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Zweites Kapitel.

Seit fünf Tagen schon war ich nun hier und hatte noch keine Nachricht vom Rottmerhof.

In eineinhalb Wochen etwa würde die Schule beginnen, und meine Absicht, diese meine freie Zeit mit meiner Freundin zu verbringen, schien sich nicht verwirklichen zu sollen.

Ich hatte mein frugales Abendbrot verzehrt und starrte nachdenklich nach dem Fenster, durch das die grauen Abendschatten krochen.

Es klopfte; das Zimmermädchen streckte den Kopf herein.

Fräulein Lassen, da ist eine Frau, sie sagt, sie kommt vom Rottmerhof. –

Ich sprang auf und der ältlichen Frau entgegen, die in meine Tür trat –

Sie kommen von Frau von Löwen? Die Fremde, die erhitzt und abgespannt aussah, als habe sie den Weg in großer Eile zurückgelegt, nickte:

Ich soll einen Gruß bestellen von der gnädigen Frau und ob das Fräulein nicht heute abend noch mitkommen wollte nach dem Rottmerhof? Fräulein möchten sich doch auf einige Tage einrichten.

Sie hatte eine harte Stimme und brachte die Bitte unfreundlich genug heraus; ich erschrak.

Frau von Löwen ist doch nicht krank?

Sie liegt zu Bett.

Es ist doch nichts Ernstliches?

Die Frau verzog das wenig anziehende Gesicht zu einem seltsamen Lächeln.

O – nein – meinte sie gedehnt.

Gut, sagte ich entschlossen, ich komme mit.

Rasch packte ich das Nötigste zusammen und drängte meine Besucherin zur Tür hinaus; nachdem ich meine Logiswirtin verständigt hatte, traten wir auf die Straße.

Da die Ulmenallee, die zum Rottmerhof führt, sich am östlichen Ende der Stadt befindet, hatten wir lange mit der Straßenbahn zu fahren.

Während meine Begleiterin schweigsam neben mir in der Ecke saß, mußte ich daran denken, wie Lotti mir früher dies Besitztum ihres ersten Gatten, eines Herrn von Rottmershausen, als »ein altes verfallenes Rattennest« geschildert hatte und daß sie, sowohl in der kurzen Zeit dieser ersten Ehe, wie auch in ihrer späteren Witwenzeit es nie bewohnt hatte; soviel ich wußte, hatte sie all diese Jahre in Genf gelebt. Was mochte sie bewogen haben, es nun zu ihrem Wohnsitz zu wählen?

Wir waren bis jetzt durch moderne Straßenzüge gekommen; als wir aber die Straßenbahn verließen und die alte Ulmenallee betraten, die sich an den Anlagen entlang zog, kamen wir bald in fast ländliche Abgeschiedenheit. Wir schritten eilig im raschelnden Laub des Fußsteiges dahin. Bald hörten die Vorgärten zur Seite auf und machten mehr oder weniger vernachlässigten Mauern und Bretterzäunen Platz, bis auch diese verschwanden und sich allerhand Gartenland neben uns in der nächtlichen Dämmerung dehnte.

Jetzt erhob sich vor uns im Nebel eine dunkle ragende Masse. Es war der Rottmerhof. Sehr verlockend sah der Wohnsitz nicht aus, den die Familie Rottmershausen so wert gehalten, daß es der Witwe, wie ich gehört hatte, laut testamentarischer Bestimmung verwehrt war, den alten »Rumpelkasten« zu verkaufen. Denn das war er, das sah ich deutlich, als wir jetzt davor standen.

Ein starkes Eisengitter trennte den verwilderten Garten von der Allee; dahinter erhob sich in massigen, dunkeln Formen ein uralter Bau, undefinierbaren, oder vielmehr jeglichen Stiles.

Die jeweiligen Besitzer mochten wohl ein jeder nach seinem Bedürfnisse hier ein Teil angeflickt, dort eine Partie eingerissen haben. Jetzt bot das Gebäude mit seinen unregelmäßig und willkürlich ineinander geschachtelten Stockwerken, die oft an der einen Seite moderne hohe Fenster und an der anderen kleine tiefliegende Oeffnungen aufwiesen, einen höchst seltsamen Anblick.

In dem schwindenden Licht dieses nebeligen Herbstabends wirkte der alte Bau direkt unheimlich; nicht wenig mochte dazu der dichte Mantel alten Efeus beitragen, der fast die ganze Vorderseite umspannte und über das oft ausgeflickte steile Dach hinübergriff, bis zu den ungeschlachten Schornsteinen, die wie trotzige Türme in die Lüfte ragten. In dem mittleren Stockwerk waren einige Fenster erleuchtet, während das Erdgeschoß, bis auf das altertümliche Haustor, in völliger Finsternis lag.

Als meine Begleiterin das eiserne Gittertor aufstieß und dieses dabei ächzte und knarrte, murrte sie leise vor sich hin.

Anstatt den Hauptweg zu verfolgen, der vom Eingangstor aus in gerader Linie auf den Mitteltrakt des unregelmäßigen Gebäudes zuführte, zog sie mich auf einem kleinen Pfade am Gitter entlang und spähte dabei unausgesetzt nach rechts und links.

Weshalb führen Sie mich diesen Umweg? fragte ich.

Sie knurrte etwas, das ich nicht verstand.

Ist Herr von Löwen zu Haus?

Nein – verreist, sagte sie kurz, und ich fragte nicht weiter.

Wir umschritten in ziemlichem Umkreis den linken Flügel und näherten uns der Rückseite.

Ich hatte meinen Schritt dem leisen, vorsichtigen Gange meiner Führerin unwillkürlich angepaßt – so schlichen wir, wie auf verbotenen Wegen, um das Haus, das, seit ich in dieser Stadt war, all meine Gedanken gefesselt hatte.

Die Hinterfront des alten Herrenhauses war fast noch wunderlicher zusammengeflickt, als die Seite nach der Ulmenallee zu. Etwas jenseits der Mitte, wo sich eine große Hintertür befand, sprang ein augenscheinlich uralter Turm weit vor. Schwarz und dunkel ragte er vor uns auf; statt der Fenster sah ich nur finstere schmale Schlitze in weiter Entfernung voneinander.

Unmittelbar hinter dem Turm, und im tiefen Schatten desselben, blieb die Frau stehen und horchte; dann bückte sie sich und ein Streichholz flammte auf. Sie hatte eine kleine Laterne angezündet, die sie wohl hier versteckt hatte, und ich sah nun, daß wir vor einem Steintreppchen standen, dessen bemooste, halbzerfallene Stufen zu einer Kellertür hinabführten.

Während wir vorsichtig hinunterstiegen, ertönte aus dem Innern des Hauses ein dumpfes Knurren, das die Frau mit einem »Kusch, Sultan« beschwichtigte. Ich bin nicht ängstlich, aber ich zauderte doch, einzutreten, als ich beim Oeffnen der Tür undeutlich die riesenhafte Gestalt eines mächtigen Hundes unterschied, der dicht vor mir stand.

Die Frau hob die Laterne und schob den Hund zur Seite.

Nieder Sultan – bist du ruhig!

Aber erst nachdem er seinen ungefügen Kopf in gar nicht erwünschte Nähe meines Kleides gebracht hatte, wandte er uns würdevoll den Rücken und verlor sich im Dunkel.

Während die Frau die Tür mit völliger Geräuschlosigkeit einklinkte und verschloß, ließ ich meine Blicke umherschweifen.

Wir befanden uns in einem finstern Kellerflur, auf den verschiedene Türen mündeten. In dem rohen Mauerwerk des Turmes, den wir von außen umschritten hatten, befand sich hier eine hohe, gewölbte Tür; als wir an ihr vorbeikamen, fiel das Licht auf breite Metallbänder, auch sah ich eine schwere eiserne Krampe, die quer über den breiten Holzbohlen befestigt war.

Nachdem wir an einigen Wirtschaftsräumen vorbeigekommen waren, führte uns eine breitere Steintreppe wieder hinauf. Hier ließ mich meine Führerin warten, kam aber bald mit allen Zeichen des Aergers zurück. Sie brummte vor sich hin und schien gänzlich unschlüssig, was sie machen sollte.

Er ist schon wach, murmelte sie.

Wer?

Der Petruschka – der Alte. Wenn er Sie sieht, läßt er Sie nicht hinauf. Ich bin deshalb schon hinten herumgegangen. Seine Stube ist vorn, neben der Haustür –

Ich mußte lachen –

So viel ich verstand, ist Herr von Löwen verreist; wer ist dann dieser Petruschka?

Sie fuhr böse herum, vermutlich hatte mein Ton sie verletzt.

Petruschka ist Verwalter hier, beschied sie mich kurz.

Und der Verwalter sollte mich hindern, zu Frau von Löwen zu gehen? Das lassen Sie uns nur erst versuchen.

Sie brummte; ich war vorgegangen und betrat raschen Fußes eine noch nicht erleuchtete Halle, die mir sehr groß schien; unmittelbar neben mir begann eine breite Treppe.

Rasch hinauf! raunte die Frau mir zu und zog mich die teppichbelegten Stufen hinauf. Dann öffnete sie eine Tür und führte mich durch einen matterhellten Vorraum in ein freundlich ausgestattetes Wohnzimmer; eine Flügeltür zum Nebenzimmer stand offen und von dort hörte ich Lottis Stimme mich rufen.

Sie lag im Bett, ihre Augen leuchteten mir freudig entgegen. Sie hatte sich nicht viel verändert, nur kam sie mir auffallend blaß und nervös erregt vor; noch während sie mich lebhaft begrüßte, bedeckten sich ihre Wangen mit fieberhafter Röte, und dieser rasche Farbenwechsel erschreckte mich.

Während sie mich zu sich niederzog und meine Hand streichelte, hörte ich die Frau vor sich hin brummen und murmeln, dann trat sie näher herzu und sah ihrer Herrin gerade ins Gesicht.

Die gnädige Frau haben ja nun Ihren Willen, sagte sie in einem so ungehörigen Tone, daß ich nicht begriff, wie Lotti sich das gefallen lassen konnte.

So lange wie's dauert! fügte sie frech hinzu. Und daß das Fräulein am besten in den Zimmern hier oben aufgehoben ist, das wissen gnädige Frau so gut wie ich.

Der Blick der kleinen Augen, der mich dabei streifte, war einer Drohung so ähnlich, daß ich auffahren wollte, aber Lotti hinderte mich daran. Sie benutzte einen Augenblick, als die Frau uns den Rücken kehrte und legte bittend den Finger auf den Mund.

Armes kleines Ding, ich wollte wahrhaftig ihre Unruhe nicht vermehren. Ich beugte mich zu ihr und küßte sie.

Dann begann ich in unbefangenem Tone zu sprechen und fragte schließlich nach ihrem Knaben.

Willst du Kolja Kosename für Nikolaus. sehen – er schläft nebenan. Bitte Marja, zeigen Sie Fräulein Lassen meinen Liebling – nein, nein, er wird nicht aufwachen, er hat ja einen so festen Schlaf.

Als ich den Knaben sah, wunderte ich mich nicht, daß ihn nicht leicht etwas zu stören vermochte. Er lag zu einem Knäuel zusammengekrümmt in seinem eleganten Gitterbettchen, den Kopf völlig in den Kissen und Decken vergraben.

Die Kinderfrau – etwas dergleichen schien sie ja doch zu sein – die mir wortlos geleuchtet hatte, schüttelte den Kopf.

Von dem ist nichts zu sehen des Nachts.

Aber ist das nicht ungesund?

Er schläft nicht anders ein, das Seelchen.

Als ich wieder vor Lottis Bett stand, neben dem mir ein provisorisches Lager hergerichtet war, und mit der Hand ihre fiebernde Stirn berührte, lächelte sie dankbar.

Was macht dein Fuß?

Noch immer etwas geschwollen, aber es wird besser.

Aber sonst – was fehlt dir, Lotti?

Ich weiß selbst nicht recht.

Was sagt der Arzt? Du hast augenscheinlich Fieber, bist übermäßig erregt.

Bevor noch Lotti antworten konnte, ließ die Alte ein kurzes, wenig melodisches Kichern hören –

Wenn das plötzlich Krankheit sein soll – die gnädige Frau ist doch schon immer so gewesen.

Das ist schlimm genug, sagte ich unwillig.

Ja, aber heute fühlte ich mich wirklich krank – unterbrach mich Lotti mit einem trotzig scheuen Blick nach der noch immer unangenehm lächelnden Frau an der Tür. Aber die Marja will mir nicht glauben.

O was das anbelangt, gnädige Frau hat ja nun Ihren Willen – ich wasch meine Hände in Unschuld! Wünsch gute Nacht.

Sie trat durch die offene Tür ins Wohnzimmer und löschte dort das Licht; dann hörten wir ihre schweren Schritte sich weiter entfernen und eine Tür klappen. Ich hatte unwillkürlich hinter der Frau hergesehen; als ich mich jetzt wieder umwandte, sah ich Lottis Augen mit einem Ausdruck auf mich geheftet, den ich nicht verstand.

Sie hatte sich im Bett aufgerichtet und strich mit zitternden Fingern das lockere Haar aus der Stirn. Die schlaffe Haltung einer Kranken war plötzlich verschwunden, aber ich sah, daß sie in hohem Grade erregt war.

Ich bin gar nicht krank, sagte sie eilig und leise, aber es gab kein anderes Mittel um Marja für meinen Wunsch, dich bei mir zu haben, gefügig zu machen –

Du bist nicht krank!

Nein – aber ich fürchte mich! O, Hannah – komme nahe zu mir, daß ich leise sprechen kann. Ich fürchte mich! Kennst du Furcht? Ach nein, du bist auch so viel stärker und mutiger wie ich. Aber hier, hier hättest du es auch gelernt! O – es ist schrecklich, wie die Furcht in allen Winkeln lauert, wie sie näher, immer näher kommt, wie sie dein Herz erzittern macht und deine Kehle zuschnürt ...

Aber Lotti, Liebste, wie kannst du ...?

Laß mich, ich muß einmal mein Herz ausschütten, ich ersticke sonst!

Und dein Mann –?

Sie stockte, und plötzlich brach sie in sich zusammen, von heftigem Schluchzen geschüttelt.

Ich ließ sie ruhig sich ausweinen, strich mit der Hand über ihren gesenkten blonden Kopf und wartete. Nach und nach beruhigte sie sich und horchte nach dem Zimmer des Kindes.

Er schläft, Gott sei Dank! Komm noch näher, ich will dir alles erzählen.

Nein, nein, ich kann nicht warten bis morgen, ich könnte doch nicht schlafen. Du weißt, daß ich während meiner ersten Ehe in Genf lebte. Ich hatte von Anfang an eine heftige Abneigung gegen dies düstere Haus hier gefaßt, und da auch Erwin nichts hierher zog, kamen wir während der zwei Jahre, die unsere Ehe währte, nie wieder nach dem Rottmerhof.

Auch nach Erwins Tode blieb ich in Genf, und dort traf ich, vor nun etwa eineinhalb Jahren meinen jetzigen Gatten. Ich hatte Erwin von Herzen gern gehabt, aber die wahre Liebe lernte ich erst durch Alexander von Löwen kennen.

Sascha Kosename für Alexander. ist ein eifriger Forscher; er hat sich den alten Sprachen zugewandt, und in den ersten Monaten war es mein einziger Kummer, daß ich seine Liebe mit der Wissenschaft zu teilen hatte. Schon wenige Wochen nach unserer Hochzeit zogen wir auf Alexanders Wunsch hierher.

Sie seufzte.

Ich versuchte alles, ihn von seinem Wunsche abzubringen, fuhr sie fort, aber er ließ nicht nach; es war völlig zur fixen Idee bei ihm geworden. Aber ich liebte ihn; da gab ich nach.

Seitdem ist mein Glück getrübt, von Anbeginn fühlte ich mich grenzenlos unbehaglich hier; aber das war das wenigste, seit dem Sommer ... sie stockte und ich sah, wie sie zusammenschauerte. Sie schwieg eine ganze Weile, sie rang mit sich selbst. Wurde es ihr so schwer, das zu sagen, was sie mir zu sagen hatte?

Endlich fuhr sie leise und oft stockend fort.

Es war in einer Nacht im Juli, daß ich es zum ersten Male hörte. Es klang wie ein rollendes Schüttern, ein dumpfes Scharren und Schleifen; dabei hatte ich das feste Bewußtsein, daß das seltsame Geräusch nicht von außen, sondern aus dem Hause selbst kam. Als ich Sascha am andern Morgen davon sprach, wurde er so heftig, wie ich es ihm nie zugetraut hätte, ja, er wurde leichenblaß vor Zorn. Längere Zeit ließ sich das sonderbare Geräusch dann nicht mehr hören, und als es später wieder begann, schwieg ich. Auch war es so viel dumpfer geworden, so wenig hörbar, daß ich es wohl nur bemerkte, weil ich darauf gewartet hatte.

Nun aber kam es beinah jede Nacht, Wochen hindurch; nie vor zwölf, nie nach vier Uhr.

Hörtest du es während all der vielen Stunden?

O nein, oft nur ein- oder zweimal, manchmal viele Male hintereinander, aber stets nur für kürzere Zeit.

Und du hast dich überzeugt, daß es nicht etwas ganz Harmloses sein kann: eine knarrende Wetterfahne, eine Kamintür, ein loser Fensterladen? Solch ein alter Kasten mag ja reich sein an dergleichen Dingen.

Nein, das alles war es nicht. Ob es windstill oder stürmisch war, ob Regen oder eine sternhelle Nacht: zur gleichen Zeit setzte das eigentümliche Geräusch ein.

Und dein Mann konnte dir keine Erklärung geben?

Konnte? Er behauptete, es seien Einbildungen! Hör bitte weiter.

Saschas Familie ist schon seit langer Zeit in Moskau angesiedelt; es ist eine alte angesehene Kaufmannsfamilie. Ihr jetziges Oberhaupt ist Alexanders älterer Bruder Stepan. Ich weiß eigentlich nichts von der Familie, nur scheint mir, als wäre sie eine Art Versorgungsanstalt für alte Dienstboten. Sascha war schon bei unserer Verheiratung im Besitz eines solchen Prachtstückes – du hast sie vorhin kennen gelernt – nun aber, kaum waren wir hier eingezogen, ließ er auch den Petruschka, ebenfalls ein altes Familien-Faktotum, zu sich kommen!

Ach, Hannah – mein Mann sagt, es sei ein großes Unrecht, wenn man alte, verdiente Dienstboten nicht ehre; natürlich hat er recht, aber was kann ich dafür, wenn mir der alte Mann unheimlich ist? Ich hatte gewiß nichts dagegen, daß er Marja in seinem Dienst behielt. Sie ist ja immer bei ihm gewesen, ich glaube, seit er noch im Steckkissen lag. Aber mußte er den Petruschka auch noch expreß aus Moskau kommen lassen, nur damit mir der mürrische Alte das Leben sauer macht?!

Der tiefe Glockenton einer Wanduhr im Wohnzimmer ließ sie zusammenschrecken.

Es ist spät, du solltest schlafen, sagte ich mit einem Blick auf ihre fieberroten Wangen. Du kannst mir morgen ...

Nein, nein, unterbrach sie mich leidenschaftlich, laß mich zu Ende kommen, ich will mich kurz fassen: An diesem alten Petruschka war mir mit der Zeit etwas Sonderbares aufgefallen. Der alte Mann blieb in den Zeiten, wo ich nachts das unheimliche Geräusch hörte, den Tag über stets völlig unsichtbar; ich glaubte zunächst, er sei dann verreist, bis ich dahinterkam, daß er am Tage schlief; nicht etwa ein oder zwei Stunden, wie das vielleicht sein Alter bedingen könnte, obgleich er äußerst rüstig ist für seine Jahre, sondern den ganzen Tag, was zu andern Zeiten durchaus nicht zu seinen Gewohnheiten gehörte. Schließlich aber glaubte ich eine Erklärung für all das Seltsame gefunden zu haben, das mir den Aufenthalt in diesem düsteren Rottmerhof zur Qual gemacht hatte. Und zwar eine Erklärung, die genügte, mich völlig zu beruhigen: Der alte Mann litt vermutlich an einer periodisch wiederkehrenden Krankheit – Krämpfe – Delirien, was weiß ich? Daher seine große Ermattung am andern Tag, der Lärm seiner Anfälle in der Nacht. Daher auch Saschas Aerger, als er befürchten mußte, daß ich das, woraus sie ein solches Geheimnis machten, entdecken könnte.

Aber weshalb dies Geheimnis?

Nun, das hätte sich damit erklären lassen, daß Sascha meine krankhafte Abneigung gegen alle mit Krämpfen behafteten Unglücklichen kannte; es konnte auch Rücksicht auf den Alten sein – aber nur zu bald sollte ich mich überzeugen, daß dem überhaupt nicht so war.

Eines Nachts weckte mich mein kleiner Kolja durch angstvolles Stöhnen. Als ich hinlief, saß er aufrecht im Bett, das Gesicht dunkelrot, und rang nach Atem. Ich erschrak furchtbar; es konnte Krupp oder gar Diphtheritis sein! Ich stürzte zur Klingel und zugleich auf den Vorsaal, um Sascha zu wecken. Sein Schlafzimmer liegt an der anderen Seite, es hat keinen direkten Eingang, aber seine Studierstube, hinter der es liegt, geht auf den Vorsaal. Er hat die seltsame Gewohnheit, sich einzuschließen, während sonst, wenn er fort ist, die Tür zu seinen Zimmern nicht geschlossen ist. Auch diesmal war die Tür zur Studierstube verschlossen; ich hämmerte aber in meiner Angst so heftig dagegen, daß er unbedingt hätte erwachen müssen, wenn er überhaupt da war. Dann, während ich zum Kinderzimmer zurücklief, fuhr es mir blitzschnell durch den Sinn: Sascha war ohne Zweifel unten bei seinem Kranken! Hatte ich doch auch in dieser Nacht das unheimliche dumpfe Geräusch wieder wahrgenommen.

Gleich darauf kam Marja ganz verstört herauf. Weißt du, sie mag ja unleidlich sein, besonders mir gegenüber; aber in jener Nacht hat sie mir so gut geholfen, daß ich es ihr nie vergessen werde. Sie überzeugte mich bald, daß es ein Kruppanfall war, aber nicht von der ganz gefährlichen Art, sie erhitzte Wasser und drückte es mit einem Schwamm auf die arme kleine Kehle, oh, es war grausam, aber es half. Als die Atemnot nachgelassen hatte, begann uns Koljas große Ermattung aufs neue zu ängstigen, und nun erst dachte ich wieder an Alexander.

Rufen Sie Herrn von Löwen, rief ich Marja zu; er ist unten bei Petruschka!

Nie werde ich das Entsetzen vergessen, mit dem Marja mich anstarrte. Ihre Lippen versuchten ein Wort zu formen, aber erst nach Sekunden gelang es ihr zu fragen –

Bei Petruschka ...?

Jetzt verlor ich die Geduld. Das Leben meines Kindes stand vielleicht auf dem Spiel – und nun eine solche Wichtigkeit und Geheimniskrämerei um eine Krankheit, die nun schon seit Wochen währte und den Mann zwischendurch völlig gesund ließ! Das war mir zuviel. Ich sagte ihr das, heftig und ohne meine Worte zu wählen; erst als ich außer Atem schwieg und sie, die sonst wahrhaftig nicht auf den Mund gefallen ist, kein Wort der Erwiderung fand, sah ich ihr aufmerksam ins Gesicht. Und Hannah, sie konnte ein Lächeln nicht ganz unterdrücken, ein Lächeln der Genugtuung, der Erleichterung! Begreifst du das?

Betroffen schüttelte ich den Kopf.

Und was sagte sie dann?

Sie besann sich ziemlich lange, dann sagte sie, der Herr müsse doch wohl nicht gut abkommen können, aber sie wolle ihn benachrichtigen und gleich selbst zum Arzt laufen.

Sie selbst, warf ich ein, statt dazubleiben und dir zu helfen? Aber konnte keins der Mädchen ...

Lotti ergriff meinen Arm und drückte ihn. Achte wohl auf, Hannah: es gibt nachts kein Mädchen hier im Hause! Jawohl, im großen Rottmerhof, der übrigens zur Hälfte leer steht, sind außer uns des Nachts nur Marja und der alte Mann, der, so viel ich weiß, kaum eine Hand rührt in der Wirtschaft. Schutz genug ist ja da, und Sultan würde keinen ins Haus lassen, aber es ist doch sonderbar, daß sowohl die Köchin, wie das Stubenmädchen nur für den Tag engagiert sind und abends zu ihren Familien in die Stadt gehen. Das ist doch sonderbar – nicht wahr?

Aber hör weiter. In jener schrecklichen Nacht also, saß ich, nachdem Marja das Haus verlassen hatte, allein am Bette meines kranken Kindes. Angstvoll horchte ich auf seine röchelnden Atemzüge, während ich fortfuhr, heiße Kompressen auf seinen Hals zu legen; plötzlich schien es mir, als nähme die Atemnot wieder zu, und dann lag er ganz plötzlich regungslos da, wie tot. Außer mir vor Angst sprang ich auf. Was sollte ich tun; ich wußte mir nicht zu helfen. Ich lief durch den Vorsaal an die Treppe und rief laut den Namen meines Mannes, aber mein Rufen scholl durch die große Halle, ohne daß sich etwas gerührt hätte. Da stürzte ich die Treppe hinab, durch die Halle und den Gang nach Petruschkas Kammer, wo ich Sascha vermutete; ich horchte einen Augenblick vor der Tür, ich sah einen Lichtschimmer, aber alles war still. Ich klopfte, ich rief, ich rüttelte schließlich an der Tür, bis ich merkte, daß sie nicht verschlossen war und ich sie aufstieß – das Zimmer war leer! Eine Lampe brannte auf dem Tisch, Petruschkas Bett stand unberührt. Ich weiß nicht, warum mir plötzlich ein eisiger Schauder den Rücken herabkroch, aber als ich in demselben Augenblick auch noch das unheimliche Schleifen und Scharren hörte, das ich für das Toben eines Kranken gehalten hatte, als ich das Geräusch jetzt von einer ganz anderen Seite, nicht von Petruschkas Kammer her hörte, da war es zu viel für mich! Ich schrie laut auf und stürzte den Gang zurück; dicht vor der Halle fiel ich zu Boden; ich verlor das Bewußtsein nicht völlig; aber meine Füße trugen mich einfach nicht mehr. Während ich noch mit einer Ohnmacht kämpfte, kam es mir undeutlich zum Bewußtsein, daß sich von der Rückseite des Hauses her rasche Schritte näherten. Dann trat eine Gestalt in den Lichtschein und ich erkannte Petruschka! Ich muß wohl doch noch bewußtlos geworden sein, denn als ich zu mir kam, lag ich oben im Kinderzimmer auf dem Ruhebette und Sascha stand über Koljas Bettchen gebeugt.

Als ich mich bewegte, war er an meiner Seite; er war sehr blaß, und wenn ich je an seiner Liebe zweifeln sollte, so will ich an diese Stunde denken! Bald darauf kam Marja mit dem Arzt, der uns wegen Nicolai, Gott sei Dank, beruhigen konnte.

Aber nun kommt das Unbegreifliche. Am Abend kam ich nicht mehr dazu, mit Alexander zu sprechen; der Arzt hatte mir völlige Ruhe geboten, da der Nervenchok, den ich erlitten hatte, ihn besorgt zu machen schien. Am andern Morgen, als ich erwachte, saß Sascha an meinem Bette; ich sah, er hatte in der Nacht kein Auge zugetan. Und nun bestand ich auf einer Erklärung. Ich erzählte meinem Manne von den immer wiederkehrenden unheimlichen Tönen im Hause, und diesmal wurde Sascha nicht heftig. Aber ich sah, daß er die Zähne zusammenbiß und ein Ausdruck eiserner Entschlossenheit in seine Augen trat. Ich sagte ihm, wie ich mir das Geräusch zu erklären gesucht, wie ich es auch gestern nacht gehört und dann zu meinem Entsetzen Petruschkas Zimmer verlassen gefunden hätte. Und ich bat ihn flehentlich, mir die Wahrheit zu sagen. Dann ...

Sie brach schluchzend ab und schlug die Hände vor das Gesicht –

Nun, dann sprach er endlich. Ja, es sei so, wie ich erraten. Petruschka leide an furchtbaren Krämpfen, wahren Tobsuchtsanfällen, in denen er nur durch große, körperliche Anstrengungen überwältigt werden könne. Das Geräusch, das mich stets erschreckte, sei auf diese Weise entstanden.

Wo Petruschka denn gestern abend gewesen sei, fragte ich.

Sascha schien eine Weile nicht zu begreifen, was ich meinte, dann antwortete er zögernd, ob ich denn nicht wisse, daß Petruschka seit einigen Tagen ein anderes Zimmer bezogen habe? Er habe geglaubt, Marja habe mir davon gesprochen. Er schlafe jetzt vorn heraus, neben der Halle.

Ob er gestern nacht bei Petruschka gewesen?

Ja – die ganze Zeit.

Bis ich geschrien hätte?

Ja, das habe er gehört und sei mir zu Hilfe geeilt.

Und Petruschka?

Habe im Bett gelegen.

O Hannah – Hannah! Kannst du verstehen, wie mir zumute war?! Der Mann, den ich über alles liebte, zu dem ich aufsah, wie zu keinem anderen Menschen in der Welt, er belog mich kaltblütig, mit voller Ueberlegung! Er konnte freilich nicht wissen, daß ich am vorhergehenden Morgen an Petruschkas Tür vorbeigekommen war und gesehen hatte, wie Lisa, das Hausmädchen, sein Bett machte! Er konnte nicht wissen, daß ich Petruschka erkannt hatte – Petruschka völlig angezogen und so gesund wie nur je! Seitdem bin ich so elend, Hannah. Nun weißt du alles.

Ich habe versucht, auf alle Art versucht, hinter das Geheimnis zu kommen, das mir Glück und Ruhe raubt – aber vergebens. Ich habe täglich Haus und Garten durchforscht zum sichtlichen Aerger Marjas – darauf bezog sich ihre halbe Drohung vorhin – ich habe Petruschka beobachtet wie ein Spion und habe harte Worte von Alexander dafür hingenommen – alles umsonst. Nur eines vermochte ich nicht, das was allein Erfolg versprach, mich nachts in das Haus hinunterzuschleichen. Ob es eine Folge der heftigen Nervenerschütterung ist, die ich durchgemacht habe, ich weiß es nicht. Aber ich finde in der nächtlichen Stille und Finsternis dieses spukhaften Hauses nicht mehr den Mut, mein Zimmer zu verlassen. Auch hörte ich wochenlang nach jenen schrecklichen Erlebnissen nichts mehr von diesem Rasseln und Schleifen, das ich mir nicht zu erklären vermag. Aber kurze Zeit ehe du mir schriebest, hatte es wieder begonnen. Als ich Marja einmal darauf aufmerksam machte, leugnete sie unentwegt, was doch Tatsache war. Sie höre nichts, und ich hätte eine zu lebhafte Phantasie.

Dann kam mein Unfall, ich verstauchte mir den Fuß auf der Treppe derartig, daß er noch jetzt geschwollen ist. Ach Hannah, wie verlassen fühlte ich mich! Denn Alexander? Wundert es dich, daß eine Entfremdung zwischen uns eingetreten ist, die er freilich zu bekämpfen sucht? Und nun laß mich dir noch etwas gestehen. Als mein Mann vor ein paar Tagen abreiste – er mußte unerwartet plötzlich nach Moskau –, da hatte er mir meinen flehentlichen Wunsch, dich zu mir zu holen, wiederholt abgeschlagen.

Ich fuhr auf –

Wie konntest du – du hast mich gegen sein Verbot kommen lassen, gegen seinen Willen? Begreifst du nicht, daß ich keinen Augenblick geblieben wäre, wenn ich das gewußt hätte?!

Ich fürchtete es. Aber begreifen würde ich es nicht, wenn meine Hannah mich im Stich ließe aus Angst vor eines fremden Mannes Wort; sie ist viel zu stolz ...

Gerade weil ich das bin; ein heimlicher Gast ...

Nein, nicht heimlich, gleich morgen werde ich es ihm schreiben. Hannah, ich brauche dich, deine Hilfe, deinen Mut!

Ich schloß sie in die Arme –

Gut – ich bleibe. – Wenn Marja um deines Mannes Verbot wußte, wie hast du es dann fertiggebracht, daß sie sich fügte?

Lotti lächelte ein wenig –

Ich habe Gleiches mit Gleichem vergolten und ich habe auch Komödie gespielt. Ich stellte mich krank, drohte schließlich gar, mir ein Leids anzutun, wenn sie meinem Willen nicht nachgäbe; – das half. Vielleicht hatte sie auch wirklich Mitleid mit mir, denn sie ist nicht so hart, als sie scheint.

Und Petruschka?

Aus dem werde ich nicht klug – ich fürchte ihn, den finsteren alten Mann; manchmal glühen seine Augen ordentlich – ein schrecklicher Mensch! Marja hat auch Angst vor ihm. Sie muß tun was er will; er regiert uns alle, ohne viel Worte, ich glaube sogar auch meinen Mann. Er schläft übrigens jetzt wirklich nach vorn heraus, neben dem Haupteingang. Seitdem ist mir die große Halle abends noch unheimlicher, als zuvor. Und manchmal stelle ich mir vor, wie er nachts durch die Halle trappt – und die Treppe heraufkommt – Stufe für Stufe – und durch den Vorsaal bis an meine Tür ... ach, Liebe, schiebe den Riegel vor die Flurtür, durch die du gekommen bist, du weißt ja –

Ich nahm ein Licht und ging über den Vorsaal zur Flurtür; als ich sie öffnete, tat sich hinter einer Galerie eine schwarze Tiefe vor mir auf, jedenfalls die Halle, durch die Marja mich heraufgeführt hatte. Nachdem ich die Tür verriegelt, kehrte ich zu Lotti zurück. Sie dehnte sich behaglich unter ihren Decken und nickte mir zu. So Schatz – nun sind wir sicher vor dem alten Ungeheuer. Wenn Sascha da ist, ist das etwas anderes; seine Tür ist der meinen fast gegenüber. Aber seit ich allein bin, riegelte ich immer zu, lieber stehe ich morgens auf und öffne, wenn das Mädchen klopft.

Sie sah nach der Uhr –

Schon nach zwölf ...

Dabei wurden ihre Augen größer und ich sah, daß sie horchte. Wir schwiegen jetzt beide. Ich hatte mich niedergelegt, und nun hingen meine Augen grübelnd an dem verhangenen Lämpchen, das das große Gemach matt erhellte. Ich ging dieser wunderlichen Erzählung nach, die so viel Furcht und Angst atmete und so wenig Tatsachen bot. Es ging mir durch den Sinn, wieviel davon auf Rechnung von Lottis überängstlicher Natur zu setzen sein möchte. Es erinnerte mich an manche Kinderängstlichkeit vergangener Jahre; dann nach und nach verwirrten sich meine Gedanken – ich schlief ein.

Ein Anruf Lottis weckte mich. Ich richtete mich auf und horchte. Zunächst unterschied ich nur ein undefinierbares Geräusch, dann lösten sich einige seltsame, sich ständig wiederholende Töne merkbar daraus ab, ein Rutschen und Gleiten, – nun wie ein gedehntes Seufzen, dazwischen ein dumpfes Rollen, das Ganze etwa einem fauchenden, röchelnden Gurgeln irgendeines Riesenungeheuers zu vergleichen, seltsam und unheimlich! Ja, nun hörte ich, was meiner armen Freundin den Schlaf so vieler Nächte geraubt hatte, und ebensowenig wie sie vermochte ich diese seltsame Folge von Tönen zu erklären. Das dauerte vielleicht einige Minuten lang, dann hörte es auf.

Ich war so verwirrt, daß ich Lottis Frage, was ich davon halte, nicht zu beantworten vermochte. Wir lagen beide noch lange wach in jener Nacht.


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