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Das unschuldige Lämmlein

Wie das Lämmchen groß wird,« sagte seine Tante, das Schaf, »da wird man bald ans Heiraten denken müssen.«

»Das tue ich auch,« sagte das Lämmchen.

»Glaub es nicht,« jammerte des Lämmchens Mutter, »es denkt noch nicht an derartige Sachen. Es ist ja noch so unschuldig.«

»Was hat das Heiraten mit der Unschuld zu tun?« fragte das Lämmchen.

»Nichts!« rief das Tanten-Schaf.

»Das verstehst du nicht,« sagte die Alte.

»Das verstehst du nicht! Das antwortet man mir immer, wenn ich etwas wissen möchte.« sagte das Lämmchen ärgerlich.

Mutter und Tante sahen einander an.

»Wenn du einmal ein großes Schaf bist, so weißt du alles ganz von selber.« Da kam der Bock, Lämmchens Onkel.

»Onkel, was heißt unschuldig?« fragte es. Der Onkel kratzte sich mit dem linken Hinterfuß am Kopf.

»Unschuldig? Das bedeutet halt, daß man nichts weiß.«

»Aber Onkel!« rief das Lämmchen, »Ich weiß so viel! Da bin ich doch nicht unschuldig?«

»Die Sachen, die man nicht weiß, wenn man unschuldig ist,« sagte der arme verlegene Bock, »sind nicht dieselben Sachen, die man weiß, wenn man unschuldig ist!« Er schnaufte laut. »Aha,« sagte das Lämmchen. »Sind Sie auch unschuldig, Onkel Bock?«

»Ach, Lämmchen, weißt du« – sagte der Bock und sah sich hilflos um, »es ist so lange her, daß ich gar nicht mehr weiß, ob ich es immer noch bin!« Mutter Schaf und Tante stießen sich mit den Köpfen.

Sind Sie unschuldig, Frau Mutter?« fragte das Lämmlein.

»Verheiratete Leute nennt man nicht mehr unschuldig,« sagte ärgerlich das Schaf.

»Du bist einfältig,« rief das Tanten-Schaf, »heirate, dann weißt du es!«

»Ich bin dumm und ich bin unschuldig, das ist viel auf einmal,« sagte kläglich das Lämmchen, »da will ich mich mit dem Heiraten beeilen so viel ich kann, denn unschuldig und einfältig ist niemand gern.«

»Aber Lämmchen,« riefen Bock, Mutter-Schaf und Schaf-Tante, »das sagt man doch nicht!«

»Warum denn nicht?«

»Weil, wenn du das sagst, die anderen Leute denken könnten, du seist nicht mehr unschuldig!«

»Ja aber,« sagte das Lämmlein, »Ich will ja gerade heiraten, damit ich nicht mehr unschuldig sein muß.«

Da rannten die drei Alten in großen Sprüngen davon.

»Es muß arg sein mit meiner Unschuld,« dachte betrübt das Lämmchen, »daß die so davonrennen. Dort oben auf der Weide grast mein Vetter, das Böcklein. Der ist klug, der kann mir gewiß sagen, was die anderen nicht wissen.« Und das gute Lämmchen ging zum Böcklein. –

Am Abend sagte es zum alten Schaf: »Frau Mutter, ich weiß es jetzt. Unschuldig ist beides, angenehm und unangenehm. Eine Weile freut man sich, daß man es ist, und nach einer Weile freut man sich, daß man es nicht mehr ist. Selber weiß man es nie, wenn man unschuldig ist, aber man weiß es sicher, wenn man es nicht mehr ist. So lange man unschuldig ist, spricht man nie davon, und wenn man nicht mehr unschuldig ist, spricht man immer davon. Von der Unschuld der anderen, meine ich!«

Argwöhnisch drehte das Schaf den Kopf. »Woher hast du diese Weisheit?« fragte es.

»Von meinem Vetter, dem Böcklein,« sagte vergnügt das Lämmchen, »Und er hat mir sie ganz umsonst beigebracht!« – –

 


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