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Ein Abend in der Villa Sansara

. Virginia hatte die Gewohnheit, sich nachts, wenn sie aus dem Schlaf erwachte, ans Fenster zu begeben und dort in einem Sinnen, das die Erlebnisse des Tages spielend streifte, so lange zu verweilen, bis sie den Schlummer wieder nahen fühlte. Sie tat es auch in dieser Nacht. Einen gelben Überhang um die Schultern, der vor der Brust geschlossen war, saß sie in der Dunkelheit und schaute in den mondbeschienenen Hof. Mit wunderlichem Gruseln roch sie die eigene Leibeswärme.

In solchen Stunden denkt man nicht; man läßt sich hinziehen von Befürchtungen zu Erwartungen, geheimnisvoller Ehrgeiz treibt im Dämmern der Seele schillernde Blasen. Virginia war fast noch traumbefangen. Unter den Bildern, die sie gegenwärtig hielt, war das ihrer eigenen Erscheinung, wie sie sich im Spiegel gesehen hatte, mit der Perlenkette um den Hals, zugleich berückend und unheilvoll.

Ich hätte ablehnender sein sollen, dachte sie erregt und ballte schnell die Faust; dann: es könnte mir gehören; dann wieder: wie hat er es wagen können?

Am andern Morgen schrieb sie an Manfred. Sie bedurfte der Aussprache, um Klarheit zu gewinnen, aber sie konnte nicht schlüssig werden, wie sie die Geschichte mit dem Halsband schildern sollte. Scherzhaft? Daran hinderte sie die Erinnerung an Erwins Dringlichkeit und Wärme. Gewichtig? Dann konnte Manfred glauben, sie sei wünschevoll und unbescheiden.

Indem sie sich so mühte, die rechte Art zu finden, bezichtigte sie sich schon der Unehrlichkeit. Ihre Hand widerstrebte dem Wort, ihre Feder der Hand, Manfreds fernes Antlitz verbarg sich wie hinter Schleiern, und was sie schon niedergeschrieben hatte, glich einer Rede in die leere Luft.

Der Zufall fügte es, daß während dieses Zwiespaltes der Postbote einen Brief von Manfred brachte.

Der Brief kam von der Stadt Colombo auf Ceylon. Als er ihr schrieb, war Manfred schon über die wissenswerten Vorgänge daheim unterrichtet. Er hatte Kenntnis von dem Duell, er hatte Kenntnis davon, daß Erwin der beengten Wirtschaftslage des kleinen Geßnerschen Haushaltes durch einen entschlossenen Handstreich zu Hilfe gekommen war. Dies letztere hatte er von Erwin selbst erfahren, und der Ausdruck »entschlossener Handstreich« war Erwins eigener. Was Virginia darüber gemeldet, hätte Manfred keine Deutlichkeit geben können, in Erwins Erzählung war der Ton herzlicher Teilnahme mit jenem edlen Spott gemischt, der Anerkennung oder Dank weit zurückwies und einen ungewöhnlichen Eingriff als freie Laune betrachtet wissen wollte, unter Männern nicht der Rede wert. Es war dem Brief nicht zu entnehmen, wie Manfred darüber dachte; beruhigte ihn nicht das stolze Vertrauen zum Freund, so mußte die Kunde eines Zweikampfes unter Umständen, welche Virginia derart in Mitleidenschaft gezogen, eine Verfinsterung seines Herzens erregen. Aber dem war nicht so. Er schien sich zu sagen: meine Befürchtungen haben mir nicht umsonst schlimme Bilder vorgemalt, und ich habe einen Wächter bestellt, dessengleichen es nicht gibt. Wenn Manfred unruhig war, so war er es im Hinblick auf alle Fährnisse, die dem Auge des Wächters entgehen mochten, und er riet Virginia, er flehte sie an, in Erwin einen Bruder zu sehen, mehr als einen Bruder, einen, vor dem sie kein Geheimnis zu haben brauchte. Und das war viel gesagt.

Im übrigen war der Brief einfach gehalten. Es schien, als ob Manfred alle Gefühle gewaltsam unterdrückte, die eine heftige Bewegung in Virginia hervorrufen konnten, als wolle er den klaren Strom ihrer Neigung nicht durch das Widerspiel der quälenden Sehnsucht trüben, die er, in so großer Ferne, sicherlich über jedes Mitteilbare hinaus hegte. Bis auf eine einzige Stelle war er sachlich, fast ein wenig pedantisch in der Schilderung von Zuständen und Begebnissen, fast ein wenig zu spirituell in der Andeutung dessen, was ihn beschäftigte und wonach er strebte. Die Einsamkeit war zu spüren, in der er sich unter arbeitenden Gefährten befand. »Ich untersuche Radiolarien, Salpen, Medusen und Siphonophoren, lauter winzige Tierchen, die wir mit dem Schleppnetz aus dem Ozean fischen und von denen gewisse Arten nachts die Fläche des Meeres mit Feuer bedecken, so daß ich oft stundenlang schaue, Orion, Bär und südliches Kreuz über mir am Sternenhimmel, und der dumpfe Wellenschlag am Holz des Schiffes macht mich traurig, ich weiß nicht warum.

»Ich habe hier im Bungalow eines vornehmen Engländers, an den ich Empfehlungen hatte, gastliche Aufnahme gefunden, da der ›Phönix‹ im Hafen von Colombo drei Wochen lang verankert bleibt. Ich wandle im Paradies, zumindest im Paradies der Pflanzen. Alles gedeiht ins Riesenhafte: die Arekapalme, die Kokospalme, die Pisange, Bambusen und Benyanen, der Brotfruchtbaum, die Melone, die Pfeffererbse. In reizenden Festons und Kränzen hängen Schmarotzerblüten von allen Ästen, und unten bilden die kolossalen Blätter der Bananen, Caladien, Cassaven, die Farne, Orchideen und Lianen ein undurchdringliches Gewirr. Schilfrohr, das bei uns drei Fuß hoch wächst, strebt dreißig Meter hoch empor; unsere kümmerliche Alpenrose wird zum gigantischen Rhododendron mit mannsdickem Stamm, und Malven, Euphorbien, Lilien und Lantanen überwuchern den Boden so, daß das Reiche und Anmutige zum Unheimlichen wird. Ich glaube, inmitten dieses Übermaßes werden auch meine Gedanken zum Übermaß getrieben. Ich darf nicht zweifeln: Zweifel wird schon Verzweiflung; Heimweh ist ein schreckliches Fieber, das mich toll macht, so daß ich die Zähne in die Faust beiße und mich am Strand hinwerfe, um das Gesicht ins Wasser zu tauchen. Aber dann kommt wieder der überirdisch feierliche Frieden eines Abends; die Frösche rufen mit Glockenstimmen aus den Dschungeln, Flederfüchse schwirren, und das Meer tönt, wie wenn ein ungeheures Seidenkleid über ungeheure Marmorplatten schleift. In dieser Stunde seh' ich dich am deutlichsten, meine geliebte Virginia! Da glänzt dein Haar, ja, es glänzt wie der Strom der pelagischen Tiere, die zuweilen mitten im Ozean eine silberne Straße ziehn; da stehst du vor mir mit einem Lächeln voll unerwarteter Schelmerei, bist in mir, mein Atem, mein Gedanke, meine Welt. Und dann sag ich mir: ich bin deiner nicht würdig, meine Liebe ist zu klein, zu ängstlich und zu selbstsüchtig. Das Feuer verzehrt sich im Innern, anstatt nach außen zu strahlen, es blendet mich, anstatt mich stärker und tätiger zu machen. Ich vergleiche mich mit meinen Kameraden, die verständige und korrekte Menschen sind: nicht ehrgeizig aber fleißig, nicht glänzend aber tüchtig. Man kann mit ihnen sympathisieren, ohne lebhaft für sie zu fühlen. Indem ich mich von ihnen absondere, werde ich meiner Überheblichkeit verstimmend bewußt. Ich bin verwöhnt, es kann nicht lauter Erwin Reiners geben, ich habe meine Ansprüche überspannt, und das ist bedenklich. Doch ich kann nicht mit ihnen reden. Sie sind mir zu ernst oder zu kalt, oder zu lustig, oder zu simpel, oder zu verzwickt. Ich sehe die Korallengärten im Meer und denke mir: armselig ist unser Treiben dagegen, denn das ist auch Fleiß, aber ein Fleiß, der Schönheit erzeugt, Schönheit für Jahrtausende. Und wir machen Bibliotheken. Speicher sind noch keine Mühlen, und Mühlen schaffen erst Brot, nicht Glück, nicht Schönheit. Darf ich dir's gestehen, Liebste? Es ist ein Aufruhr in mir, ich weiß nicht wogegen, eine Flamme, eine neue Flamme, ich weiß noch nicht wofür. Ich habe meine Jugend kraftlos verträumt; ich will anders werden, ich muß umsatteln; Tüchtigkeit, ja danach verlangt mich, aber nicht nach jener Tüchtigkeit, die an den Vorteil gespannt ist wie ein Ochs an den Pflug; nicht an den Ochsen denk' ich dabei und an den Pflug, sondern mehr an den Adler, an reine Luft und frischen Wind; und an dich, die mir Flügel gibt, Mut, Selbstvertrauen und den Willen zur Verantwortlichkeit. Wenn es einmal in meinem Leben eine innere Abkehr von Erwin geben wird, so wird sie in der Erkenntnis wurzeln, daß ich andere Wege gehen muß als er, den das Schicksal zu einem Einzelnen, ja zu einem Wunder vielleicht in seiner Art gemacht hat, und daß ich mich nicht werbend und nacheifernd an ihn verlieren darf.«

Manche Stellen dieses Briefes ließen Virginia, bei aller Bereitschaft zum Mitempfinden, um den geliebten Mann bange werden. Die drangvolle Leidenschaftlichkeit im Geistigen quälte sie, denn sie hatte keine Formel dafür. Sie ahnte eine Verwandlung, aber sie konnte nicht Grund und Ziel ermessen. Nur was sie zärtlich ansprach, was in ihrem innigen Gefühl ein gegenwerbendes Echo weckte, das ergriff sie mit Freude und entzückte sich daran. Immer wieder nahm sie den Brief zur Hand, dessen Problematisches ihr viel zu schaffen machte, und sie wollte ganz verstehen, wovon Manfred so bewegt und durchströmt war, – Dinge, die sie jenseits der Liebe geglaubt, die er aber so ausdrucksvoll damit verknüpfte, daß sie sich verpflichtet hielt, ihm beizustehen. Ein wenig von der holden Kinderzuversicht ging freilich auf solche Art verloren.

Während ihr Inneres so benommen war, geschah es, daß sie im Flügelschen Hause einen der Brüder Mariannes kennen lernte, eine Begegnung, die Marianne sehr unerwünscht war, denn sie sah die Folgen voraus, und Virginia, die die Widerwilligkeit, mit der ihre Freundin notgedrungen die Zeremonie der Vorstellung übernahm, wohl vermerkte, fühlte sich durch das aufdringlich-selbstsichere Wesen des jungen Mannes aufs entschiedenste abgestoßen. Es war derselbe, der damals augenlos an ihr vorübergeeilt war, als sie Erwin in Gefahr gewähnt und im Flur draußen ihn durchs Telephon zu sprechen gewünscht hatte. Sie hatte nicht vergessen, daß ihr die verstörten und entformten Züge gleichwohl den Eindruck der Roheit und Verwilderung gemacht hatten.

In der Tat war Sixtus von Flügel ein recht übler Typus der modernen, jungen Lebewelt; ein Spieler im allerschlimmsten Sinn, ein elegantes und tückisches Raubtier, einer von jenen Eingefleischten der großen Metropolen, denen es schwindlig wird, wenn sie keine fünfstöckigen Häuser mehr um sich sehen, und deren Beruf es ist, keinen Beruf zu haben. Er war ein Meister der Mode, und ihn beobachten hieß, die Mode selber, das wetterwendische, lemurische Ding, ihren prahlenden Cancan aufführen sehen.

Er wollte Virginia nach Hause begleiten. Sie lehnte ab, doch ließ er sich dies nicht anfechten. Marianne suchte ihn zurückzuhalten, es fruchtete nicht. Virginias edle Unnahbarkeit hinderte ihn nicht, zudringlich zu sein. Unter der Hülle einer geschäftsmäßigen Galanterie sah er in einer Frau ungefähr dasselbe, was ein Taschendieb in fremden Börsen sieht: etwas zum Einstecken und Mitnehmen. Taschendiebe sind die Kleinkrämer des Verbrechens, und diese »Herzensräuber« vom Schlage Sixtus von Flügels betreiben ihr Handwerk zu wahllos und werden zu leicht durchschaut. Sie sind ganz einfach nur da, um durchschaut zu werden, aber das wissen sie nicht, und kraft ihrer Unwissenheit sind sie hartnäckig wie die Hornissen.

Virginia war froh, als sie sich seiner entledigt hatte und daheim war, aber wie groß war ihr Mißbehagen, als sie, gegen Abend aus dem Hause tretend, ihn auf sich zukommen sah! Sie erwiderte kalt seinen Gruß und wollte vorbeigehen; er verstellte ihr den Weg. Es war nicht eben gemütlich, sie anzuschauen, wenn ihr Auge stolz verachtend glänzte, aber daraus machte sich der junge Herr nicht das mindeste, denn er war von seiner Unwiderstehlichkeit durchdrungen. Sie gab ihm zu verstehen, daß ihr seine Gesellschaft unerwünscht sei; umsonst; sie antwortete nicht auf seine Fragen, doch ihn störte das nicht, er hielt Schritt mit ihr, er redete auf sie ein, er war vertraulich, verbissen, sarkastisch und voll niederträchtiger Anspielungen. Virginia verstummte ganz. Zorn und Ekel ergriffen sie. Sie flüchtete in einen Laden, er wartete draußen mit frecher Geduld. Wie gehetzt kam sie nach Haus, immer an seiner Seite. Sie schrieb ein paar Zeilen an Marianne. Ohne Erfolg. Am anderen Morgen stand er wieder vorm Tor, als ob er dort genächtigt hätte. Sie sagte ihm gerade heraus, er möge sie ungeschoren lassen, er zuckte die Achseln und lachte. Ihr Widerstand erboste ihn. Er schien einen Spion zu besolden, denn zu welcher Zeit immer sie das Haus verließ, so dauerte es nicht lange, und er war hinter ihr, dann neben ihr. Seine fiebrige, giftige Zudringlichkeit hatte etwas Gespensterhaftes. Er schmähte und schmeichelte in einem Atem, er war beleidigend, dumm und glatt. Einmal am Abend folgte er ihr über die Treppe hinauf und machte sich lustig über ihre Entrüstung.

Sie war gewohnt, in Reinlichkeit zu leben; der ständigen Besudelung war ihr Gleichmut nicht gewachsen. Das häßliche Erlebnis erfüllte sie mit Abscheu, mit leidvollem Erstaunen und endlich mit Gewissensunruhe. Etwas von dem kühnen Trotz wich aus ihren Zügen, und sie hegte Scheu, mit andern Menschen zu sprechen. Marianne ließ nichts von sich hören, sie aufzusuchen konnte sich Virginia nicht entschließen, weil sie nicht in das Haus des Unholds gehen wollte. Sie überwand sich und teilte sich der Mutter mit, der ihr verändertes Wesen schon aufgefallen war, die sich aber niemals einfallen ließ, Virginia auszukundschaften. Sie war nicht neugierig, und diese Abwesenheit eines weiblichen Gebrechens trug manches zu dem Eindruck von Vornehmheit bei, den sie machte.

»Da gibt's nur eines,« erklärte Frau Geßner, »du mußt dich an Erwin wenden.«

Virginia erschrak bei dem bloßen Gedanken. Sie hatte genug von jener Duellgeschichte, über die das Gerede noch immer nicht verstummt war. Sie wies den Vorschlag ab. »Du sonderbares Kind,« meinte Frau Geßner, »den Menschen wirst du noch oft brauchen, öfter als du denkst.« Ein Ausspruch, der nicht danach angetan war, Virginia unbesorgter zu stimmen. »Er hat dich schon lange nicht besucht«, sagte sie zur Mutter.

»Nein. Er macht sich jetzt selten.«

»Findest du, daß er sich selten macht?« versetzte Virginia nachdenklich. »Übrigens ist er nicht in Wien. Er ist beim Grafen Hennsdorf in Böhmen zu einer Jagd geladen.«

Immerhin, etwas mußte geschehen. Es fügte sich, daß sie im Wandelgang der Akademie Ulrich Zimmermann traf, der mit einem bekannten Maler im Gespräch auf und ab ging. Er war beglückt, Virginia zu sehen, diese fand die Gelegenheit günstig, und unter dem Druck der Umstände vertraute sie sich ihm an. Er war außer sich. Seine temperamentvolle Empörung gab Virginia Anlaß zu neuen Befürchtungen. »Was wollen Sie tun?« fragte sie. »Lassen Sie mich nur machen,« antwortete er feurig, »ich werde Sie von diesem Desperado befreien.«

Und was machte der unglückselige Dichter? Er fuhr zu Erwin hinaus, der am selben Tag zurückgekehrt war, erzählte ihm die Schmach, die Virginia erlitt, fragte, was dagegen zu unternehmen sei, und erbot sich, Sixtus von Flügel zu fordern. Erwin erblaßte bei der Mitteilung. »Sie sind ein Narr,« sagte er zu Ulrich Zimmermann; »ich werde den jungen Mann ein bißchen einschüchtern, verlassen Sie sich darauf. Heut über drei Tage befindet sich Herr von Flügel nicht mehr in Wien.«

Ulrich Zimmermann staunte.

Die Sache war die, daß Sixtus von Flügel bei Erwin nicht nur tief verschuldet war, sondern daß er auch vor einiger Zeit auf den Namen des Freundes seiner Schwester eine bedeutende Fälschung begangen hatte. Somit war Erwin gegen ihn im Besitz einer stärkeren Waffe, als es Degen und Pistole sind. Am gleichen Mittag zwischen zwölf und ein Uhr fand sich Erwin im Flügelschen Hause ein. Marianne hatte ihn erwartet, Sixtus war wie vor ein Gericht bestellt worden. Die Unterredung dauerte nicht lange. Erwin war unerregt und stellte mit eisiger Ruhe seine Bedingungen, deren Nichterfüllung Skandal und Schande hervorrufen würde. Sixtus mußte sich dazu entschließen, einen demütigen Abbittebrief, den ihm Erwin in die Feder diktierte, an Virginia zu richten; ferner mußte er einen Schein unterschreiben, worin er das ehrenwörtliche Versprechen gab, für die Dauer eines Jahres nach Paris oder London zu gehen, gleichviel wohin, jedenfalls aber Wien zu meiden. Dagegen verpflichtete sich Erwin, seine dringlichsten Schulden zu zahlen und ihm überdies eine mäßige Summe für seinen Unterhalt während der nächsten Monate auszusetzen.

Die Wut und die Erniedrigung verwandelten den jungen Mann in ein Steinbild. Wäre nicht Marianne gewesen, die etwas wie eine seelische Gewalt über ihn ausübte, er hätte in der Raserei, die ihn durchtobte, Unheil angerichtet. So fügte er sich knirschend.

Von dieser Stunde an trug Marianne gegen Virginia unauslöschlichen Haß, jedoch schien es ihr noch nicht an der Zeit, ein solches Gefühl zu offenbaren. Sie verschloß es in ihrem Busen, um es reifen zu lassen. Der Haß hat seine Sehnsucht, wie die Liebe. Als es Abend wurde, begab sie sich in Virginias Wohnung. Virginia hatte schon den Entschuldigungsbrief erhalten und war verwundert über die zauberhafte Schnelligkeit, mit der Ulrich Zimmermann sein Gelöbnis erfüllt hatte.

»Ach, Virginia,« sagte Marianne mit sanftem Vorwurf, »hätten Sie doch noch ein wenig Geduld gehabt, ich hätte alles in Ordnung gebracht. Mein Bruder ist ein unleidlicher Wildfang, aber im Grunde seines Herzens ist er ein Kind. Nun haben Sie Erwin auf ihn gehetzt, von dem er in Geldabhängigkeit ist, und wer weiß, was daraus entstehen kann. Das war nicht freundschaftlich gehandelt.«

Virginia war sprachlos. »Ich hätte Erwin auf ihn gehetzt?« flüsterte sie endlich.

»Ja natürlich; woher hätt' es denn Erwin wissen können?«

»Sie dürfen mir glauben, Marianne, daß das ohne meinen Willen geschehen ist«, versicherte Virginia hastig. Gerade Erwins Dazwischentreten habe sie vermeiden wollen und sich deswegen an Ulrich Zimmermann gewendet.

»Das ist gerade so, wie wenn Sie sich an Erwins Rockschoß gehängt hätten«, antwortete Marianne trocken. »Man sollte wirklich denken, daß Sixtus ein Menschenfresser ist«, fügte sie ärgerlich hinzu, lenkte jedoch rasch ein, als sie wahrnahm, daß Virginias Blick befremdet und funkelnd auf ihr ruhte. »Sie haben ja Recht,« sagte sie, »und mein Bruder sieht es ein. Er ist in Sie verliebt, und um der Geschichte ein Ende zu machen, reist er morgen für ein Jahr ins Ausland. Sie können also wieder in Frieden Ihre Straße ziehen, der Wegelagerer ist nicht mehr zu fürchten. Dummer Teufel, der er ist, hat keine Kunst und keine Feinheit.« Nach diesem kleinen Nadelstich, der aber sein Ziel verfehlte, zog sie ihr Döschen heraus und fing an zu rauchen.

Virginia trug Ulrich Zimmermann einen um so tieferen Unwillen nach, als sie sich durch diesen Verlauf in eine immer unzerreißbarere Verbindlichkeit gegen Erwin getrieben sah. Ihr war, als regiere ein herrischer Arm über ihrem Leben, behüte sie, das wohl, heische aber auch Gehorsam und Dank dafür. Sie zollte ihm Dank; dankbar zu sein, lag im Kern ihres Wesens, doch die Umstände waren gar zu heikel und erzeugten Fesseln, von denen sie sich unfroh gehemmt fühlte. Dazu kam die Unsicherheit, wie er all dies aufgenommen: ob er es nicht im stillen tadelte und unehrlich fand, daß sie sich an einen Dritten gewandt, da er doch der Meinung sein mußte, der Umweg sei nur ein Verlegenheitsspiel gewesen.

An einem der nächsten Vormittage ging sie über den Graben, und schon von weitem erblickte sie Erwin in einer Gesellschaft von zwei Herren und zwei Damen, höchst elegant gekleideten Leuten. Alle fünf Personen waren in einem heiter belebten Gespräch, und als Erwin Virginia erblickte und näher kommen sah, flammten seine Augen eine Sekunde lang auf, und er entschloß sich zu einer ebenso verwegenen wie raffinierten Komödie. Er redete nämlich mit den beiden Damen weiter, die, überrascht von Virginias Erscheinung, sie mit schiefen Blicken verfolgten, Blicken, die für Männer peinlich und unergründlich und eine Mischung von Feindseligkeit, Wohlwollen, Neugier und Verrat sind. Er redete ruhig weiter, während er seine Augen an Virginias Augen vorbei auf ihre Wange heftete und sie vorübergehen ließ, ohne sie zu grüßen.

Virginia hatte sich schon zum Gruß bereitet; sie hatte schon die Lippen zu freundlichem Lächeln gehoben, und als das Unerwartete eingetreten war, wußte sie nicht, wie ihr geschah, glaubte sie in die Erde versinken zu müssen. Am liebsten hätte sie sich gegen die Mauer eines Hauses gelehnt, denn Schwäche überfiel sie, und sie dachte im Verfluß weniger Sekunden an viele Dinge wie einer, der in einen Abgrund stürzt. Mit Mühe schleppte sie sich zu einem Einspänner, fuhr nach Hause, und dort wurde ihr so übel, daß sie sich aufs Sofa legte.

 

Erwin hatte in der letzten Zeit Virginias Nähe nicht ohne Plan gemieden. Da es zu seinen mystischen Überzeugungen gehörte, daß nicht nur der Wille zum Ziel führt, sondern daß auch das Ziel den Willen bindet und an sich reißt, wähnte er der handelnden Anteilnahme entraten zu können, wenn die Erzeugung und Entladung großer Spannungen gültigen Ersatz für die kleinen und alltäglichen Fortschritte boten. Er arbeitete, hörte Kollegien, hielt selbst Vorträge in der Aula, zu denen sich ein erlesenes Publikum drängte, er ritt, er focht, spielte Tennis und Fußball, ging ins Theater, in Gesellschaft, pflegte seine zahllosen Beziehungen mit Umsicht und Kaltblütigkeit, aber in dieser wechselreichen Bewegung blieb Virginia der Augenpunkt wie ein ferner Leuchtturm für ein nachtfahrendes Fischerboot.

Um diese Zeit war es auch, daß das Verhältnis mit Helene Zurmühlen seine Reife erlangte und einen Charakter annahm, der das Schicksal der jungen Frau besiegelte.

Helene Zurmühlen stammte aus einem guten Haus; die Kynasts waren eine alte, hochangesehene Patrizierfamilie. Helene hatte mit achtzehn Jahren geheiratet. Frühreif, wie sie gewesen war, hatte sie den Zwang der Jungmädchenschaft als drückend empfunden. Robert Zurmühlen, den sie in sich verliebt zu machen gewußt, behandelte sie auch in der Ehe wie ein höheres Wesen. Das Talent, das ihm zum Kaufmann großen Stils fehlte und das eine Mischung von strategischen und rechnerischen Fähigkeiten ist, ersetzte er durch den zähen Fleiß eines Mannes, der jeden Daseinsgenuß zu opfern vermag, um reich zu werden. Denn Helene sehnte sich nach Reichtum. Sie hatte ein Kind von fünf Jahren. Sie schien glücklich zu sein. Sie achtete ihren Mann, sie schien ihn zu lieben. Er stand völlig unter ihrer Botmäßigkeit; sie suchte ihn zur Eleganz, zu einem weltmännischen Gehaben zu erziehen und wollte ihm Geschmack an moderner Literatur beibringen. Doch er war kleinlich, in Gelddingen krämerhaft, das verdroß sie, und sie kämpfte vergebens gegen diesen Fehler. Er hatte zahlreiche Verwandte in der Stadt, und Helene sah sich gezwungen, einen großen Teil ihrer Zeit diesen fremden und gleichgültigen Menschen zu widmen. Sie schien bescheiden, aber entsagungsvoll; sie war aufregungsbedürftig und stellte sich blasiert, war lecker, naschhaft, ja ausgehungert und stellte sich übersättigt, war menschensüchtig und stellte sich weltmüde. Keineswegs nur aus Lust an der Gebärde; der Zwiespalt lag wie eine angeborene Krankheit tief in ihrer Natur.

Einige Seelenforscher versichern, daß die in der bürgerlichen Welt zutage tretenden Leidenschaften vornehmlich von Freiwilligkeit regiert werden, was ungefähr dasselbe heißen will, wie wenn man eine Feuersbrunst auf Brandstiftung zurückführt. Vom ersten Augenblick an, wo sie Erwin Reiner durch Vermittlung ihres Bruders kennen lernte, war es für Helene ausgemacht, daß sie diesen Mann gewinnen müsse. Er zeigte sich ihr als der wahrgewordene unter den kühnsten ihrer Träume. Sie fühlte ihre vollkommene Wehrlosigkeit gegen ihn. Sie war geblendet und erlag der Energie seiner Persönlichkeit mit einer fatalistischen Ruhe. Es war noch nicht gewiß, ob er sie vom Boden aufheben würde, aber sie kniete schon, erschöpft vom Horchen, vom Zuschauen, vom Warten, angewidert von Familienabenden, gelangweilt von Pflichten und Rücksichten, sie, die stets von Pflichten und Rücksichten sprach und einem Schutzengel der Tugend glich. Was setzest du aufs Spiel? fragte Erwin, der die Eroberung zu leicht fand. Mich! antwortete Helene. Dieses Temperament des Vornichtszurückschreckens hatte immerhin den Kitzel der Neuheit. Erwin bedurfte keiner Worte, keiner Künste, keiner Beteuerung, keiner Narkose; hier hatte eine Macht, die er kennen mußte, da er einer ihrer Emissäre und Agenten war, so umfassend vorgearbeitet, daß ihm eigentlich nichts mehr zu tun übrig blieb.

Aber die Frau gefiel ihm. Sie war zierlich, außerordentlich zierlich. Sie gefiel ihm, wie ihm eine kostbare Vase gefallen hätte. Er verglich sie mit einem Notturno von Chopin, stimmungsvoll vorgetragen. Sie hatte Poesie; sie hatte Witz und Schliff. Es beschäftigte ihn angenehm, das lüsterne Herzchen mit Leckerbissen aus seiner sublimen Küche zu füttern. Er übte sich an ihr; er konnte nachlässig sein und befeuert sein, er konnte schwermütig sein und rebellisch sein, er konnte lächeln wie ein Faun oder wie Apoll, für Helene verlor er nie von seinem Wert; sie bewunderte seine meisterhafte Haltung.

Wie verführt man ein junges Mädchen? fragte sich Erwin; indem man sich zu ihrem Ideal macht. Nichts ist leichter und einfacher. Wie verführt man eine Braut? Indem man ihre Ideale revolutioniert. Das ist schwer und mühevoll. Bei einer verheirateten Frau jedoch hat man nur nötig, gegen den Gatten Kehrt zu machen, indem man die Versprechungen erfüllt, die er nicht eingelöst hat. Die Größe in Erwins Lebensführung, die Freiheit seines Geistes, die Tiefe seiner Ansichten war es wohl zunächst, was Helene bezauberte; aber wodurch sie sich ihm bis zur Selbstvergessenheit unterworfen fühlte, das war seine Zärtlichkeit. Er verwöhnte sie durch Zärtlichkeit, er verwandelte sie in eine Sklavin durch Zärtlichkeit, er wußte sie aufzuschüren, freudig, glühend, ja bacchantisch zu stimmen durch Zärtlichkeit. Sie hatte nie dergleichen für möglich gehalten, schon sein anrührendes Wort verwandelte sie; alles Kleinmütige und Hausbackene entschwand, und die Beunruhigungen des Gewissens erschienen ihr in seiner Nähe, durch die Kraft seiner Zärtlichkeit, so banal wie das Lampenfieber. Sie war nicht mehr die anständig gewesene Frau, die Ehebruch beging und mit Pein und Schauder über die gewundenen Pfade der Heimlichkeit schritt; sie war in seinen Armen über solch niedriges Los hinausgerückt, und so lange seine Arme sie hielten, konnte sie nicht fallen. Mit erstaunlicher Sicherheit hatte Erwin erkannt, daß er dieses im Kern erschlaffte Geschöpf durch sinnliche Entflammungen nur noch verderblicher erschlaffen würde; demgemäß war seine Zärtlichkeit so vielfältig, so besonders, so fremd, so geistig, so behutsam, so tiefgründig, daß es oft den Anschein hatte, als wolle er eine neue Art von Liebesgefühl und Verlockung erzeugen, und die Wirkung, die er ausübte, half ihm hinweg über die Ärmlichkeit und Flüchtigkeit der Beziehung zu einer Frau, die leer war, nachdem sie sich geschenkt hatte. Ja, er probierte, er erfand, er forschte nach dem unwiderstehlichen Mittel, dem Rezept der Rezepte; es war für ihn gleichsam ein Versuch am Gipsmodell vor der Arbeit gegenüber der lebenden Figur.

Vielleicht, da er nun so im tiefen Spiele war, sollte es eine Fortsetzung des Spieles sein, was ihn bewogen hatte, Virginia vorübergehen zu lassen, ohne sie zu grüßen. Planlos geschah es nicht. Er zerbrach für eine Stunde die Kette, die er dann um so fester schmieden konnte.

Genau eine Stunde später war er in Virginias Wohnung.

»Sagen Sie mir um Gotteswillen, bin ich Ihnen nicht vorhin in der Stadt begegnet?« fing er an. »Es ist mir wie ein Traum.«

Virginia war noch immer verstört, aber sie atmete auf. »Was war denn das?« flüsterte sie mit nicht verhehltem Unwillen.

»Ich bitte tausendmal um Verzeihung«, sagte Erwin; »es war eine Halluzination, oder vielmehr die sonderbarste Umkehr von Halluzination. Sie sind zu jeder Zeit in meiner Vorstellung so gegenwärtig, daß es mir wie einem Kind ergangen ist, wenn es sich tagelang auf seine Mutter gefreut hat, und wenn die Mutter wirklich ins Zimmer tritt, sich benimmt, als wäre sie gar nicht fortgewesen. Etwas Ähnliches ist mir nie passiert. Verzeihen Sie mir.«

Er schien es sehr ernst zu nehmen, das versöhnte Virginia, und sie mußte sogar lachen. Im Grunde war sie froh, an den häßlichen Zwischenfall nicht mehr denken zu müssen. »Ich habe noch eine Bitte«, begann Erwin wieder; »ich gebe Ende nächster Woche meinen Freunden und vielen andern Leuten, denen ich gesellschaftlich verpflichtet bin, einen Abend, eine Art von Fest, wenn Sie wollen. Frau von Resowsky wird die Liebenswürdigkeit haben, die Honneurs zu machen. Darf ich Sie und Ihre Mutter dazu einladen?«

»Die Mutter geht nicht in Gesellschaft«, erwiderte Virginia rasch und im Gefühl, daß die Anwesenheit der Mutter gar nicht gewünscht werde; »davor hat sie Angst wie vor einem Eisenbahnunglück.«

»Das wird mich aber hoffentlich nicht Ihrer Gegenwart berauben«, versetzte Erwin förmlich. »Wenn ja, so würde ich allen Leuten noch in letzter Stunde absagen«, fügte er hinzu, als er eine Bedenklichkeit bei Virginia bemerkte. »Ich habe Sie mir versprochen; es ist mir wichtig, daß Sie da sind, und Sie werden da sein.«

Oho, dachte Virginia erstaunt, so spricht man mit mir? Sie versuchte zu lächeln, konnte aber Erwins Blick nicht ertragen. Es kam plötzlich etwas Schweres, schwer zu Tragendes über sie, und sie wußte nicht, woher es kam.

»Ihre Weigerung würde Unglück für mein Haus bedeuten«, fuhr Erwin hartnäckig fort.

»Sind Sie denn abergläubisch?«

»Ich bin abergläubisch wie alle, die nichts als sich selber haben, um daran zu glauben. Geben Sie mir Ihr Jawort und Ihre Hand.«

Virginia gab ihr Jawort, aber nicht ihre Hand. In der Küche draußen ließ Frau Geßner die Wasserleitung plätschern. Virginia trat langsam zum Fenster. Erwins Nüstern flogen, als er ihren edelschleichenden Gang bis in die Einzelheiten des Rockfaltenwurfs verfolgte. Mein, mein, mein, mein, jubelte es in ihm.

Ihre offensichtliche Verstimmung tat ihm wundersam wohl, wie ein Nachthauch, wenn man aus erhitzten Zimmern tritt. Es war etwas so Pflanzenhaftes an ihrem plötzlichen Traurigsein, etwas, was gleichsam mit dem Mond zusammenhing und an den Fall von Sternen erinnerte. Dies liebte er in den Frauen, dies Wurzeln in dunkler Erde und Auftasten zu den Sphären.

Es konnte ihm in der Folge nicht entgehen, daß sie scheuer geworden war, seit er sie vor den Nachstellungen des jungen Flügel gerettet. Ulrich Zimmermann hatte ihm da einen vortrefflichen Dienst erwiesen. Doch Ulrich selbst war untröstlich, denn er war von Marianne belehrt worden, wie sehr Virginia gegen ihn erzürnt sei. Der Anlaß wurde ihm nicht klar, er dachte entschlossen gehandelt zu haben, und als er eines Nachmittags zu Erwin kam und ihm dieser sagte, Virginia rechne ihm sein Benehmen als Feigheit, ja fast als Verrat an, war er wie aus den Wolken gefallen. Und plötzlich begriff er. Er sprang von seinem Stuhl und wollte fortstürzen. »Wohin?« rief Erwin streng. – »Zu ihr.« – »Das lassen Sie nur hübsch bleiben«, sagte Erwin stirnrunzelnd. »Eine Dummheit erklären wollen, heißt sie verdoppeln. Sie sind mir ein wenig Haltung schuldig, mein Freund. Am Samstag treffen Sie Virginia hier. Bei der Gelegenheit können Sie ihr sagen, daß ich mit Sixtus Flügel eine alte Rechnung ausgeglichen und zu meinen Gunsten bilanziert habe. Ich selbst habe mit ihr noch nicht über die Geschichte gesprochen, und ich wäre froh, wenn sie sich mir gegenüber frei fühlte. Das kann sie, wenn sie erfährt, daß ich dabei meinen Nutzen gehabt habe.«

»Diese Politik ist mir zu gewunden«, antwortete Ulrich Zimmermann mürrisch, aber er fügte sich, weil er mußte. Er war gekommen, weil er Geld brauchte. Stumm saß er hinter Erwins Sessel, der an seinem Schreibtisch arbeitete. Es vergingen anderthalb Stunden, deren Schweigen nur von den wiederkehrenden Glockentrillern der kostbaren Spieluhr auf dem Kamin unterbrochen wurde. Endlich stand Erwin hochatmend auf. »Wie viel wollen Sie?« wandte er sich freundlich an Ulrich Zimmermann, dessen Anwesenheit er vergessen zu haben schien.

Ulrich errötete. »Riecht man denn das, wenn einer Geld braucht?« fragte er mit wehmütigem Humor. »Ach, könnten Sie ahnen, was es heißt, um Geld zu bitten!« fuhr er ungestüm fort. »Den Mörder bittet man um das Leben, und man fühlt sich nicht gedemütigt, aber vom Reichen, und ist er ein Freund, Geld fordern, heißt sich grenzenlos erniedrigen. Und das Furchtbarste: stets genießt der Gebende, was der Empfangende so schwer verwindet.«

»Der gibt schlecht, der nicht dankt, wenn er gibt«, stimmte Erwin bei, den die Großherzigkeit und Beschwingtheit in Ulrichs Worten sympathisch berührte.

Als Ulrich Zimmermann die Villa verlassen hatte, blieb er auf der Straße stehen und schaute nachdenklich zurück. Sein Blick fiel auf das Giebeldreieck, auf welchem in den Stein gemeißelt das Wort »Sansara« zu lesen war. Das war der Name von Erwins Haus.

»Sansara,« murmelte Ulrich, seinen Weg fortsetzend, »Sansara!« Das hat Pathos, grübelte er, das hat Hintergrund. Plakatierte Metaphysik. Der Übermut des Besitzes erweist der Religion der Armut seine Ehrfurcht. Die asiatische Firmentafel, gerade gut genug über der Zwingburg europäischer Geistigkeit. Der Bürgeraristokrat macht einen platonischen Purzelbaum zum Nabel des Buddha und verewigt sein Kunststück durch eine steinerne Fanfare.

Aber sollte darin nicht auch etwas Ergreifendes liegen? fragte sich der junge Dichter; der aufgestachelte Widerpart des Gottlosen gegen den Despotismus einer unbeseelten Ordnung? Fürcht vor der dutzendmäßig beschnittenen Gemeinheit aller übrigen Geschicke? Tröstlich vermessenes Aug-in-Auge-stehen gegen eine Gewalt, die man am Ende doch selber aufgerichtet hat, um nicht in den luftleeren Raum zu stürzen? Ich könnte meinem Buch den Titel geben: Mirowitsch oder die wesenlose Opposition.

 

Virginia war um halb acht Uhr fix und fertig. Sie trug ein Kleid aus veilchenblauem Battistlinon, verziert mit irischen Spitzen. Der Brustausschnitt war bescheiden. Das Haar war zu einem griechischen Knoten geknüpft. »Nein, das ist zu schön, zu schön«, rief Frau Geßner immer wieder und streichelte das Kleid mit zagen Fingern.

Virginia wünschte, daß Manfred sie sehen könnte; doch stünd ich hier, fuhr es ihr durch den Sinn, stünd ich so hier, wie ich bin, wenn er mich sehen könnte? Sie heftete den Blick in den Spiegel, – fast mißbilligend. Man rief nach ihr, so schien es, und ungern folgte sie, obgleich erglüht.

Sie hatte einen Wagen bestellt und fuhr hinaus. Vor dem Eingang zur Villa stand eine lange Reihe von Fiakern und Automobilen. Man konnte einen Teil des Parkes wahrnehmen und sah Lampions unter den Bäumen.

Jede Frau, die in festlichem Anzug einen Ballsaal, ein Theater, einen Salon betritt, zeigt das nämliche alberne, besorgte, trunkene und phantastische Lächeln, als ob sie sagen wolle: jetzt kommt das große Unerwartete. Virginia beobachtete dies, während sie sich in der Halle ihres Mantels entledigte. Ein Diener half ihr dabei. Wichtel, kaum daß er Virginia gesehen, ging, um seinen Herrn zu benachrichtigen. Erwin kam. »Ich muß zwei Worte mit Ihnen sprechen«, raunte er ihr zu. Sie folgte ihm betroffen in ein kleines, von dem orangeroten Licht einer Ampel beleuchtetes Gemach. Er schloß die Tür.

»Was bedeutet das?« fragte sie ängstlich.

Er legte den Finger an die Lippen, riß hurtig eine Lade auf und hielt ihr das Perlenhalsband zwischen beiden vorgestreckten Händen entgegen.

Ohne den Blick abzuwenden, trat Virginia einen Schritt zurück. »Sie haben mir versprochen –« stammelte sie.

»Ich habe nicht davon geredet«, erwiderte er mit verführendem Lächeln.

Virginia wich noch weiter gegen die Tür. Erwin folgte mit der Kette. »Wir haben keine Zeit zu Verhandlungen«, sagte er leise und mit einem Lachen in der Stimme. »Fragen Sie nicht! Fragen Sie nicht! Ja, Manfred hat geschrieben. Soll ich's Ihnen schwarz auf weiß zeigen? Ich kenne sein Vertrauen. Er aber kennt Ihr schimpfliches Mißtrauen nicht.« Und als sie eine abweisende Gebärde machte, einen hilflosen, verwirrten, bittenden Blick auf ihn warf, flehte er: »Nur diese eine Nacht! Nur diese eine Stunde! Gönnen Sie meinen Augen die Lust!«

Schon hatte er die Kette um ihren Hals gelegt und klatschte nun begeistert in die Hände. »Herrlich! Göttlich! Unvergleichlich!«

Eine Uhr tat neun Schläge. Aufruhr und Zorn gegen den Mann, der sie schmückte, erwachte in Virginia; aber dahinter wirbelte eine ungestüme Freude. Gut, dachte sie, einen Abend lang, weshalb nicht. In ihrem Innern glaubte sie nicht mehr an so kurze Dauer. Sie hatte ein Weihnachtsgefühl, und fand es doch seltsam, daß Manfred eingewilligt, zumal die verflossene Frist ein wenig knapp schien. Bei alledem ist wesentlich, daß sie von dem Wert des Schmuckes weder einen Begriff hatte noch sich Gedanken darüber machte. Ganz von fern stieg in Sekunden eine Befürchtung auf, ein Schatten, die Schwere eines Unrechts, der Ruhm der Perle an sich, aber durch jedes Einzelne wähnte sie den untadeligen Sinn des Gebenden zu beleidigen.

»Vertrauen Sie mir«, sagte Erwin fest, und Kraft, Ermunterung, Ritterlichkeit, hochaufgerichtete Ritterlichkeit strahlten an ihm.

»Wenn es nur nicht eine Torheit ist«, sagte Virginia, reichte ihm aber doch die Hand, die kalt war vor Freude sowohl wie vor Bestürzung. An einem Spiegel vorüberschreitend, erblickte sie die Perlen. Dieser Moment erfüllte sie mit Glück und Stolz. Ihr war zumute, als sei sie in ein Märchen versetzt, – und heute wollte sie das Wunderbare gewähren lassen.

»Und wenn man mich fragte?« wandte sie sich treuherzig an Erwin. »Marianne zum Beispiel könnte doch fragen.« Sie zögerte wieder. »Nein, Erwin, nein,« flüsterte sie beklommen, »ich fühle, es geht nicht.«

»Marianne ist nicht hier«, antwortete er kurz, und ein Unwillen, der ihr Schrecken einflößte, malte sich auf seiner Stirn. »Haben Sie mich im Verdacht, daß ich mich brüsten werde? Glauben Sie mir nicht? Weiß ich am Ende Ihre Nachgiebigkeit nicht zu würdigen? Ist Ihr Verlobter nicht ein Mann, der so ein Halsband auf seinen Kredit beanspruchen kann?«

Virginia schwieg errötend. Er verließ durch eine Tür zur Linken das Gemach. Virginia trat wieder in die Halle. Erwin kam draußen auf sie zu; jetzt verstand sie den Umweg und erschrak aufs neue. Sie war nur wenige Minuten mit ihm allein gewesen, aber daß es heimliche Minuten waren, hatte sie nicht bedacht. Er führte sie zu Frau von Resowsky, die sich liebevoll ihrer annahm und sie von Gruppe zu Gruppe geleitete.

Von den Namen, die man ihr nannte, blieben wenige ihrem Gedächtnis eingeprägt. Der Glanz des Lichtes betäubte sie. Sie sah nur Umrisse von Gesichtern, blonde, schwarze, weiße Bärte, viele Blumen, die stark dufteten, viele Augen wie lebhafte kleine Tiere, die Kleider der Damen als zartestes Farbengemisch und die Haut ihrer Büsten verletzend wahr und nahe.

Fast alle blickten sie staunend an. Gleichwohl hatte sie den Eindruck, daß andere Frauen schöner seien als sie. Sie war durchaus nicht beengt, sie gewann im Gegenteil mehr und mehr Freiheit durch die Wahrnehmung, daß es zwischen ihr und den meisten dieser Menschen kein lebendiges Band gab.

Ulrich Zimmermann trat zu ihr und begrüßte sie. Sehr zur Unzeit fing er an, die Erklärungen zu stottern, die er sich vorgenommen hatte, sprach sogar, genau mit Erwins Worten, von einer Rechnung, die jener »zu seinen Gunsten bilanziert«, aber Virginia schüttelte verwundert den Kopf und schien alles vergessen zu haben. Plötzlich starrte Ulrich mit hochgerundeten Brauen auf die Perlenkette. Er hatte Virginia arm geglaubt, das war aus seinem Erstaunen zu lesen. »Sie tragen ja ein Vermögen an Ihrem Hals«, sagte er gedrückt, ohne zum Bewußtsein seiner Taktlosigkeit zu gelangen.

Virginia stutzte; der ferne Schatten wuchs. Dann aber lächelte sie an Ulrich vorbei. Ein Übermut war auf einmal in ihr, wie sonst nur, wenn sie tanzlustig war. Ulrich Zimmermann senkte die Stirn vor ihrer Schönheit.

Das Lampenlicht verlieh dem feinen Sammet ihrer Haut einen metallischen Glanz. Manche Herren wollten sich erinnern, sie schon gesehen zu haben, und drückten es in schmeichelhafter Weise aus. Graf Palester, blaß, ernst, kalt, verschlossen, verbeugte sich korrekt, ohne das Wort an sie zu richten. Jedoch war er nur ihretwegen der Einladung Erwins gefolgt.

Einige Attachees umringten sie; ein japanischer Arzt, ein paar junge Statthaltereibeamte wurden ihr vorgestellt. Sodann machte Erwin sie mit Helene Zurmühlen und deren Gatten bekannt. Helene erschien ihr wie ein Spielzeug, und in der Tat war die Gestalt der jungen Frau von einer fast unnatürlichen Schlankheit. In ihrem Gang war der edelste Anstand, und eine Vorsicht, als lägen überall Steine. Alles schien zerbrechlich an ihr, der rührend weiße Hals, die apathischen Arme, die mageren, gelben Hände, die oft zu Fäusten geballt waren wie bei kleinen Kindern, wenn sie schlafen, der schmale, stets seitwärts geneigte, von leuchtend schwarzer Haarflut übermäßig belastete Kopf, in dem ein lilienhaftes Antlitz, herzförmig geschnitten, von den Schatten einer süßen Melancholie überdunkelt war. Aber diese Melancholie hatte etwas Grelles, und die Natur selbst strafte sie Lügen durch den starken, brennenden Mund, welcher List, Neugier und Unruhe verriet.

Um das ernüchternde Beisammensitzen an einer großen Tafel zu vermeiden, war im Speisesaal freies Büffet errichtet, und fünf Diener versorgten die immer wechselnden Gäste. Ein paar Räume weiter endete die Flucht in einem kleinen Gemach von köstlichem Luxus. Dorthin hatten sich Ulrich Zimmermann, Graf Palester und ein Freund des letzteren, ein Herr von Hefforig, zurückgezogen. Alle drei rauchten. Auf dem Tische vor ihnen stand eine Flasche Bocksbeutel, aus welcher Ulrich von Zeit zu Zeit in die Gläser nachgoß. Herr von Hefforig war ein schweigsamer junger Mann und beteiligte sich nur durch aufmerksames Zuhören am Gespräch. Man wußte wenig mehr von ihm, als daß er aus einer Familie von Selbstmördern stammte. Er war drei Jahre in Südamerika gewesen, wo er Studien über die Schädelbildung der Patagonier gemacht hatte.

»Charakteristisch find ich die jetzige Mode der Damen«, sagte Ulrich Zimmermann; »ich möchte behaupten, es liegt Verständnis für die Epoche darin. Wahre Prachtliebe neigt zur Unscheinbarkeit. Die ganze Farbenskala, die uns blendet, ist nämlich ein Betrug, denn alle diese Heliotrop und Violett und Blaßblau ergeben in Summa einen traurigen und kranken Ton. Man stellt sich lärmend und ist leise wie im Zimmer eines Sterbenden. Ich finde das stilvoll.«

»Ob ich Ihnen beipflichte oder nicht, kann das Ihre Meinung ändern?« versetzte der Graf.

»Man kehrt langsam zu den echten Spitzen zurück,« fuhr Ulrich Zimmermann hartnäckig fort, »und in New York versicherte mir eine junge Milliardärin, Perlenketten seien vornehmer als Diamanten, weil bei diesen die Imitationen von Jahr zu Jahr besser würden.«

Palester warf Ulrich einen kurzen, verleugnenden Blick zu.

»Ein solcher Abend ist für mich ein Alpdruck«, sagte Ulrich schuldbewußt. »Und doch ist alles in mir wach, alles bäumt sich auf, Scham, Ehrgeiz, Spott, Verachtung; ich denke die schlechten und selbstsüchtigen Gedanken einer ganzen Tafelrunde, ich möchte aufstehen und reden, alle sind meine Feinde, und alle will ich überzeugen. Aber niemand glaubt mir, und eh noch ein Wort über meine Zähne gekommen ist, werde ich aus einem Apostel zu einem Lakaien.«

»Sie haben damit den Kern des Prozesses treffend bezeichnet«, antwortete der Graf mit regungslosem Gesicht; »die Gesellschaft verwandelt den Apostel auf stummem Weg in den Lakaien.«

»Ja, so ergeht es mir«, sagte Ulrich mit lodernden Augen. »Ich werde in Sold genommen und festgeschmiedet. Meine Seele wird zum Wallfahrtsziel aller andern Seelen. Ich spüre die Vorwürfe der Ehebrecherin und die Angst der Modelöwin, die ihr Wirtschaftsgeld für einen neuen Hut verausgabt hat. Ich sehe das Zähneknirschen des präterierten Beamten und die sorgenvollen Berechnungen des Börsianers. Ich weiß, daß dieser junge Mann mit seinem gemeinen Grinsen irgendwo im Mundwinkel an eine Kokotte denkt, während er einer anständigen Frau den Hof macht, und daß diese anständige Frau von dem Gespenst einer unerwünschten Schwangerschaft gequält wird; ich kenne die verzweiflungsvolle Frechheit des Überlings, der da spricht: für mich gibt es keine Moral, sondern nur Zweckmäßigkeit, und mir graut vor den verbrecherischen Gelüsten des jungen Mädchens, das ins Leben tritt wie eine robuste Stallmagd, die die Kuh zu melken sich anschickt. Hinter dem geistreichen Geflunker gewahre ich Aktien und Kurszettel, hinter den sozialen Wohlfahrtsphrasen eheliche Zänkerei, hinter dem gebadeten Lächeln Gram, Eifersucht und Stumpfsinn, hinter dem diplomatischen Getue werden Völker in ungerechte Kriege verstrickt. Sie sind mir zu nackt, allesamt, sie vergiften mir das Gewissen, und erst das schlechte Gewissen verkauft mich an die Idee, und meine Idee muß noch größer sein als meine Demütigung, sonst kann ich aus der Sklaverei, in der ich mich befinde, kein Kapital schlagen.«

Es entstand ein Schweigen. Herr von Hefforig erhob sich, grüßte höflich und ging hinaus. Eine zu heftige Beredsamkeit beleidigt oft den feinfühligen Zuhörer.

»In einem finsteren Zimmer, oder im Freien, auf einer Wanderung im Gebirge, würden mir Ihre Worte einen stärkeren Eindruck machen«, sagte Palester seltsam.

Da trat Erwin unter die Tür und drohte scherzhaft mit dem Finger. »Eine kleine Verschwörung?« fragte er.

Ulrich trat zu ihm und ging mit ihm hinaus. »Haben Sie sich nicht über das Perlenkollier gewundert?« begann er mit verräterischer Hast. Erwin blieb stehen und wandte ihm das Gesicht voll entgegen. Sein blitzender Blick war kalt, durchbohrend und mitleidig.

Ulrich griff mechanisch an die Stirn. Erwin kehrte sich ab und ging allein weiter.

Aber Ulrich hatte verstanden. Er irrte eine Weile zwischen den Menschen umher, dann begab er sich in die Garderobe, warf den Überzieher um die Schultern und, den Hut in der Hand tragend, verließ er das Haus. Sein Gehirn war wie erfroren. Er wanderte weit, weit; durch die ganze Stadt und in den Prater und bis zur Donau. Auf dem Rückweg sang er laut, um nicht denken zu müssen. In der Hauptallee setzte er sich auf eine laternenbeschienene Bank und stocherte in kummervoller Zerstreutheit mit der Stockspitze im Sand herum. Endlich schrieb er, schrieb Verse:

Die Seele, die berührst du nicht,
die ist im Leib vergraben;
sie weiß nicht, was die Lippe spricht,
will's auch nicht Kunde haben.

Im stillen träumt und blüht sie hin,
läßt Leid und Glück verfluten
und ziehet ewigen Gewinn
vom Bösen und vom Guten.

Beim Morgengrauen trat er in ein mit Dirnen und Zuhältern besetztes Kaffeehaus. Sein Frack erregte hämisches Aufsehen. Der beginnende Marktlärm verscheuchte mit den übrigen Gästen auch ihn. Er hatte sich verwandelt, aber keineswegs in den Lakaien.

 

Da die Hitze in den Zimmern zu groß wurde, hatten sich viele Gäste in den illuminierten Teil des Gartens begeben, wo Kaffee, Eis, Früchte und Likör serviert wurden. Erwin wanderte mit Frau von Resowsky und einem würdigen Exzellenzherrn auf der Terrasse auf und ab, deren massive Brüstungen sich zu beiden Seiten der flachgestuften Treppe mit anmutigen Bögen zum Garten hinabschwangen. Sie sprachen von den politischen Verfinsterungen, die sich im Osten des Reiches erhoben, und die Exzellenz erstaunte über die Einsicht und Tiefe in den Urteilen des jungen Mannes. »Und eine solche Kraft soll für den Staat verloren sein!« rief er scherzend.

Erwin lachte. Er war gespannt und ungeduldig; er bohrte die Nägel in die Handflächen und hielt die Daumen wagrecht wie kleine Balanzierstangen; sein Blick war zerstreut, nur seine Zunge redete. Sie hatte seit neun Uhr gerade so einsichtig und tief mit den Medizinern über Medizin, mit den Agrariern über die Landwirtschaft, mit den Fabrikanten über Zölle und Rohprodukte, mit den Frauen über Erziehung und Lebenskunst gesprochen.

Nach einer Weile bemerkte er Helene Zurmühlen, die an der Glastüre stand, den geöffneten Straußfedernfächer vor Brust und Hals, das Auge wie gebrochen ins Weite gerichtet. Der Ausdruck ihres Gesichtes mißfiel ihm, ihr wehmütiges Lächeln erbitterte ihn; dennoch trat er mit einer Verbeugung zu ihr.

Sie wußte nichts zu sagen, sie bebte vor Ergebenheit. Was sie verschwieg, war Furcht vor Virginias Bild, Schmerz über deren Gegenwart, Gefühl von deren Überlegenheit.

»Waren Sie gestern beim Rennen?« fragte Erwin und sah aus, als hätte er die weichste Liebkosung geflüstert.

Sie schüttelte den Kopf, und die Spannung ihrer Züge milderte sich.

Er wollte erzählen, sie unterbrach ihn jedoch, nachdem sie einen forschenden Blick umhergesandt, und murmelte mit erstickter Stimme: »Du hältst mein Leben in deiner Hand.«

Unwillkürlich starrte er auf seine Hand. Sie ist eine Närrin, die nicht einmal versteht, sich im Preis zu halten, dachte er.

Da ging Virginia vorbei und über die Treppe in den Garten. Hochaufgerichtet ging sie vorbei, strahlend und in ein heiteres Lächeln versunken. Alsbald tauchte sie in die violette Parkdämmerung. Erwin zuckte empor. Sein Gesicht wurde gesammelt und unbeweglich. »Wir werden uns an einem so schönen Abend nicht zur Trauer verführen lassen«, sagte er zu Helene, die in freudiger Unterwürfigkeit vor ihm stand. Seine Worte sollten offenherzig und tröstend klingen, aber indem er hinwegeilte, spürte er selbst, daß er nur ungenügend zu täuschen vermocht hatte.

Helene hielt sich an der Steinbrüstung fest und schloß die Augen. Sie wollte nicht sehen, ihr graute vor der Klarheit der Dinge. Ihr Name wurde dicht neben ihrem Ohr genannt. Es war ihr Mann. Er legte den Arm um ihre Schulter und küßte sie auf die Stirn. Dann führte er sie in die Halle und wickelte sie in den Mantel wie ein müdes, krankes Kind.

Der Garten duftete von Rosen und Jasmin. Er war von herrlichen Bäumen bestanden, Blutbuchen und Edelkastanien, Sumpfzypressen und Mangos, birkenblättrigen Pappeln, Ahorn- und Gingkobäumen. Virginia hatte ein wenig Sekt getrunken, und sie fürchtete Dummheiten zu reden, wenn sie sich mit Menschen ins Gespräch einließ, deshalb wich sie einer angeregt plaudernden Schar von jungen Männern und Mädchen aus und lenkte den Schritt unbedenklich über ein Stück Rasen. Erwin verlor sie an dieser Stelle aus den Augen, und er ging am Tisch der Lustigen vorbei, die ihn anriefen und ihn zu bleiben aufforderten. Er winkte ihnen zu und eilte weiter, sah auch von fern Virginias Gestalt durch die dunkeln Büsche schimmern und hatte sie bald erreicht. Jene aber wollten sich nicht zufrieden geben, und übermütig riefen ihre Stimmen immer wieder seinen Namen.

»Kommen Sie, Virginia«, sagte Erwin, als ob er sie vor Verfolgern in Sicherheit bringen wollte; »kommen Sie!« drängte er und ergriff ihre Hand. – »Warum denn?« versetzte sie verwundert, »ich kann nicht so laufen, hier ist's zu finster.« – »Fliehen wir, Virginia, verstecken wir uns vor ihnen, sie mögen uns nur suchen.« Seine elastische Raschheit brachte die Luft ins Wirbeln; Virginia lachte, und um nicht Spaßverderberin zu sein, ließ sie sich zur Eile überreden. »Schnell, schnell,« drängte er von neuem, sonderbar gepreßt und wild, »noch fünfzig Schritte und wir sind oben im Pavillon, und keiner wird wissen, wo wir hingeraten sind.«

Und wirklich, Virginia lief, was hier im Dunkeln, wo die ebene Fläche sich zu einem Hügelanstieg entschloß, nicht eben leicht war. Es ähnelte einer Trunkenheit, daß sie lief; die Sommergerüche, nächtlich schwül, der schwüle Bodenhauch und das lebendigere Blut trieben sie hin, und sie atmete mit offenem Mund, lachte lautlos mit offenem Mund. Erwin, der sein Entzücken über ihre Schlankheit und Gazellengrazie hinter geschlossenen Zähnen verbarg wie man einen Aufschrei zurückhält, konnte nicht den Blick von ihr wenden und ließ ihre Hand erst los, als sie vor dem Pavillon standen.

Es war das ein zierliches, von wildem Wein und Efeu behangenes Rondell, in dessen Mitte unter gekreuzten Balken eine chinesische Laterne mit roten Gläsern hing und Bank und Tisch, das Laubgewind und Weg und Busch mit sanftem Scharlach übergoß.

Virginia sank hin, lehnte sich weit ins Staket hinein, preßte beide Hände gegen die Brust und stammelte: »Mein Gott, was war denn das? weshalb sind wir denn so gerannt? Ich kann nicht mehr.«

Erwin setzte sich zu ihren Füßen auf die Schwelle. »Ruhen Sie sich aus«, antwortete er. »Niemand wird uns stören.«

Eine Pause entstand. Allmählich kam Virginia zur Besinnung. »Weshalb sagen Sie das so wunderlich: Niemand wird uns stören –?« fragte sie.

»Es ist mir nur so in den Sinn gefahren«, entgegnete er mit müder Stimme.

Und wieder Virginia: »Warum kauern Sie denn auf der Erde? Sie können ja auch auf der Bank sitzen. Ihre Kleider werden ja schmutzig.«

Die müde Stimme von unten antwortete: »Vielleicht find ich meine Lust daran, vor Ihnen auf der Erde zu kauern, Virginia. Was kann mir die Erde anhaben gegen das Gefühl, Sie über mir zu wissen.«

Virginia dachte über seine Worte nach und schwieg. »Es ist so still hier«, murmelte sie dann.

»Es ist sehr still hier«, bestätigte Erwin. »Die Glühwürmchen fliegen schon. Nur die Sterne sind zu blaß. Man sollte nicht an Orten wohnen, wo die Sterne so blaß sind im Mai.«

Virginia suchte mit den Augen die Sterne. »Von meinem Platz aus kann ich die Sterne nicht sehen«, sagte sie.

»Kommen Sie zu mir herab«, versetzte Erwin mit angehaltenem Atem.

Virginia wurde nicht aufmerksam auf den Ton seiner Rede. Zu dieser Stunde schlief sie an andern Tagen längst, und ihre Lider wurden schwer. Plötzlich fragte sie mit innigem Klang in der Stimme: »Denken Sie auch manchmal an Manfred, Erwin?«

»Ob ich manchmal an Manfred denke, Virginia?« fragte Erwin langsam dagegen, und er griff mit der Hand nach einer Rebe, die er abriß. »Ich denke immer an Manfred, immer, immer, immer. Ich denke Tag und Nacht an Manfred. Bei Tag, indem sich mir das Licht verdunkelt, bei Nacht, indem ich in die Kissen beiße. An wen könnt ich sonst denken als an Manfred? an wen mit gleichem Neid als an Manfred? ich, der Bettler, an Manfred, den Reichen, den Besitzer, den Unantastbaren, den, der vor mir kam?«

»Was soll das heißen?« fragte Virginia ahnungslos und sehr bestürzt.

Jetzt war die Reihe zu schweigen an Erwin. Er war sicher, daß Virginia die Frage wiederholen würde. So geschah es auch.

»So muß ich denn reden?« fuhr Erwin fort, und seine Stimme war dumpf und ingrimmig. »Dürft ich denn reden? Nein, Virginia, nein. Wozu am Ende. Gehn wir lieber ins Haus zurück.«

Dies war ein trefflicher Schachzug, durch den Virginia in ihrem blinden Schrecken bestärkt wurde. »Ist denn etwas mit Manfred passiert, etwas, was ich nicht weiß?« fragte sie in rührendem Mißverstehen. »Sprechen Sie doch, Erwin, quälen Sie mich nicht.«

»Haben Sie Angst um Manfred?« kam es bitter von Erwins Lippen. »Ruhig Blut, Virginia. Ich habe Ihnen ja schon gesagt, daß er der starke Felsen ist, an dem mein Glück und Wille zerschellt. Und wenn ich denn sprechen soll, so sei es, – der Nacht wegen, die so vergeßlich macht, und weil Glühwürmer im Laub spielen und weil die Sterne so blaß sind. Ist es doch über mich gekommen wie die Krankheit über den Lebenslustigen; dabei weiß ich nicht, wie arm, wie reich, wie elend, wie beschenkt ich mich dünken darf. Ich habe nicht daran geglaubt. Ich habe nicht an Liebe geglaubt. Alle Leidenschaften waren nur wie Bilder, an denen das Auge genießend hängt, oder wie Stunden, in denen man sich verliert, um sich noch wissender zu besitzen. Daß ich mich unwissend ins Hoffnungslose verlieren könnte, habe ich nie für möglich gehalten. Alle Frauen, auch die, die mir unentbehrlich waren für die Dauer eines Sommers, waren mir nur Gespielinnen. Sie rührten mich, sie erregten mich, sie verlockten mich auf eine Höhe des Daseins, sie wappneten mich mit meinen verborgenen Kräften und – ich glaubte nicht an Liebe. Hören Sie mir nicht zu, Virginia. Schließen Sie die Ohren mit den Fingern. Lassen Sie mich reden, wie jene Figur im Märchen von der Gänsemagd redet, die sich in einen Ofen stellte, um zu klagen, was ihr widerfahren war. O Fallada, der du hangest, heißt es in dem Märchen. O Herz, das du hangest, muß ich klagen. Virginia, ich liebe. Ich bin unterminiert. Es ist etwas Geisterhaftes mit mir geschehen. Ich bin in einem Zustande der Niederlage, der Beschämung, der Verzweiflung, daß ich, allein bei mir, des Abends bei den Büchern, mit meinem Gehaben das Mitleid eines Schlächtergesellen auf mich ziehen würde. Denken Sie es ungesagt, Virginia. Ich will an mich halten. Ich will mich ducken, und Sie sollen mir von Mund und Stirn nichts ablesen können. Genug jetzt. Genug.«

Damit bedeckte Erwin das Gesicht mit den Händen und blieb unbeweglich sitzen.

Virginia hatte sich langsam aus ihrer bequemen Lage aufgerichtet. Ihr Gesicht war weiß geworden und brannte aus dem Zwielicht weiß heraus wie das Innere einer Mandel. Zweimal griff sie mit der Hand an die Wange und strich die Härchen zurück: eine zweimalige Gebärde der Trauer, der Entmutigung und der Bestürzung. Fühlbar wurde ihr Herz kleiner, und alles, was dieser Mann da vor ihren Füßen sprach, so tief es sie berührte, so menschlich sie es faßte, war etwas vollkommen Unerwartetes für sie, und ihr wurde kalt und weh dabei. Ein lebhafter Schauer flog über ihre fast unbeschützte Brust, und sie erhob sich.

Sie schritt an Erwin vorüber und trat ins Freie. Erwin stand lautlos auf, trat lautlos neben sie. »Wir wollen es vergessen«, flüsterte er ihr mit erstickter Stimme zu.

»Ach, Erwin,« sagte Virginia mit zuckenden Lippen, »ach, Erwin.« Sonst nichts. Aber diese beiden Worte, einfach wiederholt, rissen Erwin hin wie eine nie vernommene Musik, und er glaubte das Unmögliche noch in derselben Stunde möglich machen zu müssen. Entflammt von diesem Körper, dem kühlen, in seinen wunderbaren Schleiern kühlen Wesen des Mädchens, dessen Wert er spürte, wie ein Luftschiffer den Azur spürt, in dem er schwimmt, stürzte Erwin auf die Knie, und aus seinem Mund kamen gebrochene Töne, die Virginia für Schluchzen halten mußte. War es Wille, Plan und Berechnung? Aber es mußte auch ein Ungemeines darin verborgen sein, Instinkt und Glut.

»Ich will jetzt nach Hause gehn«, sagte Virginia.

Erwin begriff, daß er mehr nicht wagen durfte. Er richtete sich empor. »Sie müssen sich abputzen«, sagte Virginia und blickte auf seine Knie.

Er gehorchte. Er führte sie auf einen Pfad, der sie von der Seite her zur Terrasse zurückbrachte. Virginia war froh, als sie wieder Leute sah und niemand sie fragend anschaute. Erwin geleitete sie bis zum Schlag des Wagens. Er reichte ihr die Hand und sagte »auf Wiedersehen«. Sie zögerte. Auf Wiedersehen? Dem beizustimmen, war ihr nicht möglich. Doch da er die Hand noch immer ausgestreckt hielt, fand sie es am besten, ihm zu willfahren; verwirrt und flüchtig legte sie die Fingerspitzen in seine Hand, aber er packte sie fest. Seine verwegene Begierde, seine freche Einbildungskraft besaß in diesem Augenblick weit mehr als die vibrierende Hand, umschloß mehr als das kalte Fleisch der Finger, deren Berührung eine Siegeshoffnung war.

Fröstelnd saß Virginia im offenen Wagen, und die Welt erschien ihr schwarz und öde. Die raschen Hufschläge der Pferde erinnerten sie an das Pochen ihres Herzens, und sie legte beschwichtigend die Hand auf die Brust. Da berührten ihre Finger die Perlenkette. »Kutscher!« rief sie plötzlich, »Kutscher!« Der Mann hielt die Pferde an, wandte sich zurück und fragte nach ihrem Befehl. Ihr war zumute gewesen, als müsse sie auf der Stelle umkehren. Doch wie, mit welchen Worten, mit welchem Gesicht sollte sie ihm das Halsband geben? Im Kreis seiner Freunde? oder allein mit ihm? Sie beschuldigte sich des Leichtsinns, des Verrats, und sie erkannte auch, daß sie betrogen worden war. Stumm und ratlos blickte sie vor sich hin. Ihre heiße Ungeduld konnte den Gedanken kaum ertragen, daß die Entscheidung erst dem morgigen Tag anheimfiel. Mit der Hand winkte sie dem Kutscher, weiter zu fahren, und dieser gehorchte kopfschüttelnd.

Der Kreis der Gäste war klein geworden, als Erwin ins Haus zurückkehrte. Der Garten lag leer, die Diener löschten die Lampen aus und räumten die Tische ab. Eine Gesellschaft von zehn oder zwölf Personen befand sich im Musiksalon, wo eine junge Sängerin französische Lieder sang. Erwin bereitete eine Erdbeerbowle, die unter beifälligem Gemurmel aufgetischt wurde, denn die jungen Leute waren durstig und fühlten sich ein wenig geistlos. Erwin erfüllte sie mit neuem Leben; nach kurzer Zeit hatte er alle erobert, die Schweigsamen und die Schläfrigen; ein Taumel von Lustigkeit war an Stelle der drohenden Langeweile getreten. »Wenn ein amüsanter Abend langweilig endet, war er langweilig,« sagte Erwin, »wer zuletzt lacht, vergißt zu schimpfen.« Zum Schluß wurden hypnotische Experimente vorgenommen, und ein etwas beleibtes Fräulein, das sich als Medium hergab, trieb durch ihre transzendente Plumpheit das Vergnügen auf den Gipfel.


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