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Viertes Kapitel.

In den nächsten Tagen hielt das sonnige warme Wetter an; wir benutzten es zu täglichen Ausfahrten und kleinen Promenaden zunächst im Garten, dann in den schönen Anlagen dicht vor dem Hause. Ich freute mich zu sehen wie Lotti sich sichtlich erholte. Viel mochte dazu die ungestörte Nachtruhe beitragen, die durch kein beängstigendes Geräusch mehr gestört worden war; und in all diesen Nächten war es völlig windstill gewesen!

Ich begann an der Stichhaltigkeit von Lottis Angaben zu zweifeln. Wenn es auf Einbildung beruhte, daß sie das Geräusch auch bei windstillem Wetter gehört haben wollte, so war auch ihrer Behauptung nicht unbedingt Glauben zu schenken, daß sie es außerhalb ihres Zimmers gehört hätte, was von den andern geleugnet wurde; oder daß sie den Alten in jener Nacht in der Halle erkannt hätte! Dann aber – und das war das Wichtigste für meine arme Freundin – hatte ihr Gatte nicht gelogen, als er behauptete, er sei am Krankenlager des alten Petruschka gewesen.

Hierbei fiel mir ein, wie Lotti erzählt hatte, sie habe damals die Studierstube verschlossen gefunden; wie konnte sie ihren Mann dann bei Petruschka vermuten, da sie doch nichts von einem zweiten Ausgang aus Herrn von Löwens Zimmern zu wissen schien? Aber vermutlich machte sie sich überhaupt keine Gedanken darüber; ihr sprunghaftes Wesen ließ sie oft die einfachsten Wahrnehmungen übersehen. Ob sich hier ein zweiter Ausgang befand, hätte ich gern gewußt; ich mochte aber nicht fragen, um Lotti nicht aufs neue zu beunruhigen: war es mir doch nach und nach gelungen bei ihr selbst Zweifel an ihren eigenen Wahrnehmungen zu wecken und sie auf die Möglichkeit einer Selbsttäuschung hinzuweisen. Und zu meiner Erleichterung ergriff sie den Gedanken mit großer Wärme; der Zweifel am Gatten hatte augenscheinlich mehr an ihr gezehrt, als alle übrigen Befürchtungen. Da beschloß ich, soweit es in meiner Macht stand, sie nicht mit meinen eigenen Zweifeln zu beunruhigen, aber ich sehnte eine stürmische Nacht herbei, wo ich die eine Frage wenigstens zu lösen hoffte: ob man tatsächlich nur in ihrem Zimmer das unheimliche Knarren und Dröhnen hören konnte.

Marja ließ sich nicht viel bei uns sehen; sie war stets schweigsam und verdrossen, erfüllte aber gewissenhaft alle Pflichten, die ihr oblagen.

Ich war jetzt drei Tage im Rottmerhof; heute am vierten erwartete ich durch Petruschka Nachricht von Herrn von Löwen. Auch Lotti hatte noch keine Antwort auf ihre Benachrichtigung, daß sie gegen seinen Wunsch mich zu sich genommen habe.

Marja hatte die Speisen abgeräumt und setzte frisches Obst auf den Tisch. Dabei bemerkte ich, daß die Glastellerchen klirrten, als zitterten ihr die Hände; als ich sie daraufhin ansah, fiel mir auf, wie blaß sie aussah, und daß ihre Augen gerötet waren, als habe sie geweint. Zugleich warf sie mir einen zornig funkelnden Blick zu. Da ich wußte, daß sie noch vor zehn Minuten so gleichmütig ausgesehen, wie sonst stets, war es klar, daß während dieser kurzen Zeit etwas eingetreten sein mußte, das sie heftig erregte. Zugleich erinnerte ich mich, vor einiger Zeit den scharfen Klang der Hausglocke gehört zu haben, wie man oft etwas hört, ohne zum Bewußtsein dessen zu kommen; jetzt brachte ich das unwillkürlich in Zusammenhang. Sollte der Postbote dagewesen sein und sie Nachricht von Herrn von Löwen haben? Dann hatte diese jedenfalls in einer Strafpredigt bestanden!

Noch gut zehn Minuten vergingen, dann brachte Marja die Postsachen; ich hatte die Türglocke inzwischen nicht gehört. Lotti hatte sich mit ihrem hastig geöffneten Brief in den Erker zurückgezogen. Sie sah etwas enttäuscht auf ein augenscheinlich kurzes Billett in ihrer Hand, dann aber winkte sie mich zu sich und ihre Stimme klang schon wieder fröhlich, als sie mir zurief: du bleibst, meine Hannah – der gestrenge Herr hat seine allerhöchste Genehmigung erteilt! Freilich nicht gerade allzu liebenswürdig; er schilt mich unselbständig und überängstlich – höre, wie er weiter schreibt:

»Wie gesagt, ich hätte gewünscht, meine kleine törichte Frau hätte nicht gegen meinen ausgesprochenen Wunsch gehandelt, zu dem ich meine ganz bestimmten Gründe habe. Ich will und kann Dir aber die Gastfreundschaft in Deinem eigenen Hause nicht direkt verbieten; war es übrigens ganz richtig, Duschinka, das gegen mich zu betonen?«

Lotti schüttelte reuig den blonden Kopf –

Nein, es war scheußlich von mir, aber ich wußte mir nicht anders zu helfen!

»Sage Deiner Freundin, die ich ja leider nicht kenne, wenn sie also trotzdem den Wunsch habe, unser Gast zu bleiben, so solle sie auch mir willkommen sein.«

Siehst du, er hat nachgegeben, nun kannst du ruhig bei mir bleiben; übrigens kommt er schon in fünf Tagen zurück – viel rascher, als er glaubte.

Ich hatte sie unterbrochen, hatte eine heftige Zurückweisung auf den Lippen, denn das »trotzdem« war eine direkte Beleidigung, wie überhaupt der ganze Brief! Dann aber biß ich die Zähne zusammen und schwieg. Nein, er sollte nicht erreichen, was er vermutlich mit dem Passus, den er mir zukommen ließ, bezweckt hatte. Ich wollte nicht aus verletztem Stolz freiwillig das Haus verlassen. Mochte er mich für zudringlich halten – falls ich nicht durch Petruschka die Bestätigung erhielt, daß Lotti wirklich gemütskrank war – und dann würde ich erst noch den Arzt konsultieren – war es Pflicht meiner Freundschaft, bei ihr auszuharren, bis ihr Gatte kam. Er mochte wohl keine Ahnung davon haben, wie sehr solche zartbesaiteten, nervösen Frauennaturen unter Furcht und Beängstigungen zu leiden haben.

 

Gegen Abend desselben Tages schlug das Wetter plötzlich um.

Ich kam von der Stadt, wo ich einige Besorgungen gemacht hatte. Als ich vor der Haustür stand und eben die Hand nach der Glocke ausstreckte, hörte ich unterdrücktes Weinen. Es kam von der rechten Hausecke, wo, wie ich wußte, Marjas Zimmer gelegen war. Die Stimme schien auch die ihre zu sein, sie klagte in abgebrochenen Tönen; nur dann und wann sprach ein tiefer Baß, offenbar Petruschka, dazwischen.

Ich habe horchen immer verächtlich gefunden, und doch stand ich im nächsten Augenblick in dem dichten Gebüsch und sah zu einem offenen Fenster empor, in dem schon Licht brannte. Dabei hatte ich mir das Fragwürdige meines Beginnens eigentlich garnicht klar gemacht. Ich erkannte Marjas absonderliche Haube, tief geneigt; sie mußte ihr Gesicht in den Händen vergraben haben, denn ihre fortgesetzten, von Schluchzen unterbrochenen Klagen kamen so gedämpft heraus, daß ich sie nicht verstand. Erst ein paar hingeworfene Worte in Petruschkas rauher Stimme wurden mir verständlich, und sie sollten mir noch lange zu denken geben –

Deine alberne Weichherzigkeit hat alles aufs Spiel gesetzt; wie kannst du dich wundern, daß der Herr böse ist!

Sie murmelte etwas Unverständliches.

Zu hart? hörte ich Petruschka antworten, und seine alte Stimme schwoll in Zorn und Groll. »Kommt es denn auf ein nervöses Frauenzimmer an, wo es sich darum handelt?!«

Mich überfiel ein Zittern; nein, ich wollte nichts mehr hören! Leise huschte ich zur Haustür zurück und zögerte klopfenden Herzens, bevor ich zu klingeln wagte.

Lotti empfing mich zärtlich; sie hätte sich schon in der kurzen Zeit »so unheimlich« gefühlt und sie sei froh, daß ich wieder bei ihr sei; aber blaß sehe ich aus – ob mir etwas fehle?

Ich beruhigte sie; im Nebenzimmer aber sank ich ziemlich fassungslos auf einen Stuhl. Was war das gewesen?! Was hatte ich gehört? ... Was konnte das zu bedeuten haben? Noch vor einer halben Stunde war ich geneigt gewesen, für Hirngespinste zu halten, was Lotti so lange beunruhigt hatte – und jetzt?

Wovon sprach er, das »aufs Spiel gesetzt« sei, und was meinte er mit Marjas getadelter »Weichherzigkeit«? Etwa meine Anwesenheit im Rottmerhof?

Und Marja wiederum beklagte sich über Härte. Härte gegen wen? Gegen sich oder gegen das »nervöse Frauenzimmer«, mit dem doch wohl Lotti gemeint war? In welchen Händen war Lotti dann! Wie war der Gatte beschaffen, an dem sie mit allen Fasern ihres schwachen Herzens hing? »Kommt es auf ein nervöses Frauenzimmer an, wo es sich darum handelt?« Um welch Wichtiges handelte es sich denn, daß seine Dienstboten so mißachtend von der Herrin sprachen? Da war es ja wieder, das Geheimnis, das Rätsel, das dunkel und drohend durch dies finstere alte Haus schlich!

Ein heulender Windstoß fuhr durch die Baumkronen des Gartens und schlug die Zweige gegen das Fenster. Ich horchte auf den Wind. Ueber etwas wenigstens konnte ich in dieser Nacht Gewißheit erlangen: ob es eine Lüge war, daß man das seltsame Geräusch nirgends sonst im Hause höre!

 

Wir waren früh zur Ruhe gegangen, und es war noch nicht elf Uhr, als mir Lottis Atemzüge schon verrieten, daß sie fest schlief. Leise erhob ich mich, zog meine weichen Pantöffelchen an und war eben im Begriff, ein dunkles Morgenkleid überzuwerfen, als ein Seufzer aus Nicolais Kammer mich stutzen ließ. War das Kind erwacht? ich mußte mich davon überzeugen.

In Koljas Kammer brannte stets ein schwaches Nachtlämpchen; in seinem matten Scheine sah ich, wie der Knabe sich eben tiefer in die Kissen einwühlte und bemüht war, die Decke über seinen Kopf zu ziehen. Ich trat rasch an sein kleines Bett und rief ihn halblaut an. Mit einem unterdrückten Laut fuhr er empor; die krausen blonden Locken wirr in seinem erhitzten Gesicht, warf er beide Arme um meinen Hals.

Nicht wahr, Tante, flüsterte er, heute nacht kommt es doch nicht?

Was denn, Kolja?

Das Schreckliche, wenn es so schleicht und kriecht und an den Wänden klettert.

Ich erschrak heftig; – also deshalb wühlte der arme kleine Kerl sich jede Nacht so unter die Decken und Kissen!

Warum hast du Mutter nie davon erzählt?

Der Kleine zögerte. Ich hab ja, im Anfang, aber Muttchen hielt sich die Ohren zu – und später hab ich auch Marja davon gesagt, aber die hat mich immer nur ausgelacht! Aber ich hatte wirklich nicht geträumt, Tante Hannah, wirklich nicht. Und ich habe es doch öfters gehört. Weißt du, was das ist?

Närrchen, der Wind in den alten Schornsteinen und die Spatzen, die im Efeu nisten! Wer wird so bange sein; so ein großer Junge! Komm Bubi, schlaf ein – ich bleib bei dir sitzen, bis du im Traumland bist und goldene Aepfel von den Bäumen pflückst. – Schlaf ein, mein Seelchen – schlaf ein! Gott sei Dank, er war fest eingeschlafen, bevor der erste Laut des wunderlichen Geräusches mein Ohr traf auch hier im Zimmer des Kindes! Ich überzeugte mich, daß es nicht mehr geweckt wurde von der Reihenfolge seltsamer Töne, die durch das Wehen des Windes zu mir drangen; dann schlich ich in Lottis Kammer zurück und zog mich an. Auch Lotti schlief fest.

Leise öffnete ich die Tür und durchschritt lautlos das Wohnzimmer; ich hatte kein Licht mit mir genommen, aber durch die hohen Fenster drang ein wenig Helle und ich kannte hier jeden Fuß breit. Im Vorsaal waren die dunklen Vorhänge geschlossen, aber in der Halle draußen mußte es wieder etwas heller sein. Geräuschlos schob ich die Tür ein ganz klein wenig auf, fuhr aber erschreckt zurück. Drunten in der Halle, auf dem breiten Tisch vor dem Kamin stand eine brennende Lampe, und auf der ersten Stufe der Treppe stand Marja, den Kopf lauschend erhoben! Hatte sie mich gehört und würde sie heraufkommen?

Bei dem Gedanken wurde mir sehr unbehaglich zumute, ein peinlicher Gedanke, beim Spionieren von ihr ertappt zu werden. Außerdem, ich konnte es nicht leugnen, nach dem was ich vorhin gehört, waren mir die beiden alten Dienstboten unheimlich geworden. Was wollte sie hier noch so spät in der Halle? Dann ging hier also wirklich etwas vor, was das Licht zu scheuen hatte?

Als alles still blieb, wandte sie sich um und ließ sich am Tisch auf einem Stuhl nieder. Sie zog ihr dickes Tuch fester um die Schultern und begann zu stricken.

Sonderbar! hielt sie Wache?

Ich wagte kaum zu atmen; tiefe Stille, nur dann und wann ein heftigerer Windstoß, der das Laub von den Bäumen riß und gegen die Fenster fegte. Plötzlich fuhr ich zusammen: da war es wieder – dasselbe Geräusch, dieses seltsame Dröhnen und Stöhnen, das dumpfe Schleifen und Knarren!

Aber mehr noch erschreckte mich das Gebaren der Frau! Sie war bei den ersten Lauten aufgesprungen, die Hände halb gegen den Mund erhoben, die Augen spähend auf die Treppe gerichtet; ein Bild angstvollen Lauschens stand sie regungslos da, solange das Geräusch währte. Auch nachdem die Töne verklungen, blieb sie noch bewegungslos stehen, als erwarte sie irgend etwas, voller Unruhe und Angst. Als alles still blieb, stieß sie einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus und ließ sich wieder auf ihren Stuhl fallen.

Nun erst machte ich mir die ganze Tragweite des eben Erlebten klar. Diesmal hatte ich das Geräusch von der Halle aus gehört, nicht von den Zimmern hinter mir, das war mir deutlich zum Bewußtsein gekommen. Und was mehr war: Marja hatte es so gut gehört wie ich! Ihre Angst dabei galt augenscheinlich der Befürchtung, daß auch ihre Herrin und ich es hören würden; ja, sie ahnte vielleicht, daß ich versuchen würde, der Sache weiter auf den Grund zu gehen.

Zugleich aber sah ich ein, daß ihre Wachsamkeit mir das heute abend unmöglich gemacht hatte. Jetzt galt es, sie sicher zu machen, bevor ich mich weiter wagte.

Ich zitterte vor Aufregung, als ich leise, leise die Tür schloß und meinen Weg zurück suchte in unser Zimmer. Noch stundenlang lag ich wach und grübelte; eines aber war mir völlig klar: leugnete Marja morgen auf vorsichtiges Sondieren, das Geräusch gehört zu haben, so waren Lottis schlimmste Befürchtungen gerechtfertigt!


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