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Vorspiele

. Beim Verlassen des Bahnhofs sagte Erwin zu Virginia: »Darf ich Ihnen zur Heimfahrt meinen Wagen anbieten, gnädiges Fräulein?«

Sie hörte kaum die Frage, er hatte schon den Schlag geöffnet; gedankenlos, von Kummer ganz benommen, stieg sie ein, nur in dem Trieb, irgendwo zu ruhen und sich zu sammeln. Erwin erriet ihren Zustand; er war bereit, sich zu entfernen. Da wurde sie sich ihrer Unüberlegtheit bewußt, die nicht mehr gut zu machen war. Die Aussicht, so, wie ihr zumute war, eine Viertelstunde lang oder noch länger in der Gesellschaft eines fremden jungen Mannes verweilen zu sollen, war ihr höchst unbehaglich. Ihn einfach fortzuschicken, das konnte sie nicht über sich bringen, es erschien ihr unfreundlich und undankbar, und sie bestand darauf, daß er mitfahre. »Sie müssen entschuldigen, wenn ich nichts rede«, sagte sie mit zuckendem Mund, nachdem er gehorsam eingestiegen war. Er nickte. »Sie werden sehen, daß ich unsichtbar sein kann«, antwortete er und drückte sich in die Ecke.

Doch beobachtete er an Virginias unruhigen Augensternen fast mit Genuß, daß ihr das Schweigen peinlich war. Er liebte es, von der Seite her die Augen einer Frau zu betrachten; schwer zu sagen, weshalb. Das Hinausstrahlende des unendlichen und gleichwohl gefangenen Blicks liebte er vielleicht.

Das Gefährt hielt, er sprang hinaus und reichte ihr helfend die Hand. Er hatte eine ritterliche Art zu warten, sich zu verbeugen, zu grüßen. »Auf Wiedersehen«, sagte Virginia hastig.

Nachdenklich stieg sie die weiße Wendelstiege empor, und ihr war, als käme sie in leichter zu atmende Luft. Sie fiel der Mutter um den Hals und weinte sich satt.

Was nun? Die Arbeit gab ihr keine Freuden mehr. Man saß da und wartete auf den Briefträger. Der Briefträger war nicht so faul, er brachte an jedem Morgen eine Nachricht von Manfred. Vor seiner Einschiffung schrieb er ausführlich; ein zweiter Brief, als leidenschaftliches Adieu, kam schon vom Bord des »Phönix«.

Auch Erwin hatte einen Brief erhalten. Er hatte die Absicht, es Virginia mitzuteilen. War dies eine überflüssige Zuvorkommenheit? Sie war überflüssig. Es lockte ihn nichts dabei. Er hatte wenig Zeit. Sein Tag war angefüllt wie ein Reisekoffer. Als er vor dem Hause stand, er war zu Fuß gekommen, überlegte er, ob er nicht umkehren solle. Nichts rief ihn hinauf. Verdrießlich kehrte er um und ging doch wieder zurück. Vor der weißen Wendelstiege zögerte er abermals. Da erinnerte er sich der hingeschmiegten Bewegung ihres Körpers, als sie an Manfreds Brust gelegen, jener rätselhaften Linie, die ihn fast erschreckt hatte. Dies entschied.

Virginia schützte Kopfschmerz vor und wollte sich alsbald vom Gespräch zurückziehen. Erwin durchschaute die Absicht und suchte etwas, um sie zu fesseln. Er brachte die Rede auf ihre Malerei und wünschte ihre Skizzen zu sehen. Frau Geßner schleppte diensteifrig einige Mappen herbei. Blatt um Blatt nahm Erwin und widmete den Versuchen, in denen er nur ein mittelmäßiges Talent erkannte, sorgfältige Aufmerksamkeit.

Das Interesse Virginias erwachte durch seine Kritik, die von gründlichem Verständnis zeugte. Er tadelte die Oberflächlichkeit und mangelnde Kraft des Schauens. »Ja, das weiß ich,« stimmte Virginia bei, »deswegen bin ich auch so lustlos.«

Er sprach über die Kunst wie ein Tischler über die Tischlerei. Das gefiel ihr; Sachlichkeit imponierte ihr. »Es fehlt Ihnen das systematische Studium der Natur und die Kenntnis der großen modernen Meister«, sagte er. »Wer gibt Ihnen Unterricht?«

»Das ist ja eben das Unglück,« entgegnete Virginia, »der Mann ist ein Anstreicher, weiter nichts.«

Erwin riet ihr eine Schule zu besuchen, die er kannte; er rühmte einen der Lehrer dort als unübertrefflich; es sei eine staatliche Anstalt, die Kosten wären infolgedessen gering, und er machte sich erbötig, ihre Aufnahme durchzusetzen.

Virginia war unschlüssig. »Ich bin nicht gewohnt, mit andern zusammen zu arbeiten«, wandte sie ein.

»Das heißt zu deutsch, Sie wollen in der Ahnungslosigkeit nicht gestört werden.«

Virginia sah ihm entsetzt ins Gesicht. »Um Gotteswillen spotten Sie nicht,« sagte sie, »Spott kann ich für den Tod nicht leiden. Das macht mich ganz krank.«

Sie fürchtete mit Recht, er könne ihr Bedenken als Mangel an Ernst deuten, und willigte ein. Sehr bald fand sie sich belohnt. Der neue Lehrer nahm es genau und nahm es tief. Er verlieh den Gegenständen Seele, indem er den Blick zu beseelen wußte. Virginia erfuhr allgemach, was es mit solchen Dingen für eine Bewandtnis hatte, wenn man sie von innen heraus hegen, erarbeiten und gestalten mußte. Sie bekam einen gewaltigen Begriff von dem vorher so unbestimmten Wesen und sah auch ein bescheidenes Ziel für sich selbst.

Den Kameraden und Kameradinnen gefiel ihre Art. Es war etwas Genaues an ihr, kein nebelhaftes Wort kam von ihren Lippen. Sie lernte Verhältnisse kennen, Charaktere abschätzen, Gesichter beurteilen und hatte minder häufig Gelegenheit, an ein schwer ausfüllbares Morgen zu denken. Das verlieh ihrer Anmut eine ununterbrochene Wirkung auf die Menschen.

Da sie sich gern so gewandelt sah, erinnerte sie sich gern der Hilfe Erwins. Er kam in jeder Woche ein-, auch zweimal, in den Spätnachmittags-, in den ersten Abendstunden, und seine Gesellschaft war ihr nicht unlieb. Sein Gespräch war belebend, die eigenartige Eleganz seiner Kleidung und seines Auftretens empfand sie als etwas Auszeichnendes und Festliches. Der Fortschritt in ihren Arbeiten schien ihn zu überraschen. »Seien Sie mutiger,« sagte er, »Technik haben heißt weiter nichts als Mut haben.« Er wollte mit ihr in eine Galerie gehen und schlug ihr das Palais Liechtenstein vor. Sie war dazu bereit, und eines Vormittags holte er sie ab.

Die Säle waren leer. Das unerwartete Alleinsein mit dem jungen Mann stimmte Virginia doch ein wenig zaghaft. Erwin spürte es und bemerkte, die kleinbürgerlichen Beengungen harmonierten schlecht zu ihrem Wesen, sie möge sie doch niederkämpfen. Sie schwieg, runzelte aber die Brauen.

Vor der Lautenspielerin von Carpaccio stehend, wußte er Dinge zu sagen, die Virginia niemals gehört hatte. Er schuf ihr das Bild; er gab der Gestalt Leben, der Idee Bedeutung. Zugleich war es, als enthülle er sein Herz, das in einer Region von Sehnsucht und Verlangen webte, wo man vor den Werken der Meister kniet und die Wunden heilt, die eine grausame Alltäglichkeit schlägt. Seine Worte zwangen sie zur Ehrfurcht, und sie mußte sich sagen, daß sie um so tiefer unter ihm stand, wenn sie sich nicht neigte vor solcher Größe des Gefühls.

Versonnen kam sie nach Hause. Zum erstenmal fand sie sich durch die Geschäftigkeit der Mutter gestört, dies Auf- und Abgehen, in den Laden kramen, Vorsichhinreden und Uhraufziehen. So anheimelnd es sonst gewesen, heute klagte sie darüber, wenn auch liebevoll, und Frau Geßner setzte sich in den Ofenwinkel, um zu nähen. Drei Tage später erschien Erwin gegen elf Uhr morgens; Virginia wollte gerade zur Schule. Sie war verspätet und deshalb in schlechter Laune. Erwin lud sie ein, mit ihm zur Eröffnung einer modernen Ausstellung zu kommen, sie werde interessante Bilder und interessante Leute sehen. »An den interessanten Leuten liegt mir nichts«, sagte Virginia. – »Das ist schade«, erwiderte Erwin tadelnd. – »Schon deswegen, weil ich keine Toilette für sie habe«, fügte Virginia lachend hinzu. – »Ihr schlechtestes Kleid wird genügen, alle Modedamen in Schatten zu stellen«, behauptete Erwin trocken.

»Das sind Komplimente, das laß' ich mir gefallen«, mischte sich Frau Geßner ein. »So geh doch,« wandte sie sich an das zögernde Mädchen, »dein blaues Sammetkleid ist ja sehr hübsch.«

»Na schön, so will ich's wagen«, antwortete Virginia und ging in ihre Kammer.

Das Elektromobil stand schnurrend vor dem Haustor, und einige Frauen und Kinder sahen mit neidischen Augen den beiden zu, als sie einstiegen.

Trotz ihres einfachen Auftretens erregte Virginia Neugier, ja merkbare Bewunderung, als sie an Erwins Seite durch die Räume schritt. Erwin ergriff die Gelegenheit, das junge Mädchen mit einigen Damen bekannt zu machen, vor allen mit der Baronin Resowsky, einer hochgewachsenen Frau von resoluten Manieren und furchtlosem Blick. Sie zog Virginia sogleich in ihren Kreis, und alsbald schwirrte es um sie von neuen Namen und ungewohnten Schmeicheleien. Eine nicht mehr ganz junge Person fiel ihr auf, die ihr vom ersten Augenblick an mit einer Art von stummer Huldigung begegnet war; sie hieß Marianne von Flügel, und nach kurzem Gespräch mit ihr gab Virginia, eigentlich ohne Wunsch noch Lust, das Versprechen, sie zu besuchen; als die Baronin Resowsky ein gleiches von ihr forderte, war sie um die Mittel verlegen, solcher Bitte und Ehrung auszuweichen.

Um Erwin drängten sich, sobald er allein stand, junge Männer und erkundigten sich, wer die Novize sei. Es amüsierte ihn, geheimnisvoll zu bleiben, und er beobachtete ohne Unterlaß Virginias Betragen, deren Unruhe sich nur schlecht hinter einem schüchternen und beständigen Lächeln verbarg. Auch musterte sie mit Erstaunen die kostbaren Gewänder der Frauen. Sie war Zeugin des Ansehens, das Erwin Reiner genoß, um dessen Wort und Gunst alle buhlten, und erkannte doch, daß er an allen vorüberging und seine bestrickende Liebenswürdigkeit nur wie eine Gnade walten ließ. Das verkleinerte sie in ihren eigenen Augen und Gedanken, und was galt es viel, sich stolz zu tragen vor diesen Damen, die sich gewiß weit über ihr stehend dünkten?

Sie konnte nicht umhin, gegen Erwin einige Andeutungen über ihre Eindrücke fallen zu lassen, als er am folgenden Nachmittag kam. Aber er bemühte sich, den Nimbus zu zerstören, den ihre Unerfahrenheit gewoben hatte.

»Schließen Sie von der Buntheit auf den Gehalt, vom Gezwitscher auf den Geist?« fragte er.

Sie verstand nicht ganz.

»In gewisser Weise sind alle diese Frauen käuflich«, fuhr er mit gerunzelten Brauen fort. »Käuflich aus Ehrgeiz, aus Eitelkeit, aus Habsucht, aus Gleichgültigkeit oder aus Verzweiflung. Und wollen Sie wissen, womit man sie bezahlt? Man bezahlt sie mit dem Frieden der Seele. Sie betrügen die Männer, mit denen sie verbunden sind, um den Willen zum Echten und Edlen. Sie reißen ihr Opfer in Stücken, sie plündern seine Brust und entleeren sein Gehirn.«

Virginia fühlte sich verletzt, mehr durch den Ton als durch die Worte. »Sie leben aber doch unter ihnen«, hielt sie ihm mit aufblitzenden Augen entgegen.

Er zuckte die Achseln und erhob sich, um die Flamme der blakenden Lampe herabzuschrauben. Frau Geßner befand sich in der Küche, er war mit Virginia allein im Zimmer.

Mein Gott, ja, er lebte unter ihnen, begehrt und hochgeschätzt, aber fremd und entsagend. Das etwa war in seinen Mienen zu lesen. »Meine Gärten sind verdorrt,« murmelte er schwermütig, um dann mit erhobener Stimme fortzufahren: »Wer verachtet, muß seine Leiden nachweisen, das ist wahr. Auch ich hatte eine Zeit, wo ich durch Sehnsucht gläubig war. Jede dieser jungen Frauen war mir eine Göttin; von jeder habe ich Wunder und Offenbarung erwartet, so lange sie mir unbekannt war. Ich habe mich weggeworfen und habe Weggeworfene aufgehoben. Ich habe oben und unten, in allen Winkeln dieser illuminierten Gruft gewühlt, die man die Gesellschaft nennt, ich kenne sie alle, die Aristokratin, die Bürgerin, die Abenteuerin, die Emporkömmlingin und die Gefallene. Was war das Ende? Traum um Traum ist abgeblättert wie die Schalen von einer Zwiebel.«

Er stützte den Kopf in die Hand und sah an Virginia vorüber, ziellos, doch mit tiefen Blicken. »Ich bin durch ganz Europa und durch den halben Orient gezogen,« begann er wieder, gleichsam unwillig und von der Erinnerung verstört, »ich war in allen Salons von Paris, Petersburg, London, Madrid und Rom, habe meinen Durst nach einem Menschenherzen in Ägypten und in Indien spazieren geführt, aber ich bin im Norden so kalt geblieben wie im Süden. Hätte mich irgendwo und wann eine göttliche Botschaft getroffen, daß ich zwanzig Lebensjahre als Preis bezahlen müsse für einen Tag der Erfüllung, glauben Sie, ich hätte mich besonnen? Nicht einen Augenblick. Später dann, wenn der Wille erlahmt, fängt die Sünde an. Das Glück fordert eine Seele ganz. Es flieht, wo sie sich in kleiner Münze vergeudet. Ach, Virginia,« – Virginia zuckte zusammen bei dieser ersten vertraulichen Nennung ihres bloßen Namens – »es ist nicht nur das persönliche Elend, das ich Ihnen da enthülle, es ist der Jammer unserer Generation. Wir jungen Männer allesamt gleichen dem Griechenkönig, der, ohne es zu wissen, sein eigenes Kind verzehrt. Wir sind lauter Defraudanten unseres eigenen Vermögens, unserer Bestimmung, unserer Würde, unserer Freiheit. Erniedrigen Sie sich nicht vor dieser Welt, denn es ist eine Welt, wo der Beste sein Herz und der Schlechte das des andern zerfetzt, wo der Starke zu den Schwachen Brücken schlägt, die verkappte Falltüren, wo die Gesetze Sträflingsketten und die Traditionen notwendige Übel sind.«

Er hatte sich erhoben, stand außerhalb des Lichtkreises, und seine funkelnden Augen ruhten halbverdeckt unter den blassen Lidern. Virginia nagte sinnend an ihrer Lippe. Plötzlich sagte sie: »Ich hätte nicht gedacht, daß Sie Ihr Leben so beurteilen.«

»Und warum?«

»Eben weil soviel Menschen um Sie sind, weil Sie so viele Freunde haben.«

»Freunde,« erwiderte er abschätzig, »Freunde! Was meinen Sie damit?«

»Nun ja, Sie haben doch Freunde. Manfred zum Beispiel.«

»Ah, Manfred. Dann dürfen Sie nicht von Freunden sprechen. Manfred ist mein Freund.«

Virginia sah ihn verwundert an. Sie verstand die Unterscheidung nicht.

»Freunde sind Kostgänger, Trabanten, Spione, Nachahmer, Mitspieler, Spielverderber«, sagte er fast ungestüm. »Freunde und ein Freund, das ist wie: Götter und Gott. Wenigstens ungefähr so. Manfred war für mich etwas wie ein geliebter Schüler. Es war vielleicht mein schönstes Erlebnis, wie aus seiner zarten Natur eine feurige Tüchtigkeit strömte. Er hat die Flamme auf mich übertragen, die ich in ihm angefacht, und so sind wir Brüder geworden, zwei Söhne einer Flamme.«

Dieses poetische Bild wirkte auf Virginia insofern, als es in ihr die Vorstellung von der starken Zusammengehörigkeit Erwins und Manfreds befestigte. Sie hatte es nie so liebevoll bedacht, und nun war es ihr, als ob Manfred dadurch allen Fährlichkeiten weiter entrückt sei. Sie blickte Erwin dankbar an.

»Deshalb war ich auch eifersüchtig auf Sie, warum soll ich's nicht gestehen«, fuhr er fort. »Man verzichtet nicht gern auf den ungeteilten Besitz eines Menschen, der das Lebensgefühl erhöht und dem man in starken und schwachen Stunden alle Geheimnisse ausgeliefert hat. Oft hab' ich seine Liebe zu Ihnen wie einen Verrat empfunden. Ich konnte nichts dagegen tun. Der Feind, an den ich verraten wurde, war mächtiger als ich.« Er lächelte spöttisch-galant.

Beunruhigt von der Wendung des Gesprächs stand Virginia auf. Sie antwortete nichts.

Sie war im Hauskleid; Erwin heftete den Blick wie geistesabwesend auf ihren nackten Hals, auf die zuckende Ader unter der Kehle und die bebende Sehne, die sich vom Ohr herab gegen die Schulter stemmte wie eine Säule aus Elfenbein. Virginia wurde rot. Dann errötete sie abermals darüber, daß sie rot geworden. Erwin fragte in einem fast naiven Ton, weshalb sie errötet sei. Da wurde sie zum dritten Male rot, nahm ein schwarzes Seidentuch vom Haken und warf es um den Hals, nut einer Bewegung als friere sie.

Als sie am folgenden Tag zum Mittagessen nach Hause kam, sagte sie: »Es riecht ja nach Zigarettenrauch hier. Hast du Besuch gehabt, Mutter?«

»Ja, Doktor Reiner war bei mir«, antwortete Frau Geßner ein bißchen verlegen.

»Bei dir? was hat er denn gewollt?«

»Nichts, gar nichts. Er hat mit mir geplaudert. Ist denn das sonderbar?«

»Also mit einem Wort, du hast eine neue Freundschaft«, scherzte Virginia.

»Ja, mein Kind«, erwiderte Frau Geßner behaglich, und um ihre außerordentlich feine kleine Nase legte sich ein schnippischer Zug, was Virginia lächelnd bemerkte. Sie wunderte sich; daß Erwin Reiner das Bedürfnis haben sollte, zuweilen mit einsamen alten Damen seine Zeit zu verbringen, konnte sie nicht gut glauben. Sie hatte vor, ihn zu fragen, unterließ es aber aus folgendem Grund. Wenn sie eine solche Frage stellte, mußte er annehmen, daß sie die Unterhaltung, die sie ihrerseits ihm gewährte, höher einschätzte als die der Mutter. Sie fürchtete eitel zu erscheinen, und im weiteren Verlauf dieser Überlegungen kam sie dahin zu wünschen, daß er die Zahl seiner Besuche beschränken möge. Es war aber unmöglich, ihm das zu verstehen zu geben, ohne seinen Stolz zu verwunden, ja ohne ihn gröblich zu beleidigen, durfte er doch erwarten, daß er ihr mit seinem reichen und belebenden Gespräch Freude bereite und daß sie ihm dankbar sei für das Opfer vieler Stunden.

Sie konnte sich nicht beklagen; er war so zartfühlend, daß er einige Male, als die Mutter sich zu ihrem gewohnten Abendspaziergang rüstete, mit ihr zusammen aufbrach, um nicht mit Virginia allein in der Wohnung zu bleiben. Wenn er dann weggegangen war, saß sie oft lange müßig und erinnerte sich an Worte, die er gesagt, an Ereignisse, die er erzählt, an Personen, die er geschildert hatte. Er besaß eine wunderbare Kunst darin, Begebenheiten und Menschen plastisch darzustellen, ohne sich im geringsten gegen die Natürlichkeit zu versündigen. Da lebten Bälle und Seefahrten und Wanderungen und Abenteuer in fremden Ländern und die kleinen Intrigen der großen Welt und die großen Ränke kleiner Herren, da lebte alles vom Unbedeutenden bis zum feierlich Historischen, und alles hatte sein besonderes Gesicht und seinen Platz im Allgemeinen.

Einmal als er sich ruhelos und ruhebedürftig nannte, riet ihm Virginia, er solle heiraten. Er erwiderte ernsthaft, er kenne die Frauen zu gut. Man gibt den Reichtum der Erfahrung zu, wenn man der Enttäuschung so gründlich sicher ist. Er wußte mit Verschwiegenheit sich selbst in den Schatten zu stellen, während er bitter beredt den Bannstrahl schleuderte.

Er kannte das treuherzige Kind aus der Vorstadt, das seinem Liebsten keine Gunst verweigert, das in einer leicht zu täuschenden, gesang- und tanzfrohen Welt wohnt, in einer von den zahllosen Stuben gepferchter Häuser, wo man sich beim Pfänderspiel und dem Scheppern eines Pianinos bis fünf Minuten vor zehn Uhr des Lebens Lust und Überschwang ergibt. Ein Idyll, das den Nachteil der Langeweile hatte.

Er kannte die Modedame, die Tigerin des Vergnügens, deren Gewissenlosigkeit sich wie Rachsucht ausnimmt und deren Verfeinerung von der Erschöpfung kommt. In ihr ist eine großartige Kraft zur Lüge, und sie versteht es, durch Zärtlichkeit zu quälen. Sie fängt ihre Leute wie der Fuchs ein Huhn, und sie ist leer, unergründlich leer; aber der Abgrund lockt zum Sturz, und wer nach einer Tiefe verlangt, den schreckt keine Finsternis. Wenn er dann von dem unheilvollen Sturz erwacht, macht ihn der Ekel zum Verbrecher. Er will nicht mehr Huhn sein, sondern Fuchs. Nichts ist verführerischer in der Gesellschaft als die Gebärde eines Mannes, der die Peitsche zu schwingen weiß. Wenn's nur knallt; alles seufzt erleichtert auf, wenn's knallt.

Er kannte die jungen Mädchen, die frühzeitig eine Art von verliebten Beziehungen pflegen, welche man in den oberen Ständen Flirt nennt. Eine Sache, dazu erfunden, um die Seele zu beschmutzen, während sie den Körper bewahrt. Die erschlafften und neugierigen Geschöpfe stillen den Hunger ihres Gemüts mit Zerstreuungen, die bloß Hunger nach Zerstreuungen erregen, und können niemals den Anschluß an ein tätiges Glück finden. Der Rattenfänger braucht nicht einmal zu pfeifen, die Tierchen kommen von selbst, Väter und Mütter schreien Zeter, und es gibt Verwicklungen wie bei Kotzebue.

Virginia erbebte. Das Bild der Verderbnis ging ihr nahe. Sie hatte keinen Argwohn, daß all dies einen persönlichen Bezug haben könne. In seinem edlen Zorn sah sie nur einen Beweis seines edlen Interesses für Menschen und Zustände.

Er sprach von berühmten Frauen, zum Beispiel von Rosanna Schörk, der Schauspielerin. »Frauen von Genie sind streberhaft bis zur Raserei,« sagte er, »und ihr glorioser Egoismus verleitet sie dazu, einen Mann für ihren Ehrgeiz wie eine Nummer im Lotteriespiel zu benutzen. Da verbeugt man sich, geht nach Hause und sperrt seine Türe zu. Aber ist die Tür auch zugesperrt, so ist doch eine Glocke dran. Man hat nicht den Mut, die Drähte zu zerschneiden. Warum, man weiß ja nicht, wer kommen kann.«

Er stand auf, ging ein paarmal durch das Zimmer und blieb dann vor Virginia stehen. »Ich möchte Ihnen aber auch Gesichter von Frauen zeigen, Virginia, ich möchte sie emportauchen lassen wie ein Spiritist die Geister, Frauen, die den Fluch der Verkommenheit mit dem Adel unverschuldeter Sklaverei verschmelzen; Frauen, die heroisch sind, indem sie sich preisgeben, und stolz, indem sie sich mit Füßen treten lassen; Frauen, die so vom Schicksal gejagt sind, daß sie erlöst scheinen, wenn sie zusammenbrechen; Frauen, durch deren Seele hindurch man wie durch ein Zauberglas den Sinn und Wahnsinn unseres Lebens gewahrt. Das möchte ich tun, weil ich Ihnen Weisheit geben, weil ich Ihnen Illusionen rauben möchte, die eine reine Phantasie nur belasten. Vielleicht bin ich auch auf einem Irrweg; die Unsicherheit darüber reizt mich, denn Sie sind mir fremd, ganz unbeschreiblich fremd, wie sonst kein Mensch.«

Virginia saß auf einem Bänkchen am Ofen. Ihr einer Arm erreichte mit dem Handgelenk gerade noch den Tisch, wo er sich unbeweglich gestützt hielt, der andere lag im Schoß. Ihre Oberlippe überschnitt ein wenig die untere; die Spannung der Haut am Kinn drückte Unbehagen aus. Das Haar bildete eine dichte glatte Welle über der Stirn, und das im Lampenlicht irisierende Blond der Schläfenlöckchen schien bisweilen den Goldschimmer des Fleisches verwandelnd zu beleuchten.

Sie sah wirklich die Gesichter der Frauen. Sie hatte Mitleid mit ihnen. Sie sah die Räume, in denen sie hausten, die Betten, in denen sie schliefen, und die Kleider, mit denen sie sich schmückten. Wunderlicherweise war all das reich, reizvoll und begehrenswert. Da verschwand ihr Mitleid wieder, und sie dachte an sich selbst. Ihre Miene wurde zaghaft, wenn sie an sich selbst dachte.

Gegen Erwin blieb sie stille. Sie hatte Angst vor seinem prüfenden Blick, auch Angst vor dem, was ihn so wissend machte, so genau, klar und unbarmherzig gegen sein eigenes Leben.

Von Mal zu Mal seltsamer berührte sie sein Hereintreten ins Zimmer. Es war stets, wie wenn man ihn zuvor nie gesehen hätte. Einen Moment lang schien er zerstreut, ja sogar unfreundlich. Plötzlich strahlte er von jener gewinnenden Liebenswürdigkeit, die nicht frei von Herablassung war. Er sagte »mein Töchterchen«, zur Mutter sagte er Mama und tätschelte gnädig die Wange der alten Dame. Er verstand es gemütlich zu sein und schätzte die Gemütlichkeit. Trotzdem fühlte sich Virginia nie so recht gemütlich.

Es umwehte ihn der Hauch vieler Begebnisse; vieler Menschen Wort und Atem haftete an ihm. Seine Hände suchten immer etwas zu greifen; er saß selten friedlich auf einem Fleck, meist ging er ruhelos umher. In seinen Augen war noch der tobende Lärm der Straße oder doch das Zuhören von einem früheren Gespräch. Die ganze Stadt war in seinen Augen, deren Blick leuchtend dumpf war und etwas Zurückschiebendes hatte, als wolle er sagen: bitte nicht zu nahe. Es war wie bei einem, der eine zerbrechliche Kostbarkeit in der Hand hält und gestoßen zu werden fürchtet. Er schien stets aus einer unbekannten Region zu kommen, und die Art, wie er die Unterhaltung begann, hatte trotz äußerer Leichtigkeit etwas Gezwungenes, als müsse er erst überlegen, was er von den Vorgängen in jener Region zu verschweigen habe. Es wirkte eigentümlich lähmend auf Virginia, daß man seine Gegenwart, seine Sympathie, seine Erinnerung jedesmal neu erobern mußte, daß man gesammelt sein mußte, während er sich erst sammelte. Man vergaß ihn beinahe, wenn er fortgegangen war, aber man war angenehm bewegt und geweckt, sobald er kam.

Bei alledem fiel es Virginia doppelt auf, daß er jetzt die Mutter fast täglich besuchte, und das gerade in den Stunden, wo sie in der Malschule war. »Was sprecht ihr denn miteinander?« erkundigte sie sich mit verwundertem Lächeln, aber Frau Geßner tat geheimnisvoll. Es zeigte sich jedoch, daß sie in der Folge bei vielen Gelegenheiten auf die gedrückten Verhältnisse anspielte, in denen sie beide sich zurechtfinden mußten. Nicht hoffnungslos wie vordem redete sie darüber, sondern als ob ein Wandel möglich, als ob er zu gewärtigen sei, als ob sie Pläne und Aussichten habe. Virginia wußte nicht, was sie davon denken sollte.

Erwin hatte vorsichtig begonnen, sich in die Vermögenslage des kleinen Haushalts Einblick zu verschaffen. »Wie kann man so leben!« rief er ehrlich erschrocken, als ihm Frau Geßner die geringfügige Summe nannte, mit der sie wirtschaften mußte. »Hat Manfred sich nie darum bekümmert?« fragte er.

Eine stolze Gebärde der Frau war die Antwort. Und diese Gebärde entsprach ihrer Beziehung zu Manfred, indes sie dem Fremderen ihre Dürftigkeit zu offenbaren vermochte. Manfreds Zartgefühl hatte den Stolz gefordert, Erwins mutige Sachlichkeit zwang zum Vertrauen.

»Es wäre abscheulich, Ihre Tochter noch zwei Jahre oder länger in so erbärmlichen Umständen vegetieren zu lassen«, sagte Erwin. »Eine solche Edelnatur braucht Licht, Raum und Komfort. Ich bin erstaunt über den guten Manfred. Es gibt Fälle, wo die vornehme Zurückhaltung wie Nachlässigkeit aussieht. Schließlich hat er doch alle Verantwortung stillschweigend übernommen und mußte darauf dringen, daß –; aber freilich, wie wäre Virginia zu bewegen? Manfred war einfach nicht schlau genug. Seien wir schlau, Mama. Wenn ein Kranker sich weigert, seinen Strohsack zu verlassen, hebt man ihn im Schlaf auf und schiebt ihm einen Pfühl unter, ohne daß er's merkt.«

Frau Geßner verstand nicht eine Silbe. Ängstlich brach sie das Thema ab. Da sich Erwin kalt verabschiedete, glaubte sie ihn beleidigt, und als er ein paar Tage später wiederkam, fragte sie, was er mit dem Strohsack und dem Pfühl gemeint habe. »Ich werde es Ihnen erklären,« antwortete Erwin, »aber können Sie auch schweigen?«

»Ja, ich kann's.«

»Sie sagten mir, Virginia besitze etwas Kapital; ist es möglich, fünf- bis sechstausend Kronen davon flüssig zu machen?«

»Nein, das geht nicht,« antwortete Frau Geßner; »das Geld wird von einem gerichtlichen Vormund verwaltet.«

»Das ist schade. Gerade jetzt hätte sich Gelegenheit geboten, eine solche Summe zu verdreifachen. Es handelt sich dabei um eine Spekulation, für deren Gelingen ich mich verbürgt hätte. Sehr schade.« Bedauernd blickte er Frau Geßner an, die unwillkürlich die Hände faltete. Plötzlich sprang er auf. »Da fällt mir etwas ein«, fuhr er fort. »Es ist ja schließlich nicht von Belang, daß Sie mir die Summe geben. Ich nehme an, Sie hätten sie mir gegeben, damit ich sie fruchtbringend anlege. Ich strecke Ihnen einfach diese fünftausend Kronen vor, ungefähr wie es die Agenten machen, nur daß ich keine Zinsen beanspruche; haben wir dann das Geschäft glücklich zustande gebracht, so ziehe ich meine Auslagen ab, und Sie bekommen den reinen Gewinn. Wie gefällt Ihnen der Vorschlag?«

Der guten Frau wurde es schwindlig. »So? machen das die Agenten so?« fragte sie.

»Genau so.«

»Aber wenn das Geld verloren geht? Wenn Sie sich täuschen?«

»Das lassen Sie nur meine Sorge sein, Mama.«

»Aber wie ist denn das denkbar? Wie geht das zu?« murmelte Frau Geßner. »Warum tun es denn nicht alle Menschen, wenn es so gefahrlos ist? Da läge ja der Reichtum auf der Gasse –«

»Ein Wagnis ist immerhin dabei,« versetzte Erwin lächelnd und ungeduldig. »Aber die großen Fische im Meer, sehen Sie, die ziehen die kleinen hinter sich nach. Ihre paar Kreuzer, Mama, die werden von den Millionen geschleppt und mästen sich von ihnen. Man muß nur einen Wächter haben, der einen benachrichtigt, wann so ein großer Fisch in Sicht kommt. Manchmal frißt auch die Million den kleinen Fisch oder wird mit ihm gefangen, aber lassen wir uns das nicht anfechten, ich bürge Ihnen.«

Die Frau zauderte. Das Abenteuer erschien ihr unheimlich, doch am Ende konnte sie der Verlockung nicht widerstehen. Nachdem sie eingewilligt hatte, beharrte sie darauf, daß er einen Schuldschein von ihr annahm, für welchen Deckung zu finden ihr bei einem unglücklichen Ausgang schwer geworden wäre. Erwin ließ diese Formalität mit geschäftlichem Ernst über sich ergehen. Während eines Gedankens Dauer erbitterte ihn die Gewöhnlichkeit der Person, die ihn für einen Börsengänger halten konnte, doch in der folgenden Zeit studierte er nicht ohne Interesse alle Merkmale der Spielererregung an der alten Dame. Sie Virginia gegenüber beherrscht zu machen, erforderte seine ständige Mahnung; das Mädchen hatte scharfe Augen und betrachtete die Mutter oft mit grübelndem Erstaunen.

Nach anderthalb Wochen überreichte Erwin Frau Geßner ein dickes Kuvert, in welchem sich so viele Banknoten befanden, daß die Empfängerin erschrocken aufschrie. »Hier ist der Schuldschein«, sagte Erwin gelassen, zerriß das Papier und warf die Stücke ins Ofenfeuer. Die Frau saß wortlos auf ihrem Stuhle. Der Anblick ihrer Bezauberung wirkte unerquicklich auf Erwin.

»Bedenken Sie wohl,« sagte er beinahe hart, »daß diese paar Scheine nicht in der Sparbüchse verschwinden dürfen. Die Absicht war, Virginias Los zu verbessern. Eine Schönheit wie die ihre macht uns in jeder Weise zu Schuldnern, Sie am meisten. Geben Sie ihr die leichtest verdauliche Kost. Schaffen Sie teure Wäsche für sie an. Grobe Nahrung und schlechtes Linnen würden die unvergleichliche Zartheit ihrer Haut nach und nach verderben. Wenn sie ein Kleid trägt, in dem sie gering erscheint, wird das Glück verringert, das sie hervorbringen soll. Denn Virginias Aufgabe ist es, Glück zu erzeugen, so wie eine Kirche Andacht, eine melodiöse Musik Vergnügen erzeugt. Knausern Sie nicht, Mama. Ich werde Ihnen eine genaue Aufstellung von allen Dingen geben, die Sie kaufen müssen. Und seien Sie unbesorgt, der Baum, den wir da geschüttelt haben, ist noch beladen mit Früchten.«

»Wie soll ich Ihnen aber danken?« stammelte Frau Geßner beklommen.

»Indem Sie meine Ratschläge befolgen.«

»Aber ich kann's doch Gina jetzt nicht mehr verheimlichen?«

»Ist auch überflüssig. Ich werde selbst mit ihr sprechen.«

Doch Erwin ließ der Sache zunächst ihren Lauf, und Frau Geßner zeigte sich hilflos, als Virginia, stutzig geworden durch ungewöhnliche Ausgaben, die Mutter zur Rede stellte. Sie hätte sich in verräterische Widersprüche verwickelt, wenn zur gefährlichen Stunde nicht Erwin erschienen wäre.

Er hielt allen Ernstes eine einleuchtende kleine Vorlesung über Geldtransaktionen, über den Kurs, über Vermögensanlage und die geschäftliche Ausnützung gewisser Strömungen. Was er getan habe, sei nicht nur verzeihlich, es sei erlaubt, und nicht nur erlaubt, es sei klug und gut, so klug und so gut wie das Beginnen des Landmanns, der von einem fernen Fluß das Wasser auf seinen Acker leitet.

»Auf seinen Acker, ja; aber nicht auf einen fremden Acker«, wandte Virginia lebhaft ein.

»Wenn er selber genug hat und sein Nachbar sich nicht zu rühren versteht, warum nicht? Denken Sie doch nicht so krämerhaft, Virginia.«

»Man kann über solche Dinge nicht krämerhaft genug denken«, erklärte sie eigensinnig.

»Danke.« Er sah sie von oben herab an, und sie wich seinem Blick aus.

»Ich hab's so gewollt«, mischte sich nun Frau Geßner bündig in das Gespräch, »und ich verantwort' es auch.«

»So sind schon viele Leute ins Elend geraten, Mutter«, sagte Virginia naiv warnend, und als Erwin lachte, zuckte sie beschämt lächelnd die Achseln.

Sie sträubte sich gegen die unerwartete Wandlung der Umstände. Erworbenes oder ererbtes Gut verlieh Eigentumsrecht; dies Geld war ihr unheimlich, und Wünsche, deren Erfüllung es gewährte, kamen ihr wie Vergehen vor. Sie beschloß, Manfred davon Kunde zu geben und ihre Haltung seinem Urteil zu unterwerfen. Da sagte ihr Erwin, er selbst habe an Manfred geschrieben, und sie wollte nun abwarten, ob Manfred solchen Reichtum billigte, der, wie sie sich ausdrückte, »aus nichts entstanden war, wie die Würmer im Mehl«.

Aber was für ein neuer Geist war plötzlich in die Mutter gefahren? Virginia wußte kaum, wie es zuging, plötzlich sah sie sich im Besitz kostbarer Wäsche; hatte jene reizenden Kleinigkeiten der Toilette, die sonst nur verwöhnten Damen Bedürfnis sind; hatte Schuhe von meisterlichem Schnitt und Hüte, die mehr gedichtet als wirklich schienen. »Was treibst du denn, Mutter?« rief Virginia ein übers andre Mal bestürzt. »Wehr dich nicht«, sagte Frau Geßner streng, »und widersprich mir nicht. Es ist beschlossene Sache, daß das Geld, das wir gewonnen haben, für deine Ausstattung verwendet werden soll. Ich möchte ja Gott auf den Knien dafür danken, daß du's nun endlich ein bißchen besser hast.«

Dennoch schien ein Geisterarm die Herrlichkeiten in ihr Leben zu stellen, die ihrem Körper, ihrem Auge, ihren Sinnen in gleicher Weise schmeichelten. »Ich verstehe nur nicht, wo du plötzlich so viel Geschmack hernimmst«, sagte sie zur Mutter.

»Geschmack! Was denn! man geht zu den besten Firmen und kauft das beste. Ist das eine Kunst?«

»Wer hat dir denn die besten Firmen empfohlen?«

»Wer? Erwin zum Beispiel. Der kennt das alles aus dem Effeff. Siehst du dabei was Ungehöriges?«

Virginia wußte keine Antwort. Zufällig kam gerade die Schneiderin, eine hochmanierliche und gezirkelt vornehme Person, schlug Modenbilder auf und nahm Maß zu einem eleganten Kostüm. Es ist doch schön, dachte Virginia, wenn man geschmückt wird und kein schlechtes Gewissen dabei hat. Trotzdem wünschte sie sich noch leichteren Sinn, wenn ihre Finger liebkosend in Spitzen wühlten und bedächtig über Seide und Battist raschelten.

Wie gerne spürte sie das feine Gewebe am Leib, wie sprach ihr Auge mit den delikaten Farben edler Mode! Der Spiegel wurde ein liebevoller Berater, und sie, sie wurde unnahbarer für zudringliche Blicke, stand abgeschlossener da, indes die Art ihrer Bewegung unbewußt zu einer Welt stolzerer Formen strebte.

Erwin erkannte es und hielt es für förderlich, ihr die Pforten dieser Welt zu öffnen.


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