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Gefangenschaft

. Schon im Sommer hatte Erwin eine Einladung der Gräfin Thurn-Reichenstein angenommen, die letzten Septembertage auf deren Gut in Mähren zu verbringen. Als er jetzt in die Stadt zurückkehrte, fand er eine Absage vor, die schlecht begründet war; durch einen Krankheitsfall in der Familie sei man verhindert, Gäste zu empfangen, hieß es. Dies stellte sich bald genug als unwahr heraus; er traf einen Bekannten von der französischen Botschaft, der eben im Begriff war, auf das Gut der Gräfin zu fahren.

Am selben Vormittag ging er zur Baronin Resowsky. Auf den Schlag, der dort gegen ihn geführt wurde, war er durchaus nicht vorbereitet. Frau von Resowsky ließ sich verleugnen. Frau von Resowsky war für die gute Gesellschaft das Barometer der Meinungen. Von ihr nicht empfangen zu werden, war eine Art von Todesurteil.

Erwin besuchte den Klub. Man begegnete ihm mit frostiger Zurückhaltung. Wohin er kam, dieselbe Veränderung. Selbst Leute dritten Ranges behandelten ihn von oben herab. Er stellte einen dieser Herren zur Rede: man war unschuldig, man wußte von nichts, man zuckte die Achseln. Doch das Getuschel wagte sich bald aus der Verborgenheit hervor. Es erwies sich, daß die Geschichte von dem fingierten Duell neuerdings umlief und jetzt zur allgemeinen Kenntnis gelangt war. Man hatte sich darüber lustig gemacht; das Gelächter wirkte zerstörender als die Entrüstung und das Schweigen seiner Freunde. Ein elender Schmierant, dessen Beruf es war, in den Vorzimmern der großen Welt zu schnüffeln, brachte das Histörchen in pikanter Zubereitung in ein Wochenblatt und erfrechte sich sogar, die Person Virginia Geßners, nicht mit Namen, aber in deutlicher Umschreibung, durch seinen Sud zu beschmutzen. Damit war Erwin vollends gerichtet.

Er gab sich nicht verloren, trotzdem ihm der Ekel bis an den Hals stieg. Er ging, mit der Reitpeitsche in der Hand, in die Redaktion jener Zeitung und forderte Widerruf. Seine Entschiedenheit, seine knirschende Ruhe flößte den Herrschaften Angst ein; sie wichen aus, sie versprachen schließlich, sein Begehren zu erfüllen. Der Widerruf erfolgte nicht; im Gegenteil, man hängte der Komödie einen Epilog an, durch den sie noch eine Würze erhielt. Erwin nahm sich zusammen. Er bedurfte keiner Bemäntelung seiner Schuld, um den Abscheu zu vermindern, den er fühlte. Die Gewohnheit, unter Menschen zu leben, die man geringschätzt, erübrigt Selbstvorwürfe und entschuldigt jede Verfehlung. Er glaubte verachten zu dürfen, denn er war stets der Meister gewesen und hatte durch unbegrenzte Verschwendung den Anspruch auf unbegrenzte Nachsicht in sich genährt. Er sah sich mit Undank belohnt und zeigte die Miene eines Timon. Zunächst hatte er den Plan einer Reihe von Herausforderungen erwogen. Das Mittel war unbequem, weil es ihn zwingen konnte, die Stadt zu verlassen, und weil es zu lärmend war.

Im Verlauf seiner Nachforschungen, um den Urheber des gegen ihn angezettelten Skandals zu entdecken, stieß er bald auf den Namen Sixtus von Flügels. Sixtus von Flügel war ungeachtet seines gegebenen Wortes zurückgekehrt. Marianne hatte damals Frau von Resowsky nach Erwins Anweisung aufgeklärt, aber Sixtus hatte erfahren, daß er als Strohmann aufgestellt war, und hatte die Gelegenheit wahrgenommen, endlich Rache zu üben.

Aber wie durfte er es wagen? fürchtete er nicht den Gegenschlag seines Feindes? Hatte er von Marianne nicht genug Geld erhalten? War Marianne unvorsichtig gewesen? Marianne, die seine Frau war?

Diesen Gedanken konnte er nicht zu Ende denken. Die Dinge wuchsen ihm über den Kopf. Er war nicht mehr der Mann, der er noch vor Wochen gewesen. Er wankte, er griff um sich, er war rastlos, er verlor die Sicherheit, er hatte Mühe, in seinen Verfügungen klar zu bleiben. Zu allem Übel kam hinzu, daß sich sein Vater in der letzten Zeit unheilvoll bloßgestellt hatte. Die kleine Christie Martens hatte es wirklich verstanden, ihn seiner alten Freundin abwendig zu machen. Er war nun genötigt, den schmachtenden Liebhaber und etwas wie einen lebendigen Geldsack vorzustellen. Die Martens, eine schlechte Komödiantin auf der Bühne, doch eine desto abgefeimtere im Leben, bezahlte ihre Schulden und hatte eine elegante Wohnung. Das Alter hatte Michael Reiner nicht verhindert, seine Leidenschaft vor aller Welt zur Schau zu tragen. Er hatte sich lächerlich gemacht. Man erzählte sich, daß er nächtelang vor der Tür des Mädchens winselte, während Christie ihre Liebhaber bei sich hatte. Es war Stadtgespräch. Erwin schäumte vor Zorn, aber er schreckte davor zurück, seinen Vater zur Vernunft zu bringen. Die giftige Lockspeise hatte er selbst zubereitet, er hatte weder Kraft noch Zeit, um den Arzt zu spielen. Der Vater kam nicht zu ihm, er schämte sich offenbar, er grollte ihm vielleicht und betrachtete sein Tun als Betäubung, als einen Ausgleich gegen das Schicksal der Frau Engelhardt, die aus Kummer zum Morphium gegriffen hatte und durch Morphium dem Wahnsinn nahe war. Es hatte mit der einen Torheit Michael Reiners sein Bewenden nicht; Erwin erfuhr, daß sich sein Vater plötzlich in waghalsige Spekulationen gestürzt, und daß er in den letzten Monaten über dreieinhalb Millionen an der Börse verloren hatte.

Auch dagegen hätte etwas geschehen müssen. Erwin verschob es. Es waren zu viele Stricke um seinen Fuß gelegt. Er hätte noch drei Millionen hingegeben, wenn er die Demütigung hätte vergessen können, die er durch Frau von Resowsky erlitten. Er schrieb der Baronin einen seiner unwiderstehlichen Briefe. Er deckte mit ironischer Freiheit das Gewebe der Verleumdungen auf, schilderte das Treiben seiner Gegner mit der Laune des Stärkeren und malte eine so leuchtende Leidensgloriole um sein geschmähtes Haupt, daß ihm Frau von Resowsky sogleich antwortete, er möge zu einer bestimmten Stunde zu ihr kommen.

Er atmete auf. Er war des Einflusses und der Wirkung seiner Person sicher. Daß man ihn rief, war schon ein Triumph. Jedoch es kam alles anders. Und wenn er geglaubt hatte, noch nicht einmal einer Stunde zu bedürfen, um aus einer argwöhnisch gewordenen Freundin eine bereuend überzeugte zu machen, so brauchte Frau von Resowsky, eine Dame, die in allen zweifelhaften Fällen mit schroffer Entschiedenheit zu handeln gewohnt war, keine Viertelstunde zu der Einsicht, daß sie betrogen und folglich beleidigt worden war, woraus allerdings für Erwin eine Niederlage und ein Rückzug ohne gleichen entstand.

»Sie werden mir volles Vertrauen schenken, Erwin, nicht wahr?« bat Frau von Resowsky.

»Insoweit ich dadurch keinen Vertrauensbruch begehe, mit Vergnügen, Baronin.«

»Es ist merkwürdig,« sagte Frau von Resowsky kopfschüttelnd, »wenn Sie bei einem sind, möchte man durchs Feuer für Sie. Hat man Sie eine Weile nicht gesehen, so traut man Ihnen Dinge zu wie dem Schlimmsten nicht.«

»Schade, Baronin, das wäre ja ein Bankrott des guten Geschmacks. Das Rätsel erklärt sich durch den Überschuß von Moral, an dem wir alle leiden wie an einer Art von geistigem Diabetes, und dem Unvermögen, auch nur einen geringen Teil davon tätig auszulösen.«

»Kommen wir zur Sache. Marianne von Flügel hat mir seinerzeit mitgeteilt, daß Sie sich mit ihrem Bruder geschlagen hätten. Ich habe dafür gesorgt, daß die dummen Gerüchte, die schon damals begannen, zum Schweigen gebracht wurden. Jetzt kommt Herr von Flügel und behauptet, er hätte niemals ein Duell mit Ihnen gehabt. Das ist doch unbegreiflich.«

»Ich bin erstaunt, Baronin, daß Sie die lügnerischen Umtriebe dieser Leute ernst nehmen. Ich habe mich allerdings niemals mit Herrn von Flügel geschlagen.«

»Also ist Marianne nicht in Ihrem Auftrag zu mir gekommen?«

»Durchaus nicht.« Nur Zeit gewinnen, dachte Erwin, nur Zeit.

»Das gibt der Sache natürlich ein anderes Gesicht«, sagte Frau von Resowsky, indem sie zu einer kleinen Tapetentür schritt und öffnete. »Herr von Flügel!« rief sie hinein, »ich bitte.«

Sixtus von Flügel trat ins Zimmer und heftete die Augen, die in seinem schwarzbleichen Gesicht tückisch brannten, auf Erwin.

Erwin sprang empor, prallte zurück, gewann aber gleich wieder seine Fassung. »Ah – reizend!« sagte er mit finsterem Blick gegen Frau von Resowsky und küßte seine Fingerspitzen; »eine Konfrontation, wie?«

»Ja, in Ihrem eigenen Interesse«, erwiderte die Baronin ziemlich scharf, »sonst wird die Wahrheit im Maul von Allerwelt zerstückt.«

»Ich habe mit diesem Herrn nichts zu schaffen.«

»Das ist kein Argument.«

»Ich brauche keine Argumente. Vielleicht ist alles eine Erfindung von mir. Glaubt man mich decouvriert zu haben, wenn man gemerkt hat, daß ich den Sumpf zu Schaum schlage? Man will mich bei meinen Handlungen fassen? Ich bin nicht bei meinen Handlungen zu fassen, höchstens noch bei meinen Gedanken.«

»Herr von Flügel, ich bitte sich zu rechtfertigen,« sagte die Baronin unbeirrt, »Doktor Reiner versichert mir, Ihre Schwester sei nicht in seinem Auftrag zu mir gekommen.«

»Dann lügt Doktor Reiner«, erwiderte Sixtus von Flügel dumpf und mit haßerfüllter Freude.

Erwin begann zu zittern. Es stand ihm der Atem still. Er sah, daß er sich verrechnet hatte. Er machte eine Bewegung, als wolle er sich auf den Beleidiger stürzen. Seine Wangen hatten eine fahlgrüne Färbung, seine Augen drehten sich in die Winkel. Frau von Resowsky trat zwischen beide und sah abwechselnd den einen und den andern an. Erwin hatte plötzlich das Gefühl, als müsse er den Gegner anflehen zu schweigen, aber das gefürchtete Wort war nicht mehr abzuwenden. »Dann lügt Doktor Reiner,« wiederholte Sixtus von Flügel, »und das ist um so schändlicher, als meine Schwester Marianne seine Frau ist. Er hat sich heimlich mit ihr trauen lassen. Sie sehen also, Baronin, daß Herr Doktor Reiner uns näher steht, als er glauben lassen will. Ich hätte den Wunsch meiner Schwester um Verschwiegenheit geachtet, wenn Herr Doktor Reiner den Namen meiner Schwester respektiert hätte.«

Frau von Resowsky blickte Erwin mit einem Ausdruck kalter Verwunderung an. Sie zuckte die Achseln und machte eine kleine, abfertigende Gebärde. Erwin lachte. »Ich werde die Ehre haben, Baronin, Ihnen über diese Verwicklungen zu einer andern Zeit Aufschluß zu geben«, sagte er gelassen, spürte jedoch dabei, wie sich der Boden unter ihm im Kreis drehte; zu Sixtus von Flügel gewandt, fügte er hinzu: »Wir treffen uns noch.«

»Ich brauche keinen Aufschluß mehr«, entgegnete Frau von Resowsky mit verächtlich zuckenden Lippen.

»Sie tun mir unrecht, Baronin, und Sie werden es zu spät erkennen!« rief Erwin so stolz, dringlich und feierlich, daß Frau von Resowsky stutzig wurde und ihm unschlüssig nachschaute, als er ging.

Er stürmte auf die Straße. Sein erster klarer Gedanke war: jetzt zu Virginia. Es war an der Zeit. Er wußte, daß sie am gleichen Tag wie er in die Stadt zurückgekommen war. Er empfand es durch Luft und Ferne, daß sie ihn rief. Es war an der Zeit, dem Ruf zu folgen. Sein Wille umspannte sie wie ein eiserner Ring den Hals eines Adlers. Sie mußte dem Gischt des Geredes, das zu gewärtigen war, entzogen werden. Er bangte, er lechzte nach ihr. Und wenn er alles verlor, Ehre, Freundschaft, Geld und Leben, sie mußte er gewinnen. Er liebte sie nicht. Er würde sie niemals lieben. Es war zu spät, um zu lieben. Ein dringenderes Gebot befehligte ihn.

Viel war noch zu tun. Wirrsälig lagen die Wege. Ineinandergeschlungen waren die Triebe. Die Ehre forderte Sold von der Lüge. Die Unschuld mußte vernichtet werden, um die Ehre zu retten. Das Antlitz des Lebens zeigte sich bizarr wie nie zuvor.

Sein Herz stockte vor Lust, wenn er sich ausmalte, wie ihr niedergetretenes, zu Tode beleidigtes Herz nach ihm schmachtete. Endlich! endlich! sie mußte ihm folgen, wie eine Blinde mußte sie ihm folgen, die von nichts anderem weiß als von der führenden Hand. Und allein mit ihr, die ganze Welt hinter ihnen her, die verstandlose Meute, und in ihr, bei ihr sich reinigen von allen Übeln. In seinem Willen wurzelte Glück und Unglück, durch seinen Willen wandelte Virginia, atmete sie, war sie schön, anbetungswürdig, begehrenswert und ihm verfallen.

 

Und so verhielt es sich: ihm verfallen.

Wo ist er? dachte Virginia täglich, stündlich, in der unbekämpfbaren Furcht vor Verrat. Denn er verriet sie, wo er auch war, er teilte ein Bild von ihr allen Dingen mit, die sein Auge traf, er gab es den Augen der Menschen preis, indem er mit ihnen redete, und trug es in die Räume, in denen er weilte. Er verriet sie, wenn er ging, wenn er lag, wenn er träumte und wenn er arbeitete. Sie konnte nicht mehr an sich selber denken, ohne daß das Bild, das immer dort war, wo Erwin war, ihre Nerven zu äußerstem Schmerz spannte. Langsam war das Bewußtsein einer unendlichen Schmach in ihr angewachsen, und sie saß oft ohne Anmut in eckigem Kauern und sehnte sich nach Tränen.

Wie hatte die Mutter sie neulich am Abend gefunden? an jenem Abend, dem kein eigentlich heller Tag mehr gefolgt war, auch keine Sonne mehr. Wann war die Mutter gekommen? Virginia wußte es nicht. Sie hatte geschwiegen. Auch Frau Geßner hatte geschwiegen, schuldbewußt, zerstreut, betrübt und heimlich aufgeregt. Ja, von einem heimlichen Zorn war diese Mutter verzehrt, hatte aber keine Klarheit darüber, nach welcher Richtung sich dieser Zorn wenden würde. Ich hab es satt, dachte sie und glich einem Menschen, den ein durchtriebener Wühler rebellisch gestimmt hat und den es nach Aufruhr verlangt, wobei er gleichzeitig froh ist, wenn sich der Wühler und Quäler nirgends blicken läßt. Der Geldzufluß hatte in der letzten Zeit aufgehört, die Ausgaben mußten beschränkt werden, und Frau Geßner fing an, sich vor der Armut zu fürchten, vor derselben Armut, in der sie drei Jahrzehnte lang zufrieden gelebt.

An jedem Morgen sagte sich Virginia: so kann es nicht weitergehen. Sie hatte Manfred vergessen. Wenn sein Name emporstieg, war es, als ob ein früheres Dasein sie an ihn verbunden hätte. Er schrieb auch nicht mehr; seit Wochen hatte sie keine Nachricht mehr von ihm. Was war geschehen? Sie war überzeugt, er wisse alles. Und sie wollte ihn vergessen. Der Kummer gab ihrem Gesicht die Blässe des Perlmutters. Von allem Schweren war die Abwesenheit Erwins das Schwerste. Sie wollte ihn sehen, seine Gedanken spüren, sie wollte wissen, welche Art von Laster oder Verworfenheit in ihr war, die ihn ermutigt hatten zu tun, was er getan. Sie fand nicht das Wort, nicht die Form ihn zu rufen, auch schien es ihr bei tieferem Bedenken, daß es überhaupt keine Worte mehr zwischen ihr und Erwin geben konnte. Doch ihr Gefühl war dies: ruhig kann ich erst sein, wenn er da ist; froh werd ich nimmer werden, aber ich will erfahren, warum ich so erniedrigt worden bin.

Warum kommt er nicht? klagte sie im Stillen; verachtet er mich? meidet er mich deshalb? Sie suchte sich seiner zu erinnern, aber die Gestalt war wie Dunst. Nur in ihrem Blut fühlte sie seine Gebärden, seine Blicke und seine Stimme. Es hatte den Anschein gehabt, als liebe er sie; so war Liebe etwas Düsteres, Unbehagliches, Wildes und Sündenvolles geworden. Sie bemerkte, daß alle Menschen in Kleider gehüllt waren, und sie sah die Leiber hinter den Kleidern, und Männer und Frauen hatten etwas Heuchlerisches und Maskiertes. Die vergiftete Phantasie war von Haß gegen den Vergifter beladen.

Die neue Wohnung lag in einem einstöckigen Haus in friedlicher Umgebung. Hinter dem Haus lag ein Garten, in welchem sich Virginia an regenlosen Tagen fast unablässig erging. Sie vermied den Zaun neben der Straße und wandelte nur auf den schmalen Wegen zwischen den schon vergilbenden Sträuchern.

Es war spät nachmittags; es dämmerte schon, da rief Frau Geßner vom Küchenfenster nach ihr. Der freudige Klang der Stimme verwandelte Virginias Füße in Blei. Er war da.

Sie ging hinauf. Er erhob sich und verbeugte sich, als sie eintrat. »Ich befinde mich in einem Wirrsal von Geschäften und Unannehmlichkeiten«, sagte er. »Bitte, geben Sie mir ein Glas Wasser, Mama. Ich verdurste.«

Virginia kam der Mutter zuvor, holte selbst das Wasser und kühlte dabei ihre heißen Hände unter der Leitung. Als sie wieder ins Zimmer trat, war die Mutter verschwunden. Sie runzelte die Stirn, reichte ihm das gefüllte Glas, und er trank gierig.

»Ich muß Ihnen gestehen,« begann er plötzlich, »daß das Gerede der Stadt Sie schon als meine Geliebte bezeichnet. Ich kann Sie dagegen nicht schützen, Virginia, so lang Sie sich töricht weigern, den Entschluß zu fassen, der allen Klatsch beschämt.«

»Wer redet? Was soll das heißen? was für einen Entschluß soll ich fassen?« antwortete Virginia außer sich. »Sie sind im Irrtum, wenn Sie glauben, daß der Klatsch eine Pression für mich ist.«

»Es gibt noch eine stärkere, Virginia; nämlich die, daß eine andere Glücksmöglichkeit nicht mehr für Sie vorhanden ist.«

»Dann muß ich eben ohne Glück leben.«

»Und mich? Virginia? Mich wirfst du zu den Gleichgültigen?«

»Duzen Sie mich nicht!« rief Virginia und wurde blutrot. »Warum ist die Mutter fort? wo ist sie hin? Sie sind verschworen mit ihr. Alle sind gegen mich verschworen.«

»Virginia! Das Leben ist verschworen gegen dich, weil du es mit Füßen trittst. Du liebst mich, Virginia! Wenn du mich nicht liebtest, hättest du die letzte Nacht in Edlitz nicht überlebt. Du liebst mich, und es genügt mir, dies zu wissen.«

Virginia preßte die Faust an die Wange. Es ist wahr, dachte sie, es ist ein Wunder, daß ich's überlebt habe. Ihr Gesicht schien entgeistert im grauen Sammet der Dämmerung, als sie dumpf beteuernd murmelte: »Niemals werd ich Sie lieben, Erwin, niemals. Geben Sie mich also frei.«

»Was heißt das?« fragte er verblüfft, und ihm wurde schwül ums Herz. »Du bist frei.«

»Ich – bin – frei«, wiederholte sie langsam und mit leerem Nachdruck.

»Du bist frei, aber vom Schicksal mir zugeschmiedet«, fuhr er fort. Jetzt galt es, den letzten Schlag zu führen. »Du bist frei auch von Geburt,« sagte er, »zur Liebe bestimmt von Geburt her. Ein Kind der Liebe bist du, unbekannt ist dein Vater. Selbst deine Mutter kennt ihn nicht, eine einzige Stunde der Leidenschaft, die einzige ihres Lebens hat sie dem unbekannten Mann in die Arme geworfen, und dies ist in deinem Blut, dagegen kämpfst du vergeblich. Du bist ein verlorenes Kind.«

Zitternd schaute Virginia auf seinen Mund. Ihre bang ungläubige Miene gefiel ihm; der sichtbare Zusammenbruch von Stolz und Festigkeit erschütterte ihn. Sie machte mit der Hand eine mechanisch deutende Bewegung, ihre Augen fielen zu. Erwin ergriff ihre Hand und drückte sie lange an seine Lippen. Sie ließ es zitternd geschehen und zitterte immer – immerfort. Er legte den Arm um ihre Hüften. Plötzlich trat sie zurück. »Rühren Sie mich nicht an!« schrie sie erbleichend, so wie sie bisweilen im Traum aufschrie.

Sie standen einander gegenüber, Auge in Auge. Da öffnete Frau Geßner, durch Virginias Schrei gerufen, die Türe. Ihr Gesicht zeigte die rasende Entschlossenheit, die oft die Energielosen überfällt. Wenn gutmütige und verträgliche Menschen in solcher Weise außer sich geraten, legen sie nicht selten eine plebejische Roheit an den Tag, die ihren Mangel an Erziehung und ihre Herzensdumpfheit enthüllt. Diese Frau war sozusagen bis auf den niedersten Stand ihrer moralischen Natur herabgedrückt: Ehrgeiz, naive Habsucht, Furcht vor Armut und eine systematische Bezauberung hatten aus ihr das willenlose Werkzeug Erwins gemacht, und Erwin erkannte es selbst, nicht ohne Verwunderung.

»Du undankbares Ding!« begann sie keuchend, während ihre Züge vergröbert, vergrößert und gerötet erschienen, »was sträubst du dich gegen dein Glück? Aus welchem Grund, sag mir? Wegen deines Manfred vielleicht, der nichts ist, nichts hat und nichts kann? Gott verzeih mir die Sünde, aber ich will's nicht länger mit ansehen, wie dieser ehrenhafte und großmütige Mann da um dich leidet, der dich mit Geschenken überhäuft hat, mit Geschenken, die Hunderttausende wert sind, und dich behandelt hat wie eine Gräfin. Und du tust, verzeih mir's Gott, als ob du zu kostbar für ihn wärst. Was ist denn all mein Hangen und Bangen seit Jahr und Tag? Nur dir gilt's, alles nur für dich, und so lohnst du's mir, Undankbare, mit deinem lächerlichen Dünkel. Gott verzeih mir's!«

»Genug!« rief Erwin laut; »schweigen Sie, Mama.«

Virginia bewahrte eine erstaunliche Fassung. Sie ging auf die Mutter zu und legte ihre beiden Hände auf deren Schultern. Frau Geßner wich betroffen zurück, aber Virginias Blick drang unerbittlich in die Augen der Mutter, als wollte sie zunächst die Wahrheit dessen ergründen, was Erwin ihr vorhin verraten. In der Art jedoch, wie sie sich hielt, war etwas so Vornehmes, daß Erwin, bestürzt über soviel Lieblichkeit und Adel, sich auf die Lippen biß und einen raschen Seufzer nicht unterdrücken konnte, der wie das heimliche Aufschluchzen eines Kindes klang. In diesem Moment kehrte sich Virginia um und sagte mit ruhiger Stimme: »Gut, es sei. Ich füge mich.«

Erwin starrte zu Boden. Welch ein boshafter Teufel flüsterte ihm zu, den Fangstrick mit dem Dolch zu vertauschen und noch eine kurze Qual und prüfende Demütigung auszuhecken, für die, die »sich fügte«? Wollte er nicht Räuber sein, sondern Retter, nicht Zuflucht einer Ermatteten, Verstoßenen, Besudelten, sondern frei begehrt? Er faltete die Stirn und schwieg. Dieses Schweigen war niederschmetternd für Virginia. Sie nahm es als einen Ausdruck der Verachtung. So weit ist es also mit mir gekommen, dachte sie, und das Blut rauschte ihr zu Kopf. Sie begab sich langsamen Schritts zum Sofa, ließ sich niedersinken und fiel mit dem Gesicht auf die verschränkten Arme. So weit ist es also, und ich bin ihm nichts mehr wert, das war ihr einziger Gedanke, und alles, was sie körperlich von sich spürte, war ihr eine Last und ein Grauen.

Jetzt bist du mir sicher, jauchzte es in Erwin, jetzt hab ich dich ganz und gar.

»Was ist das? es klopft jemand«, murmelte Frau Geßner. Sie öffnete die Tür, – Ulrich Zimmermann stand da. Er grüßte, niemand antwortete. Es war schon dunkel geworden, und als die Tür aufging, fiel der Lichtschein vom beleuchteten Flur herein. »Draußen war offen«, sagte Ulrich entschuldigend.

Ulrich Zimmermann hatte die letzten Tage in einer Besorgnis um Virginia verbracht, die in ihm durch ein kurzes Beisammensein mit dem Grafen Palester entstanden war. Palester hatte sich nicht klar geäußert, aber seine geheimnisvollen Andeutungen hatten in Ulrich den Vorsatz erweckt, Virginia aufzusuchen. Vielleicht nur um sie zu sehen. Er kam von der Piaristengasse, wo man ihm die neue Wohnung gesagt hatte.

Er grüßte abermals schüchtern, auch jetzt antwortete niemand. Frau Geßner zündete mit hastigen Gebärden die Lampe an. Ulrich Zimmermann erblickte Erwin und erschrak. Er sah Virginia regungslos liegen und starrte hin wie auf eine Leiche. Alle schlimmen Befürchtungen schienen bestätigt.

»Eine schlechte Zeit haben Sie da gewählt«, sagte Erwin und schaute Ulrich mit funkelnden Augen an. Ulrichs Mund verzerrte sich. »Was ist geschehen?« fragte er Frau Geßner. Diese schüttelte unfreundlich den Kopf.

»Kommen Sie, ich werde Ihren Wissensdurst befriedigen«, sagte Erwin herrisch. Ulrich Zimmermann folgte zaudernd.

Als sie auf die Straße traten, hatte Ulrich das Gefühl, an der Seite eines Feindes zu gehen, der ihn durch Freundschaftskünste so lange gefoppt, bis er allen Mut der Auflehnung zerstört hatte.

Erwin ging wie gejagt, erst allmählich verlangsamte sich sein Schritt. »Was macht Mirowitsch?« fragte er plötzlich zerstreut und mit jener gnädigen Teilnahme, die auf Ulrich wirkte, als ob man ihm mit einer Stahlbürste über den Rücken streiche. »Er nähert sich der Katastrophe«, erwiderte er leise. Dann fuhr er fort und blickte Erwin finster in die Augen: »Und diese ganze Verantwortung nehmen Sie auf sich?«

»Welche Verantwortung?«

Ulrich machte mit Kopf und Schulter eine Bewegung gegen das Haus, das sie eben verlassen.

Erwin maß ihn von oben bis unten. »Rivalität trübt das Urteil«, sagte er. Ulrich, der eine Beleidigung erst kapierte, wenn der Beleidiger sie vergessen hatte, sah bekümmert drein. Die Leute von starkem Phantasieleben haben eine eigentümliche Angst davor, aus Begebenheiten, unter denen sie leiden, die Folgerungen für ihr Verhalten zu ziehen. Ulrich war erdrückt von dem Bewußtsein, eine bemitleidenswerte Figur darzustellen gegenüber diesem Wachen, diesem Wirklichen. Er schwieg und konnte das Bild der regungslos hingekauerten Virginia nicht aus seinem Gedächtnis wischen.

»Sie haben einen Trauerfall gehabt, höre ich«, begann Erwin wieder, der eben dieses Bild für eine Weile vergessen wollte.

»Ja; mein Onkel ist gestorben.«

»Ach! So schnell –«

»Ja. Eines Tages wurde mir gemeldet, daß er nur noch kurze Zeit zu leben habe. Er wünschte mich zu sprechen. Er wohnte in einem kleinen Hotel in Baden. Ich fuhr hinaus. Er hatte sich aus der Stadt geflüchtet wie ein edles Raubtier, das den Tod fern von seiner Höhle sucht. Er wollte seine Freunde mit dem Anblick seines Sterbens verschonen. Seit anderthalb Jahren wußte er, daß er verloren sei; seit anderthalb Jahren ist er täglich kontemplativer geworden und dachte an nichts anderes als den Tod. Der Gedanke an den Tod mußte ihm furchtbar sein, denn er hatte gar keinen Glauben, keine Hoffnung, keine Illusionen und entbehrte auch den Trost, der darin liegt, daß man einige Menschen hinterläßt, die mit gespannter Brust eine Schaufel Sand ins Grab werfen. Er gehörte einer Generation von arbeitsamen Skeptikern und sentimentalen Zynikern an, mit denen es jetzt zu Ende geht und die den schmarotzenden Skeptikern und den zynischen Strebern Platz machen. Er war ein vortrefflicher Mann und hatte Charakter, was heute ein bißchen veraltet ist.«

»Nun, er hat Sie gewaltig kujoniert«, wandte Erwin ein. »Was Sie Charakter nennen, war die Verstocktheit der Lustspielväter; die wollen immer eine Heirat verhindern, die schließlich doch stattfindet.«

»Nein, nein, er hing am Gelde, und er hing an Formen«, widersprach Ulrich Zimmermann. »Als ich ihn sah, drehte sich mir das Herz im Leibe um. Haben Sie je einen Hund gesehen, der weiß, daß er zum Schinder geführt wird? Diese sanften, nassen Augen voll Vorwurf und ohne Haß? Der Herr hat sich versteckt, und die Augen des Hundes suchen den Herrn. Solche Augen hatte der alte Mann. Als ich vor ihm stand, verlegen und dumm, wie man ist, wenn andere leiden, konnte er kaum mehr reden. Er hatte eine dick mit Banknoten gefüllte Brieftasche unter seinem Kopfkissen liegen, die er argwöhnisch bewachte. Endlich erfuhr ich sein Begehren. Er forderte, daß ich jede Beziehung zu Ihnen, Erwin, abbrechen sollte; wenn ich darein willigte, würde er mich zum Universalerben einsetzen.«

»Und wozu haben Sie sich entschlossen?« fragte Erwin verwundert.

»Sie sehen ja, wozu ich mich entschlossen habe. Man kann doch nicht einem Sterbenden gleichsam einen Lebendigen in den Sarg mitgeben. Ich will Ihnen sagen, Erwin, mein Gefühl war ja nie ungetrübt in Ihrer Nähe. Der Umgang mit Ihnen hat, wenn ich ganz aufrichtig sein soll, die Lust zum Verrat in mir geweckt. Sie haben die furchtbare Eigenschaft, die Menschen in irgend einer Hinsicht zu Verrätern zu machen. Sie töten Instinkte wie der Märzwind Knospen. Aber das Allersonderbarste an Ihnen ist Ihre Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen, unsichtbar gerade dann, wenn man will, daß Sie einstehen sollen für sich, daß Sie sich zeigen sollen. Dann sind Sie unsichtbar wie der Herr des Hundes, der zum Schinder muß. Sie sind oft so merkwürdig wesenlos: man sucht Sie und man findet Sie nicht. Oft wenn ich an Sie denke, ist es mir, als ob Sie keine Augen hätten, als ob Sie wie ein Tiefseefisch in der Finsternis schwämmen, mit prachtvollen Farben allerdings, purpurn, gelb und grün, aber wozu sind diese Farben, frag ich mich, wozu die Herrlichkeit für einen Augenlosen? wozu in der schwarzen Tiefsee-Finsternis? Nun gut; vielleicht um dieser schönen Farben willen hab ich meinem Onkel geantwortet, ich könne auf seine Bedingung nicht eingehen. Nicht aus Rücksicht oder Trotz oder Dankbarkeit oder aus Furcht mich zu verkaufen, sondern wegen der prachtvollen Farben. Sie werden das für eine märchenhafte Dummheit erklären; mag sein. Einige Tage später, als ich meinen Onkel besuchte, war eben der Notar weggegangen. Es fand sich auch ein junges Mädchen ein mit seiner Mutter; beide sahen wie Arbeiterinnen aus. Das Mädchen war die Tochter meines Onkels und kam aus einem Proletarierwinkel der Großstadt, um ihren Vater, den sie kaum kannte, sterben zu sehen. Ich wußte natürlich nichts von ihr, und sie stand da mit einer Nase, die nach Geld schnupperte. Sie hat zwanzigtausend Kronen geerbt, ich ebensoviel, den Rest, der etwa zehnmal so groß ist, hat das Sankt-Annenspital bekommen. Nachdem mein Onkel gestorben war, hat man über fünfhundert Goldstücke im Zimmer gefunden, die er in der letzten Todesangst um sich herum verstreut hatte.«

Erwin ging eine Weile mit zur Erde gehefteten Blicken. Plötzlich schaute er empor und sagte gradeaus vor sich hin: »Es wäre gut, wenn Sie mich jetzt allein ließen. Es ist am besten, wir verabschieden uns hier. Ich habe zu Haus ein paar Manuskripte von Ihnen, die werde ich Ihnen schicken. Es ist am besten, wir trennen uns hier für immer. Gute Nacht.«

Ulrich Zimmermann konnte sich kaum von der Stelle losreißen, wo diese Worte gefallen waren. Erwin eilte mit raschen Schritten in die Dunkelheit. Er suchte eine öffentliche Telephonstelle auf, ließ sich mit Villa Sansara verbinden und gab Wichtel verschiedene Aufträge. Bei einem Wagenstandplatz rief er einen Kutscher an und fuhr in die Geßnersche Wohnung zurück.

Virginia war indes so liegen geblieben, wie sie lag, als Erwin und Ulrich das Zimmer verlassen hatten. Es verfloß eine Viertelstunde, und keine der beiden Frauen sprach ein Wort. Dann kniete Frau Geßner neben dem Sofa und schlang mit trocknem Weinen die Arme um den Hals des Mädchens. Doch Virginia rührte sich nicht; erst als die Zerknirschung der Mutter zudringlicher wurde, richtete sie sich empor und sagte kalt: »Laß nur das, Mutter. Es hat keinen Zweck mehr. Sag mir lieber, ob es wahr ist, daß mein Vater ein unbekannter Mann ist.«

Frau Geßner stieß einen Schrei aus. »Das hat er dir gesagt?« stotterte sie und schlug die Hände klatschend zusammen. »Und der andere, der hat also geplaudert? Ich armes unglückliches Weib!« rief sie. »Mein armes, unglückliches Kind!«

Die Flurglocke läutete schrill. Mit verweintem Gesicht, das Taschentuch vor den Mund gepreßt, ging Frau Geßner hinaus. Sie öffnete, und Erwin stand vor ihr. »Nachdem Sie so übel mit Virginia umgesprungen sind, kann sie nicht bei Ihnen im Hause bleiben«, sagte er schnell und mit unterdrückter Stimme. »Was für ein Satan ist in Sie gefahren?«

»Ach Gott, ach Gott!« stöhnte die Frau.

»Still jetzt!« befahl Erwin. »Ich werde Virginia zur Gräfin Hamlisch bringen. Widersetzen Sie sich nicht! Schweigen Sie. Alles hängt davon ab, daß Sie vernünftig sind. In drei bis vier Tagen erhalten Sie Nachricht.«

Halb bittend, halb beschwörend starrte ihn Frau Geßner an. Erwin bekümmerte sich nicht weiter um sie, er trat ins Zimmer, ergriff Virginia bei der Hand und sagte leidenschaftlich drängend: »Ich wollte vorhin nicht den Druck der Stimmung ausnützen, unter der Sie standen, Virginia. Doch nun fürchte ich für Sie die Verzweiflung der kommenden Nacht. Ich halte Sie beim Wort. Alles ist bereit. Folgen Sie mir.«

»Wohin?« fragte Virginia mit unbeweglicher Miene.

»Zur Gräfin Hamlisch.« Gräfin Hamlisch war eine Schwester der Frau von Resowsky. Virginia kannte und ehrte diese Dame, und sie hätte nichts gegen Erwins Vorschlag einzuwenden gehabt – denn ihr umdüstertes Herz verlangte vor allem darnach, von der Mutter fortzugehen, – wäre nicht ein Mißtrauen in ihr gewesen, das nicht als Gedanke oder Erwägung, sondern als Lähmung ihres Körpers, ihrer Glieder, ihrer Zunge in Erscheinung trat.

»Es kann noch alles gut werden, Virginia«, fuhr Erwin fort, indem er seine Stirn zu der ihren niederbeugte; »Leben, Glück und Zukunft hängen davon ab, besinnen Sie sich nicht, jedes Zögern bedeutet Unheil.«

Virginia atmete plötzlich auf. Verloren, aber nicht verworfen, dachte sie und spürte eine finstere Beruhigung. Mechanisch erhob sie sich. »Mantel! Hut! rasch!« rief Erwin der Mutter zu, die verstört auf der Schwelle stand.

Frau Geßner gehorchte erschrocken. Virginia ließ sich apathisch die Jacke anziehen; apathisch befestigte sie den Hut in den Haaren, als ihr die Mutter die langen Nadeln gereicht hatte. Sie erfaßte nur dumpf, was geschah und was sie tat.

»Erwin! Gina!« rief Frau Geßner jammernd. Erwin warf ihr einen wütenden Blick zu, und sie schwieg.

Er führte sie zum Wagen. Beide nahmen Platz, die Räder begannen zu rollen. Erwin packte Virginias heiße Hände, sie zog sie beinahe entsetzt zurück, da ließ er sich auf die Knie gleiten, nahm ihren Rocksaum und drückte ihn an die Lippen. Sie starrte weh vor sich hin.

Er erhob sich wieder und fragte, ob er rauchen dürfe. Sie antwortete nicht. Er unterließ es. Die Pferde rannten wie rabiat durch eine Menge von Straßen, endlich hielt das Gefährt vor einem kleinen Palais im dritten Bezirk. Erwin öffnete den Schlag. »Warten Sie einen Augenblick,« sagte er, »ich will die Gräfin benachrichtigen.« Er sprang hinaus und verschwand im Torgang. Virginias Kehle war wie zugeschnürt; in ihrer Brust war eine steinern schwere Gleichgültigkeit.

Nach einigen Minuten erschien Erwin wieder, – er mochte beim Portier einen belanglosen Auftrag erteilt haben, – rief dem Kutscher etwas zu, und nachdem er eingestiegen war und der Wagen sich wieder in Bewegung gesetzt hatte, sagte er hastig: »Es ist ein Mißverständnis geschehen. Die Gräfin ist zu mir hinausgefahren. Sie erwartet uns in meinem Haus. Ich habe ihr vor einer Stunde einen Brief mit einem Boten geschickt. Was ich geschrieben hatte, mag allerdings verworren und ungereimt gewesen sein, ich war meiner Sinne kaum mächtig.«

Virginia stutzte. Verrätst du mich abermals? fragte ihr Blick, der nicht auf ihn gerichtet war, und sie empfand eine schmerzliche, trotzige Neugier. Ich will sehen, ob du mich abermals verrätst, sagten gleichsam die Augenlider bei ihrem Niedersinken. Erwin aber sprach und sprach und suchte das, was er ein Mißverständnis nannte, zu ergründen. Doch redete er nur, damit Virginia die Länge der Fahrt nicht spüre, und seine Stimme klang schließlich heiser und angestrengt.

Weshalb sollte die Gräfin zu ihm fahren? dachte Virginia, und um ihren Mund zuckte es beständig. Weshalb? was will er damit? Es waren aber diese Gedanken sowie seine Worte nur Täuschungen. Sie täuschten sich selbst und einander. Hinter ihren Gedanken lag ratloser Kummer, hinter seinen Reden ungezügelte Freude, verbrecherische Ungeduld.

Sie waren am Ziel. Wichtel mußte belehrt worden sein, denn er zeigte sich nicht. Sie schritten durch die Halle. »Ich bitte, hier herauf«, sagte Erwin höflich. Virginia zauderte vor der zweimal geeckten Holztreppe. »Ich bitte, hier herauf,« wiederholte Erwin scharf, »die Gräfin muß oben sein; wir haben nämlich ein Malheur in den untern Räumen gehabt. Kurzschluß. Das Licht versagt.«

Es klang plausibel. »Wichtel!« rief er nun. Niemand antwortete.

Er verrät mich, dachte Virginia, aber sie stieg die Treppe hinan, gequält und benommen von jener trotzigen Neugier.

Sie stand in einem wunderbaren, dunkelblauen Zimmer; müde, zerschlagen, in sich gekehrt, ja fast verträumt und ohne eigentlich zu leiden. Erwin sprach zu ihr. Nun klang seine Stimme wie aufgedeckt. Sie begriff. Sie schaute sich um und drückte ihre Hände ineinander. Er hat mich abermals verraten, sagte sie zu sich selbst.

Aber noch immer ward sie sich des Vorgangs nicht völlig bewußt. Sie dünkte sich das Opfer eines häßlichen Zwischenfalls, einer dummen Lüge, eines unwürdigen Scherzes und fragte sich, wohin das führen solle. Erwin betrachtete sie eine Weile schweigend, auf einmal erhob er sich und ging hinaus.

Zunächst war Virginia froh, daß sie allein war. Sie schloß die Augen und öffnete sie wieder. Welche tiefe Stille! Eine schier trinkbare Stille! Was ist das für ein Zimmer? fragte sie sich; ich kenne es nicht, es ist hergerichtet wie für eine Frau.

Ich soll ihn lieben, dachte sie unvermittelt; warum nicht? warum sollt' ich ihn nicht lieben? Ist es denn ein Kunststück zu lieben? Er wird mich heiraten, und ich werde ihn lieben. Und der andere? Manfred? Er ist so weit, so unermeßlich weit. Aber warum sollt ich nicht auch ihn lieben? warum sollt ich nicht beide lieben? beendigte sie ihre Gedanken in vollständiger Verdüsterung des Geistes.

Sie wanderte auf und ab, auf und ab. Aus welchem Grund läßt er mich so lange allein? grübelte sie befremdet und bekam nun Angst vor der Stille.

Ihr Blick fiel auf eine kleine Tür. Sie öffnete und schaute in ein rosig beleuchtetes Badezimmer. Kopfschüttelnd schloß sie wieder, wandte sich weg und trat zu einem Fenster. Die Nacht war schwarz. Regentropfen spritzten ans Glas. Sie nahm den Hut herunter und fing von neuem an, auf und ab zu wandern. Um Gottes willen, was tu ich! fuhr es ihr plötzlich durch den Sinn; hier kann ich nicht bleiben, es ist spät, ich muß fort.

Sie schlüpfte in die Jacke, setzte den Hut wieder auf und eilte zur Tür. Sie drückte die Klinke nieder. Ein eisiges Entsetzen überfiel sie. Die Türe war versperrt.

Sie drehte den Kopf hin und her. Ihre Augen waren aufgerissen. Noch einmal und noch einmal drückte sie die Klinke. Umsonst. Die Tür war versperrt. Sie war gefangen.

Weinend schlug sie die Hände vors Gesicht und lehnte sich mit der Stirne kraftlos gegen den Pfosten.


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