch das Dickicht strich. Und wie ein Wolf lauschte er in die Ferne, ob der Mensch zu vernehmen wäre. Das Wesen mit Gewalt und das Wesen mit Lächeln. Und er wußte nicht, welches von beiden schrecklicher war.

Auch die Frau hatte gelächelt, bei der er sich verborgen hatte für eine Nacht. Im zweiten Jahr war er geflohen, von der Außenarbeit. Er hatte sechs Monate gebraucht, um es vorzubereiten, und es war ihm gelungen, weil er an einen Fluß gekommen war und ein Boot gefunden hatte. Das Wasser gab keine Spuren.

Aber er trug das gestreifte Kleid, und er war am Verhungern. Und am vierten Abend, in der Dämmerung, war er durch den Wald zu einem kleinen Hof geschlichen. Die Bäuerin war allein gewesen mit einer alten Magd und einem Kriegsgefangenen. Sie war jung, und nach dem ersten Erschrecken hatte sie gelächelt. So wie eine Mutter über ein verirrtes Kind lächelt. Sie hatte ihm Speise gegeben und eine kleine Kammer und hatte zum Abschied über sein Haar gestrichen.

Und in der Nacht hatte sie die Polizei gerufen. Sie banden ihn im Schlaf und führten ihn zurück. Die Frau hatte an der Tür gestanden und zugesehen. Sie hatte nun nicht mehr gelächelt, als er vor ihr stehengeblieben war und sie angesehen hatte. Sie hatte nur die Hände aufgehoben, als ob sie glaubte, daß er sie schlagen würde. Aber er wollte sie nicht schlagen, auch wenn seine Hände frei gewesen wären. Er wollte sie nur ansehen, für alle Zukunft. Nicht etwa um sie wiederzuerkennen. Sondern nur um zu wissen, wie zwei Menschenaugen aussahen. »Ich danke dir für Speise und Trank«, hatte er gesagt. »Du weißt wohl nicht, wie ich es bezahlen werde.« Nichts weiter. Aber sie hatte doch die Hände vor die Augen geschlagen und sich abgewendet.

Sie hatten ihn dann halbtot geschlagen, und er war für ein Jahr in die Strafkompanie gekommen. Ein Jahr hatte er an der Tür der Hölle gestanden. Fromme Völker hatten die Hölle in das Jenseits verlegt.

Er war nicht mehr geflohen. Er hätte es noch ab und zu tun können, aber er hatte Angst gehabt. Nicht vor der Flucht oder der Wiederkehr, sondern vor den Augen der jungen Bäuerin und vor den Lippen, die gelächelt hatten.

Und diese Angst war ihm geblieben. Die letzte und schrecklichste Angst: die vor dem Menschen.

Er stand auf und legte trockenes Holz auf die Glut. Es fröstelte ihn, und er legte die Pistole neben seinen Sitz vor dem Feuer.

Dann saß er still und rauchte, bis er die Stimmen hörte. Er hörte fast nur die eine, die unterdrückte und beschwörende. Die andere war kaum zu vernehmen, so leise war sie.

Die Tür war noch weit offen, und er erkannte sie gleich, als sie vor der Schwelle standen. Das vergrämte Gesicht der Förstersfrau und die feindseligen Augen des Kindes. Aber es war nun kein Kind mehr, sondern ein Mädchen mit dunklem, losem Haar. Und es war schön anzusehen, wenn man nicht mehr an die Augen der Bäuerin dachte.

Er machte eine einladende Bewegung mit der Hand, und die Frau kam bis ans Feuer. Das Mädchen blieb an der Schwelle stehen und blickte mit zornigen Augen auf die Mutter.

Amadeus sah weder die Frau noch das Mädchen an. Er hatte die Hände wieder um die Knie gefaltet und blickte in das Feuer.

»Herr Baron«, sagte die Frau, und gleich zu Beginn erstickten die Tränen ihre Stimme.

Amadeus gab durch ein Nicken zu erkennen, daß er hörte.

»Ich wollte Ihnen sagen, daß ich mich freue, Herr Baron«, sagte die schluchzende Stimme.

»Man hat es mir schon erzählt«, erwiderte Amadeus.

»Er ist nun im Lager«, fuhr die Stimme fort, »und ich war einmal dort. Sie stehen hinter dem Zaun. Die Wachtposten sind Polen. Und sie schießen auf die Frauen, wenn sie zu nahe an den Zaun kommen.«

»Wo ich war«, sagte Amadeus, »kam niemand an den Zaun.«

»Ich beklage mich nicht, Herr Baron«, schluchzte die Frau. »Aber das sollen Sie doch wissen, daß er es nicht leichten Herzens getan hat. Ich habe ihn beschworen, damals, es nicht zu tun. Gott ist mein Zeuge. Und er hat gesagt: ›Das Herz ist mir schwer, aber ich muß es tun. Ich habe einen Eid geschworen, und ich muß es tun.‹ Und dann hat er es getan.«

»Viele haben es getan«, sagte Amadeus. »Es ist wohl nichts dabei.«

»Aber wenn er nun vor Gericht kommt«, sagte die Frau und faltete die Hände vor der Brust. »Werden Sie aussagen, Herr Baron?«

Nun wendete Amadeus zum ersten Male sein Gesicht von dem Feuer und sah die Frau an. »Auch ich werde sagen, daß ich einen Eid geschworen habe, Frau Buschan«, erwiderte er. »Ganz so wie er.«

»Und Sie werden ihn verderben«, flüsterte sie und starrte über das Feuer hinweg in das Dunkle.

Amadeus sah einmal nach der Schwelle hinüber und dann wieder in das Gesicht der Frau. »Ich will weder heilen noch verderben«, sagte er langsam. »Ich will nur zusehen, wie die Waage auf und ab steigt. Wie er zugesehen hat. Wie Sie und Ihre Tochter zugesehen haben.«

»Aber Sie sind ein Christ, Herr Baron!« rief sie verzweifelt.

»Ich bin kein Christ, sondern ein Wolf«, sagte Amadeus leise. »Ich war in der Grube, und man soll nicht mehr sprechen zu mir.«

Die Frau zog das Tuch um ihre Schultern wieder zusammen und wendete sich zum Gehen. Aber sie kehrte noch einmal um und neigte sich über ihn. »Ist es nicht genug«, sagte sie leise, »daß ich eine Tochter habe?«

Er sah sie lange an. »Vielleicht ist es genug«, erwiderte er ebenso leise.

Dann stand er auf und brachte sie bis zur Tür. Das Mädchen lehnte noch immer an dem Pfosten, wie es die ganze Zeit gestanden hatte. Er blieb stehen und sah in die Augen, die seinem Blick nicht auswichen. »Einmal hast du mich geschlagen«, sagte er, in Gedanken verloren, »nun sieh zu, daß du nicht deine Mutter schlägst! Grita pflegte zu sagen, daß die Hand, die sich gegen die Mutter erhebe, aus dem Grabe herauswachse.«

Ihr Gesicht blieb unbeweglich, und kein Zucken ihrer Wimpern verriet, daß sie ihn verstanden hatte.

Das Mondlicht fiel über sie, als sie fortgingen, und es sah aus, als kehrten sie dorthin zurück, von wo sie für eine flüchtige Stunde aufgestiegen waren: in die dunkle Tiefe des Moores. Es sah nicht aus, als ob sie zu den Menschen zurückgingen.


 << zurück weiter >>