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Zwischenspiele

. Am andern Vormittag erhielt Virginia durch Wichtel einen Brief Erwins, der folgenden Wortlaut hatte:

»Virginia! Erwarten Sie nicht, daß ich das Benehmen der Trunkenbolde nachahme, die in der Nüchternheit bejammern, was sie im Rausch verbrochen haben. Erwarten Sie nicht, daß ich mich der Trunkenheit anklagen werde, um nüchtern zu erscheinen. Ich war weder betrunken, noch bin ich nüchtern. Auch bin ich nicht feig genug, um die Gelegenheit zu bezichtigen. Ich trete nicht als reuiger Sünder vor Sie hin. Beschließen Sie! Richten Sie! Ich werde mich beugen. Aber zu beschönigen habe ich nichts.

Daß meine Situation schwierig ist, kann ich nicht leugnen. Vielleicht wäre sie zu umgehen gewesen durch List; vielleicht durch einen Aufwand von Heroismus, dessen ich nicht fähig bin. Sich einer Leidenschaft erwehren, mag heroisch sein; von ihr überwältigt zu werden, ist darum nicht verwerflich, sie zu bekennen, ein Akt persönlicher Aufrichtigkeit, der in einem Fall, wie dieser es ist, gewiß keine angenehmere Lage schafft. Ich entstamme einer Generation, die die Ökonomie der Leidenschaften gelernt hat. Ich habe gelernt, mich nicht zu verschwenden, mich nicht zu verschenken, Bezahlung zu fordern und Wirtschaft zu halten. Wir alle haben gelernt, gerade dann in die Kandare der praktischen Vernunft zu beißen, wenn das unpraktische Gefühl unsere Bequemlichkeit und unsern Vorteil bedroht. Es wäre bequemer und vorteilhafter für mich gewesen, zu schweigen, da ja meine Sache hoffnungslos ist von Anfang bis zu Ende.

Ihre Empfindung wirft mir vor, mich am Freund vergangen zu haben. Aber mußte ich nicht die Maske eines brüderlichen Beschützers in der Stunde von mir werfen, wo ich sie als Maske erkannte? Ich habe keinen Eid gebrochen; ich habe kein Gelöbnis verletzt; ich habe keine Pflicht verabsäumt; ich habe meiner Ehre nichts vergeben, ich habe die Ihrige nicht angetastet. Manfred ist in meinen Augen noch gewachsen, denn ich bin ihm eine Wahrheit schuldig, die an ein großmütigeres Herz appelliert, als es das meine ist, und er hat ein Verhängnis über mich heraufbeschworen, das durch keine Klauseln der Konvention verringert werden kann. Zwischen mir und Manfred steht kein tyrannisch trennendes Entweder-Oder, sondern die versöhnende Erkenntnis, welche Kameraden erst recht aneinander bindet, wenn sie vom Schicksal ungleich begünstigt werden.

Einst, da ich unschuldig war, wie Sie es sind, Virginia, haben mir meine Träume ein Ideal zugeschworen, gleichwie Kindheitsgedanken eine unerhörte Erfüllung ehrgeiziger Visionen vorgaukeln. Ich hatte dieses Ideal vergessen. Ein allgemeines Menschenlos: das Ideal zu vergessen, wenn die Unschuld dahin ist. Ihre Schönheit ist die Ursache, daß ich mich einer Rücksicht entledigte, an die im gewöhnlichen Verlauf der Dinge Mann gegen Mann eisern gebunden ist. Sollte ich dadurch des Anrechts auf einen Freund am Ende doch verlustig gehen, so sei es. Ich weiß nicht, ob ich es werde tragen können. Die Zukunft wird es lehren. Aber desungeachtet gibt es in meinem Innern ein nicht niederzuschmetterndes Gesetz: Schönheit ist nicht hörig. Die Schönheit anzubeten ist kein Verbrechen. Wer besitzt sie? Einer? Einer besäße die Schönheit? Einer besäße Virginia für das ganze Dasein und nur für sich allein? Dagegen bäumt sich mein Herz, mein Glaube, mein Gerechtigkeitsgefühl. Ich kann es nicht mit Gleichgültigkeit erdulden, und die Qual macht mich zum Narren. Denken Sie, daß man es einem Mann nicht vom Gesicht ablesen kann, wenn sein Herz zerstört ist?

Ich spreche von Ihrer Schönheit wie die seltenen Tibetreisenden von den Wundern des Dalai-Lama. Denn ich habe gerungen um diese Schönheit, ich habe sie entdeckt, ich habe sie erkannt, ich habe sie erforscht, ich und nur ich allein. Die andern wissen von ihr, sie spüren sie von fern, wie Analphabeten den Wohlklang vollendeter Verse spüren, sie sind wie Sonntagsgäste vor einer zauberhaften Statue, und ihre Bewunderung ist so verständnislos wie billig. Ich aber habe die Statue geträumt, bevor ich sie sah, ich habe sie aufgebaut, gemeißelt, geschaffen, begriffen in meinen Träumen, und das Gefühl, das sie mir erweckt, wurzelt in der Sehnsucht, also im edelsten Grund des menschlichen Gemütes. Ja, sie rührt das Edelste in mir auf, sie erschüttert mich, sie mahnt mich daran, daß ich niemals eine Mutter hatte und daß ich ein Lebensziel haben könnte, wenn mir vor dieser grandiosen Erfüllung nicht ein finsteres Geschick zu scheitern bestimmt hätte. Beschließen Sie! Richten Sie! Ich beuge mich. Erwin.«

Virginia hatte den Brief zwei Stunden lang in ihrer Schürzentasche herumgetragen, bevor sie sich überhaupt entschlossen hatte, ihn zu öffnen. Beim Anblick der kühnen und regelmäßigen Schriftzüge ließ sie das Blatt wieder sinken, wie ein von zahlreichen Feinden Umringter den erhobenen Arm sinken läßt.

Das geschriebene Wort ist ein mächtiger Herr. Unangreifbar gerüstet steht es da und lenkt den Geist in vorgesetzte Bahnen. Da Virginia von den Mitteln des Stils nur eine geringe Vorstellung hatte, folgte dem ersten Widerwillen und der eisigen Befremdung über die leidenschaftliche Ausdrucksweise eine nachsinnende Teilnahme. Die redliche Natur findet sich in die Erfahrung, daß eine ihrer Eigenschaften oder Kräfte dem Bereich des Außerordentlichen zugehört, niemals ohne Schrecken. Dieser Schrecken trat jetzt an die Stelle des lästigen Verdrusses, den Virginia stets empfand, wenn man ihre Schönheit hervorhob, über die sie sich kein Verdienst anmaßte, die sie im ganzen trug, wie sie das einzelne trug, Auge, Mund und Hand, ohne mehr davon zu genießen als ein flüchtiges Wohlgefühl vorm Spiegel oder im Blick des sympathischen Beschauers.

Sie legte den Brief beiseite. Sie nahm ihn wieder, legte ihn wieder beiseite. Sie las den Satz: sollte ich des Anrechts auf einen Freund verlustig gehen, so sei es. Da ward ihr die unendliche Verehrung und Liebe gegenwärtig, die Manfred an Erwin band. Sie konnte es vorausdenken, daß Manfred eine solche Enttäuschung nie würde verwinden können.

Was hätte ich zu fürchten? fragte sie sich; wer könnte mich meinem Manfred rauben? Wohl aber mochte es geschehen, daß Manfred den Freund verlor, der ihm so teuer war, dem er nicht weniger vertraute als der Geliebten. Sie mußte es verhüten, das stand fest. Wenn sie, wenn ihre Schönheit, wie Erwin sagte, schuld war, daß Erwin den Freund vergaß, so war sie doppelt zur Treue aufgefordert, und es lag ihr ob, für Manfred um den Freund zu kämpfen. Das stand fest.

Noch spürte sie freilich, wie ihr dort im Pavillon zumute gewesen. Bei seinen verwegensten Worten war ihr zumute gewesen, als ob sie sterben müßte, falls es kein anderes Mittel gab, ihn nie wieder zu sehen. Doch ihre nachsinnende Teilnahme, die Trauer um den Verlust, der Manfred drohte, trieb sie an, zu handeln, und es kam eine eigentümliche Freudigkeit über sie. Eine Frau, die entschlossen ist, zu handeln, wird davon noch kräftiger befeuert als ein Mann.

Sie setzte sich an den Tisch, nahm einen Briefbogen und schrieb: »Sie kennen mich nicht, Erwin. Hätten Sie mich gekannt, lieber hätten Sie sich die Zunge abgebissen, als daß Sie davon gesprochen hätten. Nun wäre das Ganze ja sehr einfach. Vergessen kann ich nicht, das Geschehene ist da, die Worte sind gesagt und aufgeschrieben, die Gefühle hat man gehabt. Ich müßte Sie meiden. Das liegt in meiner Gewalt, nicht wahr? Wenn ich will, dann gibt es keinen Erwin Reiner mehr für mich. Doch Sie dürfen Ihren einzigen Freund nicht so mit Schmach bedecken. Sie schreiben: richten Sie, ich beuge mich. Gut! Beweisen Sie mir, daß Sie mich achten und daß Sie der Freundschaft Manfreds noch würdig sind. Vernichten Sie das Häßliche; Sie haben ja Gewalt über sich, treiben Sie es aus Ihrem Herzen, um Manfreds und meinetwillen.«

So weit war sie gelangt, da stockte sie. Die Worte kamen ihr schal vor. Sie sah sein spöttisches Lächeln über ihnen schweben. Sie sagte sich, daß es feig sei zu schreiben. Auch wollte sie ihm nicht die Perlenkette kurzerhand zurückschicken, um nicht Trotz und Kränkung bei ihm zu erregen; denn dadurch wäre die Umkehr, die sie in seinem Gemüt hervorzubringen beabsichtigte, erschwert oder vereitelt worden. Demzufolge mußte sie selbst zu ihm gehen. Wie die Dinge einmal standen, konnte sie ein Geschenk, das nach ihrer Schätzung mindestens ein paar tausend Kronen wert war, nicht noch stundenlang im Hause behalten.

Während sie in ihrem Zimmer war und all das überdachte, kam die Mutter und sah das Perlenhalsband auf dem Tisch liegen. »Was ist das? woher hast du das?« fragte sie fast schreiend. Virginia war erschrocken darüber, daß sie nicht daran gedacht hatte, das Schmuckstück vor der Mutter zu verbergen. Was sollte sie nun sagen? »Erwin hat es mir geschenkt,« antwortete sie zögernd, »ich muß es ihm aber wiedergeben.« – »Geschenkt? Wiedergeben?« stammelte Frau Geßner, indem sie das Halsband mit stummem Erstaunen musterte. »Das hat er dir geschenkt? Und du willst es zurückgeben? Warum?« Auf ihren Zügen malte sich ein förmlicher Krieg der angenehmsten und der argwöhnischesten Gedanken.

»Mehr kann ich dir nicht erklären, Mutter«, entgegnete Virginia mit gesenktem Blick. »Ich glaube, es sind Mißverständnisse da, und ... ich kann es nicht behalten.«

»Gehst du heute zum Malen?« fragte Frau Geßner.

»Ja, ich will ein bißchen arbeiten. Das wird mir helfen. Ich hab' einen schlechten Kopf.«

»So laß mir den Schmuck bis zum Mittag. Schau mich nicht so mißtrauisch an, ich werd' ihn dir gut verwahren.«

»Aber was willst du damit?«

»Betrachten will ich ihn, nur manchmal betrachten. Er ist gar zu wunderbar.«

Virginia willfahrte ungern. Kaum war sie fort, so begab sich Frau Geßner in die Stadt zu einem Antiquitätenhändler, den sie seit ihrer Jugend kannte, und erkundigte sich bei ihm nach dem Wert des Halsbandes. Um die beinahe beleidigende Neugier des Mannes zu befriedigen, erzählte sie, daß das Kollier ein Brautgeschenk sei, das Virginia von ihrem Verlobten erhalten habe. Der Händler prüfte, zählte; es seien zwar nicht Perlen ersten Ranges, sagte er, die seien in solcher Menge kaum erschwinglich, aber als er den ungefähren Preis nannte, der nach seiner Schätzung hunderttausend Kronen übersteigen mußte, bedurfte es für die erschütterte Frau eines großen Kraftaufwandes, damit sie ruhig auf ihren Beinen stehenbleiben konnte. Auf dem Nachhauseweg kämpfte sie mit Schwindelanfällen, und ihre Gedanken an Virginia, an Erwin, an Manfred waren gleicherart heftig in Bestürzung und Sorge wie in einer Hoffnung, mit der sie seit Monaten lüstern gespielt.

Klugheit und böses Gewissen verschlossen ihr Virginia gegenüber den Mund. Sie wollte abwarten. Aber sie war verstört und konnte bei Tisch nichts essen. Schweigend gab sie Virginia die Kette zurück. Virginia war innerlich selbst zu beschäftigt, als daß ihr das Wesen der Mutter aufgefallen wäre. Gegen fünf Uhr machte sie sich fertig, um zu Erwin herauszufahren. Das Halsband packte sie in Seidenpapier und steckte es in das Ledertäschchen, das sie trug. Ihre Bewegungen waren energisch und ihre Mienen gesammelt. Ich tu es für Manfred, wiederholte sie sich immer wieder zur Beschwichtigung ihrer Unlust und geheimen Angst.

»Der gnädige Herr ist nicht zu Hause«, sagte Wichtel.

Virginia war verstimmt, denn sie erkannte, daß sie einen solchen Schritt nicht leicht zum zweitenmal mit demselben Antrieb unternehmen würde. Der scharfsinnige Wichtel vermutete mit Recht, daß es sich hier um eine Sache von Belang für seinen Gebieter handelte; er versicherte, der gnädige Herr werde in einer Viertelstunde da sein, bat die Zögernde, im Salon zu warten, rückte einen Sessel vor die Terrasse, brachte ein paar Zeitschriften herbei, und all das ließ sich Virginia still und ein bißchen eingeschüchtert gefallen. Als sie allein war, blickte sie ziellos denkend in die Baumwipfel hinaus, die ein matter Regenwind in flüsterndem Rauschen erhielt. Es war ihr, als müsse sie sich abwenden von dem Prunk des Gemachs, der ihr heute tot erschien wie ein Kleid im Schaufenster eines Modengeschäfts.

Inzwischen hatte Wichtel in den Klub telephoniert, und fünf Minuten später raste das Elektromobil vom Lobkowitzplatz nach Pötzleinsdorf. Erwin wurde von Wichtel mit dem Gesicht eines Mannes empfangen, der sich verdient gemacht hat. Avant le souper, dachte Wichtel, der eine französische Bildung genossen hatte, als er die Erregung in den Zügen seines Herrn gewahrte.

Selbst den Nachschimmer dieser Erregung abzutun von seinen Mienen, war der Zweck eines kurzen Verweilens in der Bibliothek. Ich habe sie richtig eingeschätzt, dachte er; sie hat Mut, der Brief war ein Wagnis, aber es ist gelungen.

Dann öffnete er die Tür zum Salon. Virginia stand auf. Seine Blicke umfaßten sie, dankten ihr, gaben vertrauenerweckende Beteuerung und musterten sogar ihren Anzug mit kennerhaftem Wohlgefallen. Sie trug ein dunkelgrünes Kostüm und unter dessen Jacke eine einfache, weiße, von grünen Streifen durchzogene Seidenbluse, ferner einen schwarzen, großen, runden Strohhut mit weißem Tüllaufputz, der dem etwas blassen Gesicht sommerliche Helligkeit verlieh.

Erwin bat sie, ihm in sein Arbeitszimmer zu folgen. Sie gingen hinüber. Da der Regen auf das Sims klatschte, schloß Erwin die beiden hochgewölbten Fenster.

Er wußte, daß jedes ungeschickte oder übereilte Wort ein nicht wieder gut zu machender Fehler werden konnte. Er war noch nicht ganz im klaren darüber, weshalb Virginia gekommen war, aber er mußte ihren Beweggrund erraten, und er durfte sie nicht verwirren. Er setzte sich weit von ihr und betonte so einen Willen zur Distanz, der ihr eine gewisse Freiheit geben sollte. Sie kämpfte sichtlich. Er wünschte ihr zu helfen. Er lenkte sie ab, ließ aber das Ziel von ferne sehen. Er sprach von seiner Jugend, von den Mängeln seiner Erziehung, von dem ungesunden Servilismus einer Welt, die bereit gewesen, ihm zu dienen, noch ehe er Zeit gehabt, ihre Dienste zu bewerten. Er habe niemals erworben, er habe stets nur besessen, daher sei jeglicher Besitz nur verzehrt und nicht genossen worden.

An Virginias Miene erkannte er, daß er auf dem Weg zu ihr war. Mit erstaunlicher Verwandlungsgabe brachte er es fertig, ihr alles das zu sagen, was sie ihrerseits ihm vorzuführen beabsichtigt hatte. Virginias Augen glänzten. Mit edler, überraschter Zustimmung schaute sie ihn an. Daß sie selbst durch drohende Schatten oder das Aufleuchten ihrer Stirn ihm die Richtung gewiesen, ahnte sie nicht, sondern glaubte an eine ebenso glückliche wie beglückende Bekehrung.

Doch dabei blieb Erwin nicht stehen. Er behauptete, daß ihn das Geständnis gereinigt habe als ein Gewitter in seiner Seele. Und nicht nur dies: so wie vorher Virginias Nähe ihn entflammt, so würde ihr Anblick jetzt genügen, ihn vor den Flammen zu schützen, denn er habe den höher gearteten Menschen in ihr erkannt und sei seiner Machtlosigkeit inne geworden. »Es gibt eine andächtige Kälte der Verehrung, die jede Rebellion und Begierde erstickt«, sagte er. »Und Sie haben sich nicht nur selbst, Sie haben auch Manfred erhoben. Es ist in mir eine Schuld gegen ihn angewachsen, an der ich ein Leben hindurch zu bezahlen haben werde. Wir beide müssen schweigen gegen ihn, aber das Schweigen müssen wir aussühnen, Virginia. Er hat Sie mir vertraut, eine Großmut, die ich hinnahm wie einen reizenden Scherz; ich will Sie wieder zu ihm führen, lauterer, wissender, vollendeter, reicher, stolzer, unabhängiger, nicht mehr Blüte, sondern schon Frucht. Die Blüte erfreut, die Frucht erfreut und nährt. Ich möchte Sie aus schädlichen Dämmerungen reißen, ich möchte Ihnen Erkenntnisse und Einsicht der Welt geben, ich will die Menschen vor Ihnen aufschließen, als ob es Türen in meinem Haus wären, ich möchte Ihnen die Beunruhigungen ersparen, von denen jede eine Falle und eine Gefahr für Ihre Schönheit bedeuten kann, ich will mich Ihnen weihen und will entsagen und will Ihr Sklave sein und der Sklave Ihres Schicksals, und wenn Manfred zurückkehrt, so mag er vor seiner Virginia erst niederfallen, bevor er sie als eine begrüßt, die ihm entgegengelebt hat.«

Es atmete aus diesen für Virginia seltsam klingenden Worten solche Begeisterung, solche Echtheit, daß sie sich der hinreißenden Wirkung nicht einen Augenblick entziehen konnte. Man wollte sie bilden und verschönen, das war verführerisch, denn sie fühlte sich ja Manfred in keiner Weise ebenbürtig, und die Welt war ihr zu wirr, zu drohend alles Leben, als daß sie wie andre schöne Frauen mit der Grazie des Leichtsinns hätte hindurchschreiten können. Sie nahm von den herrlichen Versprechungen auf, was sie zu fassen vermochte, und war froh, daß die gefürchtete Stunde keine Gefahr mehr hatte. Sie horchte, wachte, entspannte ihren Geist, wobei ihr freilich dieser Mann immer wunderbarer wurde und seine Glut und Macht in irgendeinem Winkel ihres Herzens eine Art von Traurigkeit entstehen ließ.

Aber er hatte sie wieder unbefangen gemacht, viel unbefangener sogar, als sie sich ihm je gezeigt. Und das war das Meisterstück gewesen. Als ihm Virginia mit Freundlichkeit und herzlicher Bitte das Perlenhalsband übergab, fand er Gelegenheit, die Stärke der neu errungenen Position sogleich zu erproben. Er wickelte das Paket auf, ließ die Perlen fallen, bis die Kette nur noch am Mittelfinger hing, und blickte Virginia enttäuscht an.

»Wenn Sie einen Blumenstrauß oder ein Buch von mir genommen hätten, würden Sie sie mir gerade in dieser Stunde auch nicht vor die Füße werfen«, sagte er mit umdunkelter Stirn.

»Es geht nicht«, wandte Virginia ein und atmete tief.

»Es geht nicht! Hinter diesen Worten steht eine gleichgültige und unwissende Welt. Die Kette hat ein Schicksal, Virginia! Sie heiligt einen Freundschaftsbund. Lassen Sie mich wenigstens daran glauben. Wir binden uns mit der Kette, aber, das wissen wir, sie wird zerreißen beim ersten harten Griff. Das muß uns heikel und zart machen. Die schimmernden kleinen Herzen, die man Perlen nennt, werden flehend am Boden rollen, und jede bedeutet ein verlorenes Glück.«

Virginia schüttelte errötend den Kopf. Erwin sah ihr an, daß sie sich nicht rühren lassen wollte. Er betrachtete sie schweigend, voll von einer Güte im Ausdruck, einer leidenden Güte, die ihr jähes Mitleid wachrief, dann legte er die Hand vor die Augen und kehrte sich ab.

»Was hab' ich getan!« murmelte er.

»Wenn ich auch die Kette nehmen würde,« erklärte Virginia endlich schwankend und in dem Drang, ihn durch Nachgiebigkeit aufzurichten, »ich könnte sie niemals tragen.«

»Daran liegt mir nichts«, antwortete er; »obgleich Sie später anders darüber denken werden.«

»Nein. Ich kann nicht so darüber denken, wie Sie wünschen. Die Sitte ist mächtiger als Sie und ich, und wenn auch Manfred jetzt seine Zustimmung gibt, so weiß er eben selbst nicht, auf welche Gedanken ihn der Anblick der Perlen bringen könnte.«

Erwin verbarg sein bewunderndes Erstaunen. »So behalten Sie das Geschmeide als Pfand«, schlug er vor; »ich verpfände es gegen mein Wohlverhalten, meine Ehrerbietung, mein bezwungenes Gemüt, die Ruhe meines Geistes, – dürfen Sie sich da noch einen Augenblick besinnen?«

Und in der Tat, Virginia konnte und wollte sich der überzeugenden Aufrichtigkeit dieser Worte nicht entziehen. Trotzdem hatte sie nicht das Gefühl, einen Sieg errungen zu haben, als sie sich von Erwin verabschiedete. Am selben Abend schrieb sie ausführlich an Manfred. Sie erklärte, was sie zu erklären vermochte, ohne den Freund bloßzustellen. Als Beweis und Sicherheit der Treue hatte sie die Gabe im stillen hingenommen, aber in der Schilderung war alles von Zweifeln umwölkt, und sie schuldigte sich der Unaufrichtigkeit an. Zum erstenmal erschien ihr die weite Entfernung des Verlobten als ein beruhigender Umstand. Brisbane in Australien; es war, wie wenn man einen Brief in den Mond schickte. Bis Manfred ihn las, bis seine Antwort kam, waren alle Verwirrungen gewiß schon zur Ordnung gediehen.

Mehr noch hatte Frau Geßner durch den der Tochter zugefallenen Schatz das Gleichgewicht verloren. Bei Virginias Rückkehr hatte sie sich natürlich erkundigt, was mit den Perlen geschehen sei, und als Virginia die Kette mit einem halb fragenden, halb ergebenen Lächeln vorwies, – denn eigentliche Freude empfand sie nicht mehr – verstummte die alte Dame, ja, sie wagte nicht einmal, Virginia auszuforschen, ob sie eine Ahnung von dem ungeheuern Wert des Schmucks habe. Ein so kostbares Geschenk als Zeichen bloßer Freundschaft anzusehen, ging ihr wider die Vernunft und den Weltlauf; sie seufzte; sie hoffte; sie bangte; sie war erregt und schweigsam; sie behandelte Virginia mit einer Vorsicht, die diese bedenklich hätte stimmen müssen, wenn sie nicht schon längst sich gewöhnt hätte, in der Mutter das ohnmächtige Geschöpf kernloser Phantasiespiele zu sehen. Bloß ihr allzu knechtisches Betragen gegen Erwin mißfiel ihr und ärgerte sie.

Denn Erwin war jetzt täglicher Gast im Hause. Er kam spät nachmittags und blieb bis in die Nacht. Er war jedenfalls mit sich einig darüber, daß er nun etwas wie eine methodische Belagerung durchführte. Aber unterschied er die Triebe, die ihn leiteten? Er war ganz der Mann danach. Ganz der Mann, dem bezauberten Willen zu erliegen, in zwangvoller Sucht zu handeln, befeuert durch ein Lockbild von Glück und Verderben. Ihm war, als stehe er in einer Schöpfung, wo sich die Form vom Chaos löst. Es schien ihm wichtig, zu spüren, wer er war; ob er Schöpfer war. Sich selbst zu spüren, war seine tiefste Begierde. In diesem Werk, in dem alles schlecht, wild und verbrecherisch war, schien er seine Vollendung zu suchen, begabt mit den Eigenschaften der Morbiden, der Eroberer und der großen Instinktiven.

Es war etwas Strahlendes an ihm; in seinen Zügen war die zuckende Sammlung, die Menschen eigen ist, welche auf einem vorgeschobenen Posten gefahrvolle Arbeit verrichten. Die Linien seines Gesichtes waren markiger geworden, der Blick sowohl schärfer als auch packender, der Mund fester geschlossen, die Haut etwas fahler, Schultern und Hände etwas ruhiger als sonst.

Die gefahrvolle Arbeit mußte verrichtet werden. Sie zeigte sich nun in ihrer ganzen Ungewöhnlichkeit und Schwierigkeit. Das Pulver in den unterhöhlten Gängen hatte nicht gezündet; man mußte sich stärkerer Explosivstoffe bedienen, man mußte neue Minen graben. Daß der Posten umstellt war, bewies das Verhalten der Nachbarn. Die Nachbarn steckten die Köpfe zusammen. »Aha, jetzt kommt der Herr Kavalier schon jeden Tag«, sagten sie und schnüffelten Unrat. Zwei Lehrerinnen im vierten Stock, im zweiten ein Pfeifendrechslersehepaar, im ersten eine Bankbeamtenswitwe, im Erdgeschoß vier Töchter eines Postvorstands, und was sonst noch in die Höfe und auf die weiße Wendelstiege kam an Bedienerinnen, Waschfrauen, Köchinnen, Milchmädchen, Gemüseweibern, und was im Straßentrakt hauste, in der Greislerbude Beratungen pflog, das alles schnüffelte und raunte. Hätten sie nur etwas Sicheres gewußt! Gern verzeiht der Nachbar, wenn er etwas Sicheres weiß; wenn er aber nichts weiß, wird er zum Torquemada.

Virginia verhehlte ihren Abscheu, die Mutter trug ihn vor Erwin zur Schau. »Ich habe Ihnen schon oft den Rat gegeben, diese Winkelzuflucht zu verlassen«, sagte Erwin; »wer beim Gewürm haust, wird nicht vom Schleim verschont.« Doch in diesem einen Punkt blieb Frau Geßner starrsinnig. »Vierunddreißig Jahre leb' ich hier«, antwortete sie; »verlaß ich das Haus, so weiß ich, was mir bevorsteht.« Erwin schwieg, doch auf seiner Stirn zeigten sich die ersten Drohungen einer kommenden Alleinherrschaft.

Es gelang ihm, Virginia gleichmütig gegen »das Gewürm« zu stimmen. Er hatte da einen Ton von frostiger Majestät, der eine ganze Stadt von Schwätzern und Übelrednern zu Staub zerspritzte, und eine nicht weniger majestätische Gebärde, die eine Zusammengehörigkeit hoch über der Plebs ausdrückte.

Er durfte daran erinnern, daß in der wirklichen Welt, wo auch immer Virginia sich an seiner Seite zeigte, nicht der Schatten eines Makels auf sie fiel; und diese wirkliche Welt verschmähte doch ebenso wenig den Klatsch und Skandal als der Nachbar in der Greislerbude und am Fenster des Hausmeisters. Virginia mußte es zugeben. Sie hätte die schlimme Nachrede untrüglich empfunden, ein einziger Blick der Bezichtigung hätte sie für alle Zeit verscheucht. Aber man wußte, daß sie Braut war; man hatte erfahren, daß der Verlobte auf fernen Meeren weilte, man bestaunte die Paladinsrolle Erwin Reiners, und was diese poetische Kunde, was die Patronanz einer Dame, wie es Frau von Resowsky war, nicht vermocht hätte, brachte Virginias Gestalt und Wesen zustande, ihr reines Auge, der Glanz der Unberührtheit, der über ihr schwebte wie über neugemünztem Gold. Man verhätschelte sie, man umschwärmte sie, und einige Komtessen eigneten sich sogar ihre Art zu lächeln an oder beim Sprechen den Kopf sanft zu neigen, so wie die kleinen Bürgermädchen Gang und Stimme der Rosanna Schörk nachahmten.

An unscheinbaren Gelegenheiten, seine Macht über Virginia zu befestigen, fehlte es Erwin nicht. Wenn in Gesellschaft sein Blick auf ihr ruhte, prüfend oder träumend, zuckte sie zusammen, als ob man sie angetastet hätte. Mit Genugtuung nahm er wahr, daß sie sich von ihm fesseln ließ in Meinung, Urteil, Rede und Denken, daß sie verstimmt war, wenn er einmal ausblieb, ohne sie vorher benachrichtigt zu haben. Er bat demütig um Verzeihung, doch heimlich beglückten ihn ihre Vorwürfe, die halb neckend waren, halb den Verdruß des Wartens noch verrieten. Sie selbst war unzufrieden darüber. Er ist mir vielleicht zu bequem, dachte sie; er läßt mir das Leben zu mühelos erscheinen; es geht mir wie einem, der beständig durch Pauspapier zeichnet. Sie gab ihm das zu verstehen, aber er lachte sie aus. »Das ist ein Irrtum, der mir schmeichelt«, antwortete er; »leider sind wir alle mit vielen Geschicken beladen, und unser eigenes ist nur die gewußte Last.«

Als ob er zu diesem Ausspruch eine lebendige Erfahrung bieten wollte, führte er sie an einem historischen Tag, an dem dreimalhunderttausend Arbeiter vor dem Parlament vorüberzogen, auf den Ring, wo viele Stunden hindurch der dumpfe Gleichschritt der Massen donnerte, der geordneten Kolonnen, die von unten her kamen, von dort, wo das Schicksal seine Gesänge heult. Erwin lenkte den Blick seiner Begleiterin auf einzelne Gesichter. Er wußte, wie sie lebten, die von unten; er kannte ihre Plage, ihre Niedrigkeit, ihre armseligen Vergnügungen. Während er sprach, stürzte dicht vor ihnen ein etwa dreißigjähriges Weib in epileptischen Krämpfen zusammen. Erwin sprang hinzu, hielt die Arme der Schreienden fest und trieb müßige Zuschauer zur Hilfe an. Aber die aus den Kolonnen schauten fremd und gleichgültig herüber, als anerkennten sie ihn nicht und billigten ihn nicht. Als Erwin wieder an Virginias Seite war, sagte er: »Es war eine Prostituierte.«

»Woher wissen Sie es?« fragte Virginia leise.

»Solche Augen und solche Hände täuschen nicht«, erwiderte er mit verfalteter Stirn. »Es sind Hände wie verdorrte Wurzeln und Augen wie entsaftete Früchte. Es ist ein Mund, der grau ist wie von ewiger Nacht, ein Leib, der so müde ist, daß seine Bewegung einem Schüttelfrost gleicht. Soll man diese inkarnierte Verwünschung nicht spüren? Meine Ohren sind voll davon, und mich verlangt nach Freude, damit ich vergessen kann.«

Sein Schritt wurde hastiger; auf einmal blieb er stehen, schaute das junge Mädchen groß und tief an und sagte mit Inbrunst: »Ihr Glücklichen! Glückliche Virginia!«

Es überrieselte Virginia. Ja, sie fand sich glücklich; bis zu diesem Augenblick wenigstens hatte sie sich glücklich gefunden. Aber daß er es war, der ihr das Glück zuschrieb, schien ihr keine Vermehrung des Glückes zu sein. Klang es nicht, als wolle er seinen Anteil daran haben, als sei er arm und müsse betteln? Und sie war es doch, die empfing. Gabe um Gabe empfing sie aus seinen Händen und wurde um Dank immer verlegener.

Sein Wesen beschäftigte sie, spannte sie, ließ sie niemals zum Ausruhen gelangen. Seine heimlichen Gedanken zu durchschauen, wenn er spottete, oder wenn er belehrte, oder wenn er schwieg, war nicht selten ein quälender Antrieb. Froh, daß er so ehrlich Wort hielt, daß er mit keinem Hauch mehr die Dinge berührte, die sie häßlich und verräterisch nannte, glaubte sie ihn durch Aufmerksamkeit, Geduld und Freundschaft belohnen zu müssen. Aber er wurde immer heimlicher. Seine Worte hatten oft eine Nebenbedeutung, die Virginia vergeblich zu ergründen suchte.

Er war noch immer nicht der Vertraute, der zum Haus gehört und vieles von der Stimmung des Hauses bringt und nimmt. Er würde es nie werden. Er war der Fremde, der sich einwohnt, stets von neuem einwohnt, der befiehlt oder sich unterwirft, der sich absondert, indem er sich gesellt. Er war nie alltäglich, er hatte immer Festlichkeit; seine Gegenwart erweckte Neugierde, und er verabschiedete sich, wenn die Erwartung ihren Höhepunkt erreicht hatte.

Er brachte Blumen. Wie war es möglich, daß Blumen auf einmal so seltsam wurden! Man wähnte, Blumen noch nicht gesehen zu haben. Er pflückte sie in seinem Garten, jede einzeln mit eigener Hand, und band sie zu einem Strauß, der sprechen konnte, der die Fülle oder die Wünsche gewisser Stunden ausdrückte, einsamer Stunden voll Träumerei, ermüdeter Stunden, tatkräftiger Stunden.

Virginia liebte ja die Blumen über alles; der Zartsinn, der in seiner Freigebigkeit lag, machte ihr Gemüt freudiger. Er lehrte sie die Blumen kennen; nicht nur dem Namen nach, darin war ihre Unwissenheit nicht so groß, sondern auch dem Wesen, den Lebensbedingungen, dem Charakter nach. Er erkannte die Blumen am Geruch mit geschlossenen Augen; er sprach von ihren geistigen und sinnlichen Neigungen. Einige Blumen erweckten die Sinnlichkeit der Menschen, andere töteten sie, wie z. B. die Wasserlilien; wenn eine junge Frau an Wasserlilien riecht, bleibt sie kinderlos. Er enthüllte den Blütenkern und deutete das Mysterium der Entstehung. Er erzählte vom befruchtenden Wind und vom samentragenden Insekt.

Es war eigen. Man hätte trockener sein können, als er es war. Es wäre interessant und lehrreich gewesen, aber nicht so eigen. Ohne Zweifel wußte er, daß das Liebesleben der Pflanzen zu den geheimnisvoll aufschürenden Erscheinungen in der Natur gehört, dermaßen einleuchtend, daß der reinste Geist davon am innigsten ergriffen werden muß.

Eine schwüle Wolke stieg über den natürlichen Vorgängen empor. Virginia erinnerte sich nicht, solche Worte je vernommen zu haben. Es geschah einmal, daß sie aufstand, als ob es ihrem Herzen an Raum fehlte. Ein Nebel schwamm um sie herum, der sie für die Dauer einiger Sekunden der Überlegung beraubte. Sie hatte das Gefühl, beleidigt worden zu sein. In ihren Zügen erwachte eine kindliche Besorgnis. Als sie dann allein war, ärgerte sie sich über sich selbst. Alles war so unfaßbar; zerronnen wie ein Spuk.

Auch brachte er Bücher, um des Abends vorzulesen. Frau Geßner schlief gewöhnlich nach einer Viertelstunde ein. Virginia lauschte gern seiner wohltönenden Stimme. Er las Dante und Shelley in bedeutenden Bruchstücken; er las Hölderlinsche Gedichte und die geisterhafte Prosa von Novalis. Dann wagte er Goethes römische Elegien. Im glättenden Nachgespräch knüpfte er das erotisch Kühne vorsichtig an die Gesetze der Lebenskunst und der Persönlichkeit.

Er wagte mehr. Er wagte einige von Boccaccios schimmernden Geschichten. Da Virginia leidlich gut italienisch verstand – die bucklige Großtante, die am großherzoglich toskanischen Hofe gelebt, hatte sie unterrichtet –, las er sie im Urtext, die Melodik des Idioms schwelgerisch feiernd. Der Titel, den er vorstellte, hieß: Die Freude. Triumph über die Materie war das Motto; oder auch: Befreiung von Gewissensangst. Gar zu bedenkliche Stellen milderte er geschickt, und die bunten Figuren tanzten vorüber als ein Ballett, das ein wenig verblaßt war, durch das aber wundersame Irrlichter huschten, die in den Träumen junger Mädchen nicht viel anders locken als in den Erinnerungen der Wüstlinge.

Nur Virginia begriff nicht. Wenn Erwin den Inhalt mit einer fast gelehrten Sachlichkeit auseinandersetzte, wich sie zurück. Doch er hatte dann einen herrischen Ernst, der die Abwehr als beschränkt erscheinen ließ. Ihre unschuldige Sachlichkeit hingegen reizte ihn bisweilen zur Frivolität, ihre scheu verwunderte Miene fand er köstlich.

Es war ein merkwürdiges Bild; die Mutter schlummernd in der Sofaecke, und Erwin und Virginia bei der Lampe einander gegenüber. Ihr Antlitz voll Frage und Sträuben, das seine mitlebend, mithorchend, wachsam, überaus wachsam. Er sprach von der Liebe, vom Wandel der Sinnlichkeit durch die Zeiten, von der edlen Kultur der Sinnlichkeit, von der Hingabe, von der Großmut, die in freier Hingabe liegt. Er hatte viele Wege offen und verhinderte auf allen die Zuhörerin am Entfliehen. Sie ahnte den Trug hinter seiner kühlen Miene, irgendeine Scham erwachte, sie senkte die Augen vor seinem Blick, er bekämpfte den fernen Aufruhr der Scham und schürte dabei die nur von ihm allein genährte, noch ganz verborgene Unruhe des Bluts. In seinem Ton lag die Warnung für sie, moralische Schlüsse zu ziehen. Sie hatte gegen gewisse Freiheiten der Rede und der Schilderung kein Argument, nur ein heftiges Gefühl. Ihre Brust war von Zweifeln umdrängt, die ihn betrafen. Er war so ungeheuer fein, daß selbst ihr feiner Instinkt seine Ziele niemals erkennen konnte. Ungenau spürte sie das Rechte, war lustvoll und verwirrt, schweigsam und gern getäuscht.

Aber vielleicht hatte er nicht in Rechnung gezogen, daß er, was wider den Plan ging, ihren Geist wehrhaft machte. Sie sah sich nach Hilfsmitteln um, wenn er sie in die Enge trieb. Sie konnte nicht zurückweichen, dann wollte sie es nicht mehr, um nicht für feig gehalten zu werden. Sie überraschte ihn durch die Eigenart und Bestimmtheit ihrer Ansichten, und er mußte zugeben, daß sie viele Hintergründe habe, daß sie sich in keiner Weise ausliefern würde, daß von Überlistung keine Rede mehr sein könne. Da verdoppelte sich seine Kraft und sein Schwung, und sie, indem sie sich ihm stellte, empfand unausweichlicher die magnetische Gewalt seiner Gegenwart.

Er wünschte aus ihr etwas wie eine grande dame zu machen. Er behauptete, sie sei dazu geboren. Er gebrauchte den Ausdruck grande dame und bezeichnete ihn als unübersetzbar. Virginia lachte ihn aus, wurde aber stutzig, wenn scheinbare Mängel ihrer Haltung seine Kritik herausforderten. Die Art, wie sie beim Gehen ihre Arme ohne jede Muskelanspannung sinken ließ, nannte er königlich, doch müsse sie den Kopf nicht allzu lässig tragen, meinte er, dadurch beeinträchtige sie die vollkommene Linie des Halses und der Büste, verberge sie das liebliche Aufleuchten der Stirn, von dem oft ihre Gedanken begleitet seien. Bei solchen und ähnlichen Worten, die sie förmlich mit Händen anrührten, erschrak Virginia, und daß sie ihr nicht die Unbefangenheit raubten, war ein Verdienst ihrer Natur, der jede oberflächliche Eitelkeit fremd war.

Er entwarf Kostüme für sie, darunter ein besonders prächtiges und kostbares, das für ein Trachtenfest im fürstlich Liebenbergschen Park bestimmt war. Er wählte ihre Hüte, ihre Gürtel, die Farbe der Blusen, den Schnitt der Schleier. Sie ließ es sich gefallen, mit immer bedrückterem Herzen, vergeblich sinnend, wie sie sich dem entziehen könne. Sie war jedem Parfüm abgeneigt; er brachte ihr die auserlesensten; sie ließ sie unbenutzt. Wenn sie in seinem Beisein daran roch, kam es über sie wie ein matter, aber gefährlicher Rausch. Endlich überredete er sie zum Gebrauch einer Mischung, die von Guérin in Paris erfunden worden war und von der ein Fläschchen fünfhundert Kronen kostete. »Dergleichen ist freilich auch den Dilettantinnen von Bedeutung, die nur nach außen wirken wollen,« sagte er, »aber trotzdem von großer Wichtigkeit für eine Frau, die es versteht, einer leblosen Minute durch ein leicht erzeugbares Wohlgefühl zu steuern.«

Eines Tages mietete er einen Steinway-Flügel und ließ ihn in die Geßnersche Wohnung schaffen. Er sagte, das Instrument sei sein Eigentum und bleibe es. Dagegen ließ sich nichts einwenden, um so weniger, als Frau Geßner von der Aussicht entzückt war, bisweilen Musik hören zu können.

Am Abend, wenn es zwielichtig wurde, der Sommertag seine letzten Atemzüge ins Zimmer hauchte, die Höfe stille lagen und über ihre Mauerngevierte der Mond heraufstieg oder die Sterne dunstumschleiert sich entzündeten, setzte er sich an den Flügel und spielte. Es waren Fantasien. Er mied die kräftigen Töne, es war alles mild, melancholisch, voll von Sinnen und von Schmeichelei. Es war beredt in klagender und erinnernder Art. Er schien sich mitzuteilen. Da er immer weniger von sich selber sprach, nahm er seine Zuflucht zur Sprache der Musik, die von seiner Einsamkeit erzählte, von Wahn und Enttäuschung, von Verlangen und Verzicht. Bisweilen hielt er inne, seufzte und ließ die Hände auf den Tasten ruhen. Wenn er so saß, den Kopf emporgewandt, war etwas edel Vertieftes an ihm, und sein schlanker Körper ruhte ebenmäßig in dem Halbdunkel, wie losgelöst von Zweck und Willen. Dann erhob sich Virginia und machte Licht; ihre Stirn war gerunzelt, sie ärgerte sich über die Mutter, die oft Tränen in den Augen hatte, aber ihr Bestreben, sich der eigenen Hingenommenheit zu entziehen, ward desungeachtet offenbar.

»Nein, das ist nichts für Sie,« sagte dann Erwin und schlug den Deckel des Klaviers zu, »das sind unreine Strömungen; Teufelszeug ist es. Sie müssen unter die Menschen, vergnügt müssen Sie sein, verwöhnt müssen Sie werden, Hall und Widerhall muß um Sie sein.« Und er erzählte eine lustige Anekdote, redete über Leute und Ereignisse, und plötzlich war sein Gedächtnis angefüllt mit pikanten Histörchen, heiteren Schwänken und den Alkovengeheimnissen aller Paläste und Bürgerhäuser der ganzen Stadt.

Wenn er mit Virginia in Gesellschaft zusammentraf, war es, als ob ihre Anwesenheit allein genüge, ihn zum Mittelpunkt zu machen. Und wenn er den Vornehmsten, den Ausgezeichnetsten gegenüber sein freies, ja oft sarkastisches Wesen nicht ablegte, vor Virginia bezeigte er stets den lautersten Respekt und eine Ergebenheit, die sie in den Augen aller andern hob. Dies sicherte ihre Stellung, ließ ihr jeden Argwohn als Undank erscheinen, und allmählich empfand sie seine Hilfe, seine Führung als etwas Notwendiges, als etwas seltsam Unentbehrliches. Seine Beziehungen zu den Frauen erklärten sich auf eine natürliche Weise, und ihr Herz verteidigte ihn, wenn übelwollender Klatsch ihr zu Ohren gelangte.

Eines Tages traf sie Marianne von Flügel, die sie seit Wochen nicht gesehen hatte und die gerade Anstalten traf, für den Sommer nach Tirol zu reisen. Marianne lenkte alsbald, wie es in ihrer Absicht lag, das Gespräch auf Erwins Beziehung zu Helene Zurmühlen. Vielleicht glaubte sie Virginia eifersüchtig machen zu können, aber da Virginias Äußerungen den Bereich zweifelnder Teilnahme nicht verließen, erging sie sich in grober Deutlichkeit und sagte, es würde sie wundern, wenn die Geschichte nicht ein schlechtes Ende nähme. »Es nimmt ein schlechtes Ende mit allen, die in seine Netze geraten,« fügte sie hinzu, »mit Männern und mit Weibern.«

»Und das behaupten Sie, Marianne, Sie?« rief Virginia erstaunt.

»Ja, ich! Gerade ich, die ihm näher steht als irgendwer. Ich, die einzige, die ihn kennt.«

»Ich find' es nicht so schwer, ihn zu kennen.«

Marianne lachte. »Ach, Sie meinen, er sei ein offenes Buch. Mag sein, aber wer eine Seite in diesem Buch liest, hat keine Ahnung davon, was auf allen andern Seiten steht. Sie sind sehr klug, Virginia«, sagte sie nach einer kleinen Pause mit lächelnder Miene, indem sie von weitem ihre Fingernägel betrachtete; »Sie geben ihm einen hohen Begriff von Ihrer Intelligenz, denn bei ihm ist alles nur eine Frage des Widerstands. Sie machen Epoche in seinem Leben, so wie ein Fasttag im Leben eines Fressers Epoche macht.«

Der vergiftete Pfeil streifte an Virginia vorüber, ohne sie zu verletzen. Aber ihr Blick nahm plötzlich etwas Durchdringendes an, der geschwungene Mund dehnte sich, sie fühlte ihre Pulse rascher schlagen. Marianne bot ihr die Hand zum Gruß; Virginia schlug nicht ein, nicht weil es sie widerte, sondern weil sie in Nachdenken verloren war. Während sie weiterging, kämpfte sie gegen eine schreckliche Empfindung; ihr war, als beginne sie Erwin zu hassen. Sie kannte noch nicht den Haß, sie sträubte sich gegen ihn, sie war kaum fähig, ihn zu ertragen.

Am Abend holte Erwin Virginia und Frau Geßner ab, um mit ihnen in die Oper zu fahren. Es war sehr heiß; nach dem ersten Akt bekam Frau Geßner Kopfschmerz und legte sich auf das Sofa im Hintergrund der Loge. Virginia schaute ruhig durch den von Licht und Dunst zitternden Raum, da sah sie zwei Augen strahlend und mit fast verschlingendem Ausdruck ununterbrochen auf sich gerichtet. Es war Helene Zurmühlen, die mit einigen Damen in einer gegenüberliegenden Loge saß. Erwin stand auf, verbeugte sich und ging hinaus. Nach kurzer Weile erblickte ihn Virginia neben Helene. Er unterhielt sich sehr angelegentlich mit ihr, und sein Gesicht hatte dabei einen leidenschaftlichen und zarten Ausdruck. Helenes Kindergesicht war lebhaft errötet, die feurigen, neugierigen, schmalen Lippen waren naiv geöffnet, aber ihre Augen strahlten dann und wann mit demselben verschlingenden Glanz zu Virginia hinüber, die ein solches Unbehagen verspürte, daß es sie die größte Überwindung kostete, gelassen auf ihrem Platz zu bleiben. Sie gewahrte, daß mehrere Operngläser auf sie gerichtet waren, die sich dann in die Richtung wandten, wo Erwin sich mit jener Frau befand.

Plötzlich erhob sich Virginia, trat zu ihrer Mutter und sagte kurz: »Mutter, komm, wir gehen heim.« – »Du willst fort? Warum denn?« fragte Frau Geßner, erschrocken über die Blässe in Virginias Gesicht. Aber diese hatte schon Mantel und Schal umgenommen und trieb die Mutter, welche wußte, wie gefährlich es war, Virginia in solchen Momenten durch Frage und Widerpart zu reizen, zur Eile an. Drüben hatte Erwin sein Gespräch fast schroff beendet. Helene, die sich eines solchen Wechsels seiner Stimmung nicht versehen hatte, war einer Ohnmacht nahe. Aber als sie die andere nicht mehr in ihrer Loge sah, begriff sie alles, auch Erwins bestrickendes Wesen, das sie für die Dauer von fünf Minuten einem tödlichen Kummer entrissen hatte. Noch glaubte sie nicht, obwohl es furchtbar in ihr zu tagen anfing.

Als Erwin sich überzeugt hatte, daß Virginia mit ihrer Mutter das Theater verlassen hatte, schmunzelte er. Nachdem der Vorhang aufgegangen war, schlüpfte er in seinen Mantel, setzte den Zylinder auf, schob den Stock unter die Achsel und, die Handschuhe aufstreifend und leise vor sich hinträllernd, stieg er langsam über die große Freitreppe des Opernhauses hinab.

Kaum saß Virginia mit ihrer Mutter in der elektrischen Bahn, so fuhr es ihr entsetzt durch den Sinn: Um Gottes willen, was hab' ich da getan! Wie es bei phantasievollen Menschen zu gehen pflegt, wenn der Impuls zu einer falschen Handlung geführt hat, hätte sie jetzt alles Mögliche geopfert, um das Geschehene ungeschehen zu machen. Aber es gibt einen Ausweg, sagte sie sich, indem sie neuerdings einem ebenso falschem Impuls gehorchte, ich werde sagen, daß ich die Mutter zum Wagen begleitet hätte; er wird es sonderbar finden, aber er wird nichts merken. »Ich geh' zurück in die Oper«, sagte sie hastig. »Frag nicht, frag mich nicht,« fügte sie flüsternd hinzu, als sie das besorgte und verblüffte Gesicht der Mutter gewahrte, »zu Haus werd' ich dir alles erklären.« Und bei der nächsten Haltestelle verließ sie den Wagen.

Es waren nur wenige Schritte bis zur Oper. Warum habe ich es getan? grübelte sie mit einem Gefühl des Entsetzens. Und sie spürte genau, als ob eine Wunde in ihr sei, wie der Haß gegen Erwin in ihrem Gemüte wuchs.

Da erblickte sie ihn. Er stand neben der Auffahrt bei einer Blumenhändlerin und kaufte Rosen. Erstaunt, ihn auf der Straße zu treffen, blieb sie unwillkürlich stehen. Erwin wandte sich um. »Virginia!« rief er freudig. Dann schüttelte er verwundert den Kopf. »Ich wußte, daß Sie zurückkommen würden«, sagte er leiser und reichte ihr mit langsamer Gebärde die Rosen dar. Es waren drei vollaufgeblühte Rosen, die einen betäubenden Duft ausströmten.

Sie war unfähig, etwas zu sagen. Die ausgedachte Erklärung kam ihr langweilig und albern vor. Mechanisch steckte sie ihre Nase in die Blumen. »Bitte, begleiten Sie mich zu einem Einspänner«, sagte sie gepreßt. – »Wollen Sie das Stück nicht zu Ende hören?« fragte er. Sie verneinte. »Ihre Mutter hat die Schwäche, Ihnen alle Vergnügungen zu verderben«, fuhr er ironisch und fein erratend fort. Virginia atmete auf. Sie nickte. »Ich habe jetzt die Lust verloren«, antwortete sie; »auch ist es zu schwül im Theater.«

Erwin hatte einen offenen Fiaker gerufen, nannte dem Kutscher die Adresse und bezahlte den ehrfürchtig Dankenden. Daß er Virginia zu dieser Stunde allein fahren ließ, war fast eine Genialität. Er konnte sich eines Lächelns nicht enthalten, als sie ihm mit froher Bewegung die Hand reichte. »Die gibt einem die härtesten Nüsse zu knacken«, murmelte er, dem schönen Gefährt nachschauend, das sich rasch entfernte. Ein Schleier legte sich über seine Augen, und seine Stimmung verfinsterte sich.

Virginia, in die Ecke des Wagens gelehnt, betrachtete die Rosen. Sie empfand den Geruch als aufdringlich, erschauerte plötzlich und warf die Blumen auf die Straße. Als sie vor dem Hause stand und läutete, kam eben die Mutter. Frau Geßner war sprachlos; dann mußten sie beide lachen. »Ich habe mich doch anders entschlossen«, sagte Virginia verlegen; »aber frag nicht, Mutter, frag nicht.« Und Frau Geßner fragte nicht, sie seufzte bloß.

Es war erst neun Uhr. Virginia zog einen leichten Schlafrock an und ging eine Weile im Zimmer hin und her. Dann holte sie Schreibmappe und Tintenfaß, setzte sich an den Tisch und schrieb, mit nicht so sicherer Hand wie sonst, einen Brief an Manfred.

»Teurer! Lieber,« schrieb sie, »so weit du in Wirklichkeit bist, so nah bist du heut meinen Gedanken. Ich könnte beten, daß die Zeit schneller läuft. Ich war nie so ungeduldig. Es ist jetzt schon Sommer, und die Stadt hat ein häßliches Gesicht. Ich habe Sehnsucht nach Wald und Wiese und will mit der Mutter Ende nächster Woche nach Edlitz fahren, wo es uns auch vor zwei Jahren so gut gefallen hat. Wir werden wieder dasselbe kleine Bauernhäuschen mieten, ich werde ein bißchen arbeiten, wenn's geht, und wenn's nicht geht, ruh' ich mich aus von den vielen Menschen. Wie gut, sich auszuruhen! wie gut, auf dem Moos zu liegen und zu denken, an dich zu denken! Ich möchte so lang wie möglich dort bleiben, und wenn wir dann im Herbst zurückkommen, wird ein neues Leben angefangen. Morgen ist das Parkfest bei der Fürstin Liebenberg, da geh' ich noch hin, weil ich's versprochen habe, aber dann ist Schluß mit allen Gesellschaften und Vergnügungen. Es ist so beängstigend, wenn jede Woche ein Programm hat. Es ist auch beängstigend, fortwährend über die eigenen Verhältnisse zu leben und nicht klar darüber zu sein, womit man ein solches Übergreifen vor sich und andern rechtfertigen soll. Ich bin fest entschlossen, dem ein Ende zu machen. Ich zweifle an Erwins Redlichkeit nicht, aber ich ziehe es vor, mit gutem Gewissen in der Armut als mit schlechtem in der Fülle zu leben. Zu viele Pflichten, zu viele Bedenken erwachsen mir daraus, zu viel unreines Gefühl, das man dann wieder betäuben muß durch allerlei Dinge, die die Freiheit beschränken. Sind wir einmal draußen auf dem Land, so werd' ich alles mit der Mutter ernsthaft besprechen und ordnen. Ich glaube, auch dir wird es im Grunde lieber sein, wenn du deinem Freund nicht auf eine Weise verpflichtet bist, die mir drückend erscheint. Erwin wird das einsehen; er hat den Zug ins Große, aber er vergißt, daß kleine Leute klein bleiben müssen und daß sie sich nur die Glieder verrenken, wenn sie sich nicht nach der Decke strecken. Sonst kann ich nicht klagen ...«

Virginia ließ die Feder sinken. Ist das wahr? fragte sie sich. Nein, sie hätte klagen können. Als sie das Geschriebene überlas, war es ihr, als ob in all ihren Worten eine Lüge enthalten sei. Eigentlich hätte sie schreiben müssen: Komm zurück, Manfred! Komm, so schnell du kannst! Sie beendete den Brief heute nicht mehr. Sie saß noch lange, den Kopf in die Hand gestützt, und bisweilen flog es wie Fieber durch ihren Körper.


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