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Die gebannte Glocke

Es war eine einsame, schwermütig graue Stadt am Rand des großen Waldes, die wurde von einem Heer, das nach verlorener Schlacht feig zurückflutete, aufgesprengt und fast bis auf den letzten Taler und das letzte glitzernde Fingerringlein ausgeplündert. Die Räuber rissen sogar die geweihten Glocken aus den Kirchen, warfen sie auf ihre Wagen und führten sie fort.

Der beraubte Ort war jetzt so bitter arm geworden, dass er sich kein neues Geläute konnte gießen lassen, und seine Türme standen hohl und stumm, die Lüfte über den braunen Dächern trugen nichts als den höhnischen Schrei der Dohle, und die glockenlose Stadt wurde zum Gespött der Bauerndörfer rings.

Nun lebte in einem der dumpfen, weitläufigen Häuser neben dem Münster ein Ratsherr, der einen ausgebreiteten Handel mit heilsamen und giftigen Kräutern trieb. Er war ein hagerer, wortkarger Mensch, verrufen bei seinen Mitbürgern, die ihm unheimliche nächtliche Kunst zumuteten. Er wohnte ganz allein in seinem winkeligen Gebäude, und oft begab er sich auf wochenlange Wildnisstreife, ohne es zu versschließen, und warnten ihn dann die Leute, so glitzerten seine gelben Augen, und er sagte rätselhaft: »Es kann keiner in mein Haus hinein!«

Einmal in einer föhnigen, schlaflosen Aprilnacht ging der Ratsherr Basiliskus aus, zu erfahren, ob in den triefenden Moosschluchten und im wilden, vollen Mondschein schon die Zauberkräuter sprossten, und zu erlauschen, was die Elstern im Traum schwätzten, und daraus die künftige Zeit zu deuten.

Als er tief genug in den schweigsam öden Wald eingedrungen war, hörte er auf einmal in der Ferne wunderbarlich summen und dazwischen oft einen klaren, metallischen Schlag erschallen, und die Luft zitterte wonnesam in diesen Klängen. Neugierig schlich sich Basiliskus näher, und er geriet in eine Kluft voll urweltalter Eichen, und darin leuchtete es sagenhaft auf von hundert und hundert Glocken, die an den starken Ästen baumelten oder wie schlafend hingen. Und staunend besann sich Basiliskus, es sei ja heute der Stille Kartag, wo die Glocken aus ihren Stuben nach Rom flogen; und hier in dem abseitigen Tal mochten sie sich wohl wie die Schwalben im Herbst sammeln oder, müde von anstrengendem Flug, die Nacht rastend verbringen, um des Morgens mit verjüngtem Schwung die fromme Fahrt fortzusetzen. Und immer noch kamen neue Glocken klingend aus den Höhen und ließen sich in dem krachenden Geäst nieder.

Der Ratsherr Basiliskus betrachtete gierig, was da in dem Zwielicht des Mondes und seiner Laterne erzen glomm und träumerisch anschlug, wenn der Wind die Eichen schüttelte. Die Glocken des Landes waren da versammelt, ihrem dämmerigen Hochgestühl entronnen: donnernde Domglocken, aufrührerische, stürmende Feuerglocken, wehrhafte, bannende Wetterglocken, Säumerglocken, die den verirrten Wanderer aus der Wildnis zur sicheren Herberge leiteten, polternde, scheltende Glocken, jammernde Armesünderglöcklein, demütige Sanktusglöcklein, Glockenspiele, die aus gotisch zerklüfteten Gotteshäusern gekommen waren, Glöcklein, die aus den Dachreitern rußiger Dorfschmieden stammten, vertrauliche, schläfrige Abendglocken, frische, wachsame Morgenglocken, zaghafte Mettenglöcklein und daneben Riesinnen, wo erst die Kraft von zwölf Männern hinreichte, sie zu schwingen. Manche waren bereift oder trugen Schnee oder gar zu lange Eiszapfen und mochten wohl im höchsten Norden daheim sein.

Und wie der Ratsherr Basiliskus die seltsamen Namen und Inschriften und die ehrwürdigen Jahrzahlen der erzenen Pilgerschar las, fand er darunter auch alle die geraubten Glocken seiner Vaterstadt wieder: die hochfährtige, brausende Excelsa, die köstliche Speciosa, die mit Bildern bunt bemalt war und mit goldener Inschrift, die erhabene Preciosa, die milde Petronilla, die wie mit Engelszünglein plaudernde, liebliche, Quinta, die kichernde Tintinna, die heisere Klingerin Clinsa, die wie ein Bienenkorb gebaute, raue Wolfsglocke, deren Geheul die reißenden Tiere weit zurück in die eisigen Wälder getrieben hatte, und selbst das schrille, ungeweihte Hexenglöckel fehlte nicht. Und Basiliskus sah die Clinsa an: sie war vor Alter schon ganz dünn geschlagen, und ihr Klöppel war platt; sie war nicht rund gegossen, sondern aus vier eisernen Platten plump und eckig geschmiedet und mit Nägeln zusammengenietet. Er pochte mit dem Siegelring daran, und sie klang wie ein rostiger Braukessel. Sie hatte mit übelm Klingklang ihren Pfarrer lange genug geärgert.

Unter all den tausend Glocken die würdigste aber deuchte den Ratsherrn eine, die wie eine mächtige Silberblüte an einem schiefen Eichbaum hing. Ihr Leib war in edelster Schweifung gegossen. Sie trug den Ruf: »Mein Gott, zeige dich!« und das Bildnis einer gekrönten Frau und darunter den Namen CORONA. Befangen von ihrer fremden Schönheit, vergaß der Ratsherr der heimischen Glockenschar und er redete die Glocke Corona an und bannte sie mit teuflischem Spruch, er krümmte sich und keuchte seinen lähmenden Zauber in ihren Schlund hinein. Und als im neuen Morgenrot sich die anderen Glocken zur Romfahrt aufschwangen und über die Alpen stürmten, blieb die silberne Corona ohnmächtig an dem tief herab gebogenen Ast zurück.

Schleunig nahm Basiliskus in den Dörfern einen Wagen und sechs kräftige Gäule auf und schaffte mit Hilfe der Bauern die Glocke von dannen.

Die Stadt war voll des freudigsten Aufruhrs, als die Gefangene durch das Tor eingefahren wurde, und jeder pries sich glücklich, der Hand anlegen durfte, die Glocke an den Seilen mit emporzuziehen. Und Basiliskus ritt auf Ihr und ließ sich von ihr auf den Turm hinauftragen, und droben sprang er von ihr zum Schallfenster hinein und befestigte mit den Zimmerleuten sie im Gestühl. Da hing sie nun in der Fremde.

Doch als sie zum ersten Mal geläutet wurde, da erschrak das Volk in den Gassen und Stuben, drunten: ihr Erz klang grässlich klagend und furchtbar wie eine drohende Weissagung, die Kinder verkrochen sich ängstlich vor dem gellen Misslaut, die Weiberweinten in die Schürzen, und fluchend verhielten die Männer sich die Ohren. »Sie ist gewiss zersprungen«, murmelte Basiliskus.

Und so holte man die besessene Schreierin wieder zur Erde nieder, und die Bürgerschaft raffte das Letzte zusammen, was ihr an Geld geblieben war, und berief den erfahrenen Meister Hans Rosenlecher, er möge die Corona einschmelzen und neu gießen, auf dass sie nimmer so entsetzlich dröhne. Und der Meister tat es mit all seiner vorsichtigen Kunst, und als er die glühende Speise rinnen ließ, schritten die Domherren mit dem heiligen Gut singend im Ring um die Gießhütte und beschworen den Satan, dass er nicht in den Glockenbrei speie und ihn versalze, und beteten, dass nicht die düstere Gewalt der Hexen dem Guss schade oder ihn verhindere und dass die Glocke die schallende Kraft empfange, Gewitter abzuwehren und zu versprengen, Sieche zu heilen, Besessene zu beschwichtigen den hämischen Teufel landaus zu scheuchen und die büßenden Seelen aus dem Geloder des Fegfeuers stracks zu erlösen.

Schöner noch und schimmernder als früher stieg die Glocke aus der Grube, die gekrönte Mutter mit dem kleinen Jesus war in erhabener Arbeit daran angebracht, und die von Sternen und Blumen köstlich eingefasste Umschrift lautete: »Fleuch, Hagel, Donner und Wind! Des helf uns die Frau und ihr seliges Kind!« Und man hängte die Corona wieder in den Turm und ließ die Fenster ihrer Kammer verengern und mit festen Eisengittern verschlagen, als fürchte man, die Glocke wolle ausbrechen und fliehen.

Ihre Stimme aber scholl noch gräulicher als früher, sie scholl jetzt grausig hohl, als riefe sie zum Jüngsten Gericht. Der Glockenschmied musste bei Nacht und Nebel davon, sonst hätten ihn die Leute erschlagen. Von der Glocke aber schnitt man die Stränge weg, dass niemand mehr sie läute, und sie hing fortan stumm, und die Spinnen verwoben sie mit ihren grauen Fäden.

Nun aber war im Norden an dem blanken Meer eine andere Stadt, froh und breit und voll ragender Kirchen, und über dieser Stadt hing das Geläute wonniger Glocken wie ein selig blühender Strauß, und es lag wie ein wogender, lieblicher Estrich unter den Füßen Gottes. Doch eines Tages war aus dieser tönenden Fülle der edelste Klang gefallen: in unerklärlicher Weise war die teure Glocke Corona aus dem Dom abhanden gekommen, die Krone aller Glocken der Meerstadt, die mit ihrem adeligen Schall all ihre Schwestern kraftvoll und mild übertönt hatte und deren himmlischer Gesang erst das Vollgeläute zu einer unerhört vollkommenen und selig verzückenden Musik erhoben hatte. Da wurde die frohe, nordische Stadt sehr traurig, dass diese überirdische Stimme aus ihrem Leben und aus ihrer Feier genommen war. Und der allgemeine Kummer wurde um so ärger, als Pest, Teuerung, Hunger und Zwist der Bürger in den Gassen erstanden, seit die silberne Corona hier nimmer den Preis Gottes sang.

Während die andern es sich an der Trauer genügen ließen, nahm der junge Glöckner seinen Stab und brach auf, die liebste seiner Glocken in der weiten Welt zu suchen. Wie der gute Hirt zog er aus, den das verlorene Lamm erbarmt. Er wanderte den heiligen Weg nach Rom und lauschte unterwegs zu den Türmen auf, ob nicht darin die milde, mächtige Freundin anhebe, und er kletterte steile Treppen und schwanke Leitern hinauf, stieß Falltüren auf, kroch auf morschen, gefährlichen Bretterläden zu den Glocken und forschte in dem Licht, das durch die Schalllöcher in die Kammer dämmerte. Und er beugte sich über tiefe, kühle Abgründe, ob die Glocke nicht drunten liege, ein zerschmetterter Klumpen, und er neigte sich über die treibenden Ströme, ob sie nicht versunken und umschilft vom Gras der feuchten Tiefe drunten blinke.

Jahr um Jahr suchte er vergebens, und seine Schläfe ergraute, und vor lauter Wanderschaft wurde sein Herz müde. Doch als er einmal in einer schwermütig grauen Stadt mit erstorbenen, tonlosen Türmen an der Marktsäule lehnte und die Hoffnung in seiner Seele zu versagen drohte, da schlug es plötzlich in den Höhen über ihm mild und mächtig in süßem Heimweh an. Es hatte Laut gegeben wie ein treuer Hund, der seinen alten Herrn wiederum wittert.

Da war der Sucher der Freuden übervoll; und er begab sich vor den Rat der Stadt. »Ihr verberget die Glocke Corona. Sie gehört der Stadt, am Meer: Gebt sie uns zurück! Der hagere Bürgermeister Basiliskus nagte an den schmalen Lippen. »Nimmer!«

Stehenden Fußes eilte der Glöckner heim in die nordische Stadt und verkündete dort, was mit der Glocke geschehen war.

Alsbald versammelten sich der stolze Bischof und die vornehme Geistlichkeit in ihren prunkenden Mänteln im Dom und sandten blauen Weihrauch und brausende Orgelklänge zu Gott empor und schwenkten die edelsteinernen Monstranzen und psalmierten und beteten, die Glocke Corona möge sich aus der Verzauberung lösen und heimkehren. Sie kam aber nicht.

Darauf scharte sich das Volk auf den Plätzen, stürzte in die Knie und flehte mit gerungenen Händen zum Himmel um seine Glocke.

Sie kam aber nicht.

Da trippelte ein Kind aus der Menge; es war noch winzig und dumm und wusste nicht, was es tat: es lächelte und faltete die machtlosen Hände.

In nämlicher Weile hub fern in der Waldstadt die Glocke von sich selber zu schwingen an und schüttete einen beseligenden Wohlklang, wie ihn noch kein Ohr gehört hatte, über die Dächer in den Wald hinaus. Und sie zerrte an ihrem Joch, das schwere, eichene Gestühl zerbarst, die steinerne Mauer des Turmes zerriss unter dem Prall des herrlichen Ungetümes, und strahlend und tönend schwebte die Glocke Corona in den Lüften nordwärts.


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