Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Als das Hühnchen zur Schule sollte

Das Hühnchen war sechs Monate alt geworden und sollte zur Schule. Es wurde deshalb Familienrat abgehalten.

»So jung und muß schon zur Schule,« sagte die gelbe Tante mit den Federn an den Beinen. »Eier legen lernt es ja von selber!«

»Setz dem Kücken doch nichts in den Kopf« mahnte die Großmutter des Hühnchens. »Ich bin in die Schule gegangen, du bist in die Schule gegangen, wir alle sind in die Schule gegangen, da muß es eben auch in die Schule gehen.«

»Warum, weiß ich freilich nicht,« sagte der Maulwurf, der seine Gänge im Hühnerhof angelegt hatte und nun auf Besuch gekommen war; »ich habe nie etwas gelernt und bin doch durch die Welt gekommen.«

»Aber wie,« rief die Amsel, die auf dem Baum im Hof wohnte. »Wie! Im Dunkeln ist er gekrochen sein Leben lang, und Freuden hat er keine gehabt außer dem Fressen.«

»Schweig du dort oben,« krähte ärgerlich der Hahn; »du gehörst nicht zur Familie und hast hier nicht mitzureden. Kinder aus unserer Sippe gehen zur Schule, natürlich, aber nicht wegen dem Lernen; das haben wir nicht nötig.«

»Warum denn?« fragte die Amsel erstaunt.

»Weil es sich schickt,« sagte der Hahn würdevoll, und die Henne, die Mutter der Kücken, sagte: »Und weil die andern es so machen.«

»Natürlich!« rief der ganze Hühnerhof, und die Großmutter – es war eine mächtige Langshanhenne, die viel Ansehen genoß – gluckste und sagte: »Natürlich!«

Also sollte das Kücken zur Schule ...

»Was meint ihr, zu welchem Lehrer wir unser Hühnchen schicken wollen?« fragte der Hahn.

»Zum Grünspecht,« rief die Amsel vom Baum herunter; »Er weiß viel und hat viel gesehen.«

»Zu dem!« rief empört Mutter Henne. »Wißt ihr, was das für einer ist? Der hat zu einer unserer Nachbarinnen gesagt, es wäre Zeit, daß die Hühner endlich etwas anderes lernten als nur Eier legen und gackeln. Das hat er gesagt.« Die Henne kratzte sich mit dem Fuß unter dem Flügel; es war eine Gewohnheit, die sie hatte.

»Schwiegersohn,« rief majestätisch die Großmutter Langshan, »da verlieren wir wohl weiter keine Worte. Was soll ein Huhn überhaupt anderes lernen als Eier legen und gackeln? Doch nicht singen wie eine Nachtigall?«

»Warum nicht,« rief wieder die Amsel, »Es wäre eine angenehme Abwechslung.«

»Ich habe gegackelt,« rief das alte Huhn, »Meine Tochter hat gegackelt, wir alle haben gegackelt, warum sollte unser Hühnchen nicht auch gackeln?«

Zum Grünspecht sollte das Hühnchen also nicht in die Schule, beschloß der Familienrat ...

Nach langem Nachdenken und Disputieren war man endlich einig geworden, daß das Kücken zu der Pute sollte – zu der mit den Bronzefedern natürlich, nicht zu der grauen – und daß die Familie es sogleich der Lehrerin vorstellen wolle.

Hahn, Henne, Großmutter Langshan und die gelbe Tante mit den Federn an den Beinen begleiteten das Hühnchen.

»Es soll vor allem richtig gackeln lernen,« begann die Großmutter und betrachtete die Pute mit ihrem rechten Auge. Über das linke hing der Kamm; sie gebrauchte es selten und sparte es für Notfälle auf. »Dann soll es in allen Pflichten unterrichtet werden, die ein Huhn von Familie kennen und ausüben muß: im Eierlegen, im Brüten, im treuen Führen der Jungen.«

»Versteht sich,« sagte die bronzene Pute; »Das lernt es alles am besten bei mir.«

»Es soll Untertänigkeit gegen seinen künftigen Gebieter lernen,« befahl der Hahn.

»Natürlich, das lernt es alles am besten bei mir,« sagte die Pute mit den Bronzefedern.

»Es soll lernen, sich mit den anderen Hennen vertragen; denn das ist sehr wichtig,« empfahl Mutter Henne und kratzte sich unter dem rechten Flügel.

»Versteht sich, das lernt es am besten bei mir,« antwortete das Bronzehuhn.

»Ich glaube, Sie sind dumm,« sagte die gelbe Tante mit den Federn an den Beinen.

»Das bin ich,« sagte das große Geschöpf und gluckste; »aber gerade darum kann ich die Kücken so gut in ihre Pflichten einführen: sie werden nicht abgelenkt.«

»Da hat sie recht,« nickte zufrieden Großmutter Langshan. »Und bitte, bringen Sie dem Hühnchen Respekt vor dem Alter bei.«

»Und lehren Sie es seine Eltern ehren,« sagte der Hahn.

»Und prägen Sie ihm ein, daß ein Huhn auf der Welt sei, um zu nützen,« bat Mutter Henne und kratzte sich.

»Und sagen Sie ihm gleich von Anfang an, Eierlegen sei ein Vergnügen; sonst glaubt es das Kücken später nicht mehr!« mahnte die gelbe Tante mit den Federn.

»Das tue ich alles,« versprach das Bronzehuhn; »es haben noch nie Eltern ihre Hühnchen gebracht, denen ich das nicht versprechen mußte.«

»Und so soll es sein,« sagte die Großmutter und warf ihren Kamm ausnahmsweise auf die rechte Seite, »und so ist es von jeher gewesen! Aber wo ist unser Kücken?«

Es spazierte vergnügt mit einem jungen Hähnchen aus der Nachbarschaft herum.

»Du, höre einmal,« sagte das zum Hühnchen, »von acht bis zehn legt die Pute, und von zehn bis zwölf schläft sie; da können wir den ganzen Morgen spazieren gehen.«

»Aber dann lerne ich ja nichts,« antwortete das Hühnchen.

»Gerade dann lernst du, was du brauchst; das andere kommt nachher von selber,« beruhigte es das Hähnchen.

Da kam aber die Familie und nahm das Hühnchen in ihre Mitte und zog mit ihm heimwärts.

»Man tut für seine Kinder, was man kann, nicht wahr, Schwiegersohn?« sagte Großmutter Langshan.

»Und so gut man es versteht!« pfiff die Amsel vom Baum herunter; aber niemand achtete auf sie.

Sie gehörte ja nicht in den Hühnerhof.

 


 << zurück weiter >>