Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der weiße Maulwurf

Große Aufregung herrschte unter den Maulwürfen. Sie standen in Scharen beisammen und wisperten.

»Wer hat ihn gesehen?« fragte der Älteste der Maulwürfe.

»Ich, ich, ich,« schrien viele durcheinander.

»Ist er wirklich weiß?« fragte der Älteste.

»Schneeweiß! Auch nicht ein schwarzes Härchen ist an ihm,« rief eine junge Maulwurfsfrau. Der Haufe schwieg bestürzt.

»Wohin wird es noch kommen?« sagte der Älteste mit hohler Stimme, »wenn sogar die Maulwürfe es wagen, allem Hergebrachten ins Gesicht zu schlagen?«

»Vielleicht ist er nur gefärbt,« rief einer entschuldigend.

»Nein,« sagte die junge Maulwurfsfrau, »er ist echt! Die Haut unter dem Fell ist ganz rosenrot.«

»Du hast dir den Weißen genau angesehen,« sagte höhnisch einer der Maulwürfe.

»Das habe ich, so gut ich mit meinen Schlitzäuglein sehen konnte.« Die andern stutzten.

»Ich wäre dafür, den Weißen aus unseren Feldern zu verjagen,« schlug einer vor. Es war ein gewöhnlicher Maulwurf mit kurzem grauem Schwanz. »Wie leicht könnte er unserer Jugend solche Unsitten beibringen. Ich habe auch gehört, daß er aufrührerische Reden hält.«

»Aufrührerische Reden?« rief der Älteste, »das ist das Schlimmste! Nur nichts Neues! Nur keine Veränderungen! Nur keine Versuche, die doch fehlschlagen! Ich kenne die Welt. Ich habe lange genug in ihr gelebt. Wer sind die wahrhaft Glücklichen und Weisen?« Der Älteste neigte die spitze Schnauze und kniff die winzigen Äuglein zusammen. »Die die Erfahrungen von Generationen benützen und die leichtsinnigen Neuerungen verabscheuen. Fort mit dem weißen Maulwurf!«

»Fort mit dem weißen Maulwurf!« schrien alle. Nur die Maulwurfsfrau schrie nicht mit.

»Er hat größere Augen als alle unsere Maulwürfe,« sagte sie zu ihrer Nachbarin, »er kann einen wirklich damit ansehen, und dann glänzen sie.«

»Das kann ich mir gar nicht vorstellen,« sagte die Maulwürfin.

Da kam hastig ein junger Maulwurf daher.

»Wißt ihr, was der weiße Maulwurf sagt?« rief er schon von weitem.

»Nein!« schrien die andern und umringten ihn.

»Er sagt, wir sollten größere Augen haben, ich habe es selbst gehört!«

»Größere Augen?« fragten empört die Zuhörer. »Wozu?«

»Er sagt, wir sollten besser sehen können!«

»Besser sehen! Was denn?« riefen wieder die Umstehenden. »Was will denn der Kerl?«

»Er sagt, wir sollten lernen das Schöne sehen, auch außerhalb unserer Gänge.«

»Außerhalb unsern Gängen,« schrie die Menge, »was gibt es denn da zu sehen?«

»Er ist verrückt,« sagte der Grauschwänzige.

»Er ist ein Aufrührer, ein Revolutionär,« schrien viele.

»Er ist einfach ein Esel!« erklärte der Älteste. »Besser sehen lernen! Haben Maulwürfe je gut sehen können? Und dann: Gibt es außerhalb unserer Gänge überhaupt Schönes? Ein Esel ist er, oder ein Idealist, das kommt auf eins heraus.«

Da wurde es hell hinten im Gang. Der weiße Maulwurf kam.

»Da ist er, da kommt er,« wisperte es. Die Schlitzäuglein öffneten sich, die kurzen Hälse streckten sich, die grauen und bräunlichen Schwanzstummel fuhren aufgeregt hin und her. Aber alle schwiegen, auch der Älteste. Da fragte der weiße Maulwurf:

»Warum soll ich fort? Habe ich euch etwas zuleide getan?«

»Nein,« sagte der Grauschwänzige, »aber du bist weiß und wir sind schwarz!«

»Du willst neue Bräuche einführen!« rief der Älteste.

»Du sagst, wir verstünden nicht zu sehen,« schrie die Menge.

»Und das ist wahr,« bestätigte ruhig der weiße Maulwurf. »Ihr seht nur, was ihr sehen wollt, und es gibt so vieles, das ihr sehen könntet!«

»Wir brauchen nichts zu sehen,« schrien die Maulwürfe.

»Wir wissen alles auswendig,« rief einer.

»Uns gefällt das Schöne gar nicht,« piepste ein anderer.

»Versucht es doch einmal,« bat der Weiße. »Ihr werdet sehen, es gefällt euch dann!« Und feurig fuhr er fort: »Wenn es für euch zu spät ist, so laßt mich wenigstens eure Kinder hinausführen! Laßt sie einmal hinauf auf die Erde und zeigt ihnen den Glanz des Mondes und das flimmernde Licht der Sterne.«

»Verführer! Jugendverderber!« schrie wütend der Älteste. »Nun erkenne ich dich! Zwietracht willst du säen zwischen uns und der Jugend! Unzufriedenheit willst du pflanzen! Hochmut willst du züchten! Wir, die Alten, sollen uns schämen müssen vor der Jugend mit unseren kleinen Äuglein! Ich kenne dich und deinesgleichen! Jawohl! Mond und Sterne! Die hätten wir längst gesehen, wäre es gut für Maulwürfe! Fort! Hinaus! Hinaus mit dir aus unseren Gängen!«

»Fort mit dir,« schrien die Schwarzen, »Fort mit dir! Fort!« Die Maulwürfe drängten den Fremdling durch den engen Gang. Sie kamen an der Maulwurfsfrau vorbei, die dort mit ihrer Nachbarin stand.

»Den Besten unter euch verjagt ihr!« rief sie spöttisch.

»Den Besten!« schrie der Graugeschwänzte. »Nennst du einen weißen Maulwurf den Besten?« Dann wandte er sich zu dem Verhaßten und schrie:

»So hast du unser Volk schon verhetzt!« und warf sich auf ihn und versetzte ihm wütende Bisse.

Als die andern das sahen, wagten sie es ebenfalls, und fielen über den weißen Maulwurf her. Bald hatten sie ihn totgebissen. Der weiße Pelz färbte sich rot vom Blute des Gemordeten und ärgerte niemand mehr.

Zufrieden tappten alle im Dunkeln nach ihren Wohnungen. Zu sehen brauchten sie ja nichts, denn schon ihre Eltern, Großeltern und Urgroßeltern waren diesen Weg gegangen! –

 


 << zurück weiter >>