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Siebtes Kapitel.

Und ich dachte wieder daran, als ich später hinter der Kellertür stand und Petruschkas schlurfende Schritte über den Kellerflur kommen hörte. Ich hatte mich rechtzeitig zu dem Schlüsselloch gebückt und sah ihn in eine grobe Kutte gehüllt in seinen schweren Stiefeln daherstampfen. Er setzte seine Laterne zur Erde und öffnete, nicht ohne Mühe, das schwere Turmtor. Dann wurde es dunkel im Flur; er war jedenfalls im Turm verschwunden. Hatte er die Tür hinter sich abgesperrt? Ich wartete ein Weilchen, dann öffnete ich ein wenig meine Tür. Durch das Fenster kam etwas Licht in den Kellerflur, und ich konnte erkennen, daß die Turmtür nur fest angezogen, aber nicht geschlossen war.

Ich hörte den Alten im Turm hantieren; gleich darauf erklang das wohlbekannte Geräusch, das dumpfe Gedröhn, das Schleifen und Knarren wie von einer Art Winde!

Nachdem es verklungen war, und ich im Turm nichts mehr hörte, wagte ich hineinzusehen. Ein mächtiges Gestühl aus altersbraunen Balken, das sich inmitten des Turmes sechs bis sieben Meter hoch erhob, fesselte zunächst meine Blicke. Dieses durch ein rostbraunes, eisernes Gestänge zusammengehaltene Gerüst erhob sich über einem runden Schacht, und ich begriff, daß dies ein uralter Brunnen war. An einem der schrägen Holzständer hing eine brennende Laterne, deren Licht auf die rohen Quaderwände des Turmes und auf rings in den Ecken aufgehäufte Massen rötlicher Erde und brüchigen Gesteins fiel.

Leise trat ich an den halbmeterhohen Brunnenrand und sah, daß über eine breite Holzrolle, die oben im Gestühl befestigt war, ein dickes Tau hinablief in die Tiefe; dieses Tau, das einzige, was an dem ganzen Apparat neu aussah, schwang noch leise hin und her; augenscheinlich hatte der alte Mann sich an ihm hinabgelassen. Ich horchte ängstlich hinunter, aber es war nichts mehr von ihm zu hören, was mich nicht wenig beruhigte.

An der Brüstung, wo ich stand, waren ein paar schwere eiserne Haken eingelassen, vermutlich um den Eimer oder Kasten, in dem Petruschka wohl auf- und abwärts zu fahren pflegte, festzulegen zum sicheren Aus- und Einsteigen. Immerhin kam mir dies Beförderungsmittel halsbrecherisch genug vor, und ich begriff, daß nur eine gewisse Uebung dem alten Manne diese gefahrvollen Einfahrten ermöglichen konnte.

An den Wänden des Turmes hingen allerhand Geräte: – Eimer, Hacken, Schaufeln, Laternen und Meßstangen.

Ich betrachtete die rötliche, lehmige Erde, die rings um den Schacht in den Ecken des quadratischen Turmes sich häufte. Augenscheinlich war diese Erde aus dem Innern des alten Brunnenschachtes heraufgeschafft worden. Aber weshalb beengten sie sich hier den Raum damit? Waren sie etwa besorgt, daß diese eigentümlich gefärbte Erde im Garten auffallen könnte? Ich beugte mich weit über den Rand und horchte in die Tiefe – alles still. Zunächst schien es mir auch vollständig finster da unten, als sich aber das Auge gewöhnt hatte, unterschied ich doch einen ganz matten Lichtschimmer, der von der einen Seite herzukommen schien, und der mir zeigte, daß der Schacht nicht so tief war, als ich anfänglich geglaubt hatte. Erkennen ließ sich freilich nichts. Ich hielt es deshalb für besser, einen Posten aufzugeben, der mir nichts mehr zu enthüllen vermochte, und meine Nachforschungen in Herrn von Löwens Studierstube fortzusetzen.

Nachdem ich meinen Rückzug ohne irgendeinen Zwischenfall beendet hatte, schloß ich die geheime Tür sorgfältig hinter mir und setzte mich mit meiner Kerze an Herrn von Löwens breiten Diplomatentisch.

Ich faltete das gefundene Zettelchen vor mir auseinander und überlegte. Ich konnte mich nicht irren, dieser unsicher gezeichnete Grundriß war der des Rottmerhofs, und diese punktierte Linie bezeichnete den unterirdischen Gang, der vom Boden des Brunnenschachtes ausging.

Da ich wußte, daß sie schon seit Monaten da unten arbeiteten und die heraufgeförderte Erde doch verhältnismäßig wenig war, so mußte entweder der Gang alt sein, – und die Erde nur von dem Ausräumen eines vielleicht verschüttet gewesenen Teiles herrühren, – oder sie hatten von unten aus Gelegenheit, das losgearbeitete Material fortzuschaffen.

Vermutlich bestand dieser unterirdische Gang schon seit uralten Zeiten, denn das mächtige Brunnengestühl sah aus, als sei es vor Jahrhunderten gebaut worden; vielleicht hatte man den Turm später nur zu dem Zweck um die viel ältere Zisterne herumgebaut, um hier einen sicheren, geheimen Ausgang zu schaffen, der dem einsam gelegenen Rottmerhof bei Kriegszeiten wohl vonnöten gewesen sein mag. Stimmte das, so wies die Anmerkung »Band 8, Seite 216« jedenfalls auf ein kulturgeschichtliches Werk hin, in dem vielleicht Zeichnungen oder Beschreibungen, hierauf bezüglich, enthalten sein mochten.

Ich sprang auf und sah mir die Werke in den Bücherschränken daraufhin an. Vielbändige Werke gab es nicht viel. Ich suchte mir einige »achte Bände« heraus und forschte nach. Seite 216! In dem einen war über Hunderassen, in dem andern über Sanskrit die Rede, im dritten endlich fand ich Seite 216 eine weitläufige Abhandlung über ein Kloster »Am Stein«. Aber nirgends fand sich etwas, das auf den Rottmerhof Bezug haben konnte. Somit war anzunehmen, daß das Werk, auf das die Anmerkung hinwies, sich garnicht in Herrn von Löwens Arbeitszimmer befand. Nun suchte ich nach dem Loebnitz, der ebenfalls erwähnt war. Nachdem ich längere Zeit vergeblich in den hohen Schränken nach ihm gefahndet, fand ich ihn auf dem Schreibtisch im Bereich meiner Hand, und zwischen einer der letzten Seiten steckte ein Lesezeichen.

Worüber handelte denn das ganze Buch? »Historische Stätten des Deutsch-Ritterordens in Livland,« und auf der Seite des Anhangs, wo das Zeichen lag, war ein kurzer Absatz angemerkt; er lautete:

»Im fünfzehnten Jahrhundert soll ein Bischof Herwardt eine unterirdische Verbindung mit dem uralten Koppensitz, dem späteren Rottmerhof, hergestellt haben; diese Annahme ist durch nichts begründet!«

Das war alles. Daß sich hier ein alter unterirdischer Gang befand, war durch diese Notiz allerdings nicht bestätigt. Aber das Gegenteil war damit auch noch nicht bewiesen. Viel eher war ich geneigt, der legendären Ueberlieferung Glauben zu schenken. Ich suchte vergeblich in dem dicken Bande nach der Stelle, auf die diese Bemerkung des Anhangs sich beziehen mußte, hätte aber Stunden bedurft, um mich zu orientieren, und ich wagte nicht, so lange von Lotti fortzubleiben.

Mir war übel zu Mut. Ich konnte nicht mehr im Zweifel sein, daß hier ein lichtscheues Werk im Gange war. War es meine Pflicht, meine harmlose Freundin aufzuklären? Jetzt zum erstenmal fiel es mir schwer auf die Seele, daß meine Enthüllungen sie doppelt treffen mußten in dem Manne, den sie so sehr liebte! Mir fiel ein, wie sie gezögert hatte, mit mir über ihre Befürchtungen zu sprechen, solange sie selbst, halb unbewußt, eine verdächtige Handlung ihres Gatten befürchtet hatte. Würde sie nun, falls ich durch meine Nachforschungen hinter das Geheimnis kam, mich nicht als ihre Feindin betrachten? Würde sie sich nicht sofort auf die Seite ihres, von mir beargwöhnten Gatten stellen? Dann mußte ich den Rottmerhof verlassen und zu vergessen suchen, was ich hier erlebt hatte. Aber konnte und durfte ich das noch? Ich hatte mich lange gesträubt, so etwas wie eine geheime Nihilistenverbindung anzunehmen – aber zu welchem Zweck wurde dieser unterirdische Gang, an dessen Existenz ich nicht zweifelte, so geheimnisvoll wieder in Stand gesetzt, wenn nicht zu verbrecherischen Zwecken?! Sollte Herr von Löwen nicht wissen, wie ergeben ihm seine kleine Frau war? Wenn er ihr dies geheime Treiben so sorgfältig verbarg, deutete das nicht immer unzweifelhafter auf Gefahr und Verbrechen hin?

Ich hatte mich leise in Lottis Zimmer zurückgeschlichen und legte mich nieder, ohne ihre sanfte Ruhe zu stören; auch Nicolai, dessen Bettchen jetzt neben dem ihren stand, schlief fest. Lange Stunden noch lag ich wach; wieder hörte ich das dumpfe Geräusch vom Turm her; jetzt wußte ich, wie es entstand. Wenn an dem ungefügen alten Balkengestell durch das Gewicht des auf- oder abfahrenden alten Mannes die breite Holzrolle in Tätigkeit gesetzt wurde, ächzte und stöhnte es und schwankte knarrend hin und her. Kein Wunder, daß sich das Geräusch durch die alten Mauern fortpflanzte in der nächtlichen Stille. Sie mochten mit allen Mitteln versucht haben, es zu dämpfen – aber vergebens. Nun vermochte ich mir vorzustellen, wie der alte Mann, gewiß mühselig genug, sich heraufwand, den Eimer oder Kasten, in dem er stand, festhakte und über die Brüstung stieg. Ja, wenn ich ein Mann wäre! Wenn ich ihm folgte. Aber ich erschauerte schon bei dem Gedanken, in der unbekannten Tiefe den Spuren dieser beiden Männer folgen zu sollen. Nie würde ich das können!

Was mochten sie da unten treiben? Gleich einem bohrenden Schmerz tauchte diese Frage immer wieder in mir auf. Hatte ich es hier mit einer politischen Verschwörung zu tun? Waren Petruschka und Herr von Löwen Nihilisten? Aber um geheime Zusammenkünfte zu halten, brauchten sie doch nicht in die Erde zu kriechen? In diesem alten Bau gab es genug verlassene Räume, die kein Mensch betrat.

Oder waren es Schatzgräber? Wußten sie, daß dort unten im Schoß der Erde alte Schätze vergraben lagen? Vielleicht aus Löwens alten Handschriften? Aber warum, in aller Welt, weihten sie dann Lotti nicht ein? Warum stand Marja mit allen Zeichen des Entsetzens und der Angst Wache, wenn sie fürchten mußte, wir könnten etwas davon merken?

Aber vielleicht lag der Platz auf fremdem Grund und Boden – dann war es Diebstahl! Vielleicht gar überhaupt nicht in der Erde, vielleicht im Gewölbe eines Hauses, das sie auf diesem Wege zu erreichen suchten.

Plötzlich, wie mit einem Schlage, wurde mir alles klar! Ich richtete mich auf, und während ich hoch klopfenden Herzens dasaß, fühlte ich, wie mir kalter Schweiß die Stirn bedeckte.

Daß ich nicht schon früher darauf gekommen war! Arme Lotti! Kein Zweifel, der Anschlag galt dem Museum. Schon als ich vorhin, in einem der Bände, die ich durchsucht, den Namen »Kloster am Stein« fand, war es mir, als hätte ich ihn vor kurzem erst gehört oder gelesen. Jetzt fiel mir alles ein. In den ersten Tagen meines Hierseins hatte ich mir einen Stadtführer gekauft, in dem erwähnt war, daß das jetzige Museum in den Anlagen hinter der Ulmenallee ein früheres Kloster gewesen, das Kloster »Am Stein«! Und was das Wesentliche war, es war auch erwähnt, daß man bei der Renovierung des alten Baues auf ausgedehnte unterirdische Gewölbe gestoßen war. Dazu der angestrichene Satz im Loebnitz – kein Zweifel, die unterirdische Verbindung, von der die Rede war, und die von einem Bischof Herwardt aus dem fünfzehnten Jahrhundert stammen sollte, sie bestand noch, oder dank den Bemühungen der beiden Männer: sie bestand wieder!

Ich wußte, daß das Museum reiche Schätze barg; besonders erwähnt war in dem Führer eine einzigartige Sammlung edler Steine, im Werte von Millionen, die sich in den Gewölben des Kellergeschosses befand. Edelsteine im Gewölbe des Museums; konnte es auf diese wertvolle Sammlung abgesehen sein!

Und diesem Räuber und Verbrecher baute der alte Petruschka unten in seiner Stube eine Art Altar? Ich mußte bitter auflachen, zu erregt, um mich beherrschen zu können. Dann erschrak ich. Lotti war erwacht und fragte, erst erstaunt, dann aber sofort ängstlich werdend, was ich hätte?

Ich hatte Mühe sie zu beruhigen; noch brachte ich es nicht fertig, ihr alles zu sagen.

Es dauerte lange, bis sie wieder einschlief; und wenn ich gehofft hatte, noch einmal in das Studierzimmer schleichen zu können, um dort den Abschnitt über das Kloster Am Stein zu lesen, so mußte ich das aufgeben, wollte ich nicht Lotti ernstlich beunruhigen. Ich nahm mir aber vor, das Versäumte morgen bei der ersten sicheren Gelegenheit nachzuholen. Der nächste Tag gehörte noch mir – am übernächsten aber wurde Herr von Löwen zurückerwartet.


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