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Neuntes Kapitel.

Mein nächster Gang galt dem Museum, dem ehemaligen Kloster Am Stein. Nachdem ich eine Weile in den Sälen umhergewandert, stieg ich in die unteren Räume hinab, um die wundervolle Sammlung der Halb- und Ganzedelsteine, die dort in einem feuersicheren Gewölbe aufgestellt waren, eingehend zu betrachten. Hier wandte ich mich an einen Museumsdiener.

Kann man nicht noch tiefer hinuntergehen?

Er lächelte erstaunt.

Nein. Dies ist ja schon das Souterrain.

Ich meine, in dem Keller, da ist wohl nichts aufgestellt?

Nein, ich glaube, da wird nur altes Gerümpel aufbewahrt.

Das Fräulein hat gewiß von den unterirdischen Gewölben gehört, mischte sich ein älterer Angestellter freundlich ein.

Ich nickte eifrig.

Gab es wirklich welche?

Das wohl; vor langen Jahren wurde mal viel darüber geredet; ich war damals noch ein kleiner Junge. Das war, als hier das Museum eingerichtet wurde; es ist nämlich früher ein altes Mönchskloster gewesen. Damals sollen sie auf große Gewölbe gestoßen sein, die wie ein Labyrinth sich unter der Erde erstreckten. Die Gelehrten sollen sich dazumal viel darüber gestritten haben, zu welchem Zweck die geistlichen Brüder wohl diese weitläufigen, unterirdischen Keller hergestellt haben möchten. – Ich weiß nun nicht, ob sie es herausbekommen haben, aber geredet wurde viel davon.

Sind sie noch zugänglich?

Nein. Ich habe wohl gehört, es soll da unten eine ganze Masse Ratten gegeben haben, und Mäuse! Na, das wär' nun so was gewesen für all die kostbaren Sachen hier. Nein, es ist alles fest zugemauert.

Ich dankte dem freundlichen Manne und schritt in Gedanken verloren wieder in die oberen Stockwerke hinauf. In einem der Säle war ein Fenster geöffnet, ich lehnte mich einen Augenblick auf die Brüstung und sog erfrischt die kühle Herbstluft ein. Das Fenster ging nach einem schmalen Hintergarten, der durch eine sehr hohe, feste Mauer begrenzt wurde, hinter der sich ein düsterer, festungsartiger Bau mit vergitterten Fenstern erhob. Ich erinnerte mich jetzt: es mußte das Zellengefängnis sein; es war mir schon heim Studium des Stadtplans aufgefallen. Ich fröstelte unwillkürlich, als mein Blick die eisernen Gitterstäbe streifte, hinter denen vielleicht in diesem Augenblicke einer dieser lebendig Toten stand und sehnsüchtig nach dem Stück gleißenden Lebens schaute, das aus diesem geöffneten Fenster des Kunsttempels in bunten Farben zu ihm hinübergrüßte. Ich trat unwillkürlich zurück und verließ raschen Schrittes die prunkenden Säle.

Als ich bei meinem kurzen Heimweg aus den Anlagen in die Ulmenallee trat, kam Werner Bredow auf mich zu.

Sie waren lange fort, Fräulein Lassen, waren Sie in der Stadt?

Ich bejahte erstaunt. Etwas in seinem Wesen fiel mir auf. War es der Klang seiner Stimme, war es sein sonst so gleichmütiges Gesicht, das mir blaß und erregt schien? War etwas vorgefallen? Ach, wenn ich nur gewußt hätte, wie dieser Mann zu dem allem stand, wenn ich mir darüber Gewißheit verschaffen könnte! Rasch entschlossen sagte ich, während ich ihn beobachtete und meine Worte deutlich betonte:

Ja, ich war zuerst in der Stadt, dann aber im Museum; ich komme eben da her.

Er hielt mir die Gartentür offen –

Wirklich?

Ich habe mir die berühmte Edelsteinsammlung zeigen lassen, die dort aufbewahrt wird!

Er beugte sich zu mir nieder und sah mich forschend an.

Hat das etwas Besonderes zu bedeuten? Ihre Augen sind Verräter, Fräulein Lassen.

Ich wandte heftig errötend den Kopf fort.

Weshalb betonen Sie Ihren harmlosen Besuch im Museum so tragisch?

Ich drehte mich rasch um und sah ihn fest an –

Können Sie sich das wirklich nicht selbst sagen?

Er schüttelte heftig den Kopf.

Wir standen jetzt vor der Haustür, und noch ehe er antworten konnte, wurde diese aufgerissen und Herr von Löwen trat auf uns zu.

Haben Sie meine Nachricht nicht erhalten, Fräulein Lassen?

Ich verneinte erschreckt. In seinem blassen Gesicht stand ein Ausdruck, daß ich ängstlich zurückwich.

Werner, sagte er zu seinem Freunde, geh' voran ins Haus; ich habe mit Fräulein Lassen zu reden!

Doktor Bredow hob ruhig die Hand und schob den Hausherrn sanft über die Schwelle zurück.

Nicht jetzt, Sascha! sagte er gelassen, bot mir den Arm und führte mich an dem unschlüssig Dastehenden vorüber bis an die Treppe; dann zog er Löwen, halblaut auf ihn einsprechend, mit sich fort.

Etwas aufgeregt kam ich oben an. Lotti flog mir entgegen, ich sah, sie befand sich in großer Erregung und hatte geweint.

Ach, Hannah, rief sie, was geht hier vor? Seit ein paar Stunden ist das Haus wie auf den Kopf gestellt. – Sie laufen alle durcheinander, sehen verstört aus, und keiner steht mir Rede. Stundenlang waren die Mädchen fort, morgens aus der eiligsten Arbeit, und Marja bebt und zittert am ganzen Leibe! Was ist das alles? Ach, Hannah, ich fürchte mich! Und Sascha ... als ich ihn bat, mir zu sagen, was denn passiert sei, fuhr er mich heftig an!

Fassungslos schluchzte sie auf, dann trocknete sie plötzlich ihre Tränen und fiel mir um den Hals.

Ach, aber daß du nun doch hier bist! Ist dein Vater nicht gekommen?

Mein Vater ...?

Ich sah sie verständnislos an. Sie nickte betroffen.

Du hast doch geschickt vorhin, du könntest nicht kommen, dein Vater sei hier. Sascha sagte doch ...

Ihre Augen erweiterten sich schreckhaft –

Hannah, antworte, hast du hergeschickt? Die Wahrheit, Hannah, ich will die Wahrheit!

Geschickt? stotterte ich. Nein, ich habe nicht geschickt.

Sie ließ plötzlich von mir ab und stürzte zur Tür.

Sascha, Sascha! hallte ihre aufgeregte Stimme durch das Haus. Gleich darauf traten die beiden Herren in den Vorsaal. Alexander von Löwen sehr blaß und erregt, Doktor Bredow äußerlich vollständig ruhig. Noch ehe Lotti fragen konnte, entfuhr ihrem Gatten, mit einem Blick auf mich, ein halbverzweifeltes: Das sah – ich kommen! Doktor Bredow trat neben mich und hob warnend die Hand, aber er sagte nichts.

Sascha, begann Lotti, zitternd vor Aufregung, warum sagtest du, Hannah könne nicht wiederkommen? Sie hat nicht hergeschickt – – sie weiß von nichts ... Was bedeutet das? Ich will endlich wissen, was hier vorgeht! Hörst du! Ich merke, ich fühle, daß hier etwas nicht in Ordnung ist; ich will nicht länger im Ungewissen bleiben, ich ...

Sie brach atemlos ab, ihre Stimme war immer schriller geworden, man sah, sie wußte kaum mehr, was sie sprach, sie bebte am ganzen Körper. Unfähig sich aufrecht zu erhalten, wäre die nervös Ueberreizte zu Boden gefallen, hätte ihr Gatte sie nicht aufgefangen. Dann löste sich die furchtbare Spannung, in der sie sich befand, in einem heftigen Weinkrampf.

Nachdem ich die Aermste mit Hilfe Marjas zu Bett gebracht hatte, beruhigte sie sich langsam, aber es dauerte noch Stunden, bis sie sich soweit erholt hatte, daß sie still wurde und endlich in den bleiernen Schlaf äußerster Ermattung fiel.

Herr von Löwen und Doktor Bredow hatten uns verlassen, es war ganz still in den drei Zimmern. Mir fiel plötzlich der kleine Kolja ein; wo war der Junge? Ich hatte ihn noch nicht wieder gesehen, seit ich zurückgekommen war.

Sein Zimmer war leer. Ich ging ins Wohnzimmer und klingelte; wartete und klingelte wieder. – Niemand kam. Marja war doch vorhin noch dagewesen; war sie fortgegangen? Mir war, als hätte ich vor kurzem die Haustür gehen hören. Wenn Lotti erwachte, würde sie nach dem Jungen verlangen; wo mochte er sein?

Während ich durch den Vorsaal ging, rief ich laut seinen Namen, aber es blieb alles still. Die Tür zum Studierzimmer stand halb offen, im Vorüberschreiten blieb mein Blick an einem Koffer hängen, der geöffnet, und zum Teil gefüllt, mitten in der Stube stand. Ein wirkliches Entsetzen ergriff mich! Wollte Herr von Löwen verreisen? Deshalb die Verstörung im Haus? Bedeutete es, daß die Vorbereitungen beendet waren, daß nun der Anschlag ausgeführt werden sollte, vielleicht diese Nacht, und daß die Verbrecher an Flucht dachten? Jetzt konnte ich mir erklären, was für eine »Nachricht« Herr von Löwen mir hatte zukommen lassen wollen. Jedenfalls das Ersuchen, nicht wieder hierher zurückzukehren! Deshalb die Erfindung von der Ankunft meines Vaters.

Arme Lotti! Was würde sich ereignen in dieser Nacht, die vor uns lag? Wenn Lotti den Koffer sah, wenn sie alles begriff – sie konnte den Tod davon haben! Und sie ließen ihn hier so offen stehen; mit zitternder Hand zog ich die Tür zu.

Fräulein Lassen!

Ich wandte mich erschreckt um, in der Tür zur Halle stand Doktor Bredow und sah unruhig zu mir her. Ich wollte ohne ein Wort der Erklärung an ihm vorüber, aber er schloß die Tür und blieb davor stehen.

Ich suche Nicolai, sagte ich erklärend.

Er hörte mich augenscheinlich garnicht; es arbeitete in seinem Gesicht, mir schien, als kämpfe er mit einem Entschluß. Dann plötzlich schüttelte er den Kopf und seufzte.

Ich zitterte vor Aufregung; unvermittelt stieß ich hervor:

Wenn Lotti den Koffer sieht – mein Gott, sie ahnt doch nichts! Ach, sagen Sie, Herr Doktor, will Herr von Löwen denn wirklich fort?

Von welchem Koffer reden Sie denn?

Ich stieß ungeduldig die Tür zum Studierzimmer auf und deutete stumm hinein. Bredow stampfte ärgerlich mit dem Fuße auf und murmelte etwas Unverständliches.

Nun –?

Aber das ist ja doch garnicht Saschas Koffer!

Wem sonst sollte er denn gehören? Wollen Sie mir diese Frage beantworten?

Ich sah, wie eine dunkle Röte über sein offenes Gesicht lief und kam einer Antwort zuvor.

Sagen Sie nur nicht, daß es der Ihre wäre; diesen da haben Sie nicht mitgebracht! Ach bitte, – sagen Sie nicht auch die Unwahrheit. Ich könnte es nicht ertragen. Ich brach in Tränen aus, ohne mich beherrschen zu können.

Werner Bredow fuhr zornig auf, er tat einen raschen Schritt auf mich zu, blieb dann aber unschlüssig stehen.

Sie meinen, Sie glauben, – ja, da soll doch einer dreinschlagen! Ich und lügen, da hört doch alles auf.

Der Koffer? schob ich zaghaft ein.

Aber wenn ich Ihnen versichere, Fräulein Lassen – er gehört nicht Herrn von Löwen!

Ich atmete auf. Mochte er gehören, wem er wollte; ich glaubte Bredows Worten. Welch ein Glück mich darüber erfüllte! Er hatte heftig gesprochen, und ich sah zaghaft zu ihm auf. Ich dachte – ich fürchtete – stammelte ich. Gottlob, also Herr von Löwen bleibt hier?

Soll ich's beschwören? Er sah mich vorwurfsvoll an. Ich denke, Sie glauben mir auch so.

Ich nickte; die Angst, daß die schreckliche Entscheidung so bald kommen könnte, war von mir genommen. Ich wußte selbst nicht, was ich erhoffte und ersehnte!

Fräulein Hannah, sagte Bredow leise und ergriff meine Hand. Sie konnten wirklich glauben, ich wollte Sie belügen? Wofür müssen Sie mich halten, wenn Sie das annehmen konnten?

Für Herrn von Löwens Freund. Wofür soll ich Sie halten?

Ich erschrak, als es heraus war, denn im Grunde meines Herzens stand es für mich fest: dieser blonde Mann, der da vor mir stand und sich bemühte, in meiner Seele zu lesen, er konnte nicht in das schmähliche Geheimnis eingeweiht sein, das sich mir enthüllt hatte. Nein, ich konnte es nicht glauben! Ich wandte ihm mein Gesicht zu; heiß stieg der Wunsch in mir auf, ihm alles zu sagen, ihm all meine Angst anzuvertrauen ... Aber ich habe nie sprechen können, wenn es sich um das Wichtigste handelte, und die Aufregung schnürte mir die Kehle zusammen.

Er seufzte und ließ meine Hand fallen. Dann trat er zurück, öffnete die Tür zur Halle, und ich schritt stumm an ihm vorüber.

 

Auch in der Halle war der Knabe nicht. Da ich in Petruschkas Zimmer Geräusch hörte, klopfte ich an.

Ist Kolja hier?

Der Alte streckte seinen finsteren Kopf heraus; er verneinte kurz, und es schien mir, als wolle er seine Tür ohne weiteres wieder schließen. Dann öffnete er sie plötzlich weit, und bat mich, einzutreten.

Bitte, kommen Fräulein nur einen Augenblick herein, bat er. Es ist nur, ich hätte dem Fräulein gern etwas gegeben.

Ich trat über seine Schwelle.

Sie packen ja, Petruschka! wollen Sie denn verreisen?

Er sah sich erschreckt um, als fiele ihm jetzt erst ein, daß diese Tatsache mir angesichts der wüsten Unordnung in seinem sonst so sauberen Stübchen nicht wohl entgehen konnte. Ich deutete auf einen großen Koffer und eine geschlossene Kiste.

Das sieht ja aus, als wollten Sie weit fort?

Der Alte zuckte die Achseln.

Das ist auch so, Fräulein.

Konnte der neue Koffer in Herrn von Löwens Arbeitszimmer Petruschka gehören? Der Alte jedenfalls wollte fort, und Löwen nicht? Weshalb nur der eine, wenn es eine Flucht war?

Wohin geht denn die Reise, Petruschka?

Nach Brasilien, weit fort übers Weltmeer!

Und plötzlich hellte sich sein Gesicht auf, und eine fast wilde Freude strahlte aus den tiefliegenden Augen. Er schlug die Hände zusammen und reckte die gekrümmte Gestalt mühsam in die Höhe.

Gott der Herr sei gelobt, wenn dies verfluchte Land hinter mir liegt!

Es lief mir kalt den Rücken herab bei seinen Worten. – Ich sprang auf ihn zu.

Petruschka! Sie fliehen!

Der Alte fuhr zusammen, er begriff plötzlich, daß er sich verraten hatte. Schweigend sah er mich an, dann glomm es in seinen kleinen Augen auf, daß ich unwillkürlich zurückwich. Ich nahm mich zusammen.

Sehen Sie mich nicht so erstaunt an, warf ich ruhig hin, ich weiß vollkommen Bescheid. Aber es geht mich ja nichts an, garnichts!

Der alte Mann betrachtete mich einen Augenblick mißtrauisch, dann beruhigte er sich.

Nur eins, begann ich von neuem. Doktor Bredow, muß er auch ... ich meine, ist er auch gefährdet?

Petruschka zögerte, er streifte mich mit unsicheren Blicken.

Nein, sagte er endlich, er nicht.

Ich atmete auf.

Er hilft Ihnen nur fort! sagte ich plötzlich begreifend. Und Ihren Herren, Petruschka, Ihren Herren lassen Sie hier im Stich?

Er sah mich an, als spräche ich in fremden Zungen; dann lachte er rauh auf, sein ganzes Gesicht verklärte sich.

Im Stich lassen, meinen Herren? Ich würde mein Blut für ihn vergießen, und ich sollte ihn im Stich lassen?

So geht er also doch mit nach Brasilien?

Der Alte schüttelte den grauen Kopf.

Würde ich sonst gehen? sagte er einfach.

Mein Blick streifte die Kommode, auf der seines Herren Bild gestanden – es war fort, vermutlich mit eingepackt. Mir schwindelte. Diese leere Stelle schien mir eine Bestätigung, eine Verwirklichung all meiner Befürchtungen.

Aber die Polizei, stammelte ich völlig verwirrt.

Er stieß ein verächtliches Lachen aus, ohne zu antworten. Dann trat er zur Tür.

Was ich bitten wollte, Fräulein – er ging zu seinen Blumen – Sie haben ja auch die Kakteen gern. Marja will für sie sorgen, wenn ich fort bin, aber sie wird sie vergessen. Diese Kleine hier, mit der seltsamen Blüte, wenn Fräulein die wenigstens nehmen möchten.

Er drückte mir einen kleinen Blumentopf in die Hand. Ich sah ihn groß an; wie konnte ich etwas annehmen von einem Manne, den ich für einen Verbrecher hielt? Da stand er vor mir, der alte Mann, der nachts durch unterirdische Gänge schlich, der Einbrecher, dessen Hände nach fremdem Gute griffen und auf dessen Spur, vielleicht morgen schon, die Polizei war! Morgen, wenn morgen ein Schrei der Entrüstung durch die Stadt scholl, wenn sie entdeckten, daß das Museum seines kostbarsten Schatzes beraubt war. – Morgen, was wurde morgen aus Lotti und ihrem Knaben?


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