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Das Bindende

. Erwin arbeitete bis in den Nachmittag. Gegen zwei Uhr pochte es an seiner Tür. Es war Frau Geßner. Verlegen und zögernd trat sie ein. Erwin ging ihr höflich entgegen. Sie fragte, was zwischen ihm und Virginia vorgefallen sei. »Nichts von Wichtigkeit«, antwortete er kühl.

»Dann weiß ich nicht, was das Mädel hat. Durchnäßt ist sie gestern nach Haus gekommen und hat sich ins Bett gelegt. Ich glaube, sie hat gefiebert. Hat auch kein Wort mit mir gesprochen, kein einziges Wort, gestern nicht und heut nicht. Können Sie sich das erklären?«

»Ist sie heute aufgestanden?«

»Ja. Sie sitzt in ihrem Zimmer.

»Was tut sie?«

»Ich weiß es nicht.«

»Ich werde mit Ihnen gehen.«

»Tun Sie das lieber nicht. Sie wird Sie nicht empfangen.«

»Ach? Sie wird mich nicht empfangen? Wie wird sie das machen?«

Frau Geßner zuckte die Achseln. »Ich wollte Vormittag zu Ihnen, sie hat mir's streng verboten. Was ist los? sag ich. Sie schaut in die Luft. Jetzt hab ich mich weggestohlen.«

»Ich gehe mit Ihnen.«

»Sie wird eigensinnig, Erwin. Man macht sie krank, wenn man ihren Eigensinn brechen will.«

»Wir werden sehn.«

Das ungleiche Paar ging über die triefenden Wege unter einem trüben Himmel schweigend dem Landhaus zu. Das Häuschen hatte fünf bewohnbare Räume, von denen zwei kaum als Zimmer anzusprechen waren. Unten lag das Eßzimmer, daneben war die Küche und eine feuchte Holzkammer. Oben war ein ziemlich großes Gelaß, das auf den Balkon führte; auf der einen Seite dieses Raums war eine Türe zu Virginias Schlafzimmer, an die andere stieß das Zimmer der Frau Geßner. »Habt ihr denn nicht Geld genug, daß ihr euch in solche Käfige sperrt?« wandte sich Erwin auf der Treppe an Frau Geßner.

»Es war nichts Besseres zu haben«, stotterte diese schuldbewußt.

»Ich habe euch Paläste angeboten«, versetzte Erwin zornig. »Gott bewahre einen vor Krämer- und Spießervolk. Ich bitte um Verzeihung, aber meine Geduld ist zu Ende.« Maßlos eingeschüchtert, vermochte die Frau nichts zu antworten. Eine böse Ahnung überkam sie.

In dem großen Zimmer wartete Erwin, während Frau Geßner zu Virginia ging. Er betrachtete die einfachen Zirbelholzmöbel, das plumpe, rotüberzogene Sofa und die schmucklosen Wände. In der einen Ecke war ein getünchter Steinofen, der häßlich und etwas beschädigt aussah. Virginia hatte einen großen Schirm davor aufgestellt, den der Dorftischler nach ihrer Zeichnung gefertigt hatte und dessen vier aneinandergenietete Teile sie als Rahmen für einige ihrer Skizzen benutzt hatte. Man gewahrte da einen Pfau, der ein Rad schlug, zwei Äpfel auf einem blauen Teller, eine gebundene Garbe und einen Korb, in dem Forellen lagen.

Mit ratlosem Gesicht erschien Frau Geßner wieder. Hinter ihr wurde die Türe abgesperrt. »Was gibt's?« fragte Erwin tonlos. Die Frau blickte scheu zu Boden. Er trat an die Tür und packte mit krampfhaftem Griff die Klinke. »Virginia!« rief er heiser.

Keine Antwort. Er wartete; er atmete tief auf.

»Virginia! Sie erlauben mir also nicht, mit Ihnen zu sprechen?«

Keine Antwort.

»Virginia! Ein Mann von Ehre, nein, sagen wir: von anständigem Betragen darf nicht wie ein unverschämter Zudringling behandelt werden.« Er betonte sehr scharf. Eine mahlende Kaubewegung der Kinnladen schien seine Worte zu pulverisieren.

Keine Antwort.

»Um Gottes Himmelswillen, was war denn zwischen euch?« raunte Frau Geßner, dicht zu Erwin herantretend. Aus ihren Augen fielen eine Menge von perlenden, hellen Tränentropfen wie Wasser aus einem Sieb. Erwin befahl ihr durch eine barsche Gebärde, zu schweigen. Er war sehr bleich. Er zog die Uhr, behielt sie in der Hand und rief: »Hören Sie mich, Virginia! Es ist jetzt drei Uhr. Um sechs Uhr bin ich wieder da. Sie werden sich dann entschlossen haben, mich einzulassen. Ich werde diese Beleidigung zu vergessen suchen. Hören Sie! Um sechs Uhr. Das ist mein letztes Wort.«

Er ging, ohne sich um Frau Geßner zu kümmern. Zweieinhalb Stunden lang irrte er in beständigem Regengeriesel mit aufeinandergepreßten Zähnen durch die Wiesen und Felder. Er hatte beabsichtigt, vor der angekündigten Zeit an Ort und Stelle zu sein, um das Mädchen zu überraschen. Diesen Plan verwarf er. Es war halb sieben, als er mit festen Schritten die Treppe emporstieg. Er trat ein und verbeugte sich vor Frau Geßner, die, als sie ihn gewahrte, beide Hände an die Wangen preßte. Er blickte fragend nach der Tür. Frau Geßner schüttelte traurig den Kopf. Sie trat wieder dicht vor ihn hin, hob den Zeigefinger und flüsterte: »Etwas Übles haben Sie ihr angetan. Ich kenne mein Kind. So war sie noch nie.«

Erwin schaute sie verächtlich an. Er empfand Ekel wie zumeist, wenn er bejahrte Frauen reden sah, deren Mund des beherrschten Mienenspiels ermangelte. Er würdigte sie keines Worts und ging zu der verschlossenen Tür. Er klopfte mit dem Knöchel des Zeigefingers dreimal. »Ich bin es, Erwin Reiner, nicht Sixtus von Flügel!« rief er.

Er drückte die Klinke. Er rüttelte an ihr, stärker und stärker, mit Erbitterung, mit Wut. Umsonst, nichts zu hören; kein Schritt, kein Laut. Nun wanderte er ein paarmal durch das Zimmer, wobei ihm Frau Geßner aufmerksam zusah. Nach einer Weile trat er wieder zur Tür und sagte eindringlich: »Virginia, öffnen Sie! Noch niemand hat gewagt, was Sie heute wagen. Ich will Ihnen keinen Anlaß geben, eine Behandlung zu bereuen, die ich nicht verdient habe. Besinnen Sie sich, Sie haben noch eine Viertelstunde Zeit, um zu überlegen.«

Damit trat er zum Tisch, nahm einen Stuhl und setzte sich. Er starrte gleichgültig vor sich hin. Von Zeit zu Zeit schaute er auf die Uhr. Frau Geßner saß am offenen Balkon. Sie rührte sich nicht, bewegte selbst die Augen nicht. Sie horchte. Die den Fenstern gegenüberliegenden Wände röteten sich plötzlich. Draußen, durch die Zweige der Bäume flutete kupferfarbenes Licht. Innerhalb fünf Minuten war der ganze Himmel mit orangeroten Cirruswolken bedeckt. Ein kläffender Hund sprang vor dem Haus vorbei.

Die Viertelstunde war abgelaufen. Erwin erhob sich und griff nach seiner Mütze. Frau Geßner streckte bittend die Hand aus. Er zuckte die Achseln und ging. Es steht zu vermuten, daß er bis zu diesem Augenblick seines Lebens kein Gefühl kennen gelernt hatte, das der Verzweiflung nur ähnlich war. Jetzt empfand er es. Es war ein grauenhaft verwundertes Voreinerwandstehen und Nichtweiterkönnen. Vor einer Tür stehen und nicht eingelassen werden! Das war das Furchtbarste, was ihm zustoßen konnte. Darauf also hatte sich sein Leben zugespitzt? Das war das Ergebnis: vor einer Tür stehen und nicht eingelassen werden!

Sein Fuß stockte an der Treppe, und er sah in die Dunkelheit hinunter wie ins Bodenlose. Da vernahm er eilige Schritte hinter sich. Er wußte, daß ihm die Alte folgen würde. Sie tippte mit ihren kalten Fingern auf seine Hand, die das Geländer umfaßt hielt, und sagte heimlich: »Ich kann mir's denken, Erwin.«

Woher nimmt sie den Mut, mich Erwin zu nennen? dachte er verdrossen; alle alten Mütter sind lästig und respektlos. »Was steht zu Diensten?« sagte er mit höflicher Kälte. »Wenn Sie nur Vertrauen zu mir hätten«, antwortete sie seufzend.

Erwin stieg die Treppe hinunter, und sie folgte, weil sie ihm eine Unschlüssigkeit anmerkte. In dem großen Zimmer unten, das ohne Stufe ins Freie führte, blieb Erwin stehen und sagte: »Gut, Mama. Sie sollen sehen, daß es mir an Vertrauen nicht fehlt. Ich bitte Sie um Virginias Hand.«

Das gelbe Gesicht der Frau schien auf einmal größer zu werden. Im Geist hatte sie sich des öfteren das Entzücken ausgemalt, das sie empfinden würde, wenn einst diese Worte an ihr Ohr schlagen sollten. Und nun war sie keineswegs entzückt, sondern im höchsten Grad erschrocken. Der Schrecken lähmte ihre Freude und die Vorstellungen von Glanz, Sorglosigkeit und Reichtum. »Sie bitten mich um Virginias Hand?« wiederholte sie ungläubig und matt. »Mich? mich bitten Sie? warum nicht Virginia selbst?«

»Soll ich ihr meinen Heiratsantrag durch das Schlüsselloch zubrüllen?«

»Virginia ist aber doch verlobt, Erwin –?«

»Ja, das ist der Anstoß, wie Hamlet sagt. Immerhin, es sind schon festere Bündnisse aufgelöst worden.«

»Sie läßt nicht von ihrem Manfred, um keinen Preis.«

»Darauf kommt es eben an.«

»Ist es Ihr wahrhaftiger Ernst?«

»Man scherzt nicht, wenn man mit Füßen getreten worden ist.«

»Ach, wie unglücklich bin ich!« rief Frau Geßner leise und bekümmert, aber jetzt war in ihren Augen ein Ausdruck, der die monatelangen kupplerischen Wünsche enthüllte. In einer besorgten Falte ihrer Stirn wohnte der letzte Gedanke an Manfred wie der letzte Gast einer vordem zahlreichen Gesellschaft; alles übrige an ihr war Aufregung, Erwartung und Dankbarkeit.

Erwin schaute sie an, wie man ein gelungenes Werk ansieht, und unterdrückte ein maliziöses Lächeln. Er faßte die Frau unter den Arm und sagte: »Sie begreifen, Mama, es handelt sich also darum, Virginias kindischen Trotz zu besiegen. Das Wichtigste ist, daß ich mit ihr sprechen kann. Sagen Sie ihr, ich sei abgereist. Sie wird es bedauern, sie wird in sich gehen. Ich werde morgen im Gasthaus bleiben. Um acht Uhr abends werde ich unvermutet und möglichst geräuschlos ins Zimmer treten. Sprechen Sie nicht mit ihr über mich! Sorgen Sie dafür, daß sie bei Ihnen sitzt; wenn sie mich sieht, habe ich gewonnen. Die Dinge sind weiter gediehen, als Sie denken, Mama«, schloß er; »Virginia ist uneins mit sich selbst. Das ist der Schlüssel zu ihrem Verhalten, auch die Erklärung dafür, daß ich es ertrage. Helfen Sie mir, und alles wird gut.«

»Und Manfred?« murmelte Frau Geßner.

»Manfred wird mit Feïnaora tanzen.«

»Wie?«

»Davon reden wir ein andermal.«

»Und Sie werden meine Tochter glücklich machen, Erwin?«

»Weinen Sie jetzt nicht, Mama, ich halte keine Alteration mehr aus.«

Es ist so wie er sagt, dachte Frau Geßner, als Erwin gegangen war: Gina ist uneins mit sich, das arme Kind weiß nicht, was es tun soll. Aber da gibt es kein Schwanken; das Glück, das sich ihr da bietet, darf sie nicht von sich weisen.

Mütter sind stets geneigt, die Wahl des Herzens gegenüber den weltlichen Vorteilen einer Heirat gering anzuschlagen. Nicht die klügste und sanfteste ist fähig, sich der Gefühle ihrer eigenen Jugend zu erinnern. Alle haben gelernt, praktisch zu sein, und haben vergessen, daß die Feindseligkeit zwischen den Generationen auf den Verblendungen der Habsucht und den Irrtümern der Vernunft beruht. Sie werden gemein, ohne es zu wissen, und grausam, ohne es zu wollen.

Erwin hatte sich auf die Bank unter der Weide gesetzt und schaute in das feurige Rechteck von Virginias Fenster, das von immer schwärzer werdender Nacht begrenzt wurde. Lange saß er so. Es läuteten tiefe Glocken, deren Schall der Wind ungedämpft herübertrug. Er verspürte weder Hunger noch Durst, obwohl er seit Mittag nichts gegessen hatte. Es war ihm, als hätte er ein Gelübde abgelegt, nicht zu essen noch zu trinken, bevor ... bevor die Tür dort oben offen stand. Es war, als dürfe die Sonne nicht mehr scheinen, bevor die Tür dort oben offen stand. Es war, als hätte er vor dieser Tür gelegen und um Einlaß gewimmert. Es war, als hätten unzählige Menschen dabei zugeschaut und hätten ihn verhöhnt.

Seine Pläne gediehen nicht. Er verwarf die einen als zu kühn, die andern als nutzlos. Sein Stolz krümmte sich wie ein Span im Feuer. Das Feuer war seine Begierde, sein Haß. Plötzlich zuckte er zusammen. Das beleuchtete Rechteck wurde finster. Virginia ging schlafen. Ihre nackten Füße hatten den groben Bretterboden berührt; ihr wenig beschützter Leib hatte gefröstelt in der feuchten Wiesenluft, die durch die Fensterfugen drang. Nun lagen ihre Glieder auf weißem Linnen, auf fühllosem Linnen lagen sie ausgestreckt da. Die weißfingrigen Hände fanden sich wie ein Liebespaar, das in der Finsternis einander sucht. Der Smaragdring auf der Linken war abgezogen, und sie war frei vom verpflichtenden Bund. Nackt war der Goldfinger ohne den Ring, wie eines Kleides ledig. Die zedernholzfarbenen Haare flossen über allzu kühle Kissen, stauten sich gegen die Wangen und zitterten dort im Atemhauch eines Seufzers. Die Wölbung zwischen Wimpern und Brauen, die den Schmelz und die Reinheit eines Blütenblattes und die vollkommen parallelen Begrenzungslinien hatte, die auf Beseeltheit und Leidenschaft schließen lassen, überzog sich langsam mit dem sinnlichen Karmin des Schlummers. Maß man den Raum von hier bis an die Lagerstätte, es mochten nicht zehn Meter sein. Aber eine Tür war dazwischen, die nicht geöffnet wurde.

Virginia dachte nicht an die Tür. Auch an die Finsternis dachte sie nicht.

Sie hatte nicht gebebt, als die Klinke unter der Wucht seines Griffs geächzt hatte. Sie war ruhig am Tisch gesessen, den Kopf in die Hand gestützt, in den erglühenden Himmel schauend. Sie dachte nicht mehr an Feïnaora, sie glaubte Manfred die Verwirrung, ihr schien, als liebe sie ihn doppelt um seiner Wahrheitskraft willen. Hätte eine Stimme ihr gesagt, er, der Andere sitze drunten hinter den Zweigen der Weide, sie wäre nicht überrascht gewesen. Denn sie fühlte seine Nähe unaufhörlich. Sie fühlte seinen heftigen und sprechenden Blick, seine unterwerfende Gebärde, sie sah die kochende Unzufriedenheit auf seiner Stirn und den heimlich zuckenden Nerv seiner Lippen. Sie wußte sich von alledem gekettet, aber sie war entschlossen, sich frei zu machen. Sie wollte frei sein. Sie wollte nicht mehr vom Morgen bis zum Abend mit erwartendem Nachdenken an ihm hängen. Sie wollte frei sein. Sie wollte nicht mehr ihr Herz klopfen hören, wenn seine Worte sie betasteten wie Finger oder eine Wißbegier erregten, deren sie sich schämte.

So oft sie die Augen zumachte, mahnte sie ihr Mund an den seinen. Wie hatte er es wagen können, ihren Mund mit dem seinen zu berühren! Das war es, wobei ihre Gedanken stockten und jede Frage mit stummer Flucht beantworteten. Das machte sie so kalt und so gleichgültig. Sie hatte keine Freude mehr an sich selber. Sie wünschte sich einen Rächer, aber aus Mitleid mit ihm und aus einem Rest von Achtung für seinen Freundschaftsbund mit Manfred fürchtete sie die Rache.

Er hatte ihren Mund mit seinem Mund berührt. Dies hatte nichts in ihr geweckt, es hatte nur getötet. Es war ihr zumut gewesen, als ob ihr Blut weiß würde. Ja, alle Dinge verblaßten mit einem Mal, auch Manfreds Bild. Jetzt, bei verlöschtem Licht, fiel ihr die Perlenkette ein, und sie erkannte die Unmöglichkeit, den Schmuck noch länger zu besitzen. Doch war es schwer, für die Zurückgabe die höfliche Form und den nicht widerruflichen Gehalt zu finden.

Sie grübelte fast den ganzen nächsten Tag darüber. Als ihr die Mutter sagte, Erwin sei in die Stadt gefahren, ärgerte sie sich. Sie hatte die Mutter bitten wollen, ihm die Perlen zu bringen. Wäre sie achtsamer gewesen, so hätte sie die Verlegenheit der Mutter merken müssen, die zu wenig Einbildungskraft besaß, um erfolgreich lügen zu können. Im übrigen hatte sie sich vorgenommen, ihm heute gegenüber zu treten. Sie blieb mit ihrer Arbeit im Balkonzimmer. Sie war sehr verstimmt und sprach den ganzen Tag fast nichts. Es war ein sehr heißer Tag, und man spürte zugleich den Abschied des Sommers in ihm. Gewitter lagen in der unbewegten Luft.

Es hatte acht Uhr geschlagen, als Erwin kam. Seine Schritte schallten erst dicht vor der Schwelle, da er Tennisschuhe angezogen hatte, um sie geräuschlos zu machen. Der Blick, mit dem Virginia die Mutter ansah, war wild und bezichtigend, und Frau Geßner duckte sich wie bei einem Steinwurf.

Erwin grüßte. Sein Spottlächeln trieb Virginia das Blut ins Gesicht. »Ich habe meine Abreise verschoben,« sagte er, »weil ich mir den Bescheid wegen des Antrags holen wollte, den ich Ihrer Frau Mutter gestern gemacht.«

Frau Geßner wollte erwidern, daß er ihr verboten habe, davon zu sprechen. Er schnitt ihr das Wort ab. Die kühle Redensart falle ihm schwer, die das Ungewöhnlichste von allem ausdrücke, wozu er sich jemals entschlossen.

Virginias fragende Miene nötigte ihn zur Deutlichkeit. »Ich habe Sie von Ihrer Frau Mutter zur Ehe begehrt«, sagte er.

Das Erstaunen Virginias war so naiv, daß es etwas wie Heiterkeit über ihre Züge verbreitete. »Man sollte wirklich denken, daß Sie Ihren Spaß mit mir haben wollen«, antwortete sie endlich. »Nein, das ist wirklich zu stark!« rief sie mit entflammten Wangen und erhob sich.

»Ich weiß nicht, ob dieser Unglauben beleidigend oder schmeichelhaft für mich sein soll«, versetzte er mit mühsamer Gelassenheit, hinter der sich sein Ingrimm und seine schmerzhaft verwundete Eitelkeit verbargen.

»Schmeichelhaft? wieso denn schmeichelhaft?« fragte Virginia betroffen.

»Ich biete Ihnen, was keiner bieten kann«, begann er mit seiner umflorten Stimme, und während er sprach, sah man beständig seine großen, porzellanweißen Zähne. »Sie aber haben nur Hohn und Kälte dafür.«

»Weil Sie wortbrüchig sind«, fiel Virginia mit bitterem Tone ein.

»Ja, ich wage es, diese Hand zu fordern, die sich vergeben hat, ohne zu wissen, was sie gab«, fuhr er fort. »Ich wage zu denken, daß ich, ich, nur ich es bin, der ihrer würdig ist. Der andre hat empfangen, er wußte, was er empfing, aber er ist geflüchtet mit einem Wechsel auf die Zukunft. Er hat Ihre Seele mitgenommen und hat Ihnen dafür zwei Jahre gelassen, qualvolle Jahre des Aufwachens, des Scheinlebens, armseliger Hoffnung, augenloser, unbeherzter Jugend. Und ich, dessen Stern es war, Sie zu finden, dessen Bestimmung, Sie glücklich zu machen, ich soll vor der Tür stehen und betteln, ich soll zu Kreuze kriechen, ich soll das Vorrecht des Schwächeren achten, soll edelmütig verzichten? Warum? warum? Ich kann, ich will, ich darf nicht verzichten. Den Freund halt ich hoch, über mich selbst kann ich aber nicht hinweg.«

Virginia machte Miene, das Zimmer zu verlassen. Ihr Antlitz zeigte keine Bewegung, kaum ein Gefühl. Ihre Lider waren so tief gesenkt, daß die Wimpern einander berührten. Erwin trat ihr in den Weg. »Nein, Virginia,« sagte er mit einem Ungestüm, das seine Haut zu entfärben schien, »nein! So nicht. Hören Sie mich gefälligst an.«

»Ich habe nichts zu hören, und ich will nichts hören.«

»Ein anhängliches Herz habe ich zerrissen, gemordet, das Herz einer Frau, die ich liebte, nur weil Sie, Virginia –«

»Sprechen Sie davon nicht. Sie haben dort verraten, wie Sie hier verraten.«

»Bleiben Sie, Virginia!« Er schrie es fast und trat ihr von neuem in den Weg. »Das alles wäre ja Wahnsinn, wenn ich Sie überreden wollte, gegen Ihre Empfindung zu handeln, wenn ich glauben würde, ich risse Sie aus dem Glück ins Unglück, wenn ich überzeugt wäre, Sie hätten unabänderlich gewählt. So steht die Sache aber nicht. Sie haben nicht gewählt. Sie haben gar keine Gelegenheit gehabt, zu wählen. Sie haben sich nur verpflichtet. Ihre Ehe mit Manfred würde ein Kampf der Sehnsucht mit der Alltäglichkeit sein, des Traumes mit der banalen Arbeit, der Schönheit mit dem häßlichen Zwang. Sie sind nicht geboren für die Niederungen, Sie würden sich insgeheim zu Tode seufzen an der Seite eines Mannes, den jetzt noch der Glanz der Jugend umgibt, der aber in zehn Jahren vertrocknet sein wird, sparsam sein wird, krank sein wird, den die Geschäfte des Lebens kraftlos und die Enttäuschungen des Berufs übellaunig gemacht haben werden. Ich würde Sie hegen, Virginia, wie einen auf die Erde verschlagenen Seraph. Ich winde Sie lehren, Feste zu feiern, mit immer gefüllten Händen würde ich dastehen, ich würde nie von Liebe sprechen, aber ich würde Sie in Liebe hüllen wie in einen kostbaren Mantel. Ich könnte Sie die Wunder erleben lassen, die in einem lautlosen Einanderbegreifen liegen, und das Geheimnis, das darin besteht, zu genießen, ohne zu bereuen. Haben Sie bedacht, wie ungeheuer es ist, einen Menschen zu wissen, der sein Leben einer Leidenschaft widmet? Ahnen Sie denn, was eine solche Leidenschaft vermag, die vom Blut gezeugt, vom Geist genährt, von den Sinnen erzogen und von der Natur bestätigt worden ist? Ich müßte an allem verzweifeln, am Blut, am Geist, am Schicksal, wenn ich nicht die Gewißheit hätte, daß Sie sich an diesem Feuer schon längst entzündet haben, und daß Sie sich nur so stellen, als seien Sie unversehrt. Sie sind es nicht. Unausrottbar bin ich in Ihnen, Virginia! Sie mögen tun, was Sie wollen, von mir kommen Sie nicht los.«

Unwillen, Beschwörung, Widerwillen, Entrüstung, dumpfes Hinsinnen, Schrecken, das alles war in Virginias Gesicht zu unmittelbarem Ausdruck gelangt. Nach den letzten furchtbaren Worten schaute sie Erwin traurig an. Um ihren Mund lag ein merkwürdiger Zug von keuschem Bedauern. »Ich bitte einen Augenblick zu entschuldigen«, flüsterte sie endlich und ging in ihr Zimmer. Frau Geßner saß am offenen Balkon, die Ellbogen in den Schoß, den Kopf in die Hände gestützt, und blickte verloren ins Licht der Lampe. Erwins Worte hatten sie tief ergriffen; sie war von Bewunderung für diesen Mann wie gelähmt. Sie verwünschte Manfred im stillen, sie grollte Virginia, sie beneidete Virginia. Sie erkannte, wie leer und nüchtern ihr eigenes Leben verlaufen war. Ein einziger Ball, eine einzige Nacht, sonst nichts! Und solche Männer gab es wie den! Sie dachte an den Tod; das schien ihr noch das Beste, woran sie denken konnte.

Als Virginia zurückkam, streckte sie Erwin die Hand entgegen, auf welcher das Perlenhalsband lag. Bitte und Entschiedenheit vereinigten sich in der Geste wie im Blick, ein stolzer, ruhiger, unabänderlicher Entschluß. Frau Geßner stieß ein dumpfes Knurren aus.

Erwin wurde erdfahl. Alles verloren, sagte er sich, alles umsonst.

Es ist anzunehmen, daß die Raserei, von der er befallen wurde, ein herrisches Bedürfnis seines Temperaments war. Es gab in seiner Vergangenheit nur zwei Szenen solcher Art. Als Kind von sieben Jahren war er auf einen Hauslehrer, der ihn am Ohr gezerrt, mit einem erhobenen Messer losgegangen, das zufällig auf dem Tisch gelegen. Als Knabe von fünfzehn Jahren wurde er im Beisein von Kameraden von einer Frau, in die er verliebt war, gröblich verhöhnt. Einer der Jünglinge hatte gelacht; er war nahe daran gewesen, ihn zu erwürgen. Man hatte ihn wegreißen müssen wie einen Hund, der sich verbissen hat.

So beschimpft und zurückgestoßen erschien er sich jetzt. Er schleuderte die Kette zu Boden, er trat mit dem Fuß darauf, die Perlen krachten und knirschten. Er trat auf sie mit einem Ausdruck von Ekel, Schmerz und Wut im Gesicht, der nicht seines gleichen hatte. Wie blasser Schaum bedeckten sie die Dielen; die fortgerollten, schillerndes Gerinsel, funkelten ängstlich aus dem Schatten. Virginia faltete die Hände. Ihre Lippen zuckten. Sie ging ans Fenster und preßte ihre Stirn gegen die Scheibe. Der warme Dunst des Abends stieg ihr zu Kopf, eine unleidliche Schwäche fesselte die Glieder. Erwin hatte sich straff emporgerichtet. Schweigend verließ er das Zimmer.

In seinem Gasthaus rannte er wie besessen aus einem Zimmer ins andere. Er dachte nichts, er begriff nichts mehr. Das Rad ist im Schwung, das Korn muß gemahlen werden, fuhr es ihm durch den Kopf. Es war neun Uhr vorüber, als es schüchtern an die Tür pochte. Frau Geßner trat ein. »Guten Abend«, sagte sie. Erwin erwiderte nicht den Gruß. »Sie hat mich geschickt, sie hat mich gebeten, Ihnen die Perlen zu bringen«, murmelte Frau Geßner und brachte ein Päckchen zum Vorschein. »Ich hab alles mühselig zusammengeklaubt; die schönen Perlen! Wie kann man so freveln!« – »Kommen Sie, um zu jammern?« entgegnete Erwin grob. – »Sie hat mich gebeten, Ihnen die Perlen zu bringen«, wiederholte die Frau beklommen. »Sie hat gesagt, ich sollte Ihnen zureden, Sie möchten doch vernünftig sein.«

»Ah? Und das ist alles? Das scheint mir Ihre eigene Erfindung zu sein. So geschmacklos ist Virginia nicht, daß ihr jetzt meine Vernunft Sorgen macht.«

»Doch, doch, Erwin. Sie hat mich geschickt. Sie war bald heftig, bald wieder ganz kleinlaut. Ich dürfe mit den Perlen nicht wieder zurückkommen, sagte sie, und doch hat sie sie erst lang betrachtet, bevor sie alle ins Papier gepackt hat.«

Erwin überlegte. »Was treibt sie jetzt?« fragte er.

»Sie hat geweint.«

»Sie mag weinen. Es ist an der Zeit. Hat sie denn um die Perlen geweint?«

»Um die Perlen? Oh nein. Es sind ja lange nicht alle beschädigt. Sie hat sich aufs Bett gelegt, wie Sie fort waren, und dann war ihr wieder zu heiß, es ist so schwül heut abend, da wollte sie ganz kalt baden, das hab ich nicht erlaubt und hab Wasser auf den Herd gestellt und bin dann zu Ihnen.«

Sie berichtete diese bedeutungslosen Einzelheiten so umständlich, als könne sie sich damit willigeres Gehör bei Erwin erzwingen. »Gehen Sie doch nicht im Bösen von uns,« sagte sie bittend, »ich glaube, sie bereut jetzt.«

»Es ist nicht meine Gewohnheit, Vorteil aus der Reue zu ziehen.«

»Seien Sie jetzt nicht eigensinnig, machen Sie noch einen letzten Versuch«, drängte Frau Geßner, der es zumute war, als hielte sie Virginias Glück in Händen. Auch war sie überzeugt, daß Erwin, wenn er nur wolle, alles noch in die rechte Bahn zu lenken vermöge.

Erwin blieb stehen, bezaubert von einer schrecklichen Eingebung. »Ich muß morgen früh in der Stadt sein«, sagte er.

»So kommen Sie jetzt mit mir –«

»Welchen Zweck sollte das haben? Ich müßte allein mit ihr sprechen können.«

»So gehn Sie allein hin, ich werde hier warten.«

»Sie wird mich nicht einlassen.«

»Wenn Sie ans Tor pochen, wird sie glauben, daß ich es bin, und wird Ihnen aufmachen.«

»Habt ihr nicht zwei Schlüssel? Am einfachsten ist es, Sie geben mir Ihren Schlüssel, denn das Klopfen macht Virginia sicher argwöhnisch.«

»Den Schlüssel? Nein, Erwin; das würde sie mir nie verzeihen. Das wäre auch –«

»Na schön, schön,« unterbrach Erwin hastig, »ich will's so versuchen. Es ist jetzt halb zehn. In einer Stunde bin ich wieder da und hoffe, Ihnen gute Nachricht zu bringen.«

Voll Vertrauen und Liebe schaute ihn die törichte Frau an. »Wenn Sie eilen, können Sie sie noch vor dem Haus treffen, sie wollte noch ein wenig an die Luft«, sagte sie.

Erwin nickte und ging. Was schwebte ihm vor? Glaubte er noch an die Wirkung von Worten, Gründen, Beteuerungen und Verlockungen? Ihn trieb die Ungeduld, die leidenschaftliche Rachsucht, der wütende Ehrgeiz eines Wettläufers, die Glut und Trunkenheit verletzter Eigenliebe und im Verborgenen seiner Brust ein Gefühl, von welchem Rechenschaft sich zu geben er Scheu trug. Mit dieser ganzen Hölle von Empfindungen überließ er sich dem Zufall.

Den dunklen Horizont umsäumte ein Kranz qualmiger Wolken, in denen fortwährend Blitze zuckten. Zwischen den schwarzen Wiesen und schwarzen Wäldern glitten Fledermäuse geräuschlos und mit unheimlicher Geschwindigkeit hin und her. Erwin begegnete einigen Sommerfrischlern, die sich von Fleischpreisen unterhielten. Aus einem fernen Wirtsgarten schallte eine von der Schwülnis erstickte Blechmusik.

Als er in der Nähe des Häuschens angelangt war, sah er eine helle Gestalt zwischen den Büschen wandeln. Er erkannte Virginia am Gang. Sie blieb bisweilen stehen, als lausche sie. Er wartete, bis sie um die Ecke des Hauses verschwunden war, dann öffnete er das Holztürchen der Umzäunung und verharrte grübelnd, bis sie auf der andern Seite wieder hervorkam. Ich will nicht im Freien mit ihr sein, überlegte er, hier flüchtet jeder Schall. Sie gewahrte ihn nicht. Sie schien in Nachdenken verloren, sie blickte nicht empor. Als sie zum zweitenmal seinen Augen entschwunden war, schritt er eilig durch die offene Tür ins Haus. Die Küche war von flackernden Flammen beleuchtet, kochendes Wasser brodelte auf dem Herd. Er stieg die Treppe hinan und betrat das Balkonzimmer. Dieses war nur matt erhellt durch eine rotbeschirmte Lampe, die auf dem Tisch in Virginias Kammer stand. Auf dem Boden drinnen befand sich eine halbgefüllte, kreisförmige Blechwanne.

Erwin zauderte. Ein Lächeln, das gleichsam brennend war und doch den Zügen mehr Schatten und Trauer verlieh, als je sonst darauf zu sehen war, umspielte seine Lippen. Er schaute sich prüfend um. Er vernahm Virginias Schritt; er hörte, wie sie das Tor schloß und den Schlüssel abzog. Plötzlich, wie voll Angst vor ihrem Erscheinen, trat er hinter den bemalten Ofenschirm und kauerte auf dem Absatz des Ofens nieder.

Virginia trat ein; ihr Schritt war schleppend, sie trug in ihrer Hand einen Krug voll heißen Wassers. Sie ging in ihr Zimmer und stellte den Krug zur Erde. Durch die Fuge zwischen zwei Teilen des Schirms konnte Erwin sie sehen. Sie ging auf und ab, sie schien unruhig. Sie öffnete das Fenster, dann schloß sie es wieder. Dann setzte sie sich in den Sessel vor dem Tisch. Sie hatte ein Bein über das andere geschlagen, den Rumpf vorgeneigt und legte den Zeigefinger der rechten Hand quer über die Lippen. An dieser Haltung bewegte ihn die Einfachheit und Innigkeit auf das unerwartetste. Sein Herz fing an zu klopfen wie ein Hammer.

So verweilte sie ziemlich lange. Das Profil ihres Antlitzes schimmerte wie Silber. Endlich erhob sie sich. Sie zog einen Schal von den Schultern und seufzte wie unter der Last der Gewitterschwüle. Nun verlor er sie. Er hörte das Rascheln ihrer Gewänder und wie sie ihre Schuhe wegstellte. Er zitterte am ganzen Körper, sogar seine Kinnlade begann zu zittern, und auf einmal sah er sie wieder, eine andere, oder den innersten Kern von ihr, das herrliche Geheimnis, mit dem sie auf Erden wandelte. Gleich einem rätselhaft leuchtenden Ding stand sie ohne jegliche Hülle im Lichtstrahl der Tür; wie ein Wesen, das im Augenblick zuvor erschaffen ward, gab sie ihre goldene Haut der kaum gekühlten Luft preis, die den dunklen Honig ihrer Haare schlürfte und den von Blut und Atem bebenden Kontur ihres Leibes wie mit einem Meißel rein hervortrieb.

Der Anblick eines nackten Menschenkörpers gewährt dem Auge selten Befriedigung. Erwin hatte es oft erfahren, daß die Schale mehr versprach, als die Frucht erfüllte. Doch alle Erinnerungen starben an dem Jubel dieser Vollkommenheit. Der ruchlose Späher verwandelte sich zum ergriffenen Anbeter; ein bewunderungsvoller Laut entfloh aus Erwins Lippen, seine Augen waren naß, er war seiner nicht mehr mächtig, als er das schützende Versteck verließ, aber als er dann die Bedeutung seines Tuns ermessen konnte, so schnell, wie bei ihm der Weg vom Antrieb zur Erkenntnis war, prallte er bestürzt, schweigend und kraftlos inmitten des Zimmers zurück.

»O – Gott!« rief Virginia in zwei jammervollen Tönen, von welchen der zweite um eine Oktave tiefer klang als der erste. Huschend, mit einem seltsam überstürzten Hauchen des Atems lief sie auf ihr Lager zu, warf sich hinein und zog die Decke über sich. Nun kauerte sie mit dem Gesicht nach unten, zuckend, röchelnd, ganz zusammengeduckt, und jedes einzelne Glied ihres Körpers wünschte den Tod.

Der Todesseufzer der Schamhaftigkeit drang bis zu Erwins Ohren. Er selbst zitterte noch. Aber die Wirklichkeit verlor ihre Schwere. Sie wurde ein Duft und ein Gleichnis. Aus der Betrachtungsferne ergab sich Überlegenheit, in der Lust des Schauens verhallten die Stimmen der Schuld.

Worte vermochten hier nichts mehr. Er lehnte am Türpfosten, indes Virginia in ihr Lager gewühlt war wie ein Stieglitz in sein Nest. Sie streckte den Arm gegen ihn aus, schüttelte ihn krampfhaft und flüsterte: »Fort! Fort! Fort!«

Er wandte sich zum Gehen. Er zögerte, er kehrte um, Virginia flüsterte abermals mit immer noch ausgestrecktem Arm: »Fort! Fort!« Und kaum stand er auf der Schwelle, so schluchzte sie mit eigentümlich schmelzenden Lauten in sich hinein.

Erwin lächelte. Nun war alles entschieden, nun gehörte sie ihm, und obwohl er den Grund davon nur dunkel ahnte, war es ihm, als blickte er in die tiefsten Tiefen der Schönheit und der Unschuld.

Er beugte sich über sie und sagte mit schmerzlicher Zärtlichkeit: »Leb wohl, Virginia. Gute Nacht, Geliebte. Immerfort will ich an dich denken, du schönste von allen Frauen der Welt. Ohne dich bin ich nur ein Schatten. Leb wohl, leb wohl.«

Dann ging er fast lautlos. Aber Virginia, als sie die Stille merkte, richtete sich auf. Mit den Händen die Brust bedeckend, das beinahe entseelte Gesicht lauschend, feurig bleich emporgewandt, rief sie: »Erwin!« Und wieder, willenlos und jammernd: »Erwin!«

Sie fiel in die Kissen zurück, und eine erbarmende Ohnmacht nahm sie auf.


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