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11

Es war nun schon dunkel geworden, als Amadeus zu den Hütten hinunterging, um Feuer in den Herden zu machen. Es schneite immer noch, und keine Menschenspur war vor der Schwelle mehr zu erkennen. Es würde sich schwer gehen, auch auf der großen Straße, aber die dort allein ging, würde sich nicht umzudrehen brauchen, ob jemand ihr folge. Der Schnee bedeckte sie, und er behütete sie. Er fiel wie ein Vorhang über das Gewesene. Er schloß das alte Jahr zu hinter ihren Schritten. Er schloß alle Jahre zu, die sie gelebt hatte.

Zuletzt machte Amadeus Feuer in dem Herd, vor dem nun ein Mann allein sitzen würde. Er wußte nicht, wie er dasitzen würde, ob mit finsteren oder mit traurigen Gedanken. Oder ganz ohne Gedanken. Er glaubte nur zu wissen, daß er der Frau nicht folgen würde. Das tat man in seiner Heimat nicht. Man konnte ihm nur zu sagen versuchen, weshalb sie fortgegangen war, und es war nicht sicher, daß er es verstehen würde. Er würde nur verstehen, daß sie fort war und niemals wiederkommen würde. Und wenn er das verstanden hätte, würde er bis zu seinem Tode kein Wort darüber sprechen. Was er darüber dachte, würde niemand erfahren. Aber wahrscheinlich würde er weiter seine Arbeit tun und an den Winterabenden vor diesem Feuer sitzen. Auch er, Amadeus, hatte so gesessen, und niemand hatte gewußt, was er gedacht hatte. Aber mit ihm war es anders gewesen, weil er noch hatte »verwandelt« werden können. Diesen Mann würde niemand verwandeln.

Er hörte die Kirchgänger zurückkommen, und dann trat Donelaitis ein. Er sah den Freiherrn vor dem Feuer und sah sich schnell um. Wahrscheinlich begriff er es sofort.

»Sitze noch ein bißchen bei mir«, sagte Amadeus. »Sie ist fort.«

Donelaitis gehorchte, und er nahm auch gehorsam eine der Zigaretten, die Amadeus ihm reichte.

»Sie ist nicht in das Moor gegangen«, fuhr Amadeus fort. »Sie ist nach Hause gegangen. An den großen Strom. Sie ist allein gegangen. Sie war bei mir, bevor sie ging.«

Das Feuer knisterte, und das war der einzige Laut. Nicht einmal die Atemzüge des Mannes waren zu vernehmen.

»Sie wissen, daß sie nicht woanders hingegangen ist, Herr?« fragte er endlich.

»Ja, das weiß ich. Vielleicht hat sie im Sommer daran gedacht, aber nun nicht mehr. Vielleicht hast du zu wenig mit ihr gesprochen, aber auch das würde nicht viel geholfen haben.«

»Wir sprechen dort nicht zu den Frauen«, sagte Donelaitis. »Nach der Hochzeit. Wir sprechen zu den Pferden und manchmal zu den Segeln, wenn wir auf dem Haff sind. Aber nicht zu den Frauen. Das ist so bei uns.«

Amadeus nickte. »Die meisten sind es zufrieden«, sagte er. »Aber ab und zu ist eine darunter, die es nicht zufrieden ist. Solch eine hast du gefunden.«

»Sie wird nicht hinkommen«, sagte Donelaitis nach einer Weile. »Wie soll sie hinkommen, wenn die ganze Erde voller Räuber ist?«

»Sie hat es gewußt«, erwiderte Amadeus, »aber sie wollte den weißen Sand noch einmal in der Hand halten.«

»Sie hätten sie binden können, Herr«, sagte Donelaitis. »So lange, bis ich gekommen wäre.«

»Ich habe es ihr gesagt, aber sie hat gewußt, daß ich niemanden binde, nachdem man mich gebunden hat. Und dann wäre sie in das Moor gegangen. Du hättest sie nicht Tag und Nacht binden können. Man kann die Hände und Füße binden, aber nicht mehr. Nicht das Herz.«

»Früher schlug man sie«, sagte Donelaitis finster. »Mit dem Pferdezaum oder dem Gürtel. Die Männer fanden nichts dabei, auch die Frauen nicht. Ich würde sie nicht geschlagen haben.«

»Nicht geschlagen und nicht gehalten. Sie war wie ein Vogel an einem Faden. Die meisten Frauen sind wohl so. Wenn sie ein Kind gehabt hätte, würde sie geblieben sein. Aber sie meinte, daß es ihr versagt sei.«

»Die Nebelfrauen haben es versagt, Herr. Sie stand zu oft am Moor um die Abendzeit. Sie war niemals hier. Und sie hat nicht gewartet, bis das Jesuskind kam. Vielleicht wäre es gekommen. Auch zu solchen kommt es.«

»Sie hätte es nicht gesehen, Donelaitis. Sie hätte nicht geglaubt, daß es hier gehen könnte. Dort oben würde sie es geglaubt und gesehen haben, nicht hier. Du hast sie mitgebracht, aber ohne ihr Herz. Ihr Herz ist dort geblieben. Nun ist sie es suchen gegangen. Ohne sein Herz kann man nicht leben. Die Sieger haben nicht gewußt, wie viele Herzen sie zerrissen haben.«

»Wer wird den Schnee von ihrem Kopftuch abwischen?« fragte Donelaitis und beugte sich tiefer zum Feuer.

»Du wirst ihr nicht nachgehen?« fragte Amadeus.

Der Mann schüttelte den Kopf. »Bei uns geht man keiner Frau nach«, erwiderte er. »Der Mann geht einem Pferd nach, das von der Weide in den Wald gelaufen ist, und einem Schaf, das sich im Moor verirrt hat. Aber einer Frau geht man nicht nach.«

Sie blieben sitzen und rauchten, bis das Feuer erlosch. Nur ein rötlicher Schein blieb in dem kleinen Raum. Sie waren zwei Männer, aber die Kammer war leer. Sie brauchten nur einmal zur Seite zu sehen, wo die Schatten in den dunklen Ecken standen, um zu wissen, daß sie leer war. Auch der Tod hätte sie nicht leerer machen können.

»Früher griffen wir Glück, Herr, um diese Stunde«, sagte Donelaitis. »So nannten wir das. Die Frauen hatten gebacken und es unter die Teller gelegt. Drei Teller durften wir aufheben. Eines war das Brot und eines die Wiege. Das andre war Geld oder der Himmelsschlüssel, der Ring oder der Totenkopf. Zwölf Dinge waren es, die unter den Tellern lagen. Was sie aufgehoben hat, weiß ich nicht. Was soll ich aufheben, Herr?«

»Hebe den Spaten auf, Donelaitis«, sagte Amadeus leise und ging zur Tür. »Wenn ein Bild des Spatens darunter war. Und wenn keines darunter war, wollen wir beide es machen und unter einen Teller legen. Es ist ein gutes Bild. Für uns beide. Der Spaten hat kein Heimweh außer nach der Erde.«

Es schneite noch immer, und er stieg langsam durch den tiefen Schnee zum Schafstall hinauf. Es mußte schon Mitternacht sein, aber es waren keine Glocken zu hören. Sie hatten die Glocken aus den Türmen geholt und eingeschmolzen. Wahrscheinlich würden die Sieger schießen und Feuerwerk abbrennen, aber der Schnee begrub den Lärm und das Licht. Er deckte alle Spuren zu, die der Menschen und die der Tiere. Er deckte das alte Jahr zu, wie es sich gehörte. Die Leute ohne Heimat mochten die Teller aufheben, wie sie es zu Hause getan hatten, aber auch auf das, was unter den Tellern lag, fiel der Schnee. Auf das Brot, auf die Wiege, auf den Totenkopf. Und auch auf den Spaten, den sie beide sich gedacht hatten.

Christoph saß noch in der Kammer des Schafstalles. »Ich wollte nicht fortgehen, Herr«, sagte er, »weil das alte Jahr zu Ende geht.«

Amadeus erzählte es ihm, und er hörte zu. »Es geht uns unter den Händen fort, Herr«, sagte er. »Wie der Sand, den sie halten will. Aber sei nicht traurig, Herr. Sand und Menschen kann man nicht halten. Und nun hat sie vielleicht ausgezürnt, die Erde. Am letzten Tag des Jahres hat sie vielleicht ausgezürnt. Das Böse der Herzen und der Gram der Herzen haben bis zu den Wurzeln gereicht, aber dort unten sind sie nun gereinigt worden. Die gute Zeit wird nun kommen für uns. Noch nicht gleich, aber dann wird sie kommen. Und meine Augen werden sie noch ein bißchen sehen können.«

Was für eine gute Zeit es denn sein würde, fragte Amadeus finster, wenn der Schnee nun auf das Kopftuch falle und einmal der Tau in ihre gebrochenen Augen?

Die gute Schneezeit, erwiderte Christoph mit seiner ruhigen, gewissen Stimme, in der ein Herz einkehre in sich selbst, und die gute Tauzeit, in der das Kind mit bloßen Füßen vor den Wandernden steht, um mit der Hand über das Mal und den Makel zu streichen. Und die über alles gute Zeit, in der zwei Kinder geboren werden würden, und niemand werde wissen, welches das helle und welches das dunkle Kind sein werde, weil das Kind im Moor die Hand über allen Ursprung gelegt haben werde.

Und das werde die gute Zeit für sie sein, für sie alle, weil sie alle zum erstenmal für zwei Kinder zu sorgen haben würden. Und davon bekomme man leichte Hände, so leicht, daß auch die Großen etwas davon abbekämen und am meisten diejenigen, die eben noch ein schweres Herz hätten …

Auch geschah zu Beginn des Jahres etwas, das keiner von ihnen vermutet hatte. Indem der Freiherr Erasmus eines Abends vor dem Feuer im Schafstall saß und, ohne jede Einleitung, aber mit einer tiefen Befangenheit, erklärte, daß nun auch er heiraten werde.

»Lieber Bruder«, sagte Amadeus nach einer Weile, aber Erasmus hob die Hand, als wollte er nichts hören. »Es ist nun so mit mir, lieber Bruder«, sagte er leise, »daß ich jetzt sehr allein bin. In diesem Frühjahr sollen zwei Kinder geboren werden, und wenn auch keines von beiden das deinige ist, so werden sie doch nahe an deinem Herzen sein. Und das ist recht so. Aber je näher sie an deinem Herzen sein werden, desto ferner werde ich euch rücken. Du mußt nicht den Kopf schütteln. Ich weiß, daß es so sein wird.

Früher wollte ich es tun, um den Leuten hier helfen zu können, und vielleicht war es nur ein halber Scherz. Aber nun habe ich ein bißchen Angst, so allein zu sein. Ich habe immer Angst gehabt, das weißt du. So als könntet ihr beide plötzlich aus dem Triptychon heraustreten, so über den Rand hinweg verschwinden, und ich stände ganz allein da, in einem Rahmen, der viel zu groß ist für mich.

Und es ist mir auch so, weißt du, als würde ich die Stimmen der Kinder dann nicht mehr hören oder nur ganz aus der Ferne hören, wenn ich selbst Kinder habe. Als würde ich damit etwas gut machen können, was ich falsch gemacht habe, wenn man daran überhaupt etwas gut machen kann.«

»Tust du es nur deshalb, lieber Bruder?« fragte Amadeus.

Erasmus schüttelte den Kopf. »Nicht allein deshalb«, erwiderte er. »Ich möchte auch nicht bis zu meinem Tode dort leben wie ein Uhu unter den Krähen. Ich möchte es noch ein bißchen hell haben, lieber Bruder. Es war doch ziemlich dunkel in allen diesen Jahren.«

Auch um ihn habe ich mich nicht bekümmert, dachte Amadeus und sah ihn von der Seite an, wie er gebeugt in seinem Stuhl saß, die Hände zwischen den Knien gefaltet. Er sah nicht aus wie ein fröhlicher Hochzeiter.

»Wir haben nie etwas anderes gewollt als dein Glück, lieber Bruder«, sagte er leise. »Vergib, wenn wir nicht Zeit genug gehabt haben für dich.«

Wieder schüttelte Erasmus den Kopf, als dürfe man so etwas nicht sagen. »Sie ist nun keine Dollar-Millionärin«, fuhr er etwas verlegen fort, »aber immerhin hat sie eine Reihe von Fabriken dort oben, die ihr Mann ihr hinterlassen hat. Zigarren und so weiter. Und vielleicht wird es doch zu ein paar Hofstellen für die Leute reichen. Das war wichtig für mich. Nicht daß ich ihre Zigarren rauchen will, aber die Leute sollen es doch einmal ein bißchen besser haben. Sie ist ein bißchen … ›mondän‹, weißt du. So nennt man das wohl. Aber ich denke, daß sie mich liebt. Ja, das denke ich doch.« Und er sah Amadeus an, als hätte dieser daran gezweifelt.

Aber Amadeus wollte an gar nichts zweifeln, was das Glück seines Bruders anging. Obwohl das »Mondäne« ihn etwas verwirrte. Erasmus pflegte solche Ausdrücke nicht zu gebrauchen.

Sie besprachen es so, daß Erasmus mit seiner Verlobten – denn verlobt waren sie schon – an einem der nächsten Abende heraufkommen wollte. »Nicht daß du sie beurteilen sollst, lieber Bruder«, sagte Erasmus mit einem schüchternen Lächeln. »Aber hier vor dem Feuer haben nun doch alle gesessen, die in unser Leben getreten sind, nicht wahr? Hier ist so etwas wie der Gerichtshof der Herzen für mich.«

»Hier ist kein Gerichtshof«, sagte Amadeus leise und half ihm den Mantel anlegen.

Er blieb auf der Schwelle stehen und sah ihm lange nach. Er konnte sich nicht verhehlen, daß er beunruhigt war. Der Bruder hatte zuviel nach Erklärungen und Gründen, ja nach Entschuldigungen gesucht. Amadeus dachte sich, daß man nicht zu entschuldigen brauchte, wenn man nur liebte. Wenn man nur liebte.

Und schon als die hohe, gebeugte Gestalt in der Dunkelheit verschwunden war, blickte er ihr immer noch nach, weil es ihm vorkam, als sei sie in Traurigkeit und Gefahr eingehüllt und als sei es nun vielleicht zu spät, sie vor dem »Schritt aus der Spur« zu bewahren. Und wenn der Bruder einmal einen Schritt aus der Spur täte, so würde es ein großer Schritt sein. Er würde nicht zuerst mit der Stockspitze vor sich hintasten, ob vor ihm der feste Boden läge. Er war wohl zu sehr ein Edelmann, als daß er das tun könnte.

Frau Daisy kam schon am nächsten Nachmittag, und zwar kam sie allein. Der Freiherr mochte nicht sehr, daß sie Daisy hieß, aber in der Hamburger Gegend war das vielleicht üblicher als in seiner Heimat. Er mochte auch nicht, daß sie Knolle hieß, obwohl er sich dafür tadelte, aber das war nun Sache ihres ersten Mannes gewesen, und dafür konnte sie nichts.

Nachdem sie sich solchermaßen eingeführt hatte, erfüllte sie den kleinen Raum mit einem strengen Parfüm und mit einem Teil von dem, was Erasmus »mondän« genannt hatte, und dieses mißfiel Amadeus. Es mißfiel ihm sehr und vom ersten Augenblick an, und sein Gesicht wie seine Haltung veränderten sich erst, als er bemerkte, daß Frau Daisy Angst hatte. Er konnte nicht gut sagen, woran er es bemerkte, aber es erfüllte gleichsam den Hintergrund ihrer Augen, wie die Angst noch die Augen eines mit Sicherheit lügenden Kindes erfüllen kann.

Er wies ihr einen Sessel vor dem Feuer an und fragte, ob er ihr eine Tasse Tee oder Kaffee reichen sollte.

Nein, das wollte sie nicht. Sie habe genug damit zu tun, diesen »Wunderbruder« zu betrachten.

Sie lachte, vielleicht ein bißchen zu laut und zu hell, und ihre Augen unter den wie ein Strich erscheinenden Brauen blickten ihn so klar an, als wollte sie nicht, daß er ihre Scheu merke.

Er sah sie nachdenklich an. Es war ihm, als hätten diese Augen schon viele Männer angesehen, wunderbare und weniger wunderbare, und sie tat ihm nun ein bißchen leid, wie sie diesen schweren Weg zu ihm hinaufgestiegen war und wie sie sich ausgedacht hatte, ob sie auch ihn bezaubern würde oder ob sie wenigstens so würde dasitzen können, daß er nicht zuviel von ihren Sorgen bemerken würde.

Der Freiherr bot ihr von seinen Zigaretten an, und es mißfiel ihm nun nicht mehr so sehr, daß sie den Rauch tief einatmete und wie eine kleine Kinderlokomotive wieder von sich stieß. Es gefiel ihm nicht, aber er sah nur still zu, und es freute ihn, daß das Rauchen ihr eine Erleichterung war.

Er versuchte, ein paar Fragen an sie zu richten, über ihr vergangenes Leben, über ihren Aufenthalt im Schloß, über ihre Zukunftspläne. Aber die Antworten verloren sich gleichsam in einem leeren Raum. Es war so, als ob man an einem Radiogerät den Knopf langsam drehte und von allen Stationen der Welt käme ein Bruchstück als Antwort, ein Takt einer Melodie, ein Satz aus einer Predigt, ein Bericht über einen Film. Alles mochte seinen Sinn in sich tragen, aber es war keine Zeit, dem Sinn zu folgen, weil gleich darauf die nächste Station ihre Stimme aussendete. Es war etwas Gespenstisches in dieser Erfülltheit des Äthers, als sei auch er nicht mehr unendlich zwischen den Sternbildern, sondern gefüllt mit den Schatten von Toten, die leise vor sich hin sprachen, auf dem unermeßlichen Wege nach der kleinen Grabkammer, wo sie endlich, endlich würden schweigen können.

Und es schien Amadeus auch, als hätte sie Angst, soviel zu sagen, daß man sie einmal daran würde erinnern können. Als käme sie geradewegs aus diesen überfüllten Städten, in denen die Horcher hinter jeder Ecke standen, in der jeden Augenblick die Sirenen aufheulen konnten, aber in denen auch noch in den bröckelnden Kellern die fremden Gesichter waren, vor denen man besser auf der Hut war, und am meisten dann, wenn sie so freundlich fragten wie der Freiherr Amadeus.

»Er ist einer der besten Menschen, die es auf dieser Erde gibt«, sagte er endlich. »Man muß das wissen, wenn man neben ihm gehen will.«

Sie lächelte ein bißchen, aber sie nickte eifrig. »Da sind noch ein paar neben ihm«, erwiderte sie, »die gut sind. Der Pfarrer zum Beispiel. Das übrige ist fast alles ›Bagage‹.«

Amadeus schüttelte mit einem leisen Tadel den Kopf. »Nicht für den Bruder und auch nicht für den Pfarrer«, sagte er. »Sie sind geschlagen worden, durch ihre Schuld und ohne ihre Schuld, und man muß ihnen wohl Zeit lassen, sich aufzurichten.«

»Ja, ihr seid schon wunderbar, ihr Freiherren von Liljecrona«, sagte sie und sah ihn lächelnd an. »Alle drei seid ihr wunderbar. Aber Sie selbst sind wahrscheinlich der Schwierigste.«

Das sei ihm nicht bekannt, erwiderte Amadeus nun doch mit Zurückhaltung. Aber das sollte sie vorher wissen, ehe sie unter die drei Brüder trete, daß sie noch aus einer vergangenen Zeit stammten und daß sie in vielen Dingen doch das wären, was man heute altmodisch nenne.

Vielleicht wolle auch sie es gern wieder sein, erwiderte sie nachdenklich.

Dann saß der Freiherr still da, in eine immer zunehmende Traurigkeit versinkend, und hörte zu, wie die Stimmen aus dem Äther durch diesen rotgemalten Mund zu ihm drangen. Denn so vieles auch ernst gemeint oder hilflos war oder nur unsicher, so war das meiste doch ohne Zusammenhang und ohne den Halt, den auch das einfachste Leben hätte haben sollen. Und bei manchem war es ihm, als hätte auch ein Paradiesvogel dort sitzen können, sehr bunt und sehr hübsch anzusehen, der auf den Zucker wartete, den man ihm reichen würde.

Aber Amadeus war nicht imstande, ihn zu reichen. Dies würde vielleicht eine Tragikomödie werden, dachte er, aber viel wahrscheinlicher würde es eine Tragödie werden. Ein grenzenloses Mitleid mit Erasmus und mit dieser Frau überkam ihn. Die Erkenntnis, wie allein, wie verloren und wie unglücklich sie beide gelebt haben mußten, um nun einer nach des andern Hand zu greifen. Es war, als sei das Gleichgewicht des Bruders gestört worden und als habe er nach dem nächsten Geländer gegriffen, um sich zu halten. Sie waren nicht nahe genug gewesen, Ägidius und er, daß er nach ihnen hätte greifen können. Sie waren keine guten Brüder gewesen. Sie hatten ein unaufmerksames Herz gehabt.

Man konnte noch einmal versuchen, ihn aufzuhalten und zu bewahren. Nicht nur vor dieser Ehe, sondern auch davor, daß er hineinging, um zu vergessen und etwas zu bekommen, aber wohl nicht, um etwas zu geben. Aber wahrscheinlich würde man ihn tödlich treffen damit, wenn man seinen doppelten Irrtum vor ihm aufdeckte. Die Kinder riefen immer noch von der verschneiten Straße, und diese Frau würde sicherlich keine Kinder haben.

»Es ist schrecklich, es ist schrecklich«, sagte er, in Gedanken verloren.

Aber da Frau Daisy eben einen Bericht über die Bombennächte in Hamburg beendet hatte, nahm sie seinen Seufzer für eine Anteilnahme an ihrem Schicksal und erhob sich. Es war ein passender Abschluß ihres Besuches, und es war ihr ohnehin die ganze Zeit nicht sehr leicht ums Herz gewesen. Ihr Zauber hatte nicht gewirkt, das merkte sie wohl. Ja, es war sogar möglich, daß sie zuzeiten vergessen hatte, ihn wirken zu lassen. Und dieser zugeschlossene Mann war sicherlich der unheimlichste der drei Brüder. Ägidius, den sie für eine Viertelstunde gesehen hatte, war der einfachste, und er hatte sie nur wie ein Kornfeld betrachtet, von dem man noch nicht wissen konnte, ob es die Aussaat lohnen würde. Und es war auch leichter dadurch gewesen, daß diese Frau dabeigesessen hatte, die wie eine verkleidete Riesin aussah.

Dieser aber war unheimlich, weil nichts Eindruck auf ihn machte und weil man niemals wissen konnte, was seine merkwürdigen Augen nun eigentlich sahen. Was er gesagt hatte, war voller Rätsel, und es war besser, die Hochzeit zu beschleunigen, damit dieser Mann mit dem gestreiften Mantel sie nicht plötzlich aus dem Schlosse austrieb. Hier oben waren so schreckliche Dinge vor sich gegangen, daß man sich hüten mußte. Hier war eine alte, verschollene Welt von den östlichen Grenzen des Reichs, und sie war ihr so fremd wie ein Buch in einer anderen Sprache.

Aber sie lächelte trotz dieser Gedanken, als sie sich verabschiedete, froh, daß es zu Ende war, und in dieser Fröhlichkeit beging sie die Torheit, ihn zu fragen, ob sie als eine künftige Schwägerin nun nicht einen Kuß verdient habe. Aber sie bereute gleich, es gesagt zu haben, weil der Freiherr sie ohne die Spur eines Lächelns betrachtete, als bedauere er es, daß sie die Grenzen der Vertraulichkeit auf eine so ungehörige Art überschritten habe. Und mit seinem unbewegten Gesicht erwiderte er nur, daß in diesem Raum nicht geküßt werde. So, als hätte sie ihm vorgeschlagen, gemeinsam mit ihm ein Testament zu fälschen.

Doch ließ sie es sich nicht merken, und als sie in der Abendsonne über das Heidekraut zu dem Fußpfad ging, der den Berg hinunterführte, war sie wirklich wie ein Paradiesvogel anzusehen, der sich ein bißchen verflogen, aber nun seinen Weg wiedergefunden hatte.

Auch ihr sah Amadeus von der Schwelle aus nach, und es fiel ihm ein, wie vielen Menschen und Schicksalen er von diesem Platz aus nachgesehen hatte. Als ob sie aus der Tiefe heraufgekommen wären und nach einer Weile sich wieder davonmachten, und in den seltensten Fällen hatte er gewußt, in welche Welt sie nun hinunterstiegen.

Auch von dieser Frau wußte er es nicht.

Er fürchtete sich sehr vor dem nächsten Besuch des Bruders, und Erasmus bemerkte es sofort.

»Ich bin kein Richter in diesen Dingen, lieber Bruder«, sagte Amadeus nach einer Weile. »Ich kenne die Menschen zu wenig, und am wenigsten die Frauen. Sie sind wie Schmetterlinge, die du niemals bekommst, und wenn du wenigstens ihre Farbe und die Schönheit ihrer Flügel erkennen willst, legen sie die Flügel zusammen, und du siehst nur die farblose Seite.«

»Aber vielleicht sehe ich beide Seiten, lieber Bruder?« fragte Erasmus schüchtern.

»Dann ist es gut«, erwiderte Amadeus. »Und wir werden auch beide um dich bleiben. Nichts wird sich verändern.«

»Alles wird gut sein, wenn ich ein Kind haben werde«, sagte Erasmus nach einem langen Schweigen. »Sie werden dann nicht mehr rufen, und alles wird gut sein.«

»Sicherlich wird alles gut sein, lieber Bruder. Der eine hat um ein Feld geheiratet und einen Menschen gewonnen. Der andere heiratet um ein Kind, und es soll ihm ebenso gut werden. Nun bin noch ich übrig, aber ihr sollt mich nicht fragen, um was ich heiraten werde. Weil ich allein bleiben werde.«

»Du bist der reichste von uns, lieber Bruder«, sagte Erasmus und stand auf. »An diesem Feuer hat man viel zu dir getragen. Und du hast immer dafür gesorgt, daß die Armen reich von dir gegangen sind.«

»Nicht immer«, erwiderte Amadeus. »Nicht immer.«

»Und würdest du mir wohl die Freude machen, zu meiner Hochzeit zu kommen?« fragte Erasmus endlich.

»Sicherlich werde ich das tun, lieber Bruder. Darauf kannst du dich verlassen.«

Aber als Erasmus nun ging, wußte Amadeus nun doch nicht, ob er »reich« von ihm gegangen war.

Und eines Tages machte er sich doch auf den weiten Weg, um mit Ägidius zu sprechen. Die Schwägerin erwartete nun jeden Tag ihre schwere Stunde, und zum erstenmal nahm Amadeus von ihrer schwerfälligen Erscheinung nur ihr Gesicht wahr. Ein schönes und ganz stilles, von innen erleuchtetes Gesicht, das nichts als der Spiegel des Wunders war, das sich unsichtbar in ihr vollzog. »Ich habe Sie wohl manchmal gekränkt«, sagte er, als er für eine Weile mit ihr allein saß, vor dem Kaminfeuer. »Ich bitte Sie, mir zu vergeben. Ich war damals noch in dem Lebensalter, in dem man urteilt.«

Er beugte sich vor und küßte ihre Hand. Sie zog sie nicht zurück. Sie sagte nur: »Nun habe ich keine Angst mehr.«

Ägidius war in Sorgen, aber auch er meinte, daß es besser sei, Erasmus nicht aufzuhalten. »Ihr habt vielleicht gedacht«, sagte er nach einer Weile, »daß ich nun fortgegangen sei von euch und nur für dieses alles lebe. Aber das ist nicht so. Ich habe nur gelernt, still zuzusehen. Man lernt das von den Feldern, wo die Saat aufgeht und wächst, ohne uns. Aber ich habe auch erkannt, daß keiner von uns aus dem Ring austreten kann, in den wir geschlossen sind. Dann glaube ich manchmal, daß der Vater noch lebt und über uns wacht.

Auch Erasmus wollen wir nun gehen lassen. Es sieht aus, als verlasse er den Ring ganz und gar, aber es ist nicht so. Und deshalb wollen wir nicht bekümmert sein. Vergiß nicht, daß ihr bekümmert wart, als ich hierhin ging. Er wird zurückkommen, bald wahrscheinlich, und wir müssen ihn nur wissen lassen, daß wir immer da sind. Vielleicht wird er sich schämen, wenn er zurückkehrt, ganz zu Unrecht, und wir müssen ihm nur klarmachen, daß jeder von uns sich ebenso zu schämen hat. Es gibt genug Becher, die wir verschüttet haben.

Und was wissen wir schließlich von dem armen Wesen, das nun eine siebenzackige Krone zu bekommen gedenkt? Welchen Preis sie dafür zahlt und was sie alles durchgemacht hat, um ihn zahlen zu wollen?«

»Manchmal denke ich«, sagte die Frau leise, »daß es nur im Märchen möglich ist, wie ihr seid und lebt. Drei Brüder, die in einen dunklen Wald gehen. Und jeder hört die Stimme des anderen, wenn der andere in Not ist. Über Hügel, über Berge. Immer wenn ich einen von euch sehe, muß ich denken: Es war einmal …«

»Aber meine Saaten stehen ganz ordentlich«, sagte Ägidius lächelnd.

»Vielleicht«, sagte Amadeus, »kommt es davon, daß wir aus dem Osten sind. Und vielleicht auch davon, daß die Zeit uns angerührt, aber nicht bezwungen hat. Wir haben immer noch unsere eigene Zeit. Viele Menschen von heute lächeln darüber, aber wer selbst keine Zeit hat außer Morgen und Abend, kann wohl leicht lächeln. Dort hinter den großen Strömen ist das Leben anders gegangen, weiter und stiller, und in vielem wohl auch primitiver. Es war kein Märchen, aber ich verstehe, daß es manchem so erscheint.«

Es gab im letzten Augenblick noch eine Schwierigkeit, weil Frau Daisy keine Papiere hatte, so daß sie gleichsam namenlos und heimatlos war. Man hätte ihr unterwegs auch den letzten Koffer gestohlen, und wo sie die letzten Jahre gelebt hatte, sei alles zerstört und verbrannt. Aber zwei junge Leute aus dem Schloß, mit denen sie befreundet war, bezeugten ihren Namen und ihre Heimat, und da es damals viele Vertriebene ohne einen Ausweis gab, so fügte der Standesbeamte sich schließlich.

Aber als der Freiherr Amadeus beim Hochzeitsessen die beiden jungen Leute sah, kam es ihm vor, als sollte eine Ehe etwas sicherer gegründet sein als auf ihre Aussage.

Über diesem Essen im Schloß stand nun wohl kein sehr heller Stern. Es war ein »Schwarzmarkt-Essen«, und schon dies gefiel nicht allen. Aber auch die meisten Gäste beunruhigten den Freiherrn Amadeus. Er kannte nur Wittkopp. Ägidius saß höflich und verbindlich neben der jungen Frau, und Christoph in seinem blauen Rock stand hinter dem Stuhl des Freiherrn Erasmus wie in alten Zeiten, um das Auf- und Abtragen der Speisen zu überwachen.

Amadeus gegenüber saß der alte Graf, blaß, kränklich und mit vielen Orden. Aber er konnte, wahrscheinlich infolge einer Krankheit, seine Augenlider nicht mehr heben, wie er wollte, und nur wenn er angesprochen wurde, hob er sie mit einer Art von gewaltsamer Anstrengung wie ein schlafender Uhu. Er aß und trank mit wenig Mäßigung, und aus einem unbekannten Grunde bediente er sich nur der französischen Sprache.

Die »jungen Leute« aber, in Sweatern und ohne Rock, bewegten sich mit einer solchen Sicherheit, als ob sie Brüder der jungen Frau wären. Man vernahm von ihnen nur, daß sie Soldaten gewesen waren, ohne einen anderen Beruf. Fliegeroffiziere, wie die junge Frau erklärte, und sie bezeichnete sie als »unglaubliche Helden«.

Die junge Frau trug eine richtige »Hochzeitsrobe« und der Graf einen altertümlichen Frack, und wenn Amadeus sich in der Tafelrunde umsah, kam es ihm ein bißchen vor, als sei dies ein Marionettentheater, von nicht geschickten Händen zusammengestellt, und wenn der Mann hinter dem Vorhang die Schnüre aus der Hand legen wollte, würden sie alle in ihrer Bewegung plötzlich erstarren, stumm und steif und ohne jedes Leben.

»C'est la canaille«, sagte der Graf mit seiner hohen Kinderstimme zu einem der jungen Leute und hob seine Augenlider auf. »Toujours la canaille …«

Aber Amadeus konnte nicht ergründen, wer nun eigentlich die Kanaille war.

Es wurde viel getrunken, das Lachen wurde lauter, und die junge Frau stieß ihren Champagnerkelch um, ohne darauf zu achten. Sie achtete auch darauf nicht, daß die Reden der jungen Leute sich an den Grenzen des Schicklichen bewegten.

Das unerschütterlichste Gesicht hatte Christoph. Er stand noch immer hinter dem Stuhl seines Herrn und blickte auf die Tafel und die Gäste nieder, wie sein Urahn auf den mit Goldstücken bedeckten Tisch der Spieler geblickt haben mochte. Nur die Peitsche fehlte in seiner linken Hand. Aber Amadeus schien es, als zittere seine rechte Hand nun nicht mehr, die Hand, mit der er seinen Herrn beim Gürtel fassen müßte, um ihn zum Schlitten hinunterzuführen.

Christoph übersah auch, daß der Graf ihm mit dem Zeigefinger winkte, und er überhörte auch, was er ihm zurief. Er war nicht für jedermann zu sprechen. Und das »Toujours la canaille«, das der Graf diesmal an ihn richtete, verstand er wohl nicht.

Amadeus erhob sich, als der eine der jungen Leute aus der Flasche zu trinken begann und der andere anfing, sich laut und etwas heiser als ein Sänger zu erweisen und sich selbst mit einer Mandoline zu begleiten. »Das Meer erglänzte weit hinaus …« sang er, wobei er seine trüben und schon etwas starren Augen auf die junge Frau richtete. Und Amadeus blieb noch einen Augenblick stehen und dachte darüber nach, was für eine Verbindung es wohl zwischen diesem Schubertlied und diesem jungen Betrunkenen geben mochte außer der Textstelle von dem »unglückseligen Weib«. Aber er konnte sich nicht vorstellen, daß es jemand mit seinen »Tränen vergiftet« habe, nicht einmal diesen dunklen Minnesänger mit den Weinflecken auf seinem Sweater.

Das Gesicht des Freiherrn Erasmus, als er sich von ihm verabschiedete, war so fröhlich, daß Amadeus darunter die tiefe Traurigkeit zu erkennen vermeinte, und er konnte nichts anderes als ihm ohne ein Wort zunicken. Es war wie das Gesicht eines Kindes, das in einer Luftschaukel saß, aller Schwere enthoben, aber je höher die Schaukel stieg, desto mehr verschwand die Fröhlichkeit aus dem Gesicht, und an ihre Stelle trat eine immer wachsende Angst, die die Fröhlichkeit wie zu einer Maske erstarren ließ. Die Angst der Erkenntnis, daß es zu spät zum Aussteigen war.

Noch auf der Treppe hörte Amadeus die Schlußphrase »vergiftet mit ihren Trä…nen …« und den wilden Beifallsjubel. Dann stand er auf dem Hof und sah die Sterne am Himmelsgewölbe. So viele Sterne, dachte er wieder und ging langsam über den großen, dunklen Hofplatz.

Unter dem steinernen Torbogen blieb er noch einmal stehen und blickte zu dem zerstörten Wappen auf. Hier hatte er gestanden damals, die Toten hinter sich, und hier stand er nun wieder. Die Toten waren in ihren Schatten zurückgetreten, und die Hand der Verwandlung hatte sanft über das Haar der Lebenden gestrichen. Auch über diese Erde war nun Böses gegangen, aber sie hatten doch versucht, ihm das Gute entgegenzustellen. Sie hatten das Böse nicht ausgerottet, denn es war unsterblich, aber sie hatten einen kleinen Raum gewonnen, auf dem sie die kleine Fahne des Guten aufgerichtet hatten. Sie hatten vielleicht geirrt und manches übereilt, aber dann hatten sie doch das Große gewonnen: sie hatten nicht mehr geurteilt und nicht mehr gerichtet. Sie waren still geworden in einer Welt des Lärmes. Sie hatten keine »Programme« mehr und keine »Weltanschauungen«. Sie sagten nicht: »Dies ist gut, und zwar ist dies allein gut!« Sie hatten die Welträtsel nicht gelöst. Sie waren bescheiden geworden, ein bißchen skeptisch und ein bißchen resigniert. Sie waren nicht mehr so überzeugt von der Herrlichkeit und Macht des Menschen. Aber sie waren etwas überzeugter geworden von dem, was jenseits der Macht des Menschen stand, auch wenn sie keinen Namen oder verschiedene Namen dafür hatten. Es war ihnen nicht mehr so wichtig, wer der Sieger und wer der Besiegte war, wer dieser Nation angehörte und wer einer anderen. Weil die Nation derjenigen, die guten Willens waren, keine Grenzen kannte. Weil sie nicht erobern wollten oder herrschen, Macht oder Recht haben wollten, sondern weil sie nur etwas helfen und heilen wollten, die zerstörten Städte und die zerstörten Menschengesichter, die Hände und die Augen, die getötet und dem Tode zugesehen hatten, und die Herzen, die im Haß, im Dunklen oder nur in der Verneinung waren.

Wieder hob Amadeus die Augen zu den hellen Fenstern auf, zu dem »Schloß Belsazars«, wo die »unglaublichen Helden« aus der Flasche tranken und der Bruder wohl »aus der Spur« getreten war. Aber wo Christoph doch wie in der »Urzeit« hinter dem Stuhl seines Herrn stand, bereit, seinen Gürtel zu fassen, wenn es Zeit wäre. Vorausgesetzt, daß er die Zeit erkennen würde.

Und dann, als er den Berg hinaufstieg und die Nachtvögel über dem Moor rufen hörte, dachte er nur noch an die beiden Kinder, die nun geboren werden sollten. Und zuletzt dachte er an die junge Frau Erdmuthe, wie sie mit ihrem Bündel in der Hand über die Straßen der verwüsteten Erde ging, um noch einmal die Schilfdächer am Njemenstrom zu sehen, die bunten Kreuze auf den Friedhöfen und den Leuchtturm auf der Nehrung, der seine Lichtbalken in der Nacht über Haff und Meer kreisen ließ. Wahrscheinlich würde sie nichts von alledem erblicken, sondern nur die Nacht der Gefangenschaft und des Todes, und wahrscheinlich war sie auch so geartet, daß nur der Tod ihr Heimweh stillen konnte, das große Heimweh der einfachen Leute, die man wie Vieh getrieben und geschlagen hatte, unter der Diktatur wie unter der Demokratie, unter der Leibeigenschaft wie unter der Herrschaft der Menschenrechte.

Sie hatten sie nicht halten können, auch der Freiherr Amadeus nicht. Es war ihnen keine Macht über das Heimweh gegeben. Und wohl auch nicht über die Herzen derer, die auf der Kirchenschwelle unter dem Gekreuzigten saßen oder die nach den Ufern des Stromes gingen, wo die drei Bäume standen, »der Ahorn drei …«

Eine Woche später wurde dem Freiherrn Ägidius ein Sohn geboren, und mit der Einladung zum Tauffest erhielt Amadeus auch die Nachricht, daß die »Frau Mutter« von ihrem Wasserschloß im Münsterland zu diesem Tage ihren Besuch angesagt habe.

Das war nun eine große Nachricht und die verwirrendste, die Amadeus in diesen Jahren empfangen hatte. Es war so, als ob ein Bild an der Wand sich plötzlich zu bewegen begänne, als wollte es aus seinem Rahmen heruntersteigen und unter die Menschen treten.

Es erschreckte Amadeus, in welche Ferne die Mutter fortgegangen war, nicht nur in eine Ferne des Raumes, sondern auch des Herzens. Während doch derjenige, der verschollen und versunken war seit der Kinderzeit, als Gott ihn »überredet« hatte, so nahe geblieben war, als brauchte man nur eine Tür zu öffnen, um wieder bei ihm zu sein.

Es kam ihm nicht wie eine Schuld vor, weder auf der einen noch auf der anderen Seite. Es war ihm nur, als öffne sich plötzlich die Weite der Erde vor seinen Augen. Wie weit ein Mensch fortgehen konnte aus dem Herzen oder Bewußtsein eines anderen und doch noch auf derselben Erde leben konnte. Wieviel größer also die Weite des menschlichen Herzens war als die Weite der Erde. Und wieviel größer also auch seine Leere sein konnte.

Er hatte sie niemals gekränkt, getadelt oder verwundet. Er hatte nur nicht geliebt. Sie hatte ihn geboren, aber er war nicht aus ihrem Blut. Es war, als ob sie ihn nur angenommen hätte, und dann, als er gehen konnte, hatte sie ihn fortgeschickt, sie alle drei, nicht nur ihn allein. Als hätte sie ihn niemals mit ihren Augen betrachtet, sondern immer nur durch ihr goldgerändertes Lorgnon. Schon in der Wiege wahrscheinlich.

Er seufzte ein bißchen, aber dann lächelte er auch ein bißchen. Wenn das Haar grau war, konnte man nicht mehr gut Mutter und Sohn spielen, wenn man es in der Kindheit versäumt hatte. Und sie würde wahrscheinlich auch nicht die geringste Neigung dazu verspüren. Sie würde bei Ägidius wie in einem Bauernhaus einkehren, wo ein Kind geboren war und wo man ein Goldstück in die Wiege legte oder einen silbernen Löffel. Und wahrscheinlich würde sie diese Schwiegertochter wie eine »Riesendame« auf einem Jahrmarkt durch ihr Lorgnon betrachten. Wie sie die andere Schwiegertochter betrachten würde, die »mondäne«, konnte Amadeus sich noch nicht vorstellen.

Nur dieses schien ihm etwas tröstlich, daß man den Kognak nicht aus der Flasche trinken würde und daß wahrscheinlich auch keine »Helden« dasein würden.

Sie hatten einen Wagen und zwei Pferde gemietet, und Christoph fuhr sie. Erasmus und Frau Daisy saßen hinten, und Amadeus saß neben Christoph auf dem Bock. Es war ihm leichter, daß er das Gesicht des Bruders nicht anzusehen brauchte, dieses fröhliche Gesicht, in dem die scheuen Augen baten: »Frage nicht, lieber Bruder, bitte frage nicht!«

Aber Amadeus wollte gar nicht fragen.

Frau Daisy trug einen kostbaren Pelzmantel, aber sie war schweigsam, und mitunter hatte sie die Augen geschlossen, als denke sie darüber nach, wie es nun auf diesem Fest zugehen werde. Wahrscheinlich nicht so lustig wie bei ihrem Hochzeitsessen, und die Gestalt ihrer Schwiegermutter erschien ihr wie die des steinernen Komturs, die sie einmal in irgendeiner Oper gesehen hatte. Der »Zauberflöte« oder so etwas Ähnlichem.

Christoph hatte noch immer keine Mütze, und ab und zu deutete er mit der Peitsche auf eine junge Saat oder auf einen Zug von Wildgänsen und sprach ein paar Worte zu dem Freiherrn Amadeus. Und dieser antwortete, wie er als Kind geantwortet hatte, wenn sie über Land gefahren waren. Die Sonne schien warm, und der Geruch der Erde war stark und rein. Sie hatte nun doch wohl »ausgezürnt«, und Amadeus fragte leise, ob Christoph es auch meine.

Aber Christoph hob nur leise die Schultern. »Warte noch ein bißchen, Herr«, sagte er. »Da, wo wir hinfahren, hat sie ausgezürnt, aber sonst hat sie wohl noch ein bißchen nachzuholen. Es wird ein gutes Jahr werden, Herr, für die Felder und auch für uns.«

Sie saßen auf der Freitreppe in der Sonne, als der Wagen hielt. Amadeus sah, wie die Mutter aufstand und ihnen von der obersten Stufe entgegenblickte. Ihr Haar war schneeweiß, aber sie hielt sich immer noch so gerade wie in seiner Kinderzeit. Sie trug ein langes lilafarbenes Kleid und einen Pelzkragen um die Schultern, und sie stand da, als ob dies alles ihr gehörte, das Haus, das Gut und sicherlich Christoph, denn er war der erste, den sie ansprach. »Wo hast du deinen Hut, Christoph?« fragte sie mit ihrer hellen Stimme. »Fährt man hier barhäuptig zur Taufe?« Und sie fragte so, als ob ein Kind seine Schulaufgaben nicht gemacht hätte.

Christoph ließ seine Peitsche als ein Zeichen des Grußes sinken und sah sie von der Höhe seines Kutschbockes an. »Der Hut ist liegengeblieben unterwegs, Frau Gräfin«, sagte er höflich. »Man hat ihn mir nicht nachgeschickt. Aber die Frau Gräfin und ich brauchen nun keinen Hut mehr mit unsren weißen Haaren.«

»Deine weißen Haare sind nicht meine weißen Haare«, erwiderte die Gräfin, als berichtige sie einen Rechenfehler, aber Christoph blickte schon wieder geradeaus auf die Köpfe der Pferde.

Erasmus und seine Frau stiegen zuerst die Stufen hinauf, langsamer, als es nötig gewesen wäre, und während der ganzen Zeit hielt die Gräfin ihr Lorgnon auf die neue Schwiegertochter gerichtet. Nicht freundlich und nicht unfreundlich, nur aufmerksam, wie sie eine neue Kammerjungfer betrachtet haben würde. Sie küßte Erasmus auf die Stirn, aber selbst während des Kusses wichen ihre Augen nicht von der jungen Frau.

Dann reichte sie ihr die Hand zum Kuß, und Frau Daisy gehorchte in ihrer Befangenheit der Bewegung, ohne zu zögern.

»Also Sie sind es«, sagte die Gräfin nachdenklich.

Frau Daisy nickte.

»Und früher hießen Sie Knolle?«

Auch darauf nickte die junge Frau.

»Nun, dafür können Sie nichts«, sagte die Gräfin und zog den Pelzkragen um ihre Schultern fester zusammen.

»Genau sowenig wie wir, daß wir zufällig Liljecrona heißen«, bemerkte Ägidius lächelnd.

Am meisten litt seine Frau unter dieser Begrüßung, und ihre Augen suchten in seinem Gesicht um Hilfe. Aber Ägidius hatte der Szene lächelnd zugesehen, und wenn Frau Daisy aufgeblickt hätte, würde sie gesehen haben, daß er ihr leise zunickte. Für ihn war dieses alles nicht so neu, wie es für seine Frau war.

Dann empfing Amadeus einen Kuß auf seine Stirn, aber ihn sah die Gräfin nun doch eine Weile an. »Du ähnelst ihm am meisten«, sagte sie, »und wie er bist du in die Grube gefallen …«

»Ja«, erwiderte Amadeus freundlich, »aber wenigstens haben meine Brüder mich nicht hineingeworfen. Sie wollten mich nicht verkaufen.«

»Wieso?« fragte sie verständnislos. »Weshalb sollten sie dich verkaufen?«

»Nach Ägyptenland«, sagte Amadeus lächelnd. »Wie Joseph.«

Sie zuckte die Schultern. »Immer diese alten Geschichten«, erwiderte sie abweisend. »Das solltest du doch wenigstens in diesen Jahren verlernt haben.«

»Die Jahre würden nicht gewesen sein, wenn wir weniger verlernt hätten«, sagte Amadeus. »Ich bin keiner von denen, die verlernen.«

»Ja, ganz wie er«, sagte sie noch einmal nachdenklich. »Auch er ging immer so, als ob es keine Treppen auf der Erde gäbe. Und als eine da war, sah er sie nicht und ging in den leeren Raum. Kopfüber.«

»Du hast sie gesehen«, erwiderte Amadeus. »Du hast nur nicht gesehen, daß auch sie in den leeren Raum führte.«

»Ich befinde mich niemals in einem leeren Raum«, sagte die Gräfin abschließend.

Dann bat die Frau Ägidius' ins Frühstückszimmer. Es war nun bald Zeit für den Pfarrer und die Gäste. Die Taufe sollte im Gutshaus stattfinden.

Ägidius war der einzige, der von einer gleichsam überlegenen Fröhlichkeit war. Es rührte ihn nichts an, weder die kategorischen Urteile seiner Mutter noch die Befangenheit seiner Schwägerin, in die sich ein leiser und finsterer Trotz zu mischen begann. Nicht einmal die Ängstlichkeit seiner Frau und nicht einmal das Gesicht seines Bruders Erasmus, der viel und hastig sprach und der doch für die Wissenden so aussah, als hätte er nicht nur die Kinder auf der winterlichen Straße, sondern auch sein Regiment verloren und halte nun allein auf seinem Pferde am Rande eines Schlachtfeldes.

Für Ägidius war es ein frommer Tag, von der fröhlichen Frommheit eines Mannes, der nicht nur ein Feld, sondern auch einen Sohn für dieses Feld gewonnen hatte und der die Frau mit einer ritterlichen Dankbarkeit betrachtete, die ihm dieses Feld und diesen Sohn geschenkt hatte.

Er lebte in der Gegenwart dieses Tages, aber er lebte schon weit in der Zukunft, und die Menschen erschienen ihm nicht nur wie Zeugen dieses Tages, mit ihren alltäglichen Freuden und Ängsten, sondern wie Sinnbilder des Schicksals, die mehr in sich trugen als den Alltag. Er sah schon das Gewebe und nicht nur die Fäden, und er wußte, daß auch die zeitliche Verworrenheit der Fäden sich auflösen und wieder ordnen würde. Auch in dem Gesicht seines Bruders Erasmus. Und diejenigen Fäden, die nicht in das Gewebe gehörten, würden abfallen zu ihrer Zeit und für ein anderes Gewebe bewahrt bleiben. Auch das der armen, aufgeputzten Frau. Und auch das der Mutter, die doch weder eine Mutter noch eine Großmutter war, sondern eben nur eine arme Gräfin, die sich nach ihrer Meinung nicht in dem leeren Raum befand.

»Sie ist eine Zyklopin«, sagte die Gräfin zu Amadeus, der neben ihr saß, und sie dämpfte ihre Stimme nicht besonders. »Nur daß sie zwei Augen hat. Aber ich denke, daß das Kind nur ein Auge haben wird, wenn ein paar Wochen vorübergegangen sind. Sie sind wieder zurückgekehrt zu dem alten heidnischen Stammgott, die Liljecronas. Auch er hatte nur ein Auge, und es sollte mich nicht wundern, wenn sie dem Kinde heute ein Menschenopfer bringen würden, ein Scharwerkerkind oder so etwas.«

Amadeus sah sie von der Seite an, aber auch auf ihn war nun etwas von der frommen Fröhlichkeit des Bruders übergegangen. Er entrüstete sich nicht, er lächelte nur. Weshalb sollte nur das Gute und das Böse unsterblich sein? Weshalb nicht auch das Erstarrte oder die fixen Ideen? Der Hochmut oder das Unzulängliche des Denkens? Sie war eine arme Frau, aber sie fühlte es nicht. Sie war in einer schrecklichen Leere des Raumes und des Herzens, aber ihr selbst war der Raum gefüllt. Sie hatte alles verloren, Mann und Söhne und Besitz, aber sie hatte es nie bemerkt. Sie bemerkte es auch jetzt nicht. Sie war die Oberste am Tisch und die Oberste in ihrem Geschlecht. Sie würde auch die Oberste im Tode sein und den Fährmann fragen, weshalb er keine Mütze trage, während er sie hinüberfahre zum anderen Ufer. Sie würde ihm keinen Obolus reichen, sondern ihm mit ihrer klaren Stimme auseinandersetzen, wie er sich bei solchen Fahrgästen zu benehmen habe. Auch wenn er schon weißes Haar hätte.

Er wolle nachfragen, sagte Amadeus also lächelnd, ob sie ein Kind ausgesucht hätten. Sonst müßten sie beide es tun.

Sie hob das Lorgnon und sah ihn an, obwohl er neben ihr saß. »Man scherzt mit seiner Mutter nicht ohne Erlaubnis«, sagte sie, als ob sie in einer Kinderstube säße. Sie sagte es ohne Schärfe, nur so nebenbei, und damit war der faux pas für sie erledigt. Sie war überzeugt, daß es ihm zu Herzen ging.

»Und diese andere«, fuhr sie ruhig fort, »cette courtisane secondaire, cette soidisante Knolle, wo hat er sie aufgefunden?«

»Sie hat Fabriken«, erwiderte Amadeus lächelnd. »Wenigstens sagt sie so. Zigarrenfabriken. Und das ist ja immerhin ein goldenes oder doch vergoldetes Handwerk.«

»Weshalb habt ihr das nicht verhindert?«

»Wir verhindern nichts mehr«, sagte Ägidius. »Wir sehen nur zu, bis es Zeit ist.«

Sie konnten noch eine Viertelstunde in der Sonne durch den Park gehen. Auch die Narzissen betrachtete die Gräfin durch ihr Glas, aber an ihnen hatte sie nichts auszusetzen. Es war ihnen nicht anzumerken, ob sie einem minderwertigen Geschlecht angehörten.

Die Zeremonie war schön und feierlich. Das Kind schrie nicht, und es behielt auch beide Augen, obwohl die Gräfin es während der ganzen Handlung aufmerksam betrachtete. Und von den Scharwerkerkindern, die an den Wänden des Saales standen, Frühlingsblumen in den Händen, und mit großen Augen das Geschehen verfolgten, wurde keines geopfert, obwohl die Gräfin auch sie eines nach dem anderen eindringlich musterte.

Es waren nur der Landrat und ein paar Gutsnachbarn geladen, und sie saßen mit freundlicher Verwunderung in ihren Stühlen, als nach der Taufe die drei Brüder die Blattpflanzen zur Seite schoben und sich zu ihren Notenpulten setzten, die dort verborgen gestanden hatten. Dies war nun von Amadeus ausgegangen, und selbst die Taufmutter hatte nichts davon gewußt. Aber von allen hatte sie nun das glückseligste Gesicht, als sie in ihrem Sessel saß, das Kind in den Armen, und auf die Spielenden blickte. Als hätte der Freiherr Amadeus nun nach einem Jahr des Wartens die Arme aufgetan und sie aufgenommen in den unzugänglichen Raum des Geschlechtes und der drei Herzen.

Sie spielten einen langsamen Satz von Mozart, aber für die Frau mit dem Kinde war es ohne Bedeutung, was sie spielten. Und während sie die Wärme des kleinen Körpers an ihrem Herzen spürte, sah sie mit großen, verwunderten und fast entzückten Augen auf die Spielenden. Es war ihr, als hätte das Leben ihr niemals eine schönere und heiligere Stunde geschenkt als diese. Als wäre sie wiederaufgenommen worden aus dem Dunklen des Spottes oder der Absonderung in eine Welt, in der nicht gespottet wurde, und als wären diese Töne, die sich verschlangen und hielten, die Gewähr dafür, daß sie nun niemals mehr verstoßen werden würde.

Von den drei Gesichtern war das ihres Mannes das hellste und fröhlichste, und während er den Geigenbogen auf und ab führte, war es, als spiele er nur heraus, was in seinem Herzen danach verlangte, ausgesprochen zu werden. Als sei es seine Musik und nicht die Mozarts oder eines anderen großen Toten.

Es war nicht so bei Erasmus, der die Wange dicht an seine Geige legte, und der so aussah, als hätte man ihm aufgetragen zu spielen. Er spielte mit dem Gehorsam und der Hingabe, die dem Auftrag gebührten, aber für ihn hatte die Musik sich noch nicht losgelöst aus seinem Inneren, um in einer schönen, schwerelosen Freiheit in den Raum zu steigen. Für ihn lag noch keine fromme Heiterkeit in dieser Stunde, und nicht einmal Amadeus wußte, was vor den versunkenen Augen des Bruders stand. Ob die Frauen des Schlosses, die mit den Scheuertüchern vor ihn traten, um ihr »Recht« zu bekommen, oder die Frau, die mit großen, neugierigen und fast erschreckten Augen ihm zusah, wie er den Bogen führte. Ob die verlorenen Kinder auf der verschneiten Straße, die so lange gerufen hatten, oder das noch ungeborene Kind, das er für sein Leben erwartete und von dem man noch nicht wußte, ob es jemals geboren werden würde.

Amadeus aber, wenn er auch nicht der heiterste von ihnen war, war doch derjenige, den die Zeit am tiefsten in sich umfing. Die Zeit von dem Konzert in der Schulaula, wo sie für die Ausgebrannten gespielt hatten, bis zu dieser Stunde, in der sie für das neue, junge Leben spielten. Diese Jahrzehnte, die neben ihnen her und dann über sie hingegangen waren, in denen so vieles gestürzt und gestorben war; in denen vor sich gegangen war, was die Leute Geschichte nannten, und ganze Völker wie Tiere unter einem Joch gegangen waren; in denen der Tod satt geworden war und der glühende Bauch des Götzen, den die Alten den Moloch genannt hatten.

Und in denen doch dieses geblieben war, daß die Erde wieder Saat trug, daß Kinder geboren wurden. Daß einige sich daran erinnerten, was die Bibel und die alten Geschlechter »gut« genannt hatten. Und daß diese Melodie, die er begleitete oder führte, nicht zerstört worden war, weil keine Macht der Erde sie zerstören konnte, seitdem sie sich einmal aufgehoben hatte aus einem kindlichen und begnadeten Herzen. Und mochte auch das Böse geblieben sein und immer bleiben, so war es doch nicht als das Alleinige auf der Erde geblieben, weil immer etwas da war, das sie ihm entgegenstellen konnten, und wenn es auch nichts anderes und vielleicht nicht mehr war als diese vollkommen reine und vollkommen ausgewogene Melodie, die auch unter den Händen eines Gottes nicht schöner hätte entstehen können als unter den Händen jenes Mannes, der sie in jungen Jahren einmal aufgeschrieben hatte.

Er blickte an seiner linken Hand vorbei einmal auf die Gesichter der Zuhörenden, auf das kühl abwartende seiner Mutter, auf das glückselige der Schwägerin, auf die immer noch scheu verwunderten der Gäste, und zuletzt auf die verzauberten der Scharwerkerkinder, die mit großen Augen auf dieses Wunder blickten, und auf das Christophs, der mitten unter ihnen an der Wand lehnte, mit seinem weißen Haar, das ihm auf den blauen Rock fiel, und der ihn ansah, als habe er, der Freiherr Amadeus, nun endlich den neuen Bund geschlossen, nach der Sintflut, in der sie übriggeblieben waren, und als würde er, der Kutscher Christoph, nun in Frieden »in die Grube fahren« können, wie es in der Schrift geschrieben stand.

Er, Amadeus, hatte weder ein Feld, noch eine Frau, noch ein Kind gewonnen, und als sie aufstanden und er das Instrument und den Bogen beiseite legte, waren seine Hände wieder leer, aber doch schien es allen anderen, als leuchte sein Gesicht am tiefsten. Und wahrscheinlich war es deshalb so, weil es nicht angeschlossen war während des Spieles an die Sorge um ein Menschenkind oder die Freude über ein Menschenkind, sondern eben nur an die große Beständigkeit des Daseins und an die tiefe Bürgschaft, die in dieser Melodie lag, in jeder Melodie, die aus einem reinen Herzen aufgestiegen war. Darin, daß es so etwas einmal gegeben hatte, auch wenn es eine solche Melodie niemals mehr geben würde.

Und deshalb war es wohl auch, daß die Brüder, nachdem auch sie ihre Geigen fortgelegt hatten, nicht bei ihren Stühlen stehenblieben, sondern zu ihm traten, der eine von rechts, der andere von links, so daß sie nun wieder, nach so vielen Jahrzehnten, wie in dem dreiflügeligen Bild dastanden, über das man damals gelächelt hatte.

Aber nun lächelte niemand. Weder die Gräfin, die sie damals nach dem Schulkonzert so gesehen hatte, und schon gar nicht Christoph, der sich ebenso erinnerte, nur daß er es auf eine andere Weise tat. Und keinem der Brüder entging es, daß die Mutter sich jeder Bemerkung enthielt, sondern für eine Weile still an einem der hohen Fenster stand und in den blühenden Park hinausblickte.

Bis Amadeus zu ihr trat und ihr den Arm bot. »Wir müssen nun wohl zum Essen gehen«, sagte er. »Sie warten schon auf uns.« Und er sagte es auf eine besonders behutsame Weise, als dürfte er sie eigentlich nicht anrühren in ihrer Versunkenheit.

»Daß es doch so lange her ist …«, sagte sie endlich und blickte noch einmal auf die Narzissenbeete hinaus. »So schrecklich lange …«

»So schön lange, Mutter«, erwiderte Amadeus. »So sehr schön lange …«

Es war ein fröhliches Essen in dem großen Gartensaal, auch wenn nicht aus einer Flasche getrunken und nicht gesungen wurde, und nur die junge Frau Daisy fand es wohl nicht besonders schön. Sie saß die ganze Zeit da, so wie ein Vogel in einem Futterhäuschen sitzt, die ängstlichen Augen nach rechts und links gewendet, und jeden Augenblick bereit, die Flügel aufzuheben, sobald Gefahr da war.

Aber es war keine Gefahr für sie. Ihre Tischherren waren aufmerksam und freundlich, wenn auch etwas vorsichtig und zurückhaltend, und sie gaben ihrer leisen Verwunderung höchstens durch ein kaum merkliches Heben ihrer Augenbrauen Ausdruck, wenn die junge Frau ihr Glas immer wieder gefüllt haben wollte.

Dann wurde sie fröhlich, und als die Fröhlichkeit bemerkbar wurde, hob die Hausfrau die Tafel auf.

Sie nahmen den Kaffee auf der Terrasse, und erst als Frau Daisy »ein Spielchen« vorschlug, meinte Erasmus, daß es Zeit sei, aufzubrechen, wenn sie noch vor der Dunkelheit zu Hause sein wollten.

»Ich habe Angst«, sagte die Hausfrau leise, als Amadeus sich verabschiedete. Aber er schüttelte lächelnd den Kopf. »Du sollst nun keine Angst mehr haben«, erwiderte er. »Seitdem du das Kind hast, sollst du keine Angst mehr haben. Wir werden für alles sorgen, wenn es nötig ist. Richte ihm nur ein Zimmer ein, daß er jederzeit kommen kann. Wahrscheinlich wird er mit schwerem Herzen kommen und sicherlich voller Scham, und das wird das bitterste für ihn sein. Denn er wollte ja doch die Scham vergessen und verlieren, oder doch das, was er sich darunter eingebildet hat.«

Die Gräfin stand nun wieder auf der Freitreppe wie am Morgen. Es war ihr nicht anzumerken, ob sie sich noch daran erinnerte, wie »schrecklich lange« es her war. Sie küßte die Brüder auf die Stirn und sah Erasmus eine Weile an. »Du bist der älteste«, sagte sie ohne eine besondere Mahnung in ihrer Stimme. »Sieh nun zu, daß du nicht der jüngste wirst.«

Er verstand sie nicht gleich, aber dann errötete er und verneigte sich nur.

Eine Weile sprach Frau Daisy noch im Wagen, viel und fröhlich. Dann, mit dem heraufziehenden Abendrot, wurde sie stiller, und schließlich schlief sie ein, den Kopf an das hohe Polster des Wagens gelehnt.

Amadeus drehte sich einmal um, als hinter ihm nicht mehr gesprochen wurde. Ihr Mund war halb geöffnet, und es fiel ihm ein, daß sie noch im Schlaf wie ein verstörtes Kind aussah. Er nickte Erasmus zu, der an Christoph vorbei in den fallenden Abend blickte, und dann schwiegen sie alle.

Für Amadeus war es so wie in der Kinderzeit, wenn sie von einem nachbarlichen Besuch heimkehrten. Auch dann hatten sie geschwiegen, und nur das leise Knirschen der Sielen und das Klirren des Zaumzeugs war zu hören gewesen. Nein, für ihn war es nicht »schrecklich lange« her, für ihn war es ganz nahe, am Wegrand, auf den der Tau schon fiel, in den niedrigen Schonungen, aus denen noch ein Vogelruf kam, in den Abendwolken, unter denen ein Reiher zum Moore zog. Ganz nahe, so wie Christoph ganz nahe war, der die Leine und die Peitsche hielt und auf dessen weißes Haar der Tau fiel.

»Das war das helle Kind, Christoph«, sagte er leise.

Christoph nickte. »Auch das andere wird hell sein, lieber Herr«, sagte er. »Die Erde meint es nun gut mit uns. Atme einmal tief, lieber Herr, damit du es merkst.«

Amadeus gehorchte, nicht nur einmal, und er spürte, daß Christoph recht hatte.

Nun würde seine schwere Zeit kommen, zusammen mit der »jungen Frau«, und noch immer wußte er nicht, wie er sie in eine gute Zeit verwandeln würde. Aber es würde ihm eingegeben werden, davon war er überzeugt. Nicht vom Verstand eingegeben, sondern so, wie die Melodie von heute dem Toten eingegeben worden war. Ohne Nachdenken, leise, so leise, wie der Tau eben auf sie fiel.

Als der Wagen hielt, erwachte Frau Daisy. »Was ist los?« fragt sie schlaftrunken.

»Wir sind da«, erwiderte Amadeus und stieg aus, um ihr behilflich zu sein.

Sie nahm seine Hand und sah ihn an, ohne ihn zu erkennen. »Ach, ihr Pack, ihr hochmütiges …«, sagte sie.

Sie war nun völlig betrunken.


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