Johann Karl Wezel
Herrmann und Ulrike / Band 4
Johann Karl Wezel

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Drittes Kapitel.

Mitten unter diesen landwirthschaftlichen Uebungen und Anordnungen, noch einige Tage vor dem gefürchteten Ende des Mays, trat des Morgens in aller Frühe, als eben Herrmann auf das Feld gehen wollte, die Pfarrfrau ungemein freudig herein, ein Küssen auf dem Arme und aus demselben einen neugebohrnen Knaben, den sie ihm überreichte. »Da!« sprach sie: »hier hat Ihnen der liebe Gott einen kleinen Ackersmann beschert: der wird einmal recht kommandiren: er hat schon eine Stimme, wie ein Mann, behüt' ihn der liebe Gott!« – Herrmann nahm ihn auf und küßte ihn mit rührungsvoller Freude. »Willkommen!« sprach er, »du kleiner 85 Erdensohn! Willkommen in dieser Wohnung des Schmerzes und des Vergnügens, du Frucht der treuesten feurigsten Liebe! dein Daseyn sollte mich betrüben: – aber nein! freuen will ich mich über dich, freuen wie ein Vater, dem sein erster Sohn geboren wird!« – »Das hab' ich auch Ulriken gerathen,« unterbrach ihn die Pfarrfrau. »Das arme Geschöpf härmt sich und weint, wenn sie den Jungen nur anblickt. Ich hab' ihr schon gesagt, das Kind kan unmöglich gedeihen: Sie sind ja nicht die Erste und werden auch, so Gott will, nicht die lezte seyn: – aber das hilft nichts, sie läßt sich nicht beruhigen. – Sehn sie einmal, wie der kleine Schurke seinen Vater anlacht! Nu, so ruf: Papa!« – In dieser muntern Laune schäkerte und tändelte sie mit dem Kinde und war so lebhaft vergnügt darüber, als wenn sie es selbst geboren hätte. Sie trug sehr viel zu Ulrikens Aufheiterung bey: die junge Mutter gewöhnte sich allmälich an ihre Situation, und die Freuden des künftigen ländlichen Lebens, die ihr Herrmann täglich mit frischen Farben vormahlte, stärkten 86 sie, daß sie die Gefangenschaft einer Kindbetterin, aller Schwächlichkeit ungeachtet, glücklich überstand.

Herrmann hatte sich den Plan gemacht, daß nach Verlauf dieses Zeitpunktes in seiner neuen Behausung alles zu Stande seyn sollte, um ihn mit seiner jungen Hausmutter aufzunehmen: mit den hauptsächlichsten Einrichtungen gelang es ihm auch. Von Freude glühend und wallend, brachte er in einem Vormittage Ulriken ihre neue Bauerkleidung, die er unterdessen für sie hatte machen lassen, half ihr sich ankleiden, und lud sie auf den Mittag zur ersten Mahlzeit in seinem Häuschen ein. Im kurzen flanellnen Unterrocke und rothen Mieder, die Arme wirthschaftlich aufgestreift, stand sie da und lächelte mit kindischem Vergnügen über ihr eignes Bild im Spiegel: nur die Haube, nach der Mode des Dorfs gemacht, misfiel ihr: sie warf sie mit Widerwillen vom Kopfe, band sich die Haare, daß sie eine Art von Chignon bildeten, nahm Herrmanns runden Hut und sezte ihn drauf: sie war zum Entzücken artig und niedlich in der neuen Tracht. 87 Herrmann nahm sie an den Arm: sein Vater, Hedwig, der Pfarr und die Pfarrfrau folgten ihm: die Pfarrfrau ließ sich um alles in der Welt die Ehre, das Kind zu tragen, nicht nehmen; und so hielten sie ihren Einzug. Von dem Eingange durch das Vorhaus bis zur Schlafkammer war eine breite Straße von duftenden Blumen gestreut: über Thüren und Fenstern hiengen Bogen von Tannenreisig, mit Blumen verziert: ringsum athmete Wohlgeruch, und aus allen Gesichtern lachte Vergnügen. Ulrike wußte sich vor inniger Herzenswonne nicht zu fassen: sie lief geschäftig durch alle Kammern und besah jeden Winkel vom obersten Boden bis zum untersten Keller, bezeichnete im Garten jedes Pläzchen, wo dies, wo jenes gepflanzt und gesäet werden sollte, und machte auf der Stelle mit einem Packet Samen den Anfang, den ihr die Pfarrfrau verschafte. Hedwig eilte voller Begierde nach dem Stalle, den Kühen den Besuch abzustatten, und wollte in Gegenwart der ganzen Gesellschaft ihr Probestück im Melken machen: allein der heimtückische Zufall führte sie zu 88 einem Stiere, und der landmännische Scherz hub laut auf ihre Unkosten an. Sie hielten die nüchterne Mahlzeit im Obstgarten unter einem schattigten Apfelbaume: die Bienen des Nachbars summten in den durchsäuselten Aesten und unter den bunten Blumen des wollüstigen Grases, Vögel hüpften und zwitscherten in den Zweigen, Schmetterlinge schwärmten mit blinkenden Flügeln herum, in der Luft lebte das muntre sausende Gewühl des Sommers und der regen Natur: an zween niedrige Bäume geknüpft, hieng das weiße Tuch, worinne, wie in einem indianischen Hamak, der junge Erbe des Hauses schlief und von der durchstreichenden Luft sanft gewiegt wurde. Der Tag war für Herrmann und Ulriken der frölichste ihres ganzen Lebens, ein Fest der Wonne.

Zween Tage hatten sie in voller Berauschung über ihr neues Glück hingebracht, als sich schon eine Bitterkeit in ihre Freuden mischte: der kleine Herrmann starb. So sehr Ulrike vor seiner Geburt sein Daseyn scheute, so sehr blutete izt ihr mütterliches Herz bey seinem Verluste. Speise 89 und Trank, Arbeit und Vergnügen schmeckten ihr herbe: jeder Ort, wo sie ihn getragen, geliebkost, gewindelt, genährt, wo er geschlafen, geweint oder gelacht hatte, erweckte ihre Thränen, und oft ließ sie eine angefangne Beschäftigung plözlich liegen, um zu der geliebten Leiche zu eilen, mit nassem Blicke über ihr zu hängen und in stiller Betrübniß über ihrem Ebenbilde zu trauren: sie hauchte den kleinen Lippen ihren Athem ein, aber die mütterliche Liebe vermochte nicht das erstarrte Herz zu erwärmen: sie trennte sich wehmuthsvoll von dem entseelten Knaben und suchte an Herrmanns Brust Erleichterung für ihren Schmerz.

»Liebe!« sprach er zu ihr; »wir selbst wollen ihm die lezte Elternpflicht entrichten, mit unsern Händen sein kleines Grab bereiten, und aus unsern eignen Händen soll ihn die Erde empfangen.« – Ulrike übernahm das Geschäfte sehr gern, und während daß Herrmann sich von dem Todtengräber einen Platz anweisen ließ und das Grab machte, pflückte sie auf den Wiesen Blumen, bettete mit ihnen in der Schachtel, die 90 zum Sarge dienen sollte, ein buntes Lager, band einen Kranz von Fichtenzweigen, mit Vergißmeinnicht durchflochten, und schmückte damit das kleine Haupt, und in die Hände gab sie ihm eine aufbrechende Rosenknospe. In der Dunkelheit des Abends gieng sie, ihren Herrmann am linken Arme, und unter dem rechten den Leichnam, auf den Kirchhof. Der volle Mond stand über dem Grabe und warf Tageslicht in die finstre Höle: alles schlief an diesem Orte der Ruhe, selbst die Luft. Die beiden Leidtragenden saßen in stummer Umarmung auf der ausgeworfnen Erde und schauten in die Wohnung ihres versenkten Geliebten hinab: nichts unterbrach das allgemeine theilnehmende Schweigen als das Rauschen dahinschießender Fledermäuse, oder der Klageton des Uhus aus den finstern Winkeln des weißen Kirchthurms, der das Wimmern eines Käuzchens, das, wie ein ächzendes Kind, über ihren Häuptern schwebte und das Leichenlied jammerte.

Sie standen auf und warfen das Grab zu, so schwer sich auch Ulrike dazu entschließen konte. 91 – »Welches von uns beiden wird das andre so begraben?« fieng Herrmann an, indem er die Erde hinabschaufelte.

»Möchtest du es seyn!« antwortete Ulrike. »Meine Leiden haben mich mit dem Tode so vertraut gemacht, daß ich lebendig hier wohnen könte in dieser friedlichen Nachbarschaft. Wie sie so einträchtig alle hier schlafen! Sie lieben sich freilich nicht: aber sie hassen sich doch auch nicht.«

Herrmann. Noch im Tode ist jede Familie ungetrennt. Siehe! hier neben mir ruht ein Hausvater – fünf und siebzig Jahre lebte er, wenn mich das Mondlicht nicht täuscht – neben ihm seine alte Hausfrau, im siebzigsten gestorben; hier ruhen sie unter vier schattichten Obstbäumen, und zu ihren Füßen die ganze kleine Nachkommenschaft. Wie eine junge Baumschule, stehn die kleinen Kreuze da: acht sind ihrer; und wer weis, wie viele Brüder noch unter dem Joche des Lebens keuchen, die einst an einem andern Platze ihre kleine Heerde eben so um sich versammeln werden? – Wie glücklich, Ulrike, 92 daß wir einmal in so guter Gesellschaft schlummern sollen!

Ulrike. Tausendmal süßer ist es, mir hier meine Ruhestätte zu denken, als in der hochgräflichen Gruft meines Onkels: man liegt dort in dem schwarzsamtnen tressenreichen Kasten, und der ganze traurige Aufputz hat so eine steife gezwungne Mine, als wenn sich die Leute noch im Tode vor einander genirten. Kurz vorher, eh' ich das Schloß verließ, besuchte ich sie, als man frische Luft hineinließ: O, dacht' ich, Ihr seyd wohl alle an der Langenweile gestorben. Die Leute liegen in so ehrerbietiger Entfernung von einander, als wenn sie sich eben so aus dem Wege giengen wie im Leben, und kommen nur dann erst in vertrauliche Nähe unter und über einander, wenn ihnen der Platz fehlt. – Tausendfach angenehmer ist es, hier in freundlicher Zutraulichkeit unter dieser grünen blumengestickten Decke zu schlafen!

Herrmann. Tausendfach angenehmer, sich hier sein Grab zu denken als auf dem städtischen Gottesacker, wo man oft von Dunsen, Narren, 93 Schurken und Bösewichtern umringt liegt und sich vielleicht mit Gebeinen vermischt, die man im Leben kaum unter Einem Himmel mit sich dulden mochte, und wo oft ein glänzender Stein und eine fabelhafte Inschrift den Nichtswürdigen noch im Tode über den braven Mann erhebt. Doch hier ruht man in der besten Gesellschaft, unter den nüzlichsten Bürgern des Staats – unter Menschen von dem allgemeinsten Einflusse, die die Lasten der Menschheit trugen und die Menschen nährten; die in reger Thätigkeit jede Minute des Lebens verdienten, durch Fühllosigkeit der Verachtung und Armuth standhafter Trotz boten als der gerühmteste Weise, mit ihren bösen Handlungen den kleinsten Schaden, und mit ihren guten den allgemeinsten Nutzen schaften. – O Ulrike! wenn wir hier, die Frucht unsrer Schwachheit zu den Füßen, beysammen schlummern werden!

Ulrike. Laß uns gehn! dieser Gedanke macht mir die ganze Scene graushaft.

Herrmann. Nein, laß uns bleiben! Noch sind wir der Tugend eine Aussöhnung schuldig. 94 Hier ruht er, der Sohn der Schwachheit: Leidenschaft entheiligte deine Tugend, um ihn zu zeugen: die Leidenschaft muß für diesen Frevel büßen. Ueber der Grabstätte unsers Kindes gelob' ich dir – zwey Jahre soll unser Lager getrennt seyn. –

Ulrike gab ihm die Hand, lehnte sich sanft an ihn und flüsterte ein seufzendes »Ja.«

Sie kehrten sich noch einmal zum Grabe, nahmen leisen Abschied und verließen den Kirchhof. Ulrike pflanzte den folgenden Tag rings um den Hügel niedres Gesträuch, und Herrmann sezte darauf ein schwarzes Kreuz mit den eingeschnittnen Worten: »In Kummer gebar mich meine Mutter.« Nach der Sitte des Dorfs wurde der Kirchhof seitdem auch ihr sonntägiger Spatziergang, um das kleine Grab zu besuchen und von den Lebenden die Geschichte der Verstorbnen zu hören. 95

 


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