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Sechstes Kapitel.

Der nächste Tag war grau und trübe; kaum hatte der Wind nachgelassen, so setzte ein Regen ein, der sanft und gleichmäßig niedertroff und von ausgedehnter Dauerhaftigkeit zu werden versprach.

Ich hatte bei der ersten Gelegenheit, als ich mich unbeobachtet wußte, den kleinen Zettel hervorgezogen, konnte aber nicht viel daraus machen. – Da ich zur Stadt, in meine Wohnung mußte, um etwas Wäsche zu holen, nahm ich ihn mit, um ihn dort ungestörter studieren zu können.

Als ich durch die Halle ging, infolge meiner Gummischuhe ziemlich unhörbar, öffnete sich Petruschkas Zimmertür, nächst dem Hauptausgang, und Marja kam mit einem Tablett heraus. Der geheimnisvolle alte Mann lag jedenfalls noch im Bett und erholte sich von seinen nächtlichen Streifzügen!

In meiner Wohnung angelangt, setzte ich mich zunächst vor meinen Zettel und betrachtete noch einmal die Zeichnung, die er enthielt. Nachdem ich das kleine Blatt sorgsam geglättet, las ich am oberen Rande in kritzliger Gelehrtenhand die kurze Notiz: »Band 8, Seite 216« und »Loebnitz, Anhang.« Links unten befand sich die flüchtig hingeworfene Grundrißskizze, in der ich nun den Rottmerhof erkannte. Der alte Turm an der Rückseite war deutlich erkennbar und von ihm aus eine punktierte Linie bis zu einer größeren schraffierten Stelle. Leider zeigte sich hier eine Bruchstelle, das Papier war durchgerissen.

Daß es sich hier um einen unterirdischen Gang handeln könne, war mein erster Gedanke, deutete nicht alles darauf hin? Die beschmutzten Stiefel, die rötlichen Erdspuren? Ein unterirdischer Gang, der vom Turm ausging, das war wohl ziemlich sicher. Aber wohin und wozu? Lief er in die Heide, wohin seine Richtung zu deuten schien? Was bedeutete hier an der Rißstelle der schraffierte Teil? Wie gänzlich unverständlich war das alles. Zum erstenmal überlief mich ein Schauer bei dem Gedanken an die langen, finsteren Nächte, die Lotti und ich hier verbrachten, so fern aller Hilfe. Wie sehr gerechtfertigt erschien mir jetzt Lottis beständige Furcht in dem alten Herrenhaus, gerechtfertigter, als sie ahnte.

Es wäre eine Erleichterung für mich gewesen, mich mit ihr zu besprechen, aber ich wußte auch, daß dann nur Eines folgen konnte: Lotti mußte den Rottmerhof verlassen.

Sie war den geheimnisvollen Schrecken dort, den ungelösten Rätseln nicht gewachsen. – Sie einweihen in das, was ich entdeckt hatte, ihrer von mir so oft verlachten Angst eine Berechtigung zu geben, hieß auch, sie fortnehmen müssen von dort. Das machte ich mir klar. Und damit war ein Bruch zwischen Lotti und ihrem so sehr geliebten Mann unvermeidlich. Ach – gab es nicht doch noch eine Möglichkeit, dieses seltsame Geheimnis auf einen harmlosen Grund zurückzuführen?

Ich grübelte und sann. Tausend Möglichkeiten kreuzten meine Gedanken, aber bei näherer Betrachtung waren alle nicht stichhaltig. Ich beugte mich wieder über den Zettel. »Band 8, Seite 216.« Jedenfalls ein großes Werk, mindestens acht dicke Bände. Die Stelle, auf die diese Notiz Bezug hatte, mochte vieles erklären. Ich nahm mir vor, in Herrn von Löwens Bibliothek danach zu suchen; auch »Loebnitz« mußte ein Buch sein.

Schon übermorgen wollte Lottis Gatte zurückkehren, da galt es, die Zeit zu nützen.

Die frühe Dämmerung brach schon herein, als ich, mein kleines Wäschepaket in der Hand, mich dem Rottmerhof am nächsten Tage wieder näherte. Zu meinem Erstaunen fand ich die Haustür offen, und während ich sie sorgsam wieder schloß, drang ein wimmernder Ton zu mir, der mich erschreckte. Gleichzeitig drang wütendes Gebell aus dem Hause. Ich eilte vorwärts; was mochte geschehen sein, während ich fort war? Rasch wollte ich die Treppe hinaufeilen, da öffnete sich Petruschkas Tür, und der Alte winkte mir ärgerlich zu: »Seien Sie nur ruhig, Fräulein, die gnädige Frau braucht's nicht zu wissen, der Junge ist gefallen. Ich hab ihn hier, es ist nicht schlimm.« Er wandte sich kurz um und ich folgte ihm in sein Zimmer.

Nicolai lag auf Petruschkas Bett, auf der Stirn eine Kompresse, unter der Blut hervorsickerte.

Er ist auf dem Geländer gerutscht; den Tod könnt er sich holen, der nichtsnutzige Junge! Petruschkas Stimme klang rauh, aber die Hand, die jetzt sorgsam den Umschlag erneuerte, verfuhr äußerst behutsam.

Marja ist in die Apotheke, es ist kein Karbol mehr im Hause.

Sollte nicht besser der Arzt kommen?

Wenn Sie meinen? Sonst, ich versteh' mich etwas aufs Verbinden; nötig ist es nicht.

Ich nickte zustimmend.

Aber wenn das Fräulein eine Minute auf den Jungen passen wollten, ich will nur den Hund aus dem Souterrain lassen; er muß was gehört haben und tobt wie toll.

Ich nahm Koljas Hand in die meine und beruhigte den Jungen. Dabei schweiften meine Augen unwillkürlich durch das einfache Zimmer. Es war ziemlich kahl; offenbar gab der Alte wenig auf Behaglichkeit. Aber die tadellose Sauberkeit fiel angenehm auf. Auf der Kommode zwischen den Fenstern war ein Bild aufgebaut. Man sah, der Alte trieb seinen Kultus damit. Rechts und links von dem einfachen Stehrahmen standen blühende Topfblumen auf der sauberen weißen Decke, und das Bild selbst umgab ein Kranz künstlicher Rosen. Das alles hatte etwas Rührendes, ich stand auf, um es mir näher anzusehen.

Das Bild stellte einen noch ganz jungen Mann dar, in der Uniform der Marinekadetten.

Das ist Papa! rief Kolja, Papa, wie er noch ganz jung war.

Und in der Tat, die Photographie hatte unverkennbare Aehnlichkeit mit Herrn von Löwens Bild, das Lotti mir gezeigt hatte, soweit sich eben von Aehnlichkeit zwischen einem über dreißigjährigen Manne und einem Bilde aus seinen ersten Jünglingsjahren sprechen läßt. Wie mußte dieser rätselhafte Alte an seinem Herren hängen! Niemals würde ich ihm das zugetraut haben! Als ich mich umwandte, stieß ich einen Laut des Entzückens aus. Zwischen den Doppelfenstern hinter mir leuchtete es mir in allen Farbenabstufungen vom lichtesten Rosa bis zum glühendsten Purpur entgegen – alle Reihen eines treppenartigen schmalen Gestelles waren mit großen und kleinen Kakteen besetzt, die über und über in Blüte standen.

Der Alte trat eben eilig ins Zimmer, von Sultan gefolgt, der sich mit ungestümer Zärtlichkeit an das Lager seines kleinen Spielkameraden drängte.

Aber Petruschka – rief ich ganz begeistert, und vergaß im Augenblick alles über diesen feenhaften Anblick – Petruschka, das ist ja großartig! Das macht Ihnen ja kein Gärtner in der Stadt nach!

Er trat nahe heran und seine finsteren Züge erhellten sich zu einem fast schüchternen Lächeln, das sie wunderlich veränderte.

Fräulein müssen mal die Kleine da mitten beachten, die Blüte ist fast gelb, das ist die Seltenste von allen; hier in der Stadt hat sie noch keiner zur Blüte gebracht.

Die Türglocke ertönte, und während er ging, um zu öffnen, sah ich wie aus einem Traume erwachend, hinter ihm her. Wie zärtlich hatten seine Augen auf seinen Lieblingen geruht. War das derselbe Mann, den ich im Verdacht hatte, ein Verbrecher oder etwas Aehnliches zu sein?!

Marja brachte Verbandstoff, und während der Alte den Knaben mit kundiger Hand versorgte, ging ich zu Lotti, um sie auf den verbundenen Kopf ihres wilden Lieblings vorzubereiten. Aber den ganzen Abend mußte ich an den Alten denken, wie er vor seinen blühenden Kakteen gestanden.


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