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Zehntes Kapitel.

Ich fand Lotti noch schlafend und setzte mich ins Wohnzimmer, wo ich hören konnte, wenn sie sich rührte. Mir war das Herz sehr schwer, ich hielt meine Tränen nicht länger zurück und weinte bitterlich. Und wenn ich all dem Schweren, das mich bedrückte und belastete, nachsann, da war es immer eines, das mich am tiefsten schmerzte: Daß Alexander von Löwen nun doch ging in dieser Nacht, trotzdem – ja trotzdem sein Freund mir so fest das Gegenteil versichert hatte!

 

Nach einer halben Stunde kam Kolja. Er sei der Marja nachgelaufen, berichtete er flüsternd, sie wäre in der Stadt gewesen, um Besorgungen zu machen. Sie hätte erst sehr gescholten, aber ihn dann doch mitgenommen. Es war eben alles im Rottmerhof aus der Ordnung gekommen, an diesem Tag.

Wir waren beim Schuster – erzählte Kolja eifrig. Solch en Berg Stiefel hat Marja mitgebracht! Zur Auswahl für den Papa und alles Mögliche, alles Mögliche. Es war sehr fein, Tante Hannah!

Ich nickte zerstreut, ohne recht zuzuhören.

Und dann hat Marja gesagt – morgen wollt sie mir 'nen Kuchen backen, sooo groß! Mit lauter Rosinen und Mandeln drin, und – und den ganzen Tag wollt sie singen und tanzen. Und Tante, ist morgen denn ein Geburtstag?

Bubi, Bubi! Ich nahm seinen Kopf und drückte mein Gesicht in seine blonden Härchen; armer, kleiner Kerl, was würde das »morgen« ihm bringen?

Dann mußte ich daran denken, wie sonderbar Marjas Aeußerungen waren. Auch sie hing mit großer Liebe an ihrem Herren und wußte, daß er fortging, wußte aus welchem Grunde und wie weit, und trotzdem sprach sie, als bedeute der Tag morgen einen Festtag für sie? Wie war das zu verstehen?

Es war ein so stiller, friedlicher Herbsttag draußen. Wolkenloser Himmel, heller Sonnenschein; kein Lüftchen regte sich, aber Blatt um Blatt schwebte von den Bäumen, drehte sich taumelnd in der Luft und sank weich zur Erde. Und immer neue Blätter lösten sich und sanken herab, wie Hoffnungen aus eines Menschen Seele.

Ich lehnte die schmerzende Stirn an die Fensterscheibe. War denn auch mir eine Hoffnung auf Glück versunken, wenn es »morgen« wurde? Ich versuchte, mir noch einmal klarzumachen, was ich von dem geheimnisvollen Tun und Treiben im Rottmerhof wußte.

Zunächst, daß Herr und Diener einen unterirdischen Gang wiederhergestellt hatten, der vom Rottmerhof nach dem Museum ging; dann, daß dort eine kostbare Edelsteinsammlung aufbewahrt wurde. Weiter – diese heimlich in Szene gesetzte Abreise. Petruschka hatte direkt zugegeben, daß er und sein Herr beabsichtigten, noch diese Nacht abzureisen; auch daß es eine Flucht war, hatte er nicht geleugnet. Noch war der Anschlag nicht unternommen, die Flucht würde sich unmittelbar daran schließen. Alles diese Nacht!

Was aber hatte Bredow damit zu tun? Sah das nicht ganz aus, als ob auch er –? Aber das war doch nicht möglich. Ich richtete mich auf, und preßte die Hand auf mein lautklopfendes Herz. Nein, nein und tausendmal nein, und wenn alles dafür sprach – Mutter Gretens »Jungchen« konnte kein Schurke geworden sein! Das wußte ich, das fühlte ich, so sicher, daß mich ein freudiger Schreck durchzuckte.

Dann aber konnte es nur hinter seinem Rücken geschehen; dann wurde er von seinem Freunde getäuscht, hintergangen. Dann wurde sein Vertrauen mißbraucht, um irgendwie diese Flucht zu erleichtern! Ich sprang auf und sah nach der Uhr; schon begann die Sonne zu sinken. Eine fieberhafte Unruhe ergriff mich, ich mußte Werner Bredow sprechen, ehe es zu spät war! Ich mußte ihn aufklären. Wer weiß, was sein Freund ihm vorgeredet haben mochte.

Als ich in den Vorsaal trat, kam Marja mit einem Tablett voll Speisen von der Halle herein. Ich fragte nach Doktor Bredow.

Die Herren sind in der Stadt, antwortete sie, und begann den Teetisch zu ordnen.

Werden sie lange fortbleiben?

Sie sah mich forschend an –

Ich weiß nicht; ich soll kein Abendbrot richten, antwortete sie vorsichtig.

Ich wandte mich mutlos ab. Marja zog ein Schreiben aus der Tasche.

Wacht die gnädige Frau?

Nein; haben Sie etwas für sie?

Ja, vom Herren, einen Brief.

Ich wollte erschreckt auf sie zutreten – mußte ich doch fürchten, daß es ein Abschiedsbrief war. Wie durfte Lotti ihn jetzt bekommen, elend wie sie war? Aber bevor ich Marja erreichte, hörten wir einen schwachen Ruf Lottis, und mich hastig zur Seite schiebend, ging Marja raschen Schrittes hinein.

Ich trat auf die Schwelle. Lotti hatte den Brief schon aufgerissen, und beim Schein der Kerze, die Marja hielt, durchflogen ihre Augen das engbeschriebene Briefblatt. Angstvoll wartete ich auf einen Ausbruch des Jammers, und wollte kaum meinen Augen trauen, als Lottis blasses Gesicht immer verklärter wurde. Mit einem schwachen Lächeln der Befriedigung ließ sie sich in die Kissen zurückfallen. Ich eilte zu ihr.

Hannah, ich bin so glücklich! Sie drückte mir die Hand. Er schreibt – aber lies selbst.

Sie gab mir den Bogen und ich las:

Geliebte Lotti!

Ich hatte gehofft, Dir all diese Aufregungen ersparen zu können, und ich sehe jetzt ein, daß ich unrecht tat, Dich im Rottmerhof festzuhalten. Aber, Duschinka, ich mochte und konnte Dich nicht entbehren; und Du? Hättest Du Dich von mir getrennt? Ich aber – mußte bleiben!

Ich kann Dir nicht erklären, was mich hier festhielt; das Wort, das man einem Sterbenden gab, ist heilig!

Ach Lotti, ich schreibe in Eile, mein Kopf ist wirr und schwer. Liebste, ich kann nicht anders handeln, als ich es tue! Aber über diesem allem stehst Du, steht meine heiße Liebe zu meinem Weibe. Gedulde Dich nur noch kurze Zeit; wenn alles geht, wie ich es wünsche und hoffe, so soll es schon morgen besser für Dich werden.

Wie in das gelobte Land, so sehe ich in die künftige Zeit, wo ich mich ganz Dir, ganz unserer Liehe widmen will! Gleich in der nächsten Zeit wollen wir fort; nach Italien, Capri – wohin Du willst.

Wenn Du mich liebst – grüble nicht länger über das, was Dir unverständlich geblieben ist, schlafe fest und ruhig diese Nacht und träume von mir.

Dein Sascha.

Ich wagte meine Augen nicht von dem Blatte zu heben, nachdem ich schon längst fertig gelesen. Empörung, Zweifel und dann wieder ein unklares Empfinden, daß diese leidenschaftlichen Worte keine Lüge sein könnten, stritten in mir. Was sollte ich glauben?

Ich nahm mich zusammen; glücklicherweise hatte ich von Lottis Beobachtungsgabe nicht viel zu fürchten; es gab wohl kaum einen Menschen, der weniger besaß. Ganz beruhigt lag sie in ihren Kissen, plauderte heiter und verlangte endlich, aufzustehen.

Sie fragte nicht, was ich zu dem Inhalt des Briefes sagte, sie schien völlig zufriedengestellt, oder wollte es doch sein; es war, als fürchte sie, durch eine Aeußerung von mir aufs neue in Unruhe und Sorge gestürzt zu werden und wollte daher eine weitere Aussprache vermeiden.

Nachdem wir zu Abend gegessen, kauerte sich Lotti zu ihrem Knaben in die Spielecke und ich hörte bald ihr kindliches Lachen. Sie freute sich auf morgen! Morgen, ja, was mochte morgen sein? Ich wußte mir keinen Rat mehr, aber immer heißer, immer dringlicher stieg der Wunsch in mir auf, mich Werner Bredow anzuvertrauen.

Während Lotti mit Marjas Hilfe den Knaben zu Bett brachte, trat ich in den Erker und horchte in die Nacht hinaus. Der Mond stand wie eine große leuchtende Scheibe am Himmel, Vorgarten und Ulmenallee lagen wie gebadet in seinem Lichte; nur unter den halbentlaubten Bäumen lagen schwarze Schatten. Ich hatte vielleicht eine halbe Stunde hinausgesehen, da tauchten die beiden Gestalten auf, die ich erwartet hatte. Als die beiden Herren im Hause verschwunden waren, eilte ich leise über den Vorsaal der Halle zu. Mochte auch Herr von Löwen dabei sein, ich wollte eine Aussprache mit dem einzigen Manne ertrotzen, dem ich hier vertraute. Aber die Tür zur Galerie gab meinem Druck nicht nach, ich überzeugte mich bald, daß sie verschlossen war. Das konnte nur Marja getan haben! Ich klingelte anhaltend, aber niemand kam.

Aufs äußerste empört, eilte ich in das Zimmer zurück. Lotti trat mir heiter entgegen.

Er schläft – mein wilder Junge.

Und Marja?

Marja, die ist schon zu Bett. Sie hatte Zahnschmerzen, und ich brauchte sie ja nicht mehr.

Ich antwortete nicht. Zahnschmerzen? Ja, das konnte ich mir denken! Eingeschlossen hatte sie mich, einfach kaltgestellt! Konnte das Marja aus eigener Machtvollkommenheit getan haben? Oder war das eine Maßregel Herrn von Löwens, der in mir die Aufpasserin witterte, die – wie sagte er doch ... nach der Polizei schreien würde? Ich ballte die Faust. Nein, nach der Polizei hätte ich nicht gerufen, dazu hatte ich Lotti zu lieb! Aber er sollte es mir nicht unmöglich machen, seinen Freund zu warnen, ihn aufzuklären. Unter allen Umständen mußte ich ihn noch heute abend sprechen – und zwar möglichst bald, bevor noch Löwen seine nächtliche Expedition in den unterirdischen Gang antrat. Denn konnte er nicht Bredow unter irgendeinem Vorwande bestimmen, ihn zu begleiten?

Der nächste Weg war mir freilich verschlossen, aber vielleicht stand mir die geheime Treppe noch offen? Ich schlüpfte für einen Augenblick in den Vorsaal zurück und drückte auf die Türklinke von Löwens Arbeitszimmer. Es war, wie ich gehofft, Marja ahnte nicht, daß ich das Geheimnis, das es barg, entdeckt hatte. Die Tür war unverschlossen. Aufatmend trat ich zurück.

Wie hell der Mond durch das unverhangene Vorsaalfenster schien! Das flimmernde Licht zog mich an die weißglitzernden Scheiben. Selten hatte ich an diesem Fenster gestanden; jetzt sah ich mit großen Augen hinaus. Vor mir lag, fast gespenstig beleuchtet, endlos und öde die weite Fläche der Düna-Ebene. Alte Föhren, vom Sturm zerzaust, reckten die schwarzen Arme zum Himmel, ein verlassener Weg lief hier vorüber, kahl, einsam; sein weißlicher Sand hob sich grell gegen dunkles Gestrüpp ab. Plötzlich überlief mich ein Schauer; über die öde Fläche kam langgezogen ein seltsamer Laut; aus tiefer Stille schwoll er an und verklang langsam, um sich nach lautlosem Schweigen von neuem zu erheben. Ein heulender Hund in irgendeiner fernen Wohnstätte. Ein Aberglaube kam mir in den verstörten Sinn. Man sagt, wenn in stiller Nacht ein Hund heult, so geht der Tod über Land! Ich schauderte und blickte ängstlich über die Schulter zurück. Wie fremd schien der Raum in dem geheimnisvollen Mondlicht, wie sonderbar fremd! Und aus den Ecken krochen ungeheuerliche Schatten. Ich schüttelte mich; was war das? Ich kannte mich selbst nicht wieder; Beängstigungen, Ahnungen? Das machten die beständigen Aufregungen der letzten Tage.

Ich nahm mich zusammen; handeln wollte ich, Bredow sprechen! Aber noch galt es eine Geduldsprobe, wenn ich Lotti nicht von neuem in Angst stürzen wollte. –

Als ich zu ihr zurückkehrte, begegneten ihre Augen ängstlich den meinen –

Was ist, Hannah?

Nichts. Ich glaubte, das Fenster im Vorsaal sei nicht ordentlich geschlossen.

Sie beruhigte sich zwar sofort wieder, aber sie zog mich in ihr Lieblingseckchen an ihre Seite. Noch konnte ich nicht fort, ich mußte warten, bis sie schlief. Aber, würde ich Bredow dann noch sprechen können? Das Zusammensein mit Lotti wurde mir zur unerträglichen Qual. Ich überredete sie endlich, sich frühzeitig zur Ruhe zu legen, und blieb bei ihr sitzen, bis sie müde wurde; während ich dann leise ab und zu ging, schlief sie ein. Endlich war ich frei!

Aufatmend eilte ich durch den Vorsaal, öffnete behutsam das Studierzimmer und stand einen Augenblick unschlüssig vor der geheimen Tür. Wenn mir jetzt Löwen begegnete? Ich zögerte nicht lange; das sollte mich nicht schrecken!

Bevor ich die steilen Stufen der schmalen Wendeltreppe betrat, horchte ich in die dunkle Tiefe; es drang kein Laut herauf. Ich tastete mich die vielen Stufen hinunter; ein Licht mitzunehmen hatte ich nicht gewagt. Auch war, wie ich vermutet, der Keller spärlich vom Mondlicht erhellt; der fensterlose Gang freilich, den ich durchschreiten mußte, gähnte mir finster genug entgegen. Aber als ich ein paar Schritte gemacht hatte, stockte mir der Atem. Die Tür zum Vorraum des Turmes mußte offen sein! Ein schwacher Lichtschein drang über die Stufen herunter. Ein ganz matter Lichtschimmer, der durch die Spalte der angelehnten Tür drang. Es war klar, der Vorraum selbst konnte nicht erhellt sein; aus dem geöffneten Turm kam das Licht. Hatte ich dann das Geräusch der Winde überhört und war Herr von Löwen doch schon hinuntergestiegen? Wo war dann Werner Bredow? In diesem Augenblick der Angst war mir plötzlich alles gleich; mochte doch nebenan sein, wer da wollte, ich stieß heftig die Tür zurück und fand – daß der Raum völlig leer war.

Die Turmtür stand weit offen und drinnen leuchtete das gelbe Licht der Laterne über dem dunklen Brunnenschacht. Mit ein paar raschen Schritten stand ich an seinem Rande und blickte in seine geheimnisvolle Tiefe. Eine qualvolle Angst hatte mich ergriffen; was ging jetzt vor da unten und wo war der, den ich suchte? Ich mußte mich stützen, so zitterten mir die Knie, aber ich raffte mich gewaltsam auf; ich mußte Gewißheit haben. Der Weg war ja nun frei, ich mußte sehen, oh er in seinem Zimmer war. Ich wandte mich in den dämmrigen Vorraum zurück, aber erschreckt blieb ich stehen ... vom Innern des Hauses her klangen rasche Schritte! Konnte das Löwen sein? Der plötzliche Schreck lähmte mich so, daß ich unfähig war, ein Glied zu rühren und nur entsetzt nach dem dunklen Gange starrte, der nach der Halle führte. O, die Erlösung von aller Not, die dann über mich kam. Nein, es war nicht Löwen, es war Werner Bredows hohe Gestalt, die dort aus dem Dunkel trat, stutzte, und mit ein paar Schritten an meiner Seite war! Er sah mich besorgt an und faßte nach meiner Hand.

Sie hier, Fräulein Hannah?

Ich atmete tief auf.

Ich suchte Sie. Gott sei Dank, daß ich Sie getroffen habe, ehe Sie – ich deutete zitternd nach dem Schacht.

Was wissen Sie davon, Fräulein Hannah?

Viel mehr, als Sie denken! Daß hier ein geheimer Gang beginnt, der bis in die Museumsgewölbe führt; das weiß ich!

Bredow sah mich einen Augenblick überlegend an, dann sagte er entschlossen:

Ja, das stimmt, ich war schon unten.

Sie waren mit Löwen dort unten? unterbrach ich ihn ungestüm. So wissen Sie alles?

Er nickte ruhig.

Mir schwindelte vor Angst und Schrecken; ein kurzer Jammerlaut entfuhr meinen Lippen, angstvoll starrte ich in sein Gesicht. Vielleicht sah ich in jenem Moment sehr hilfsbedürftig aus, vielleicht auch verrieten ihm meine Augen mehr, als ich wußte und wollte – er umfaßte mich stützend und zog mich sanft an sich.

Um mich? Hatten Sie Angst um mich? fragte er leise, und beugte sich zu mir nieder.

Meine Augen hingen weitgeöffnet an den seinen, die in tiefem Glück erstrahlten. Auch er schwieg, aber langsam neigte er sich tiefer, bis seine Lippen die meinen fanden.

Für eine kurze Weile entschwanden mir Zeit und Raum, dann kam mir die Erinnerung zurück, und ich befreite mich ungestüm aus seinen Armen. Auch Bredow fuhr zusammen, wie aus einem Traum geweckt; er bückte sich und raffte ein Bündel auf, das er zu Boden geworfen hatte.

Ach, Hannah, murmelte er schuldbewußt, wie konnte ich, wie konnte ich das vergessen?

Dann sah er mir in die Augen, meine Kehle war wie zugeschnürt, es war mir nicht möglich, ein Wort hervorzubringen. Werner mochte ahnen, was in mir vorging, er zog mich in den spärlichen Lichtschein der Laterne, und sah mich ernst an.

Sieh mir in die Augen, Hannah! Du hast doch Vertrauen zu mir?

Ich nickte wortlos.

Hier wird kein Verbrechen begangen, wie du es zu fürchten scheinst, fuhr er ernst fort. Und wenn einstmals, vor Jahren eines begangen wurde, so ist es verbüßt! Und doch, Hannah, das, was wir tun, wenn wir es auch vor Gott und unserem Gewissen verantworten wollen, bleibt eine ungesetzliche Handlung. Willst du trotzdem zu mir stehen?

Er reichte mir seine Hand, die ich, noch immer wortlos vor Erregung, ergriff.

Ich danke dir, Hannah! Warte hier, ich muß noch einmal hinunter. Aber ich komme zurück und dann sollst du alles wissen!

Rasch stieg er in den Kasten, löste ihn vom Brunnenrand und ließ sich hinunter. Dicht über meinem Kopfe erdröhnte nun das alte Holzgestell, tönte das dumpfe Rollen, drehte sich die lärmende hölzerne Rolle, bewegten sich knarrend die ungefügen Balken. Dann war er unten; im schwachen Lichtschimmer konnte ich ihn in der Tiefe verschwinden sehen.

Ich strich mir mit der Hand über die heiße Stirn. Träumte ich denn nicht? Wollten wirklich die Träume meiner ersten Jugend zur Wahrheit werden? Werner Bredow liebte mich? Und all dies Schlimme, dieses unheimliche Rätsel, das mich gequält hatte, er wollte und konnte es lösen?

Ich hatte erst kurze Zeit wartend dagesessen, da schreckten mich wieder Schritte auf. Diesmal war es Marja. Als sie mich am Brunnenrand hocken sah, fuhr sie zurück, als sei ihr ein Gespenst erschienen; dann begann sie laut zu jammern.

O erbarme dich, erbarme dich, Herr, da ist sie wieder! Sie wird alles verderben, alles!

Die alte Frau erschien fast furchterweckend in ihrer Erregung. Aber sah ich sie heute mit andern Augen an? Ich erkannte das Leid und den tiefen Schmerz in ihren Zügen.

Marja, rief ich, bitte, seien Sie ruhig! Ich wußte ja nicht, ich dachte ... aber das ist gleich. Jetzt aber möchte ich helfen, glauben Sie mir, nur helfen!

So wissen Sie?

Nichts weiß ich, als daß ich helfen möchte und nicht hindern!

Sie sah mich ungläubig an. Dann fing sie heftig an zu schluchzen und Worte auszustoßen, die ich nur teilweise verstand.

Wenn es nicht gelingt, stammelte sie abgebrochen. Ach mein Herzenssöhnchen, mein lieber junger Herr! So lange, lange Jahre, nur weil er heißes Blut hatte. Aber böse ist er nie gewesen. So lange Jahre gefangen!

Sie preßte das Tuch vor ihr Gesicht und bewegte den Oberkörper hin und her, wie in heftigen Schmerzen. Ich starrte auf die weinende Alte und nach dem dunklen Brunnenschacht, und plötzlich begriff ich! Gefangen, hatte sie gesagt! Und da erstand das Zuchthaus in meinen Gedanken, das Zuchthaus, das sich so dicht hinter dem Museum befand! Nicht dem Museum galt dies Unternehmen! Sie waren dort unten im Begriff, einen Gefangenen zu befreien.

Wann? fragte ich atemlos, und griff nach dem Arme der Alten.

Sie schüttelte den Kopf. Wer konnte das wissen? Bald, in Stunden erst?

Langsam verklangen ihre unsicheren Schritte – tauchten die Umrisse ihrer Gestalt in das tiefe Dunkel vor mir, als sie fortging.

Ich wendete meine Augen zurück, dem spärlichen Licht der Laterne zu: tröstlich in dem lastenden Schweigen. Wieder verging eine geraume Weile, in der meine Gedanken wild durcheinanderfuhren, dann bewegte sich das Seil, unten stieg eine dunkle Gestalt in den Kasten und zog sich herauf. Ich half, und gleich darauf stand Werner neben mir. Er sah blaß und erregt aus. Vorsichtig ließ er den leeren Kasten wieder hinuntergleiten, dann setzte er sich neben mich, ergriff meine Hand und legte sie über seine Augen.

Ach, hier warten sollen! seufzte er ungeduldig. Aber sie haben ja recht; noch ein Mensch mehr da unten würde nur hindern. Der Alte ist ja auch noch baumstark, aber Sascha – er unterbrach sich. Ich rede, und du weißt noch gar nicht –

Doch etwas; es soll ein Gefangener befreit werden. Marja war vorhin hier. Nur, sag mir, wer ist das?

Ein Bruder Saschas, um fünfzehn Jahre jünger wie er. Paul von Löwen.

Sein Bruder – im Zuchthaus? Und Lotti?

Weiß nichts von diesem Unglücklichen.

Werner schwieg und lauschte in den Schacht hinunter; dann wandte er sich mir wieder zu.

Nein, Saschas Frau weiß nichts von ihm. Aber ich habe ihn gekannt und wußte doch nicht, wer er war, und sein Andenken hat mich verfolgt, jahrelang. Er war des Mordes angeklagt; ich war sein Verteidiger, vor Jahren, hier im Ort.

Jener unglückliche junge Mensch, der seinen Namen verheimlichte? – Der ist es, das war Löwens Bruder?

Werner preßte meine Hand.

Du erinnerst dich, wie sein Gesicht, sein Wesen mich anzog? Das war die Aehnlichkeit mit seinem Bruder, meinem Jugendfreunde! Und er, er hatte mich erkannt, nach Bildern, die Sascha von mir hat, und er hatte gefürchtet und zugleich ersehnt, daß auch ich ihn erkennen möchte.

Er verstummte, in seine Erinnerungen versunken, und ich wagte nicht ihn zu stören.

Wie totenstill es war, wie schwarz die Schatten in den Ecken lagerten. Das ungefüge Holzgestell der alten Winde über unsern Köpfen nahm in dem spärlichen Lichtschein seltsam drohende Formen an. Ich neigte mich über den Brunnenrand und lauschte. Nichts regte sich da unten.

Löwens Bruder ein Mörder? Und weshalb ...

Werner bewegte sich seufzend, ich legte die Hand auf seinen Arm.

Weshalb er den Schurken niedergeschlagen hat, meinst du? Den Schurken, der sein Leben vergiftet hatte, der den Jüngling zum Leichtsinn verlockt, der von neuem drohte, sich an ihn zu hängen? Weil er, als Löwen ihn von sich wies, hinging, seinen alten Vater zu benachrichtigen, wie tief sein Lieblingssohn, sein Benjamin, gesunken war – aus Rachsucht! Da dachte der Unglückliche an die weißen Haare des alten Mannes, der ihn über alles geliebt, dem er nicht mehr vor die Augen zu treten wagte, so tief gesunken wähnte er sich in seinem leichtsinnigen Lebenswandel. Da schlugen Angst und Verzweiflung über ihm zusammen, er stürzte hinter dem Mann her, hob seinen Knüttel und schlug ihn nieder »wie einen tollen Hund«. Der Gedanke hatte sich seinem Hirn eingeprägt, das war das Einzige, was er in der Vernehmung immer wiederholte! Ein wildes Tier, das einen geliebten Menschen bedroht, das schlägt man nieder »wie einen tollen Hund!« Nur, daß keiner seiner Richter das ahnte, was seine Strafe ohne Zweifel gemildert haben würde, nur daß auch sein Verteidiger das nicht wußte! Dumpf nur empfand ich es schon damals, und es hat mich verfolgt so viele Jahre!

Ach, Hannah, als Sascha vor wenigen Wochen erst mich in alles einweihte – er wußte durch Paul, welche Rolle ich in seinem Prozeß gespielt – nicht einen Augenblick hab ich gezögert!

Was war es denn, das in dem leichtsinnigen Herzen dieses unglücklichen Jünglings aufsprang, als er die Absicht des Schurken begriff. Die Sohnesliebe war es, vielleicht lange unterdrückt und desto heftiger emporquellend, die Liebe zum alten Vater. Da schlug er besinnungslos zu, wie »auf einen tollen Hund!«

Werner Bredow schwieg; in seinen weit geöffneten Augen glommen helle Lichter. Ich sah ihn an und dabei liefen mir die Tränen über die Wangen. Das war seine Verteidigungsrede! Wenn sie auch vor einem irdischen Gerichtshofe nicht bestanden hätte, vor dem Richter dort oben wird sie wohl genügen.

Aber wird es gelingen, ihn zu befreien? Und wie sind die Seinen auf seine Spur gekommen, da doch sein Name verborgen geblieben ist?

Durch ihn selbst. Ein ungetreuer, habgieriger Gefängniswärter, ein Lette, der aus Paul Löwen herausgebracht, daß er reicher Leute Kind sei, bot ihm, bei genügender Belohnung, seine Beihilfe zur Flucht an. Daraufhin setzte der Gefangene, ebenfalls mit Hilfe des Wärters, sich mit seiner Familie in Verbindung, und sie waren natürlich bereit, ihm zu helfen. Auch einen vollständig durchdachten Plan hatte der Lette bereit. Er ist ein Kind dieser Stadt, und wußte daher von den unterirdischen Gewölben unter dem Museum, nahe dem Zuchthaus. Aber wie dahin kommen? Endlich gelang es Sascha, der sofort hierher gereist war, herauszubringen, ich glaube durch alte Werke und Handschriften, daß dies Haus in früheren Zeiten durch einen geheimen Gang mit den Gewölben des ehemaligen Klosters in Zusammenhang gestanden hat. So eröffnete sich ihnen die Aussicht, vom Rottmerhof in die Museumsgewölbe zu gelangen.

Daß der alte todkranke Vater die Hoffnung, seinen Liebling befreit zu sehen, mit fast krankhaftem Eifer erfaßt hatte, kannst du dir denken, und als er starb, kurz nach Saschas Verlobung, betraute er ihn mit dieser Aufgabe, ließ sich aber zugleich von ihm versprechen, seiner Braut das Dasein dieses unglücklichen Bruders, sowie die Bestrebungen zu seiner Rettung zu verheimlichen. Er fürchtete wohl einen Widerstand der ihm Unbekannten und Saschas Schwäche gegenüber der Geliebten. Daß er dem sterbenden Vater darin nicht widerstanden, hat Sascha später bitter bereut, zunächst freilich –

Aber hatte er denn so wenig Vertrauen zu Lotti? unterbrach ich ihn empört.

Bredow sah mich zweifelnd an.

Würde Frau Lotti nicht mißtrauisch geworden sein, wenn sie erfahren hätte, wieviel Sascha daran liegen mußte, in den Besitz des Rottmerhofs zu kommen, und daß seine Familie schon vor der Verlobung sich vergeblich bemüht hatte, ihn durch Kauf in ihre Hände zu bringen?

Lotti sagte mir, es wäre ein Käufer dagewesen; das also waren die Löwens?

Ja. Und hätte sie da nicht denken müssen, er heirate nicht sie, sondern den Rottmerhof?

Aber war es denn nicht so?

Siehst du, auch du zweifelst! Nein, es war nicht so; aber Sascha hatte recht, wenn er fürchtete, er würde bei seiner Frau auf Unglauben stoßen, wenn er ihr sagte: ich kam mit der Absicht nach Genf, dich kennen zu lernen, aber nicht um durch Heirat in den Besitz des ersehnten Rottmerhofs zu kommen, sondern um durch persönliche Ueberredung vielleicht eine mietweise Ueberlassung dieses Hauses zu erreichen. Nun aber, als ich dich sah, vergaß ich alle meine Pläne, denn ich lernte dich lieben.

Ich fand keine Erwiderung – er hatte wohl recht.

Aber du sagtest – später sei es ihm leid gewesen?

Ja, später, als er sah, wie maßlos seine kleine nervöse Frau sich ängstigte, wie sehr sie unter dem Geheimnisvollen litt, das um sie her vorging und sich das Geräusch dieses alten, vorsintflutlichen Gestelles da oben absolut nicht unterdrücken ließ.

Werner brach ab und bog sich lauschend über die Tiefe. Minutenlang verharrte er so regungslos, dann richtete er sich seufzend wieder auf.

Noch immer nichts.

Während wir eine Weile schwiegen und unruhig in die Tiefe lauschten, streiften meine Augen über die angesammelte rötliche Erde in den Ecken des Turmes.

Der alte Gang war verschüttet?

Werner nickte.

Nicht weit, aber sie hatten doch manchen Tag Arbeit, bis sie die unterirdischen Gewölbe unter dem ehemaligen Kloster erreichten. Auch dort fanden sie vieles verschüttet und unwegsam, aber schließlich gelangten sie doch hindurch, an das andere Ende, von wo aus sie den, gottlob nur kurzen Gang nach dem Zuchthaus herzustellen hatten. Der lettische Wärter hatte ihnen einen Plan des Zuchthauses und der Höfe verschafft. In einer vorher vereinbarten Nacht, als sie mit ihrem Erdgange unter den Raum gelangt waren, der ihnen bezeichnet war – eine ehemalige, jetzt unbenutzte Waschküche – hatte der Lette in der Nacht dort auf sie gewartet, und sich mittels Klopfen auf den Boden mit ihnen verständigt. Nachdem ein paar Fliesen des Bodenbelags gelöst waren, war der Durchgang hergestellt, und es galt nur noch, den Gefangenen unbemerkt dorthin zu schaffen. Auch dazu hatte der findige Lette einen Plan bereit: der Gefangene sollte sich krank melden; da er tatsächlich kränklich ist, mußte ihm das gelingen, und vom Lazarett aus wollte der Wärter ihn dann befreien.

Schon vor Wochen war alles so weit in Ordnung, ohne daß ich bis dahin etwas davon erfahren hatte, da trat eine neue Schwierigkeit an Sascha heran. Der Gefangene muß natürlich nach seiner Befreiung sofort über die Grenze gebracht werden; den Paß, der hierzu nötig ist, hatte Saschas älterer Bruder Stepan in Moskau besorgen wollen – einen falschen natürlich. Nun, in dieser kritischen Zeit, als sich das Ende vorbereitete, erhielt Sascha Nachricht, daß es Stepan trotz aller Bemühungen nicht gelungen sei, einen Paß zu erlangen! In dieser Not dachte Sascha an mich. Er erinnerte sich, daß es mir vor Jahren gelungen war, einem politisch verdächtigen Freunde durch einen falschen Paß fortzuhelfen; – so wandte er sich an mich und klärte mich zugleich über die Person des Gefangenen, dessen Verteidiger ich gewesen war auf. Du kannst dir denken, daß ich sofort bereit war, zu helfen, da du meine Ansicht über den Prozeß Paul Löwens kennst. Es gelang mir auch, den Paß zu bekommen, und wir beeilten uns, zurückzukehren, besonders da Petruschka seinem Herren ganz ungeheuerliche Meldungen zukommen ließ über ein gewisses Fräulein sehr streitbarer Natur, das, in den Augen des Alten, den ganzen Erfolg des Unternehmens in Frage stellte! Daß Sascha meiner Bitte, dich aufzuklären, nicht Folge leistete, halte seinem Zustande zu gut, der durch die erzwungene Verzögerung krankhaft nervös geworden war. Wußte er doch, daß sein Bruder schon im Lazarett weilte! Wie leicht konnte es sein, daß er als geheilt wieder in seine unerreichbare Zelle entlassen wurde, bevor wir zu seiner Befreiung schreiten konnten; die letzten Tage mit ihrer Erwartung waren schrecklich für den armen Sascha. Diesen Abend endlich kam Nachricht von dem Gefängniswärter, Löwen liege allein, und ein bestimmter Pfleger habe die Nachtwache; die Flucht müsse deshalb in dieser Nacht bewerkstelligt werden.

War dieser Krankenwärter eingeweiht?

Nein, aber unser Verbündeter wußte, daß er ein heimlicher Trinker, und gewohnt war, seine Wudkiflasche in allerhand Verstecken aufzubewahren; er mischte für diese Nacht ein Schlafmittel hinein, und muß nun warten, bis das genügend gewirkt hat, um Paul von Löwen unbemerkt aus dem Lazarett entfernen zu können. Damit ist aber auch das Gefährlichste der ganzen Flucht überwunden. Ist Paul von Löwen erst glücklich in dem unterirdischen Gange, dann ist eine Entdeckung ausgeschlossen, da der Lette alle Spuren sorgfältig beseitigen wird. Und nun harren Sascha und Petruschka da unten Stunde um Stunde des ersehnten Zeichens, daß der Erwartete kommt.

Werner zog seufzend die Uhr.

Noch nicht zwölf Uhr; wie lang die Zeit sich dehnt, wenn man wartet.

Und wie wird es weiter werden?

Wir denken, morgen mit dem Frühzuge über Königsberg nach Hamburg zu fahren.

Wir – du auch?

Ich bringe ihn in Hamburg aufs Schiff, er und Petruschka, der sich nicht mehr von seinem jungen Herren trennen will, fahren nach Brasilien.

Und wenn die Flucht noch diese Nacht entdeckt wird?

Dafür ist gesorgt. Ein wenig Maskerade ist leicht bewerkstelligt. Er ist hellblond – eine schwarze Perücke und ein langer Vollbart werden den bartlosen Sträfling unkenntlich machen. Außerdem lautet der Paß auf seinen wirklichen Namen, und in dem eleganten Herren von Löwen, der mit seinem Freund und einem alten Diener reist, wird niemand den entsprungenen Unbekannten aus dem Zuchthaus suchen.

Werner schwieg und ich grübelte.

Petruschka hängt besonders an diesem jüngsten der Brüder?

Ja. Er und die alte Marja haben, mit dem Vater zusammen, den früh mutterlos gewordenen Knaben verzogen und verhätschelt.

Ist Lottis Gatte Kadett gewesen?

Nein.

Aber Paul von Löwen, nicht wahr?

Werner nickte. In meiner Erinnerung tauchte Petruschkas Stube auf, an dem Nachmittag als Kolja gefallen war. Jetzt wußte ich, daß das Bild auf seiner Kommode Paul von Löwen darstellte.

Hannah, sagte Werner leise und faßte meine Hände: Ich halte dich, es ist kein Traum! Laß nur erst das alles vorüber sein, dann – kommt das Glück!

Ich lehnte mich an seine Schulter und schloß die Augen. Ein tiefes Glücksgefühl wollte in mir aufsteigen, aber die Angst um das, was da unten vor sich ging, erstickte es wieder. Völlig verstummt saßen wir beieinander. Die Zeit verrann in bleierner Langsamkeit. Tiefe Stille ringsum.

Und in das Schweigen fällt plötzlich ein Klang aus der Tiefe! Wir fahren auf und sehen uns an aus blassen Gesichtern, atemlos lauschend. Da wieder, nein, es ist keine Täuschung! Werner beugt sich weit über die Brüstung, ich bin zurückgewichen und lehne zitternd in der Turmtür. Ein unterdrückter Stimmlaut klingt herauf, das bekannte Dröhnen und Schlittern ertönt wieder, – Bredow greift zu – und dann ein atemloses »Gott sei Dank!« Die Flucht ist gelungen! Nun fort, sie sollen mich hier unten nicht sehen! Flüchtigen Fußes habe ich die Halle erreicht und eile die Treppe hinauf. Auf der obersten Stufe hockt Marja; sie hat die Schürze vor das Gesicht geschlagen und murmelt Gebete. Vor Lottis Tür stehe ich aufatmend still, öffne vorsichtig und lausche. Sie schläft; lautlos ziehe ich die Tür wieder zu, nicht durch mich soll sie die Aufklärung erhalten, nur durch den geliebten Gatten.

Graues Zwielicht kämpft mit den nächtlichen Schatten. Reglos stehe ich und presse die gefalteten Hände auf die Brust. Schwach dringt's von unten herauf, Türengehen, Schritte, ein Stimmklang, einmal auch das dumpfe Anschlagen Sultans. Im Geist begleite ich die vier Menschen, die einen Schwankenden, Ermatteten stützen. Sie werden ein Zimmer bereit haben, stärkende Sachen und die neuen Kleidungsstücke, die Maskerade, wie Werner sagte.

Die Stutzuhr im Vorsaal hebt an zu schlagen – drei Uhr! Da geht die Haustür, Marjas Schritte höre ich im Vorgarten. Soll sie schon den Wagen holen? Ein Schluchzen steigt mir in die Kehle; soll ich keinen Abschied nehmen dürfen von dem eben Gefundenen? Aber – sind das nicht seine Schritte auf der Treppe? Ich eile hinaus und liege in seinen Armen.

Er beugt sein heißes, erregtes Gesicht über mich, seine Augen brennen.

Wir müssen Abschied nehmen! Aber dann, wenn Löwens Schiff fort ist, dann geht's zu deinen Eltern.

Das Rollen eines Wagens tönt herauf, ein Ruf nach Werner aus der Halle, noch ein rasches »Auf Wiedersehn!« und er ist fort.

Als sich die Tür hinter ihm geschlossen, stürzen meine Tränen, dann öffne ich leise das Fenster. Fahl und schattenhaft stehen die Bäume der Allee im ersten nebeligen Morgengrauen und in diesem unsicheren Licht schreiten drei Herren durch den Vorgarten. Lottis Gatte hat den Arm um die schmale Gestalt geschlungen, die langsam und unsicher dahinschreitet. Einmal bleibt der Flüchtling stehen und hebt das Gesicht der Dämmerung entgegen; er grüßt wohl das junge Licht der wiedergewonnenen Freiheit. Und einmal noch wandte der Größte unter den Dreien sich und hob grüßend den Hut, dann wurden ihre Gestalten undeutlich. Aber vielleicht waren es auch meine Tränen, die mich hinderten, klar zu sehen. Und dann hörte ich das Rollen des sich rasch entfernenden Wagens!

Still blieb ich stehen, bis der letzte Klang in der dämmrigen Ferne erstarb, dann schloß ich das Fenster und wandte mich um. Vor mir stand Alexander von Löwen. Befangen sah ich in sein blasses Gesicht, dann sagte ich leise: Verzeihen Sie mir, ich hatte Angst um Lottis willen. Da lächelte er und sagte tief aufatmend: Das ist nun alles vorbei! und wir drückten uns kräftig die Hand.

Während er an das Lager seiner kleinen Frau eilte, stand ich und schaute in den treibenden Nebel, den ein plötzlicher Windstoß, der von der Düna herauffuhr, wild hin- und herquirlte. Bald würde es hier Winter werden, dunkel und trüb. Mir aber leuchtete in der Ferne ein sonniges Glück.


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