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Die Miniaturen

. In wachsender Sorge um das Schicksal Virginias wußte sich Ulrich Zimmermann keinen andern Rat, als den Grafen Palester aufzusuchen. Noch vor acht Uhr war er in Hietzing und läutete an der steinernen Ummauerung des morschen Tores, das zur Wohnung Palesters führte. Eine hinkende Pförtnerin führte ihn über regennasse Wege zu einem uralten und keineswegs freundlich aussehenden Haus, das von einer Laterne beleuchtet wurde, welche über der gegenüberliegenden Gärtnerwohnung aufgehängt war. Der Garten gehörte zu einem ausgedehnten Besitz, und diese Gebäude hatten ehemals Jägern und Heiducken zum Aufenthalt gedient.

Die vergitterten Fenster des Hauses waren alle dunkel. Die Pförtnerin war gegangen. Ulrich fand keine Glocke und pochte daher ans Tor. Es blieb alles still, und er pochte mit dem Knauf seines Schirmes, daß es drinnen laut hallte wie in einem Kellergewölbe.

Endlich kreischte oben ein Laden, und der Kopf einer Frau beugte sich über das Sims. Eine ruhige, helle Stimme fragte mit fremdländischer Betonung nach dem Begehr. Ulrich nannte seinen Namen und fügte hinzu, er müsse in einer wichtigen Angelegenheit mit dem Grafen sprechen. Nach einer Weile rasselte unten das Schloß, und Graf Palester erschien mit einer Kerze. Er geleitete den abendlichen Gast über eine Steintreppe hinauf in ein großes Zimmer, das die Trostlosigkeit einer Wachtstube hatte. Den Boden bedeckte kein Teppich; als einziger Schmuck der Wände prangte die Photographie eines Schiffes; ein Tisch, drei Holzstühle, ein Messingbett und eine grüne alte Truhe waren das ganze Mobiliar. Niemand hätte in dieser eleganten Villenvorstadt, umfriedet durch die Mauern einer weiland hochadeligen Domäne, eine solche Wohnstätte der Armut gesucht. Es hatte dem Grafen Mühe gekostet, mitten unter den Unanfechtbaren des Lebens Zuflucht zu finden und hinter ihrem Glanz seine Not zu verstecken.

Ulrich Zimmermann berichtete, daß er heute Virginia Geßner aufgesucht und daß er den Eindruck empfangen habe, als ob sich dort verhängnisvolle Dinge abspielten. Er schilderte, wie er Virginia gesehen, wie unwillkommen Erwin seine Dazwischenkunft gewesen sei und daß er den Gedanken nicht abweisen könne, als müsse man helfend eingreifen.

Palester hörte aufmerksam zu. Er stützte das schmale, blasse Gesicht in die Hand. »Es ist gut, daß Sie mir das alles sagen«, erwiderte er. »Ich werde heute abend noch zu Erwin Reiner gehen. Nicht leicht wird mir der Schritt, denn wie soll man über derartiges sprechen, aber es muß sein. Übrigens muß Manfred Dalcroze jeden Tag zurückkommen. Ich erwarte ihn.«

»Wirklich? Ist denn die Expedition schon zu Ende?« fragte Ulrich, nicht fähig, Freude darüber zu bezeigen.

»Nein, aber ich habe ihm geschrieben.«

»Sie haben ihm geschrieben? Wann denn?«

»Vor neun oder zehn Wochen.«

»Sie hatten also schon damals den Eindruck –?«

Palester nickte. »Wenn ihn mein Brief ordnungsgemäß erreicht hat und er die raschesten Verbindungen hat benutzen können, muß er noch in dieser Woche kommen.«

»Aber wie konnten Sie denn mit solcher Bestimmtheit –?«

»Das ist eine Sache für sich«, antwortete Palester. Er zog den Mantel an, nahm Hut und Schirm und sagte: »also gehen wir, wenn ich bitten darf.«

Nicht so hatte Palester an Manfred geschrieben, wie er einst gewollt, als er den reinen Strom der Sympathie verspürt, der von dem Jüngling ausging, nicht mitteilend, breit und frei, sondern kurz und gebietend, so geschrieben, daß es für Manfred keinen andern Gedanken mehr geben durfte, als mit dem nächsten Schiff nach Europa zu fahren. Eine Nachricht von militärischer Knappheit, unbeirrt von konventionellen Rücksichten, und derart beschaffen, daß sie in dem Fernweilenden, um dessen sichere Adresse er den Professor Dalcroze in Berlin gebeten hatte, den erwünschten Aufruhr der Tatkraft entzünden mußte.

Graf Palester hätte sich wohl gehütet, einen Mann wie Erwin bei einem Spiel zu stören, das am Ende nur diesen allein anging; er dachte nicht an den Verlust jenes Kunstschatzes, der ihm ungeachtet seiner mißlichen Umstände etwas wie idealgefühlten Reichtum verlieh, und dessen er sich nicht entäußern wollte, weil er der Welt und dem Geschick zu trotzen entschlossen war, ekstatisch wie ein Mönch und in Sehnsucht nach Selbstvernichtung wie ein Fakir. Nicht darum hatte er Manfred gerufen, sondern aus einer großen, seltsamen, fast übersinnlichen Verehrung für Virginia. Und eines Tages, von der Versunkenheit der suchenden Träume in die Wirklichkeit zurückkehrend, war es ihm für gewiß erschienen, daß Virginia nicht mehr standhalten konnte.

Sie zeigte sich ihm wie ein astraler Leib, und aus ihren Augen war das entwichen, was er als die reine Musik des Herzens empfand. Die Seele war gleichsam aufgebrochen und war emporgestiegen in das Antlitz, wo sie klagte ähnlich der Nymphe, der man ihr Geisterkleid entwendet hat. Und Graf Palester hatte ein grenzenloses Vertrauen in Virginia gesetzt. Er war einer jener Menschen, die sich in der Verborgenheit ein Pantheon errichten, worin, gefeit gegen den Haß und Pesthauch der Millionen, einige vergötterte Gestalten weilen. An diesen hing er mit der Liebe, die die Einsamkeit in ihm erzeugte. Mit ihnen wandelte er ungesehen durch ihr Dasein, und sie hielten ihn aufrecht in der tragischen Verwüstung, die sein Stolz, seine Ehrenhaftigkeit, seine Schweigsamkeit und die Lust an der Philosophie in seinem Leben hervorgebracht hatten. Er mied die persönliche Berührung mit ihnen, er zog sich von ihnen zurück, sobald sie von seinem Herzen Besitz ergriffen, aber er verkehrte mit ihnen, wie man mit höchst teuren Toten verkehrt oder doch mit solchen Menschen, die in einer unerreichbaren Ferne sind.

Graf Palester lebte nicht sein Leben, er träumte es, und keine äußere Hervorbringung erzog ihn zur Gegenständlichkeit. Ihm mangelte die Gegenwartskraft so, daß er sich oft wie der Schatten seines Schattens vorkam. Es war ihm wunderbar bewußt, was sich bis ins sechste Glied zurück mit seinen Ahnen begeben hatte, das ganze Geschlecht, weit in die Höhle der Jahrhunderte hinein, war ihm wie eigendurchlebtes Kindheits- und Mannesalter, jedoch seiner selbst wurde er kaum gewahr, und hätte er religiöse Neigungen besessen, so wäre er vielleicht ein Heiliger geworden wie Franz von Assisi. Der Sturm moderner Existenz, der alles zerschmettert, was nicht mittreibt, verurteilte ihn zu anonymem Elend.

Vor zwei Jahren hatte er, noch als Offizier der Marine, in einer Kunstausstellung in Venedig das Porträt einer Frau gesehen, das ihn fesselte wie nie ein Frauengesicht zuvor, nicht sowohl durch Schönheit, sondern durch innerlichen Ausdruck. Er stand täglich vor dem Bild und wurde nicht müde, es zu betrachten Ohne daß es ihm jemals einfiel, sich zu erkundigen, wer das Modell sei, nahm er das Bildnis immer tiefer in das Leben seiner Seele auf und geriet in einen sonderbar stummen Verkehr mit einem Wesen, das, körperlicher als ein Traum, dennoch vollkommen unwirklich für ihn war. Drei Monate später wandelte er eines Abends durch eine Straße in Livorno, als durch das geöffnete Fenster eines Hauses Gesang an seine Ohren schallte. Erbebend blieb er stehen und lauschte. Es war eine weibliche Stimme, für deren Wohlklang und schmelzende Trauer er kein anderes Gleichnis fand als den Ausdruck auf jenem Gemälde. Es geschah nun etwas durchaus Ungewöhnliches. Er schritt in das Haus. Er stieg die Treppe hinan, ging durch einen Flur, öffnete eine Türe und, Krönung all des Seltsamen! stand vor dem lebendig gewordenen Bild, allein mit der Sängerin in einem hohen, von Kerzen beleuchteten Zimmer. Der Hinweis auf das Gemälde rechtfertigte sein Tun bei ihr und ließ seine Person um desto wunderlicher erscheinen. Ihr Vertrauen zu ihm wurzelte im ersten Blick, ihr erstes Gefühl war Liebe. Sie war eine unglückliche Frau; aus armer Familie stammend, hatte sie die Ihren vor dem Schrecklichsten gerettet, indem sie einem der verrufensten Wucherer des Landes, der um sie warb, die Hand reichte. Sie lebte mit ihrem Gatten in einer Ehe, die keine Ehe war. Es begann nun für Palester und Lenore eine Zeit der Leidenschaft und der Kämpfe. Sie flohen zusammen, mehr um den Gemeinheiten und bösen Anstiftungen des Gatten zu entgehen als um ihrer Liebe willen, die auf Welt- und Menschenflucht ohnehin gestellt war. Sie wurden verfolgt, sie waren gefährdet, die Gewalt verband sich gegen sie mit Richter und Gesetz, verhaßter Lärm von Stimmen für und wider umdrängte sie, da starb plötzlich Lenorens Mann, und sie war frei; und reich. Aber sie hätte den Geliebten verloren, wenn sie nicht völlig auf ein Vermögen verzichtet hätte, das von der verächtlichsten Herkunft war. Palester nahm den Abschied, und als er mit Lenore das verkommene Haus in Hietzing mietete, in welchem nach Ansicht vieler Nachbarn Gespenster umgingen, verblieben ihm nur etliche Tausend Kronen und seine Pension als Offizier. Die beiden Menschen waren so unfähig wie ungewillt zu bürgerlichem Erwerb, und ihr Leben in der bürgerlichen Gesellschaft hatte etwas Elfenhaftes; es trug den Stempel der Tugend und des verschuldeten Untergangs.

Ulrich Zimmermann begleitete den Grafen bis zur Stadtbahnstation. Eine Stunde später befand sich Palester am Tor der Villa Sansara. Wichtel sagte, sein Herr sei nicht zu Hause. Graf Palester erklärte, warten zu wollen. Der Herr komme überhaupt nicht nach Hause, versicherte Wichtel mit scheuem Blick nach der Treppe und den Türen. Plötzlich erschien Erwin, wollte sich gegen die Treppe wenden und stutzte, als er den Grafen sah. Erst zog ein Schatten des Ärgers über seine Stirn, dann lächelte er düster. »Wie geht es Ihnen, Graf?« fragte er. »Bitte, treten Sie nur ein. Sie dürfen nicht ungehalten sein,« fuhr er fort, als ihm Palester in die Bibliothek gefolgt war, »der Auftrag, den Wichtel hat, betrifft nicht die Person, sondern die Welt. Ich habe mich zurückgezogen von der Welt. Ich bin Einsiedler geworden.«

»Aber ein etwas rastloser Einsiedler, wie mir scheint«, bemerkte Graf Ottokar; »in Ihren Augen ist nichts von Sammlung und Andacht.«

Erwin setzte sich an den Schreibtisch und stützte den Kopf in die Hand. »Andacht und Sammlung!« wiederholte er höhnisch. »Für mich Andacht und Sammlung!« Seine Zähne klappten aufeinander, und in seinem Gesicht war, wie zur Bekräftigung des Hohns, ein verwilderter Zug. Graf Palester wurde von seltsamer Unruhe ergriffen; er kannte dieses Gefühl vom Meere her. Vor großen Stürmen und Gewittern hatte er stets eine ähnliche Unruhe verspürt. Es fiel ihm auf, daß Erwins Haare in Verwirrung über der umdüsterten Stirn lagen. Er hatte diese Haare nie anders gesehen als in sorgfältiger Scheitelung, glatt und geordnet. Dieser Umstand vermehrte seine Unruhe noch. Er fühlte sich bedrückt und war zunächst unfähig zu sprechen. Erwin kehrte sich ab, und seine Blicke irrten wie feindselig über die Zeilen einer Handschrift auf dem Tisch vor ihm.

»Haben Sie gearbeitet?« fragte Palester leise, nur um das peinigende Schweigen zu unterbrechen.

Erwin nickte. Er blätterte in der Handschrift und sagte: »Haben Sie je die Erfahrung gemacht, daß das eigene Werk einen anstiert wie eine Gorgo? Manchmal graut mir vor diesen Worten da, die ich selbst geschrieben habe.«

»Darf ich wissen, was es für ein Werk ist?«

»Es ist eine Abhandlung. Der Begriff der Konstante und die moralische Idee heißt der Titel.«

»Das klingt vielversprechend.«

»Es führt weit, Graf, es führt mich ins Bodenlose. Ich wollte eine einfache Feststellung von Kategorien geben und sehe mich im Bodenlosen und Grenzenlosen. Hier ist eine Art Essenz,« fuhr Erwin fort, indem er zu blättern aufhörte, »darf ich Ihnen vorlesen?«

»Ich bitte darum.«

»Als der menschliche Geist seine Beziehung zur Welt zum ersten Male in den Ausdruck faßte, daß alles in ewiger Bewegung sei, hatte er zugleich sich selbst als das einzig Konstante, das einzig Seiende, dieser Welt gegenübergestellt. Er hatte sich auf das Ufer des Weltflußbettes geschwungen, ja sogar den archimedischen Punkt gefunden, von dem aus er die Welt bewegen konnte, weil er selber stand. Um so stärker mußte seine Sehnsucht erwachsen, die Synthese, die im Geist gegeben ist, auch an der Welt zu vollziehen, das heißt, die Welt seinem Ebenbild gemäß nachzuschaffen. Darum ist er endlos bemüht, das Werdende durch das Gesetz in die Formel des Seins zu bannen: er treibt Mathematik, das heißt Wissenschaft. Darum verwandelt er die Dinge in Wesen, nimmt sie aus dem Raum, gibt ihnen den Körper, schafft die Gestalt: das heißt, er wird zum Künstler. Darum nimmt er sie aus der Zeit, verleiht ihnen Seele und schafft die Persönlichkeit: das heißt, er ist moralisch oder religiös. Können Sie folgen, Graf?«

»Vollkommen.«

»Gesetz, Gestalt und Persönlichkeit sind die Dreieinigkeit der Konstanz, in deren Zeichen der Geist die Welt formt. Die Welt hinwiederum ist der Stoff, in dem das Gesetz sich erkennt, die Gestalt sich verkörpert, die Persönlichkeit sich wiederfindet. Daher erscheint jedes System, jedes Kunstwerk und jede Persönlichkeit als eine Welt für sich; daher«, und Erwin las dies mit erhobener Stimme, »muß das Gesetzlose das schlechthin Unsinnige, das Gestaltlose das schlechthin Chaotische und das Unpersönliche das schlechthin Unmoralische sein. Denn alles dies ist nur der dreifach verschiedene Ausdruck derselben Verneinung: des Inkonstanten, des Undings an sich.«

Graf Palester schaute Erwin mit tiefen, fühlenden Blicken an. Wie furchtbar, dachte er schaudernd, wie furchtbar diese Selbstverdammung sich anhört! Wie kann er leben, nachdem er solches ergründet? »Sie geben damit eine unvergleichliche Charakteristik eines dreifachen Fluches, der auf uns lastet und auf der Zeit«, sagte Palester; »des Anarchisten im Geiste, des Proteus am Leibe und des Verantwortungslosen in der Seele. Dessen, der sich befreit und dem Freiheit zum Verbrechen dient, dessen, der sich verwandelt und durch Verwandlung Gott und Menschheit täuscht, dessen, der keine Schuld auf sich nimmt, weil er nie zu finden ist.«

»Ei!« rief Erwin betroffen, »das heißt man die königliche Idee in die Knechtschaft der Erfahrung pressen. Die Exempel vergiften mir den Text, die Nutzanwendung bricht mir die Flügel und ich stürze!« Er lachte kurz und schüttelte den Kopf.

Palester stand auf. »Erwin!« sagte er leise, »fliehen Sie nicht vor mir! Fliehen Sie nicht auf diesen Flügeln, die doch nicht weit tragen. Ich bin nicht gekommen, um mit Ihnen zu philosophieren. Ich bin nicht einmal gekommen, um Sie zu warnen oder zu beschwören. Ich fordere Sie auf, innezuhalten. Ich appelliere an Sie im Namen der Ehre, der Freundschaft, der Menschlichkeit.«

Erwin stand gleichfalls auf. Er verschränkte die Arme über der Brust. »Graf«, antwortete er eisig, »ich bitte Sie, mich mit Sonntagspredigten zu verschonen.«

»Denken Sie doch daran, daß es außer Ihren Lüsten noch Glück für andre Menschen gibt«, fuhr Palester ruhig fort. »Sie achten es nicht, ich weiß es, Sie achten nicht das Glück der andern, aber ebensowenig wie Sie einen wehrlosen Greis hinmorden oder einen Bettler um seine Ersparnisse bestehlen würden – –«

»Graf!« rief Erwin finster und ungeduldig, »ich habe nicht Zeit zu beichten, ich habe nicht Lust, den Glauben zu wechseln. Ich lehne es ab, mich zu rechtfertigen, ich erlaube niemandem, wer es auch sei, in meine Brust zu greifen und, was an Tat und Wunsch darinnen ist, mit Philisterweisheit zu besudeln.«

»Philister!« entgegnete Palester traurig; »was sagen Sie damit? Wie schlimm ist es um uns bestellt, wenn wir den Menschen, der sich höherem Gesetz beugt, mit einem Fußtritt beiseite stoßen, der nicht ihn, sondern uns selbst der Verachtung preisgibt.«

Erwin wandte sich ab. »Ich habe heute schon einen Freund begraben,« sagte er mit krampfhaft zusammengezogenen Brauen, »es kommt mir auf eine zweite Beerdigung nicht an.«

»Ich weiß es«, versetzte Graf Palester sanft. »Sie können alles wagen. Sie haben die Freiheit und die Möglichkeit der Verwandlung.«

»Doch vorher,« sagte Erwin, ohne Palester anzuschauen, »vorher haben wir noch eine kleine Wette auszugleichen, Graf.«

Graf Palester erbleichte. »Ah, eine Wette,« murmelte er. »Ich entsinne mich. Es war ein sonderbares Gespräch zwischen uns, ein Gespräch, das mir Übelkeit verursachte wie ein verfaulter Fisch.«

»Es war eine Laune, Graf. Eine Laune, die von Folgen begleitet war, als ob man im Rausch einen Diamanten gefunden hätte ... auf einem Wirtshaustisch.«

Immer qualvoller schien es dem Grafen, so zu stehen und in das Gesicht Erwins blicken zu müssen, und er hatte die Empfindung, als ob dieses Gesicht beständig wechselte, beständig seinen Ausdruck veränderte, bald nah, bald fern wäre, bald stolz, bald sklavisch, bald leidenschaftlich, bald wie gefroren, bald schön und edel, bald verzerrt und häßlich, bald verständig, ja erhaben durch Vernunft, bald tierhaft trüb und niedrig aussah. Ach, dachte er, erfüllt von einem Schmerz, der ihm selbst unbegreiflich dünkte, ihm ist die Liebe unbekannt, alle Genien sind an seiner Wiege gestanden und haben ihn mit allen Gaben der Erde gesegnet, doch ein dämonischer Dieb ist herangeschlichen und hat ihm die Liebe entwendet.

»Sie ahnen nicht, wie glücklich es mich macht, in den Besitz dieser göttlichen Kunstwerke zu gelangen«, fuhr Erwin, plötzlich liebenswürdig, fort. »Ich habe davon geträumt, sie waren mein Eigentum, bevor ich sie erworben hatte.«

»Und haben Sie sie denn erworben?« fragte Palester mit kaum vernehmbarer Stimme und fügte mit mühsamem Spott hinzu: »Nehmen Sie mir's nicht übel, wenn ich daran zweifle.«

»Dieser Zweifel kann durch den Augenschein behoben werden«, entgegnete Erwin lächelnd.

Palester trat einen Schritt zurück. Er starrte Erwin mit aufgerissenen Augen an und blinzelte dann mit den Lidern, die sich langsam röteten.

»Ich finde es selbstverständlich, daß ich Ihnen Beweise liefern muß«, sagte Erwin mit undurchdringlicher Freundlichkeit im Ton. »Haben Sie die Güte, mir zu folgen, Graf.«

Und Graf Palester folgte ihm wie behext. Er folgte ihm aus dem Zimmer und die flache Treppe des ungenügend beleuchteten Vorsaals hinan und durch einen langen Gang, an dessen Wänden alte, braune Ölgemälde in schwarzen Rahmen hingen.

Erwin blieb vor einer Tür stehen. Bevor er aber nach der Klinke gegriffen hatte, war Palester dicht an seine Seite getreten, legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte, indem er seinen Blick fest in den Erwins bohrte: »Lassen Sie das nur. Ich wünsche den Augenschein nicht; ich weiß nicht, ob ich ihn mit Ruhe ertragen könnte. Ich glaube Ihnen. Leben Sie wohl.« Er kehrte sich um, ging mit raschen Schritten über den Flur gegen die Treppe zurück und verließ im strömenden Regen das Haus.

Es war elf Uhr vorüber, als er wieder in seinem kahlen, kalten Zimmer angelangt war. Er zündete eine Kerze an, ging in das Zimmer seiner Gefährtin und vergewisserte sich, daß sie schlief. Sodann bereitete er auf einem Spirituskocher Tee, und nachdem er zwei Schalen getrunken und schwarzes Brot dazu verzehrt hatte, blieb er in regungslosem Nachdenken lange Zeit sitzen. Es hatte Mitternacht geschlagen, als er sich erhob, die grüne Truhe aufsperrte und die kostbar eingebundenen Miniaturen herausnahm. Er betrachtete einzelne Bilder, deren schöne und mineralische Farben nichts von Alter und Verstaubtheit hatten, lange, mit abschiednehmenden Blicken. Dann trug er den Folianten in die Küche hinaus, ergriff eine eiserne Pfanne, stellte sie auf den Herd, machte ein kleines Spanfeuer in dem Gefäß, und als die Flammen lichterloh emporschlugen, übergab er ihnen das Buch mit den Miniaturen. Ruhig schaute er zu, wie das herrliche Werk verbrannte. Ein Knacken der Dielen ließ ihn emporsehen. Lenore stand auf der Schwelle. Sie war im Nachtgewand und bloßfüßig, und ihr Gesicht, dem seinen sonderbar ähnlich, schimmerte bleich unter den roten Haaren. Sie fragte nicht, sie näherte sich ihm schweigend und, an seine Brust gelehnt, schaute auch sie der kleinen Feuersbrunst zu. Als die Flammen verloschen waren, lag das Miniaturenwerk noch da wie ein Schatten seiner selbst, grau und rauchend, der Deckel mit aufgerolltem Rand.

Am andern Morgen schickte der Graf Palester diesen Aschenüberrest, den er mit Sorgfalt in ein Holzkistchen gelegt hatte, durch einen Boten an Erwin Reiner. Als Erwin der jammervollen Zerstörung ansichtig wurde, den noch keineswegs zerbröckelten Band ungläubig betastete, war er gleichwohl nicht mehr in der Verfassung, diesen Verlust so zu empfinden, wie er noch zwölf Stunden vorher ihn empfunden hätte.


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