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Virginia

. Um die Mitte des Oktober fiel die Entscheidung. Der Arzt, von dessen Spruch Manfred Dalcroze alles abhängig gemacht, sagte ihm, daß er zwei Jahre lang auf die See gehen müsse, um die erkrankte Lunge wieder herzustellen. Manfred war darauf vorbereitet; dennoch war ihm zumute, wie einen Sommer vorher in Castrovillari, als er während des Erdbebens die Mauern seines Hotels zwanzig Schritte vor sich zusammenstürzen sah.

Er schrieb vom Semmering aus an seinen Bruder, den Professor Ernst Dalcroze in Berlin, und erinnerte ihn an sein Versprechen, daß er sich, falls die Dinge den gefürchteten Verlauf nehmen würden, an den Professor Uchatius wenden würde, der mit der Ausrüstung einer deutschen Tiefseeexpedition betraut war.

»Wie ich höre, verläßt das Schiff Mitte November den Hafen von Kiel«, schrieb Manfred; »ich glaube, du kannst mich dem Professor Uchatius mit gutem Gewissen empfehlen und ihm sagen, daß ich trotz meiner dreiundzwanzig Jahre schon manches Ersprießliche im Fach der Mikrobiologie geleistet habe. Wenn er mich als Mitarbeiter aufnähme, bliebe ich in der Linie meiner Studien und im Kreis einer zweckvollen Tätigkeit. Ich kann mich unmöglich zwei Jahre lang auf Vergnügungsdampfern und unter gleichgültigen Weltbummlern herumtreiben; das würde mich zur Beute unendlicher Grübeleien machen. Der ›Phönix‹ bleibt meines Wissens über anderthalb Jahre weg, was ja ungefähr mit der ärztlichen Vorschrift übereinstimmen würde, die ich befolgen muß.«

Kaum in Wien angelangt, erhielt Manfred ein Telegramm seines Bruders: »Uchatius stimmt zu. Sei am fünften November in Berlin.«

Manfred seufzte. Er sah sich zur Eile getrieben. Aber nichts von Eile war in seinem Wesen, als er sich gleich danach auf den Weg in die Josefstadt begab. Sich zu hasten, lag nicht in seiner Konstitution. Langaufgeschossene Menschen mit blonden, glatten Haaren neigen eher zum Phlegma. Manfreds bartloses Gesicht verriet eine mädchenhafte Zartheit. Wären einige seiner Bewegungen nicht so schüchtern gewesen, so hätte man sagen können, er nehme sich elegant aus. Jedoch die eleganten Leute besitzen nicht oder verraten nicht eine so träumerische Befangenheit, wie sie in den Augen dieses hübschen jungen Mannes wohnte, dessen Erscheinung Neugier und Teilnahme hervorrief.

Ein blauer Herbsthimmel wölbte sich über der Stadt. Der Herbst ist für die Jugend vielleicht die lyrischeste Zeit. Manfred war voll von Erinnerungen. Das schnelle Vorüberfließen des Lebens hatte schon etwas Gespensterhaftes für ihn; es gab Augenblicke, wo er das Blut in seinem Herzen ungern pochen fühlte, weil jeder Schlag eine unwiederbringliche Frist besiegelte. Selbst jetzt auf dem Weg zu Virginia war ihm die Zeit zu geschwind, weil die Botschaft, die er brachte, seinen Schritt beschwerte.

In einer alten Gasse ein altes Haus mit weitem Torbogen; dunkler Flur, menschenleerer Hof und ein zweiter Bogen wie ein Schattenspiel; dann kletterte die weiße Wendelstiege zu jenen Räumen empor, von welchen aus, seit einem halben Jahr etwa, Manfred das Treiben der Menschen betrachtet hatte wie einer, der mit umgekehrtem Opernglas auf die Bühne blickt.

Virginia hatte ihn erwartet. Wie stets bewältigte ihn ein Gefühl der Unwürdigkeit in ihrer Nähe. Glück und Schmerz einten sich in seinem Innern, und es war ihm deutlich bewußt, daß die Leidenschaft, die er für dieses Wesen empfand, alle Wünsche und Ziele des Lebens in sich aufgenommen hatte.

Umschweife waren seine Sache nicht. In einem einzigen Satz war das Betrübende gestanden.

Virginias Mutter war ausgegangen, sie waren allein. Virginia legte die Hände auf seine Schultern und sah ihn schweigend an. Sein ernster Blick ließ sie trauriger werden. Sie setzte sich an den Tisch und stützte den Kopf in die Hand. Aus einem gegenüberliegenden Fenster fiel ein Abglanz von Sonne auf ihr braunes Haar und ließ es kupfrig erschimmern.

Wie traulich ihm alles war; das Haus, die Nachmittagsstille, das Zimmer mit den Tüllgardinen, dem riesigen Spind, den rundlehnigen Stühlen, dem Sofa aus geblümtem Stoff, der Uhr mit den zwei zerbrochenen Alabastersäulchen!

Am andern Abend brachte er sein Tagebuch mit, das kennen zu lernen Virginia schon oft gewünscht hatte. Er las ihr vor. Diese Aufzeichnungen formten das sympathische Bild eines um Klarheit und Sachlichkeit redlich bemühten Geistes. Die verhängnisvollen Fehler der Epoche, unreife Nörgelei und anmaßende Selbstzerfaserung, gewannen kraft einer natürlichen Bescheidenheit keinen Raum. Das eingestandene Gefühl, unzulänglich zu sein, war echt. Das Leben war zu reich und zu verworren; die Menschen der Zeit wurden einer großen Gesellschaft verglichen, in der jeder dem andern fremd ist, jeder sich einsam weiß, wo alles ruhelos, bestürzt und blind von Saal zu Saal aneinander vorübereilt und niemand den Namen des Gastgebers kennt.

Es war die vorherrschende Stimmung eines jungen Mannes vom Anfang des Jahrhunderts. Er glaubt sich in umfriedetem Bund und ist verloren wie in der Wüste; ehrwürdiges Herkommen scheint ihn zu verpflichten, und er findet sich führerlos und unberaten; viele reden, doch keiner spricht; wer ruht, hat schon verzichtet, und der Tanzende scheint im nächsten Augenblick zu sterben.

Wie keinem war es Manfred notwendig, einen Freund zu besitzen. Als der Name Erwin Reiners zum erstenmal in dem Tagebuch auftauchte, verwandelte sich der Ton der Erschöpfung in den der Zuversicht. »Erwin hat mich vor dem Selbstmord bewahrt,« hieß es da treuherzig, »er hat mir Geduld und Einsicht geschenkt. Ihm verdanke ich den Glauben an die Schönheit des Lebens, denn für ihn ist das Leben ein Wunder, das sich täglich wiederholt. So wächst meine Schuld gegen ihn mit jedem Tag.«

Als die Stelle kam, wo die erste Begegnung mit Virginia geschildert war, schüttelte das Mädchen lachend den Kopf und sagte, das möge sie nicht hören. »Wenn wir mal alt sind,« sagte sie, »kannst du mir das vorlesen.«

So blieben sie schweigend, Hand in Hand, und während es zu dämmern begann, irrten Manfreds Augen zerstreut über die engbeschriebenen Seiten, auf welchen jene natürlichen Erlebnisse wie Mirakel behandelt wurden.

»Täglich führt mich mein Weg durch dieselben Straßen, und ich beachte nicht die Menschen, die mir begegnen. Aber gestern hab ich ein Mädchen gesehen ... eine Sekunde lang standen wir voreinander, unsere Blicke trafen sich, dann rief sie den ihren so hastig zurück, wie man die Hand von einem glühenden Eisen zurückzieht. Ich kehrte um und folgte ihr wie behext. Ihr Gang hatte etwas edel Schleichendes, so daß ich mich ganz einfältig fragte, ob sie eigentlich Beine und Füße habe. Ich sah beständig den Kontur der linken Wange, der dem sanft geschwungenen Bogen einer Banane glich. Über den Schultern erhoben sich die fernen bläulichen Hügel, die den Prospekt der Straßenzeile bildeten. Ich versuchte auf dieselben Pflastersteine zu treten, die ihr Fuß berührt hatte, mir war, als ob die Luft, durch die wir beide gingen, links und rechts in festen Mauern wüchse, es war mir angst und bang, ich fühlte mich gedemütigt, ich zitterte vor dem Moment, wo ich sie aus dem Auge verlieren mußte, und als sie endlich draußen in einem Vorstadthaus verschwand, blieb ich zwei Stunden lang in gedankenlosem Kummer am Tor dieses Hauses stehen.«

Manfred hatte viel inneres Gesetz; deshalb war in seinen Empfindungen Stetigkeit und Mark. Halbe Tage hindurch promenierte er vor dem Hause in der Piaristengasse mit einem geregelten Eifer, der die Aufmerksamkeit der Nachbarn und den Argwohn der Polizeileute erweckte. Einmal, gegen Abend, trat Virginia mit ihrer Mutter aus dem Tor; wie einer, der sich in ein tiefes Wasser zu stürzen anschickt, schritt er vor die zwei Frauen hin, grüßte, nannte seinen Namen, entschuldigte seine Kühnheit mit allen Zeichen der Feigheit und stammelte etwas von Eindruck, von Ehrerbietung, von Begleitenwollen, kurz, ganz banales und nichtswürdiges Zeug.

Virginia maß ihn von oben bis unten. Manfred spürte beklommen, daß dieses nach seiner Kleidung dem Mittelstand zugehörende Mädchen etwas vom Adel einer Fürstin an sich hatte; jedenfalls verriet ihr Benehmen, ihre Haltung, die Art, mit einer Bewegung des Kopfes Mißachtung, Stolz oder Verwunderung auszudrücken, eine nicht gewöhnliche Charakterstärke.

Anders die Mutter, deren Unsicherheit gegen Fremde leicht den Ton verfrühter Zutraulichkeit annahm. Doch ohne dieses Fehlgreifen, das Manfred mißfiel, weil er wahrnahm, daß es Virginia mißfiel, hätten die beiden schwebenden Naturen sich nicht so schnell zueinandergefunden. Frau Geßner pries die Manieren des Jünglings mit einem Enthusiasmus, der Virginia nervös machte. Die alte Dame war über seine anständigen Absichten sofort im klaren; sie zog unter der Hand Erkundigungen ein, erfuhr, daß die Dalcroze eine renommierte Gelehrtenfamilie waren, und hätte über Virginias Zukunft keine Sorgen mehr gehabt, wenn Manfred um zehn Jahre älter gewesen wäre.

Solche Bedenken lagen Virginia fern. Als sie Vertrauen gewonnen hatte, war ihr Herz zu lieben bereit. Aber ein vorsichtigeres Herz als das ihre ließ sich nicht denken. Sie setzte den Verlockungen des Glücks ein Widerstreben entgegen, das aus verschiedenartigen Umständen Nahrung zog, einmal aus der ganzen Lebenslust dieser Stadt, in der sie ausgewachsen war, der Lust der Sinnlichkeit und des unbedenklichen Genießens, vor deren Einflüssen sie durch eine klösterliche, nicht immer froh empfundene Abgeschiedenheit geschützt war; sodann aus den strengsten und durchaus eingefleischten Grundsätzen über Sitte und Tugend, die mit erlesener Schönheit zuweilen im Bunde sind, als ob es in den Absichten der Natur selbst beschlossen wäre, ihr Meisterwerk nicht ohne Wehr und Waffe auszuliefern.

Erst als von ihren Lippen das abwartende und schwer deutbare Lächeln geschwunden war, durch welches sie ihrer tiefen Zurückhaltung den Glanz von Liebenswürdigkeit gab, als die Augenlider zögernd sich senkten, der Blick zögernd wieder aufstieg, um durch Befremdung, Frage und Erschütterung hindurch das verwandelte Gemüt zu offenbaren, erst dann hatte Manfred gesiegt. Im Mai, während eines Spaziergangs im Walde, entriß er ihr ein Geständnis. Sie küßten einander. Manfred erbebte vor der Wirkung dieses Kusses, und Virginia beschwor ihn, sie ähnlichen Gefühlen nicht mehr preiszugeben.

Er versprach es; er war stark genug, das Versprechen zu halten. Sie einmal so völlig außer sich gesehen zu haben, so im Sturm, in der kurzen Raserei, die aus ihr hervorgebrochen war wie ein Element, unter der sie litt wie in einem Todeskampf und die wieder ausgelöscht war wie eine Flamme, die man ins Wasser taucht, das war Stoff für dauernde Träume und erfüllte ihn mit dauernder Dankbarkeit. Und dieses wieder dankte ihm Virginia in zarter Weise. Ihre Liebe hatte nichts Lockendes, nichts Werbendes, nichts Verlangendes, nichts Hinschmelzendes; nichts von den hundert Listen, die sonst, gewöhnlich oder apart verwendet, zum Kriegs- und Eroberungsarsenal der Mädchen gegen ihre Anbeter gehören. An ihr war alles Gleichmaß; sie war voll Ruhe und voll von sanfter Scheu. Mehr als alles fürchtete sie die unfruchtbare Glut des aufgeweckten Blutes. Darin lag Ehrlichkeit gegen sich selbst und überlegte Rücksicht gegen den Geliebten.

Alles Frohe und Erschlossene in ihrem Gebaren hatte den Charakter von Urwüchsigkeit und Kindlichkeit. Sie spottete gern und besaß ein Talent zur Nachahmung, das eine starke Beobachtungsgabe verriet. Ihre Mutter hatte deswegen daran gedacht, sie für die Bühne ausbilden zu lassen, aber Virginia hatte eine sehr geringe Meinung vom Beruf einer Komödiantin. Frau Geßner bezog eine kleine Witwenpension, die im Verein mit den Zinsen von zwanzigtausend Kronen, welche Virginia von einem Verwandten geerbt hatte, den beiden Frauen nur ein kärgliches Auskommen sicherte, hart an der Grenze der Bedürftigkeit. Virginia hatte niemals an eine Versorgung durch Heirat gedacht, sie wollte sich auf eigene Füße stellen, und so hatte sie sich vor zwei Jahren entschlossen, bei einem billigen Lehrer Mal- und Zeichenstunden zu nehmen; aber es war ein ziemlich hilfloses Treiben, und es machte ihr Kummer, daß sie ein ersprießliches Ziel nicht absehen konnte. Manfred, in seinem hohen Respekt vor der Kunst, entmutigte sie vollends, und obwohl sie ihm deswegen nicht zürnte, verletzte es doch ihren Stolz, als sie ahnend begriff, daß er wie alle ganz jungen Menschen insgeheim ein orientalisches Frauenideal von Trägheit und Sichtragenlassen hegte.

Ihre Schönheit entschuldigte freilich den Gedanken, der sie in einer häßlich aufgeregten Welt als ruhend träumte. Es war eine Schönheit, deren Vollendung dem flüchtigen Beschauer entgleiten mochte; in der Tat konnte Virginia durch eine belebte Straße gehen, ohne wie minder ausgezeichnete Frauen zudringliche Blicke zu alarmieren. Ihre Schönheit bedurfte gleich den echten Dichtungen des Studiums und der Vertiefung, um gewürdigt zu werden. Das Ebenmaß ihres hochschenkeligen Körpers triumphierte durch jede Kleiderhülle, und in den Begrenzungslinien entzückte die rhythmisch verteilte Bewegung; ihre Haltung erinnerte an die selbstverständliche Anmut der edlen Tiere und an die Beherrschtheit einer großen Tänzerin. Ihre Hände waren weiß, lang, durchsichtig und kräftig; ihre Haut war glatt wie japanisches Papier, leuchtend, aber nicht feucht; ihre Lippen hatten die Frische und Narbenlosigkeit wie bei dreijährigen Kindern; die Augen waren weitgehöhlt, kunstvoll gebogen, seltsam grau bewimpert, zwischen Lid und Stern war ein wunderlicher Bernsteinglanz, der Augapfel schwamm köstlich ruhevoll auf der perlmutterschimmernden Wölbung, und dieses Schauspiel des Lebens unter einer Stirn, die nicht flüchtete, die stille war, die zu schlummern schien und deren Helligkeit von den Haaren beschwichtigende Schatten erhielt, verlieh dem ganzen Antlitz eine bezaubernde Wahrheit und Gegenwärtigkeit.

Sie litt es nicht, wenn Manfred sie bewunderte; es kam ihr wie ein Mißverständnis vor. Sie suchte freien Anschluß, Freundschaft, Entgegenwirkung. Doch Manfred errichtete Altäre, und der Überschwang des Glücks lenkte seinen Sinn oft ins Dunkle, denn er stand nicht vertrauensvoll zu seinem Genius.

So zeigen sich die beiden Menschenkinder als beschlossene und gütige, dem Weltlärm entrückte Gestalten, von denen zu beklagen ist, daß sie der Schicksalswind auseinanderreißen und in verwunschene Bezirke des Lebens wirbeln wird.


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