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4

Der Zufall oder das Schicksal wollte es, daß der Freiherr Erasmus vergeblich an mehr als hundert Tagen vor dem Felsen gesessen und auf die Straße im Tal geblickt hatte. Außer man wollte sagen, daß seine traurigen Augen dem Wagen mit den vier Pferden den Weg bereitet hätten. Aber ein Weg läßt sich erfragen, auch wenn es schwer ist, die Sprache der Menschen zu verstehen, die dort wohnen, und es bedarf keines Zaubers, um ihn endlich zu finden.

Denn an einem Morgen im August erwachte Amadeus davon, daß das Feuer im Herde knisterte. Er ließ nun auch zur Nacht die schwere Tür zu seiner Kammer offen, weil das kleine Fenster zu wenig Luft hereinließ, und er vertraute seinen leisen Schlaf nur der großen Einsamkeit des Moores.

Er richtete sich so schnell auf wie aus den schweren Träumen und starrte auf die Gestalt, die vor dem Herde auf den Knien lag und in die schwache Glut blies. Die Füße der Gestalt waren mit Lappen umwickelt, wie die Waldarbeiter in seiner Heimat sie trugen, und um den Kopf konnte er nur das weiße Haar sehen, das lang und schlicht über den Rockkragen fiel. Der Rock war blau und reichte bis zu den Knien.

»Christoph …«, sagte er leise, und er fühlte, daß seine Hände zitterten, auf die er sich stützte.

»Gleich, Herr Baron«, erwiderte die sanfte Stimme. »Laß mich nur noch das Feuer anblasen. Du mußt dir Kienholz besorgen, damit du am Morgen nicht soviel Arbeit hast, Herr Baron.«

Als das Feuer brannte und mit seinem Prasseln die Kammer erfüllte, stand Christoph auf, wobei er sich mit einer Hand auf den Herd stützte, wischte sich die Hände sorgfältig mit einem grauen Tuch und kam dann zum Bett, auf dessen Rand er sich vorsichtig setzte.

»Da bist du, Herr Baron«, sagte er mit seinen hellen Augen das Gesicht des Freiherrn umfangend, »und wir haben nicht gewußt, ob du noch dasein würdest. Erst unten im Schloß haben sie es uns gesagt.«

Er sprach so, als hätte er am Abend zuvor das Holz im Herde aufgeschichtet, und an hundert vergangenen Abenden auch. Aber er hatte Mühe, sein Kinn still zu halten, weil es leise zuckte wie bei Kindern, die weinen wollen. »Vier Jahre, Herr Baron«, sagte er und zählte es an seinen Fingern ab. »In vier Jahren kann ein Baum Früchte tragen …«

»Ich habe nicht viel Frucht getragen, Christoph«, erwiderte Amadeus. »Aber wie viele sind davongekommen von euch?«

Christoph zählte noch einmal an den Fingern nach. »Worgulla«, sagte er, »und er war Gespannknecht. Donelaitis und Skowroneck, und sie waren Scharwerker. Und ihre Frauen und fünf Kinderchen. Zwei von ihnen erfroren unterwegs, und eines von ihnen haben Räuber erschossen, als sie den Wagen plündern wollten. Deutsche oder polnische Räuber. Und eines ist verhungert, weil die Mutter keine Milch hatte und die Bauern Milch nur gegen ein Pferd geben wollten. Das waren deutsche Bauern. Aber wir brauchten das Pferd, und als wir es tauschen wollten, war es zu spät.«

»Und die andern, Christoph?«

Er legte die Hände über den Knien zusammen. »Die andern sind geblieben, Herr Baron, dort, in der Nacht, als der liebe Gott uns austrieb.«

»Nicht Gott hat euch ausgetrieben, Christoph«, sagte Amadeus leise.

»Die Sünde, Herr Baron«, erwiderte Christoph. »Und nach der Sünde treibt der liebe Gott aus. Nicht die Sünde der Väter, aber die Sünde der Söhne und Töchter. Unser aller Sünde, Herr Baron.«

»Haben sie gelitten, Christoph?«

»Manche, Herr Baron, nicht viele. Die meisten waren zerbrochen von den eisernen Wagen, aber manche nur halb. Nach ein paar Stunden hat der Frost sie genommen. Wir konnten sie nicht begraben.«

»Und du, Christoph?«

»Ich lag im Graben, Herr Baron. Ich konnte nicht laufen in dem großen Pelz. Und die über das Feld liefen, wurden erschossen. Wir spannten dann die Pferde um. Gerade vier waren heil geblieben. Wir warteten bis zum Morgen, und als keiner wiederkam, fuhren wir los. Wir sind lange gefahren. Manchmal hielt man uns fest, und manchmal schickte man uns einen falschen Weg. Ich bin mein Leben lang gefahren, Herr Baron, mit zwei oder mit vier oder mit sechs Pferden. Aber so noch nie, Herr Baron, so noch nie. Ich möchte keine Leine mehr in der Hand halten, Herr Baron.«

Sein Gesicht sah nun müde und verfallen aus im Morgenlicht, und über seine hellen Augen fiel ein matter Schimmer wie über die Augen von Erblindenden.

Aber dann richtete er sich wieder auf, als säße er auf dem Kutschbock und habe die Gräfin zu fahren. »Das Wasser kocht«, sagte er. »Hast du Kaffee, Herr Baron? Wir haben nur Gerstenkörner, aber sie sind noch zu Hause gewachsen.«

Amadeus zog sich schnell an und ging hinaus. Der Morgen leuchtete über dem Land, und er sah sie nun gleich in dem goldenen Licht. Ein geschlagener Haufen, wie man früher gesagt haben würde, und sie saßen abseits des Stalles, wo ein paar große Steine im Heidekraut lagen. Aber sie saßen wohl nicht und lagen auch nicht. Sie kauerten auf den Steinen und davor, und nur einige der Kinder standen bei ihren Müttern und blickten mit ihren alten Augen Amadeus entgegen. Sie kauerten da, als ob die Nacht das Leben aus ihnen genommen hätte, still und ohne Bewegung. Als ob sie schon Tage und Nächte hier gelegen hätten, ohne Plan oder Hoffnung, und gewartet hätten, was nun über sie bestimmt werden würde. Ihre Kleider waren alt, ihre Schuhe zerrissen, und die meisten Kinder standen barfuß in Sand und Tau.

Aber das Schrecklichste an ihnen für Amadeus waren die Augen. Sie sahen aus, als ob sie nichts mehr enthielten und auch nichts mehr spiegelten. Es war nicht einmal Neugier in ihnen, es war nichts in ihnen. Sie hatten soviel gesehen, daß sie nun nichts mehr sagen und auch nichts mehr sehen wollten. Wenn sie blind gewesen wären, würde es nicht so schrecklich gewesen sein.

Sie standen auf, als Amadeus zu ihnen trat, und Amadeus sah, daß ihre Lippen ein Lächeln versuchten. Die Frauen küßten seine Hände, und als er sie auf dem Rücken verschränkte, küßten sie den Rand seines Rockes. Die Männer standen da, mit herunterhängenden Armen, und sahen ihn an. Sie sahen ihn nicht wie früher an, wenn er in ihren Katen gestanden oder am Feldrand mit ihnen gesprochen hatte. Früher war er so etwas wie ihresgleichen gewesen, ein Mensch derselben Erde, hoch über ihnen stehend, aber doch noch so, als ob er auf einem Berge gestanden hätte. Nun aber war er ihnen entrückt gewesen, in ein finsteres Reich unter der Erde, und sie hatten nicht gewußt, daß er noch einmal wiederkehren würde mit einem Menschengesicht.

Dann begannen die Frauen zu weinen, und das war noch schrecklicher für Amadeus als alles andere. Er stand unter ihnen und versuchte, ihre Hände oder Schultern zu streicheln, wie er es als Kind getan hatte, aber es gelang ihm nicht. Es verwirrte ihn, daß sie dastanden und schweigend um seinen Schlaf gekauert hatten, vielleicht die ganze Nacht. Daß er für sie noch immer der Herr war, mit Zauberhänden, die sie emporheben könnten aus dem Fluch ihres Schicksals. Und er war doch nun kein Herr mehr, und er war ohne Zauber. Er war nur voller Angst. Sie wußten nicht, daß man ihn erniedrigt und geschlagen hatte. Daß er sein Gesicht vor der Erde und der Zeit verbarg und verhüllte. Daß er nicht so viele Augen um sich haben konnte, so viele Hände, die sich ausstreckten, so viele Herzen, die ihn bedrängten. Es war nun alles versunken, was einmal gewesen war und sie verbunden hatte. Nicht einmal das Leid verband sie mehr, die Heimatlosigkeit, der Tod. Sie standen wie Schatten vor ihm, Abgeschiedene, die sich noch einmal erhoben hatten aus der Erstarrung des Todes, von jener nächtlichen Straße unter den Weidenbäumen, über die die klirrenden Raupenketten hingegangen waren.

Er versuchte zu lächeln, und er verstand nicht, weshalb die Augen der Frauen mit soviel Angst an diesem Lächeln hingen, ja, mit einem leisen Grauen, als ob ihm kein Lächeln mehr zustände. Er wußte nicht, daß das Lächeln sein Gesicht entstellte, weil nur sein Gesicht lächelte und nicht sein Herz.

Er führte sie in den kleinen Raum, um das Feuer, und breitete alle seine Vorräte vor ihnen aus. Er sah nun erst, daß Christoph noch immer den blauen, langen Kutscherrock trug, mit den silbernen Wappenknöpfen und der siebenzackigen Krone. Und darunter die Lappen, die er um die Füße gewickelt hatte, und darüber das weiße, schlichte Haar, das auf den Rockkragen fiel. Er verstand nun, weshalb die Leute am Straßenrand, an allen Straßenrändern ihn angestarrt hatten wie eine Erscheinung. Denn das war er ja auch; eine Erscheinung aus einem andern Jahrhundert, viel weiter zurück, als sein Geburtsjahr es ihm zuwies.

Er trug Christoph auf, für alle zu sorgen und legte noch ein Päckchen Zigaretten auf den Tisch. Er müsse nun den Bruder Erasmus holen, der auf sie gewartet habe, jede Minute des Tages und der Nacht. Und der Bruder werde auch wissen, was mit ihnen geschehen solle.

Er ging schnell fort, als fürchtete er, die Kinder oder die Frauen könnten ihn am Ärmel zurückhalten, und erst im Schutz des Waldes blieb er stehen und sah sich um, als verfolgten sie ihn. Das Herz schlug ihm schmerzhaft und schwer, und es war ihm, als stände hinter jedem Baum jemand und sähe ihm zu. Jemand, der ihm nichts Böses tun wollte, sondern der nur die Hand leise und wortlos ausstreckte, weil er ihm vertraute. Das große Vertrauen der Vergangenheit, das Vertrauen der armen Leute in die Hand und in das Herz des Herrn.

Soviel also habe ich verloren, dachte er mühsam, so schrecklich viel …

»Du mußt nun mitkommen«, sagte er leise zu Erasmus. »Ein paar sind nun zurückgekommen.«

Er mußte ihm helfen, den Rock und die Schuhe anzuziehen. Erasmus war wie ein Kind, das man aus einer Wolfsgrube gehoben hatte. Aber dann war er doch imstande, mit der Förstersfrau zu sprechen. Ob sie die Scheune abgeben würde, vorläufig. Für alles andere würde er dann sorgen.

Die Frau war sogar bereit, das Haus abzugeben, alles, was er verlangen würde. Sie verstand, was es für Erasmus bedeutete.

Dann gingen sie zurück, und nun sprach Erasmus unaufhörlich. »Ägidius wird alles wissen«, sagte er. »Er wird sie aufnehmen. Überall brauchen sie Leute, die arbeiten können.«

Vor den letzten Büschen blieb Amadeus stehen. »Ich gehe nun ein bißchen ans Moor«, sagte er. »Es ist etwas viel für mich …«

Jetzt erst sah Erasmus ihn an. »Vergib mir, lieber Bruder«, sagte er leise. »Immer war es mit mir so, daß ich an mich gedacht habe …«

»Das brauchst du nicht zu sagen«, erwiderte Amadeus. »Und sie sind auch nicht zu mir gekommen, keiner von ihnen. Sie wußten gar nicht, daß ich noch lebe. Ich bin nur eine Art Gespenst für sie, und sie werden sich erst daran gewöhnen müssen.«

»Auch zu dir wird man kommen, lieber Bruder«, sagte Erasmus gütig. »Irgendeiner wird kommen. Wir wissen noch nicht, wer es sein wird.«

Als Amadeus um die Mittagszeit zurückkam, war der Platz vor dem Schafstall leer. Nur etwas Buntes lag zwischen den Steinen, und er hob es auf. Es war eine Kinderpuppe oder der Rest von ihr. Sie war aus einem groben Stoff gemacht, auch das Gesicht. Sie hatte gelbe Augen, und eines davon war zerrissen. Ein kleiner, gelber Fetzen hing herunter. Es sah aus, als hätte ein Steinwurf das Auge getroffen, und nun laufe es aus.

Amadeus hielt die Puppe lange in der Hand und grübelte darüber nach, was für einen Namen sie wohl haben mochte. Kinder retteten immer das Wichtigste, dachte er, bei einem Feuer oder auf der Flucht, während die Erwachsenen immer die unwichtigsten Dinge ergriffen.

Er nahm die Puppe und setzte sie auf den Herd, in den hintersten Winkel, wo der Lehm nicht mehr warm wurde. Ihre halbzerstörten gelben Augen, die für das Kind sicherlich golden gewesen waren, sahen ihm nun zu, wenn er in der Kammer umherging oder etwas in die Hand nahm. Aus so wenigem also konnte eine Heimat bestehen.

Sie mußten alles auf dem Rücken herauftragen, womit der schwere Wagen beladen war, und sie hatten zwei Tage damit zu tun. Auch die mageren Pferde brachten sie herauf. Die frohe und helle Stimme des Freiherrn Erasmus war bis in den späten Abend zu hören.

Dann wurde alles wieder so still, wie es gewesen war. Christoph kam nur am Morgen und am Abend, um Feuer zu machen und zur Hand zu sein. Und manchmal durfte er vor dem Feuer sitzen, und Amadeus hörte ihm zu. Vor ihm fürchtete er sich nicht. Er war wie jemand, der nicht mehr diesem Leben angehörte. Er verlangte und begehrte nichts mehr. Er war wie einer, der ab und zu Urlaub bekam von den Unterirdischen, um bei den Menschen zu sitzen und einen Kienspan in der Hand zu halten, den er mit einem großen, altertümlichen Messer spaltete. Auch das Messer sah so aus, als sei es einmal in der Heidenzeit im Sand verloren worden.

Christoph sprach nicht von den Zeiten, als sie zusammen »fröhlich« gewesen waren, wie er es nannte. Er ging viel weiter zurück, in die Zeiten des Vaters und des Großvaters, als es noch so etwas wie eine Leibeigenschaft gab und als er mit sechs Jahren angefangen hatte, das Zaumzeug der Kutschpferde zu putzen. Sein rundes, slawisches Gesicht versank dann immer tiefer in sich selbst, und die hellblauen Augen erfüllten sich mit einem Licht, das nicht von den Dingen der Erde kam, sondern von den »Gesichten«, die hinter diesen Dingen standen. Sein Mund war im Alter etwas schief geworden, und die Lippen senkten sich auf der rechten Seite, wo er ein Leben lang die kurze Pfeife gehalten hatte.

»Ja, die alten Häuser, Herr Baron«, sagte er und nahm die Pfeife aus dem Munde, um mit dem Zeigefinger die Glut festzudrücken. »Wo die Bilder an der Wand hängen und die Kinder mit den Toten aufwachsen … Soviel geschieht in den alten Häusern, Herr Baron …, und damals geschah alles anders, weißt du. Nicht wie heute, wo es so oder auch so geschehen kann, sondern was geschah, das mußte eben so geschehen. Der liebe Gott sah noch zu, weißt du. Er stand über dem Dach, in den Nächten, und sah zu, und dann geschah es eben, wie er wollte. Verstehst du, Herr Baron?«

Amadeus verstand es sehr gut.

»Sie waren nicht immer still, Herr Baron«, fuhr Christoph fort, in Gedanken verloren. »Manche waren wild, und manche waren auch hart. Es war lange her, aber mein Großvater wußte es noch. Aber alle hatten es, weißt du, daß sie aufgeweckt werden konnten, auch die wildesten.

Einer spielte, weißt du. Er spielte zehn Jahre lang. Und wenn der Vater meines Großvaters vor dem Hause hielt, wo er spielte, mit den sechs Pferden vor dem Schlitten, wußte er nicht, ob nicht in dieser Nacht die Pferde und er selbst verspielt würden. Damals konnten die Herren noch Menschen verspielen.

Und um Mitternacht, wenn sie drinnen lärmten und schrien, wickelte der Urahn sich aus seinen Decken und ging die Treppen hinauf, die Peitsche in der Hand, so wie die Frau Baronin es ihm befohlen hatte. Dann stand er hinter dem Herrn, in dem goldenen Saal, und zupfte ihn am Ärmel. ›Halten zu Gnaden, Herr Baron‹, sagte er, ›aber die gnädige Frau Baronin wartet.‹

Der Herr sah nicht auf von seinen Karten und seinem Gold. ›Laß sie warten, Christoph‹, sagte er. ›Zu den Pferden mit dir!‹

Dann ging der Urahn zu den Pferden.

Aber nach einer Stunde stand er wieder in dem Saal und zupfte seinen Herrn am Ärmel. ›Halten zu Gnaden, Herr Baron‹, sagte der Urahn, ›aber der Acker und das Vieh warten.‹

Der Herr sah nicht auf. ›Laß sie warten, Christoph‹, sagte er. ›Zu den Pferden mit dir!‹

Dann ging der Urahn zu den Pferden.

Aber nach einer Stunde stand er wieder in dem Saal und zupfte an dem golddurchwirkten Ärmel. ›Halten zu Gnaden, Herr Baron‹, sagte er, ›aber der liebe Gott wartet.‹

Dann legte der Herr die Karten hin, steckte sein Gold in die Tasche und stand auf. ›Nimm mich am Gürtel, Christoph‹, sagte er, denn damals trugen die Herren einen Gürtel um den Rock, ›und halte mich, daß ich nicht umkehre.‹

Und dann gingen sie. In der linken Hand hielt der Urahn die Peitsche, und mit der rechten führte er den Herrn am Gürtel die Treppe hinunter bis an den Schlitten.

So waren sie damals, Herr Baron, verstehst du?«

Auch das verstand Amadeus.

Christoph nahm mit den Fingern eine Kohle aus dem Herd und legte sie auf den Tabak in seiner Pfeife.

»Und einmal«, fuhr Christoph fort, »es dämmerte schon vor dem Morgen, trafen sie einen Bettler, der auf Krücken am Wege stand. Er streckte die Hand aus.

›Vorwärts, Christoph!‹ rief der Herr.

Aber der Urahn hielt die sechs Pferde an und wartete.

›Vorwärts, Christoph!‹ schrie der Herr und stand im Schlitten auf.

Aber der Urahn machte seinen Ledergürtel auf, und machte seinen Pelz auf, und nahm eine Münze aus seiner Tasche und reichte sie dem Bettler. ›Um Christi willen, Bruder‹, sagte er.

Und dann machte er den Pelz wieder zu und schnallte den Gürtel wieder um und nahm die Leinen und die Peitsche und fuhr weiter.

Und als er eine Weile gefahren war, sagte der Herr: ›Was hast du zu ihm gesagt, Christoph?‹

›Um Christi willen, Bruder‹, habe ich gesagt, ›gnädiger Herr Baron‹, erwiderte Christoph.

›Kehre um, Christoph‹, befahl der Herr.

Und sie kehrten um und fanden den Bettler am Wege, und der Herr schüttete das ganze Gold der Nacht in die Mütze des Bettlers. Es war soviel, daß einiges über den Rand und in den Schnee fiel.

Ja, die alten Häuser, Herr Baron …«, schloß Christoph und blickte in das Feuer des Herdes, das mit einem leisen, klagenden Ton zu Ende brannte.

Niemals machte Christoph eine Bemerkung, als sorge er sich um den Freiherrn Amadeus und als wähle er seine Geschichten nach dieser Sorge aus. Und nur dieses sagte er mitunter, wenn er aufstand und die Kienspäne auf den Herd legte, an denen er geschnitzt hatte: »So war es mit den Herren von früher, Herr Baron …, und daß sie aufgeweckt werden konnten …, und manchmal suchte sich der liebe Gott eine einfache Hand dazu aus …«

Amadeus hörte ihm gern zu. Es war ihm, als ob die Erdkugel unter Christophs Händen sich drehe und dieser Kontinent versinke, damit die andern, fremden über dem Horizont aufstiegen. Und mit diesem Kontinent, den er versinken ließ, versanken auch die letzten Jahre, ja sein ganzes eigenes Leben vielleicht: es war, als bliebe nur das Leben der Geschlechterreihe übrig, das ihnen allen Gemeinsame und sie Umschließende. Als sei der Freiherr Amadeus nur ein namenloses Blatt in dem großen Buch, das sich leise aufblätterte, und das Triptychon sei ein namenloses Blatt, und der Vater, der sich hatte »überreden« lassen. Und es blieb nur etwas wie eine Gattung übrig, und Gott beugte sich über das alte, nun wohl verbrannte Dach, und sah ihr zu. Diese Gattung, deren in der Dämmerung verfließende Arten es an sich hatten, daß sie »aufgeweckt« werden konnte.

Dann blieb der Freiherr Amadeus auf der andern Seite des Feuers sitzen, die Ellbogen auf die Knie gestützt, während der letzte Schimmer des Herdfeuers auf seine müßigen Hände fiel, die er an der Glut wärmte.

Und nur ein einziges Mal, bevor Christoph Abschied nahm, blieb er neben der versunkenen Gestalt stehen, als wollte er sie leise am Ärmel zupfen oder sie beim Gürtel ergreifen, und sagte mit seiner alten, tiefen, gütigen Stimme: »Du armer, erfrorener Herr …«

Aber Amadeus antwortete nicht.

Er fragte auch nicht viel. Er saß nur da und wartete. Alte Leute sprechen gern. Christoph hatte nicht Weib und Kind gehabt, er hatte nur die Pferde und die »Herrschaft« gehabt. Die Pferde waren verloren, aber die »Herrschaft« war noch da und die Peitsche, die er gerettet hatte. Es gab kein anderes Zeichen der Würde für einen herrschaftlichen Kutscher. Sie war für ihn soviel wie das Zepter für eine Königshand.

Und auch ohne Pferde war er noch immer nötig für diese »jungen Herren«, deren Haar grau oder schon weiß war, aber die manchmal wie Kinder an seinen Knien waren so wie damals, als er auf der Futterkiste gesessen und ihnen den Ertrag seines Lebens gereicht hatte. Eines dienenden Lebens, arm und in engen Grenzen, aber vom Dienen war es so reich geworden, daß auf dem Hof nichts seinesgleichen gewesen war.

Und nun lebten sie hier oben, die beiden, und waren arm wie er selbst. Aber das sah er wohl, daß die Armut sie nicht bedrückte. Für die wirklich »Hochgeborenen« war Armut keine Last und keine Schande. Aber daß sie sich zuweilen fürchteten, das sah er wohl. Ob es viel oder wenig war, wußte er nicht. Er wußte auch nicht genau, wovor sie sich fürchteten, dazu waren seine Augen zu einfach. Aber das erkannte er wohl, daß sie sich wie Kinder fürchteten. Und Kinder brauchten keine Weisheit, um getröstet zu werden. Sie brauchten nur ein Paar alte Hände, die ruhig und ohne zu zittern die glühende Kohle auf den Tabak in der Pfeife legten, auch wenn draußen die Erde unterging.

Und er fühlte auch, daß sie sich nicht vor dem fürchteten, wovor die kleinen Leute sich fürchteten. Dazu waren sie zu adlig in ihrem Gemüt, und was das bedeutete, wußte er wohl. Es war so, daß sie sich davor fürchteten, daß ihre Tür nicht mehr verschlossen war, die Tür zu dem Raum, in dem sie »für sich« waren. Daß die Tür aufgebrochen worden war und daß jedermann über die Schwelle treten konnte. Der Landjäger etwa oder ein Viehhändler oder ein Scharwerker, der mehr Lohn verlangte. Daß sie in einer adligen Welt lebten und daß nun plötzlich niemand die Schuhe abzuputzen brauchte vor ihrer Schwelle. Nicht daß sie je verlangt hätten, man solle die Schuhe vor ihnen abputzen, aber daß man es vor der Welt tat, in der sie lebten. Einem feierlichen Raum mit Büchern und Bildern etwa. Oder nur vor ihren Gesichtern, den schmalen, zugeschlossenen Gesichtern, die ja nur zum Teil ihre eigenen waren und zum andern Teil dem adligen Geschlecht angehörten, dessen Namen sie trugen und dessen Namen sie in Ehren getragen hatten allezeit.

Und so war Christoph nicht verwundert, als eines Abends vor dem Herdfeuer der Freiherr Amadeus ihn fragte, ob er Angst habe.

Christoph nahm die Pfeife aus dem Munde und beugte sich ein bißchen zum Feuer herab.

»Als ich klein war, Herr Baron«, sagte er, »so klein« – und er hielt die Hand mit der Pfeife ein Stück über den Boden ausgestreckt –, »hatte ich Angst, wie Kinder Angst haben. Damals erzählte man noch von dem schwarzen Mann und der Kornfrau und der Moorhexe. Damals sagte es sich noch an, wenn der Kauz im Eichbaum rief. Damals waren noch kleine Lichte auf dem Moor, und der Nachtmahr flocht den Pferden die Mähnen zu Zöpfen zusammen. Vielleicht ist es noch heute so, und ich glaube, daß es so ist. Aber meine Augen sehen es nun anders, Herr Baron, verstehst du? Meine Augen sind im Glauben, und wer im Glauben ist, hat nicht Angst. Der liebe Gott kann dir den schwarzen Mann schicken, weil er alles schicken kann, aber der schwarze Mann ist nicht mehr für sich selbst da, verstehst du? Der liebe Gott hält ihn an einem dünnen Faden und zieht ihn zurück, wenn es genug ist. Und der liebe Gott weiß immer, wann es genug ist.«

»Und der liebe Gott?« fragte Amadeus. »Hast du nicht Angst vor ihm, wenn er hinter der Schwelle stände?«

»Weshalb sollte ich Angst haben, Herr Baron? Wenn er sagen würde: ›Bist du da, Christoph?‹, würde ich die Pfeife auf den Herd legen und antworten: ›Komm herein, Herr, hier bin ich. Aber beuge Dich ein bißchen, weil die Tür niedrig ist.‹ Denkst du, daß er Freude daran haben würde, mich zu erschrecken, Herr Baron? Einen alten Mann mit weißem Haar? Der keinen Hafer aus der Futterkiste gestohlen und seine Peitsche nie verloren hat?«

»Aber wenn nun nicht der liebe Gott vor der Schwelle stände, Christoph, sondern ein Mensch? Ein freundlicher Mensch, aber du könntest durch seine Kleider hindurchsehen und könntest das Messer sehen, um das er die Hand in der Tasche geschlossen hat? Oder du könntest die Worte ablesen von seinen Lippen, die er vor Gericht sprechen wird? Worte der Lüge und Worte des Verrats? Und wenn du wüßtest oder glaubtest, daß jeder Mensch so vor der Schwelle stehen könnte, den du kennst, jeder einzelne?«

Nun streckte Christoph behutsam seine linke Hand aus, die schon ein wenig zitterte, und legte seine Fingerspitzen ganz vorsichtig auf die gefalteten Hände des Freiherrn Amadeus. Und mit einem leisen, gütigen und ganz wunderbaren Lächeln sagte er: »Kannst du das glauben, Herr Baron, daß Christoph so vor deiner Schwelle steht?«

»Nein, du nicht, Christoph, du nicht. Aber …«

»Und wenn es nur dein alter Kutscher ist, Herr«, sagte Christoph, »der dort nicht steht, ist es dann nicht immer so, daß der liebe Gott Raum hätte, dort zu stehen?«

»Sieh, Herr«, fuhr er nach einer Weile leise fort, »auch wir haben Väter und Großväter und Ahnen gehabt. Und viele von ihnen, ganz weit zurück, haben in Ketten gelegen und sind gepeitscht worden, und manche von ihnen sind zu Tode gepeitscht worden. Aber wir tragen es nicht mehr, Herr. Der liebe Gott hat es auf sich genommen. Er hat sogar die auf sich genommen, die gepeitscht haben. Und ich glaube, daß er sich um diese mehr gegrämt hat als um die, die in Schmerzen schrien. Meinst du, Herr, daß seine Hand so klein ist, daß gerade du keinen Platz mehr in ihr hast? Und wenn du auch ein Freiherr bist?«

Er sah noch eine Weile vor sich hin, und dann nahm er eine Kohle aus dem Herd und legte sie in seine Pfeife.

»Wenn Gott kreuzigt«, sagte er leise, »muß er den in die Hand nehmen, der gekreuzigt wird. Und umsonst streckt er seine Hand nicht aus, Herr. Er ist keiner, der spielt.«

Das Feuer erlosch, aber ihre Gesichter waren noch immer von der letzten rötlichen Glut beschienen.

»Ich will es dir erzählen, Herr«, sagte Christoph nach einer Weile. »Wir sind damals nach Westen gezogen, als es zu Ende war. Wir konnten die Toten nicht begraben, weil die Erde einen Meter tief gefroren war. Der Schnee hatte sie schon zugedeckt, als wir die vier Pferde angespannt hatten. Wir fuhren nur in der Nacht, und am Tage lagen wir in den Wäldern und machten ein kleines Feuer.

Wir fuhren um die Dörfer herum, weil in den Dörfern der Tod war. Aber einmal kamen wir an eines, bei Vollmond, das war verlassen und verbrannt. Es lag dort unten, wo nur Wald und See und Moor ist. Man denkt, daß die Welt dort zu Ende ist.

Aber es war doch nicht ganz verlassen, denn ein Hund heulte zwischen den Schornsteinen, die übriggeblieben waren. Es war schrecklich anzuhören, Herr Baron. Der Himmel war rot, ringsum im Kreise, und kein Leben war auf der Erde, nicht die Spur von Leben. Nur der Hund heulte. Das Echo kam aus dem Wald zurück, und du konntest meinen, daß dort ein anderer Hund wäre, ein zweiter. Und diese beiden wären alles, was der liebe Gott übriggelassen hätte.

Wir hatten keinen Hafer mehr für die Pferde, und ich ließ die anderen am Rand, hinter einer Mauer, und ging in das Dorf. Ich und mein Schatten. Ein großer Schatten, denn ich trug den Wolfspelz. Und ich dachte, daß der Schatten zu groß war für mich und das verbrannte Dorf. Ich hatte Angst vor dem Schatten.

Ich fand nichts, es war alles verbrannt bis auf die Grundmauern. Und bis auf die Kirche. Sie lag abseits auf einem Hügel, und sie war nicht verbrannt. Vielleicht hatten sie keine Zeit gehabt, auf den Hügel zu steigen.

Und da ging ich hinauf. Ich hatte den Hund nicht gefunden, weil er sich immer davonschlich, wenn ich dazukam. Er hatte wohl Angst vor meinem großen Schatten.

Die Kirche war aus Holz, und ich blieb vor der Tür stehen, die im Schatten lag.

Und dann erschrak ich, Herr, ja, ich erschrak zu Tode. Denn auf der Schwelle saß jemand. So eingehüllt, daß ich nicht erkennen konnte, ob es ein Mann oder eine Frau war. Aber es war eine Frau. Es war wenigstens eine Frau gewesen. Nun war sie nur noch wie ein Gespenst. Sie hielt etwas in der Hand, das wie ein Kinderspielzeug aussah, eine Klapper oder so etwas. Und diese Hand hob sie auf gegen mich. Die Aussätzigen, denke ich, müssen so etwas tun.

Aber sie war nicht aussätzig. Sie war nur zerstört. Es war etwas über sie hingegangen, und sie war im Schnee liegengeblieben. Ich sah nur etwas Weißes, wo ihr Gesicht war. Ich wußte nicht, ob sie lebte, aber sie hatte doch die Hand mit dem Spielzeug erhoben.

Ich fragte sie, vieles, aber sie antwortete nicht. Zuerst nicht, dann sagte sie alles. Sie hatte wohl Angst gehabt vor meinem Pelz, bis ich ihr sagte, wer wir waren.

Sie sagte alles. ›Ich bin übriggeblieben‹, sagte sie, ›ich allein. Ich und der Hund. Wir hatten ihnen nichts getan. Sie erschlugen die Männer und die Frauen. Und die Frauen schrien, ehe sie erschlagen wurden. Ich hörte sie, weil ich nicht schrie. Die Mädchen vergifteten sich vorher. Der Doktor hatte ihnen Gift gegeben. Wir hatten einen großen Doktor unter uns, einen sehr großen. Er wehrte sich, und sie schossen ihn tot.‹

›Und die Kinder?‹ fragte ich.

›Die Kinder haben sie ertränkt, in den Jauchegruben. Sie mußten zuerst das Eis aufhacken, und dann ertränkten sie sie.‹

Ach, Herr, die Worte kamen aus ihrem weißen Gesicht wie aus dem Gesicht einer Toten. Und der Hund heulte, die ganze Zeit.

›Komm mit!‹ sagte ich. ›Du kannst hier nicht bleiben. Es wird noch Platz sein für dich auf dem Schlitten.‹

Ich sah, daß sie den Kopf schüttelte. ›Ich kann nicht kommen‹, sagte sie, ›denn ich trage ein Kind. Von denen, die erschlagen haben. Viele Kinder, ich weiß nicht, wie viele. Und es soll unter dem Kreuz aufwachsen. Anders kann es nicht aufwachsen, sonst ist es verflucht.‹

›Was für ein Kreuz?‹ fragte ich.

Sie hob ihre Hand aus dem schwarzen Tuch und deutete auf die Kirchentür. Sie lag im Schatten.

›Sind deine Augen blind?‹ fragte sie.

Ich hob meine Augen auf, und ich sah, Herr. Es hing einer an der Kirchentür, mit Nägeln angeschlagen, und hatte das Haupt geneigt. Ich schrie wohl, denn sie schüttelte den Kopf. ›Du mußt nicht schreien‹, sagte sie. ›Auch er hat nicht geschrien. Es ist unser Pfarrer. Ich kann ihn nicht abnehmen, denn er ist gefroren.‹

Der Hund heulte, und ich zitterte, Herr. In meinem Wolfspelz zitterte ich.

›Gehe nun‹, sagte sie. ›Unter diesem Kreuz wird es aufwachsen. Ein Dorf muß Kinder haben, sonst löscht Gott es aus.‹

›Komm mit!‹ bat ich. ›Um Christi willen, komm mit!‹

Aber sie verhüllte sich. Von ihrem Gesicht war nichts mehr zu sehen. Der Hund heulte.

Da ging ich, Herr. Ich und mein Schatten.«

Er schwieg, und seine hellen Augen starrten in das erlöschende Feuer.

»So steht geschrieben in der Schrift«, fuhr er nach einer Weile leise fort:

»In derselben Nacht werden zwee auf einem Bett liegen; einer wird angenommen, der andere wird verlassen werden.

Zwo werden mahlen miteinander; eine wird angenommen, die andere wird verlassen werden.

Zween werden auf dem Felde sein; einer wird angenommen, der andere wird verlassen werden.

So steht es geschrieben, Herr … Ich habe sie nach dem Namen des Dorfes gefragt, aber ich habe ihn vergessen. Es wird das Dorf ›Namenlos‹ oder das Dorf ›Nirgendwo‹ gewesen sein.

Wir kamen dann in eine Gegend, die Worgulla kannte. Da waren drei verbrannte Dörfer hintereinander, aber die Straßenschilder waren nicht verbrannt. Das erste hieß ›Adamsverdruß‹, und auf diesen Namen sah ich lange hin. Das zweite hieß ›Beschluß‹, und vor diesem fürchteten sich die Frauen. Aber das dritte hieß ›Amen‹, und dort war es auch, wo wir die Spur der Wölfe verloren. Von dort ab konnten wir am Tage fahren, wenn die Flugzeuge nicht kamen …

Und nun frage mich noch einmal, ob ich Angst habe, Herr«, sagte Christoph, stand auf und stäubte die Pfeifenasche von seinem langen Rock. »Die Frau, die dort sitzenblieb, unter dem Gekreuzigten, hatte sie Angst? Und sollen wir weniger sein als eine Häuslerfrau aus dem Dorf ›Namenlos‹?«

Aber auch darauf antwortete Amadeus nicht. Er sah auf die Kinderpuppe mit den gelben, halbzerstörten Augen, die in der Ecke des Herdes lehnte, und hörte nicht, wie Christoph leise die Tür hinter sich schloß.

Am nächsten Morgen stand eines der Gutskinder in der Tür des Schafstalles, ein Mädchen von vielleicht sechs Jahren, ängstlich und schweigend, den Zeigefinger der rechten Hand im Munde, und starrte auf die Puppe im Schatten des Herdes.

»Ist das deine?« fragte Amadeus.

Das Mädchen nickte.

»Und wie heißt sie?« fragte Amadeus.

»Skota«, antwortete das Kind. Und Skota hieß »die Goldene«.

Amadeus nahm »die Goldene« vom Herd und reichte sie dem Mädchen.

Das Mädchen hüllte sie in das Umschlagtuch und drückte sie an seine Brust. Dann ging es ohne Abschied.

Immer nun, wenn Amadeus seine Kammer betrat, blickte er zuerst nach der Herdecke. Aber sie blieb nun leer. »Die Goldene« war verschwunden.

Ägidius kam am dritten Tag nach der Ankunft der Gutsleute. Er hatte die Weizenernte nicht verlassen können. Er saß in der Scheune der Försterei auf einem Strohbund und verteilte die Kleider und Lebensmittel, die er mitgebracht hatte. Er wollte sie auf das Gut holen, das er nun verwaltete, alle, am nächsten Abend. Sie brauchten Leute wie das tägliche Brot, und sie würden es gut haben. Sie würden seine Leute sein, ganz allein.

Sein von der Erntesonne gebräuntes Gesicht leuchtete, und er sah von einem zum andern, wie sie vor ihm standen, mit ihren von Angst und Not gezeichneten Gesichtern.

Aber nun geschah das Seltsame, daß sie nicht wollten. Donelaitis sprach für sie, und er hielt dabei die Mütze ruhig und bescheiden zwischen seinen Händen.

Sie wollten nicht, weil sie »für sich« bleiben wollten. Sie mochten die Leute nicht, aber sie mochten einander. Sie hatten nie Streit gehabt unterwegs. Donelaitis hatte sich umgesehen, gleich nach ihrer Ankunft. Am Torfmoor standen ein paar Holzhäuser, gut und fest gebaut, mit Lehmherden. Sie hatten dort einen großen Betrieb gehabt im Kriege, mit fremden Arbeitern, die dort gewohnt hatten. Torf war wie Gold in dieser Zeit, und sie konnten dort leben. Und im Winter konnten sie in den Holzschlag gehen. Es wurde viel Holz eingeschlagen. Er hatte mit der Förstersfrau gesprochen. Sie würden nicht Not leiden. Und sie würden »für sich« sein.

Ägidius sah ihn nachdenklich an. »Aber ihr werdet in der Einöde sein, Donelaitis«, sagte er schließlich.

»Wo ist keine Einöde, Herr Baron? Heute?« fragte Donelaitis. »Und es ist ein bißchen, wie es früher war. Es riecht wie zu Hause, Herr Baron.«

Aber wenn der Herr Baron ihnen etwas helfen möchte, mit Betten und Kochgeschirr zum Beispiel. Und mit Holz, damit sie ein Bett und einen Tisch hätten.

Ägidius war nicht zufrieden, aber er fügte sich. Er ging zu Kelley, zum Flüchtlingskommissar und zum Landrat, und nach zwei Wochen zogen die Gutsleute um. Christoph blieb beim Freiherrn Erasmus in der Försterei.

Alle, auch Amadeus, mußten bemerken, daß der Freiherr Erasmus »aufgeweckt« worden war. Sein Haar war nicht wieder braun geworden, und die Falten um seinen schmalen Mund waren nicht verschwunden. Aber seine Augen waren anders geworden, sein Lächeln, sein Gang. Auf dem Grunde seiner Augen lag nicht mehr die verschneite Straße mit den Weidenbäumen, und lagen nicht mehr die verkrümmten und erfrorenen Toten. Es war, als liege nun ein kleines Stückchen Leben auf diesem Grunde, im Dämmerlicht noch wie Steine auf dem Grunde eines Moorwassers, aber doch bereit, in der Sonne zu leuchten.

Er war es, der den ganzen Tag unterwegs war, nachdem Ägidius zur Winterbestellung zurückgegangen war. Er war in allen Amtsstuben der Landschaft zu finden, bei Deutschen und Amerikanern, und auch wenn er immer mit einer Bitte kam, so konnte ihm doch niemand gram sein. Man wußte, daß er ein General gewesen war, aber man glaubte es ihm nicht recht. Weder seinen sanften Augen, noch der scheuen Überredungskraft seiner leisen Stimme. Und er verlangte niemals etwas für sich. Und das war viel in diesen Zeiten, in denen ein geschlagenes Volk sich auf die wenigen Rettungsboote der Katastrophe stürzte, wild und noch ohne Erbarmen für den Nächsten.

Was er am schnellsten und ohne Mühe gewann, war das Herz jeder Sekretärin, auch der härtesten, und damit hatte er viel gewonnen. Die alte, fast rührende Höflichkeit eines langen, ritterlichen Lebens besiegte jeden Widerstand: Wenn er sich leise verneigte, die sanften Augen auf ein verschlossenes Gesicht gerichtet, und um einen Bezugschein für ein paar Schüsseln oder ein Paar Arbeitsschuhe bat, schien es den Angesprochenen immer, als ob er sie zu einem Menuett in einem goldenen Spiegelsaal hole und als ob es eine Auszeichnung für ihn bedeute, daß er gerade sie auffordern dürfe.

»Ich werde heiraten müssen, lieber Bruder«, sagte er dann am Abend lächelnd zu Amadeus. »Am besten eine Amerikanerin mit Schlachthäusern in Chicago, damit ich ihnen allen ein Haus bauen und einen Acker kaufen kann. Sie können nicht ihr Leben lang Torf stechen und Bäume fällen.«

»Ich weiß nicht, lieber Bruder«, erwiderte Amadeus dann ernsthaft, »ob das gut sein wird für dich.«

»Meinst du?« fragte Erasmus nachdenklich. »Ich denke, es kann gar nicht so schwer sein. Siehst du, Generale stehen immer noch ziemlich hoch im Kurs bei uns, auch im neuen Deutschland. Leider. Auch wenn sie so schlechte Generale waren wie ich. Und dasselbe ist in Chicago mit den Freiherren der Fall, trotz aller Demokratie. Liljecrona ist ein schöner Name für Mrs. Blackwood, oder wie sie sonst heißen mag.«

Er lächelte und sah fröhlich auf die Emailleschüsseln nieder, die er mitgebracht und auf die Erde gestellt hatte.

»Sie würden dir deinen letzten Rock ausziehen, lieber Bruder«, sagte Amadeus, »und dich mit einem Plakat durch die Straßen führen.«

»Jaja«, erwiderte Erasmus, »das könnten sie schon fertigbekommen, aber ich könnte ihnen Dollars schicken, den Moorleuten. Man muß das ordentlich bedenken, lieber Bruder …«

Amadeus sah ihn von der Seite an, aber er konnte nicht ergründen, ob es ihm ernst mit dem war, was er sagte.

Wenn er nicht unterwegs war, blieb er den ganzen Tag in den kleinen Holzhäusern am Moor. Es gab soviel zu tun für ihn, daß er niemals Zeit hatte. Schon mit den Kindern, die kein Spielzeug hatten außer der »Goldenen«, und niemanden, der so trösten und über das Haar streichen konnte wie er. Sein ganzes Leben verwandelte sich ihm unter den Händen, und er sah voller Erstaunen dieser Verwandlung zu. Manchmal, wenn er am Rand des Moores stand und über die braune Fläche blickte, war es ihm, als könnte er ein Reiterregiment dort sehen, sein Regiment, das Blitzen der Zaumzeuge und das leise Wehen der Wimpel an den grauen Lanzenschäften. Und sich selbst davor, aufgerichtet im Sattel, auf das Hornsignal wartend, das sie zur Attacke rief.

Ein seltsames Bild, so seltsam, daß es fast zum Lächeln reizte, zu dem sanften, etwas traurigen Lächeln, mit dem ein Mann auf seine Kinderspiele blickt.

Und auch das war verwandelt worden bei ihm, daß er nicht mehr um sein eigenes Dasein herumlebte, wie man es hätte nennen können. Die Bücher, die Bilder, die Musik, die Fahrten zu den Nachbargütern. Es war ihm nicht gegeben worden, das große, stille Amt des Friedensrichters, das leise und stille Altern im Kreis des Behagens und der Sicherheit. Es gab keine Hände zu küssen hier und keine Verwirrungen des Herzens zu lösen. Er hatte Nägel einzuschlagen und einen Backtrog zu machen, die »Goldene« frisch anzuziehen und aus Kiefernrinde ein Boot zu machen, in dem man einen kleinen Mast aufstellen konnte.

Und am Abend hatte er an einem Herdfeuer zu sitzen und die müden Herzen zu überreden, daß Heimat überall war, wo es ein Dach und einen Herd gab und wo man ein tapferes und manchmal ein fröhliches Herz an sein Tagwerk wendete. Die Erde war nicht so sicher, wie sie alle gemeint hatten, der Hofzaun war es nicht, das Geld war es nicht. Nicht einmal das Vaterland. Aber das Herz war es, das in guten und bösen Zeiten schlug, und der Hände Arbeit, ob sie nun Korn schnitten oder Torf stachen. Verloren war nur, wer den Herzschlag nicht mehr spürte oder wer die Hände vergebens nach einem Spaten oder einer Axt ausstreckte.

»Gott segne Sie, Herr Baron!« sagten die Frauen leise, wenn er aufstand und ihnen zum Abschied zulächelte. Und wann hatte das früher jemand zu ihm gesagt? Weder die jungen Leutnants hatten es zu ihm gesagt, wenn er sie zu einer Besprechung befohlen hatte, noch seine Bücher und Bilder, zwischen denen seine Tage dahingeglitten waren. Die Bücher und Bilder hatten geschwiegen, und die jungen Leutnants hatten ganz andere Dinge gesagt als »Gott segne Sie, Herr General!« oder »Gott segne den Herrn General!«, wie es nach der Dienstordnung zu heißen hatte.

Es war ein schöner Abschiedsgruß für den Heimweg, und nur manchmal blieb der Freiherr Erasmus am Rande des Moores stehen, ehe der Wald ihn aufnahm, und blickte über die finstere oder mondbeglänzte Öde zurück. Der Nebel stand über Wasser und Schilf, ein Nachtvogel rief aus dem Raum unter den Sternen, und die verkrümmten Weiden hoben sich wie schattenhafte Gestalten vor das Licht der Ferne. Dann lauschte der Freiherr, die Hand auf das schlagende Herz gelegt, ob eine der vielen Stimmen, die er über der Tiefe vernahm, eine bekannte Stimme sei. Eine andere, als er sie an diesem Abend vernommen hatte, eine ferne, eine zurückgebliebene, die man nicht mitgenommen hatte, die man vergessen hatte und die sich nun aufhob nach dem Lärm des Tages, um weithin über die Erde zu rufen, nach den Fortgegangenen, den Sicheren, den Lebenden.

Und es war wohl so, daß die Stimme wußte, daß er hier stand, der Freiherr Erasmus, am Rand des Moores, so still und so allein, daß die Stimme ihn erreichen mußte, auch wenn es nur die Stimme eines Kindes war, das aus den Tüchern herausrief, in die man es gehüllt hatte gegen den Frost und gegen den Schnee.

Dann fröstelte es den Freiherrn Erasmus, und er blickte zur Scheibe des Mondes empor, als werde von dort der Trost herabträufeln, der »Balsam von Gilead«. Aber es fiel nichts herab als das milde, kühle, wie erstorbene Licht, in dem die Weiden ihre verkrümmten Schatten warfen, so verkrümmt wie Menschenhände, die nach der letzten Hoffnung des Lebens griffen.

Dann wandte sich der Freiherr seufzend ab und ging in das Dunkel des Waldes hinein, wo die Stimmen nicht mehr zu hören waren. Und ging im Forsthaus noch leise in die Kammer, in der Christoph schlief, und setzte sich auf den Bettrand, bis Christoph erwachte oder zu erwachen vorgab, weil er niemals schlief, ehe der Freiherr zurückgekommen war.

»Denkst du, daß sie vergeben haben, Christoph?« fragte er dann leise. Und Christoph konnte im halben Mondlicht sehen, wie er die Hände faltete.

»An ihnen ist nun die Reihe, Vergebung zu bekommen, Herr«, erwiderte Christoph ruhig. »Oder meinen Sie, daß die Toten in den Himmelssaal treten wie ein Gespannknecht, der zu wenig Lohn bekommen hat? Daß sie sagen: ›Wir sind es, aber wir haben noch eine Rechnung auf der Erde?‹ Da ist keine Erdenrechnung mehr, Herr. Das ist vergangen wie Spreu. Und wenn einer die Hand mit einer Rechnung ausstreckt, meinen Sie nicht, daß der liebe Gott ihn an ein Himmelsfenster führt und sagt: ›Siehe nun hinunter!‹? Und der Mann mit der Rechnung wird ein Moor sehen, ganz wie zu Hause, und ein paar Hütten am Moor und ein paar Männer, die Torf stechen, und ein paar Frauen, die das Mittagessen kochen, und ein paar Kinder, für die ein Freiherr ein Boot aus Kiefernrinde schnitzt. Und er wird sagen: ›Sind sie das, Herr?‹ Und der liebe Gott wird antworten: ›Ja, das sind sie.‹ Und der Mann wird eine Weile hinuntersehen und die Rechnung in seiner Hand zerdrücken und leise sagen: ›Vergib mir, Herr!‹ Und der liebe Gott wird lächeln und das zerdrückte Papier nehmen und in seine Tasche stecken, in den großen, goldenen Mantel, und den Mann zurückführen auf seinen Platz, wo die Schüssel mit der Buchweizengrütze steht, und sagen: ›So viel Fett werden sie wohl nicht haben, dort unten?‹

Ach, lieber Herr, was hat ein Mann zu vergeben, der den großen, goldenen Mantel berühren darf mit seiner Hand?«

Und der Freiherr Erasmus stand langsam auf und verneigte sich wie in den Amtsstuben und sagte: »Ich danke dir, Christoph. Du weißt es so, als ob du dort gewesen wärest.«

»Ich war nicht dort«, erwiderte Christoph leise, »aber ich werde dort sein, wenn der liebe Gott sich meiner erbarmen wird.«


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