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Der schwarze Fleck

Es war einmal eine entzückende kleine Maus. Ein Fellchen hatte sie, so weiß wie Schnee, durchsichtige, rosafarbene Ohren, ein zartrosa Schwänzchen, und ein spitzes und schmales Schnäuzlein mit langen, feinen Haaren. Das Schönste aber waren ihre roten Augen.

Die weiße Maus hatte einen Vater – die Mutter war in einer Falle verunglückt – Brüder, und zwei Schwestern. Sie hatte auch viele Freundinnen und natürlich sehr viele Freunde.

Aber sie durfte sie selten sehen. Der Vater hatte ihr genau vorgeschrieben, wo sie spazieren durfte: Dem Getäfel entlang, unten über den Fußboden, in den kleinen Schrank und unter das Sofa. Andere Wege sollte sie keine machen. Und bei Leibe nicht auf den Schreibtisch klettern, denn dort war das große Tintenfaß, und dem durfte keine weiße Maus zu nahe kommen.

Das Mäuschen gehorchte so lange es ihm möglich war. Dabei langweilte es sich aber unaussprechlich, immer mehr und mehr, und zuletzt konnte es die ungeheure Langeweile gar nicht mehr aushalten. Es mochte überhaupt nicht mehr ausgehen, blieb daheim und knusperte Zucker, weil es nichts Besseres zu tun wußte.

»Pst! Pst!« machte es eines Tages vor seinem Loch. Die weiße Maus hob ihren Kopf.

»Mäuschen, komm mit,« bat eine junge Ratte mit prachtvollem Schnurrbart, »Wir wollen ein wenig auf dem Schreibtisch spazieren gehen!«

»Ich darf nicht!« sagte das Mäuschen.

»Man darf manches nicht und tut es doch!«

»Aber der Vater!« sagte das Mäuschen.

»Weiß es nicht.«

»Die Brüder?«

»Sehen es nicht.«

»Die Schwestern?«

»Erfahren es nicht.«

»So will ich kommen!« und sie gingen zusammen.

Und richtig! Das schneeweiße Mäuschen kam zu nahe an das Tintenfaß und machte sich an der Seite einen häßlichen, schwarzen Fleck.

Es schüttelte sich, bürstete und wischte an sich herum, aber der Fleck wollte nicht weichen.

»Was wird der Vater sagen!« jammerte es. Die Ratte strich sich den Schnurrbart.

»Und die Brüder! Die beißen mich tot, sie haben noch nie jemand in der Familie gehabt, der einen Fleck hatte!« Die Ratte strich sich den Schnurrbart.

»Und meine Schwestern! Es wird keine mehr sich mit mir zeigen wollen!« Die Ratte strich sich den Schnurrbart und verschwand in einem Loch unter dem Schreibtisch. Da ging das weiße Mäuschen allein nach Hause.

Es ist nicht zu sagen, was es nun alles auszuhalten hatte. Man höhnte, schalt, verlästerte, verachtete, verdammte und verfluchte das weiße Mäuschen! Man trat es, rupfte ihm die Barthaare aus, beschmutzte sein reines Fellchen, man zog sich von ihm zurück und kündigte ihm die Freundschaft.

Zuletzt hing die Familie ein Mäntelchen über den schwarzen Fleck, aber man wußte doch, daß er da sei. Das arme Mäuschen schämte sich so sehr, daß es beständig den Kopf gesenkt hielt, und das feine Schwänzlein eingezogen.

Freundinnen hatte es nun natürlich keine mehr. Aber auch Freunde nicht. Sie sagten, daß es ihnen unmöglich sei, mit Mäusen zu verkehren, die nicht tadellose Fellchen hätten.

Da sagte sich das Mäuschen ruhig: Nun gehe ich zu den grauen Mäusen. Verachtet bin ich so wie so! Dort kann ich mich wenigstens amüsieren. Es ging. Die Familie sagte: Unser Mäuschen ist tot! Und dann seufzte sie. Wenn jemand von ihm reden wollte, winkten sie mit den Pfoten und sagten: Ach ja!

Das Mäuslein aber hatte nun ein lustiges Leben. Es sprang herum, wo es wollte, es tanzte, wenn es lustig war, über Stock und Stein, und ließ seinen schwarzen Fleck Fleck sein.

Es hatte Freunde und Freundinnen die Menge, und unterhielt sich vergnügt mit den grauen Mäusen.

Und wer begrüßte plötzlich das weiße Mäuslein wieder freudig und liebenswürdig? Alle seine früheren Freunde.

Und eines schönen Abends erschienen auch seine Brüder unter ihnen. Das Mäuslein sperrte seine roten Augen weit auf.

»Was! Ihr kennt die grauen Mäuse! Ihr habt mir doch gesagt – –«

Aber die Brüder zwinkerten nur mit den Augen und taten, als kennten sie die Maus nicht.

Da geschah es, daß eine Ratte sich in sie verliebte. So fürchterlich verliebte, daß sie zur Maus sagte: »Ich will dich heiraten!«

»Du!« warnte die weiße Maus, »Vergiß meinen schwarzen Fleck nicht.«

»Wenn ich dich heirate, so hast du keinen schwarzen Fleck mehr!« Die Ratte war die reichste Ratte weit und breit. Sie besaß riesige Kellereien, ungeheure Vorräte an Weizen und Obst und Fett und Nüssen und Zucker, kurz, ihr Reichtum war unermeßlich.

Und als die Ratte die weiße Maus geheiratet hatte, gingen sie zu der Maus Vater. Der machte große Augen.

»Herr Schwiegervater, ist es nicht merkwürdig, wie der schwarze Fleck auf dem Pelz meiner Frau schon verblaßt ist?« Der Vater der weißen Maus nahm ein Vergrößerungsglas, sah hindurch und sagte mit einer Stimme, die ganz ölig war vor Freundlichkeit:

»Ich sehe den Fleck überhaupt nicht mehr!«

Dann ging die Ratte zu den Brüdern, führte sie in ihre Keller ein, und vor ihre Vorräte und fragte: »Was sagt ihr zu dem Fleck meiner Frau?«

»Er ist verschwunden,« erklärten die Brüder bestimmt.

Und die Schwestern sagten, man hätte den Fleck überhaupt kaum je bemerkt. Sie aßen und tranken alle auf der Ratte Kosten und holten sich aus ihren Vorräten, was sie brauchten. Auch erzählten sie jedem, der es hören wollte, von der reichen Heirat ihrer Jüngsten.

Da strich sich die Ratte zufrieden den Schnurrbart und gab eine große Gesellschaft, mit allen Herrlichkeiten, die sich Mäuse nur wünschen können.

Sie fragte jeden Eingeladenen im geheimen: »Was sagen Sie zu dem Fleck meiner Frau?« und jeder einzelne antwortete: »Was für einen Fleck meinen Sie? Ihre Gemahlin besitzt den entzückendsten weißen Pelz, den man sehen kann!«

Da ging die weiße Maus wieder fröhlich herum unter den andern weißen Mäusen und vergaß zuletzt selbst, daß sie einmal einen schwarzen Fleck auf ihrem feinen Pelz gehabt hatte.

 


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