Jakob Wassermann
Etzel Andergast
Jakob Wassermann

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Ich muß mich hier auf das Notwendigste beschränken. Wollte ich bei jeder Station dieses Rekognoszierungsganges verweilen, so würde dieses Buch formlos wie ein Sandhaufen werden und aufhören, der Spiegel zu sein, als den ich es geträumt habe. Was würden wir auch groß sehen; unerfreuliche Stuben; Hofkammern, Mansarden, verwahrloste Löcher mit jämmerlichen Resten von Mobiliar, fragwürdigen Betten und verstreuten Überbleibseln einer besseren Vergangenheit, einem Fetzen Samt, einer leeren Vitrine, einer Mappe mit Photographien. Wenn sie nicht mehr ihre anfängliche Bestimmung erfüllen, verwesen die Dinge, Schmuck muß überschüssig sein. In den Massenquartieren ist nichts dergleichen zu finden; es sind Kasernen für den ausrangierten Teil der Menschheit, wer dorthin verschlagen ist, hat alles was er besitzt in seinen Taschen. Bürgerliche Wohnungen sind eigentlich noch trister, wenn sie sich krampfhaft bemühen, das Gesicht zu wahren. Die abgebauten Beamten, zugrunde gegangenen Kaufleute, kleinen Adligen, die sie innehaben, sind wie die Nachzügler einer geschlagenen Armee, die mit schlotternden Knieen noch ein bißchen Parademarsch markieren. Jeder Raum ist von einem oder mehreren Untermietern besetzt, Buchhaltern Agenten Reisenden, denen ebenfalls ein Schatten früheren Glanzes anhaftet und die ihre Taschenuhr und sonstige Wertobjekte ganz heimlich zum Pfandleiher tragen. Helle Flecke in den Tapeten zeigen die Stellen an, wo einmal Bilder gewesen sind, am Pianino hängt ein gerichtliches Siegel wie ein höhnisches rotes Auge, kahle Fenster, Küchen, in denen nicht gekocht wird, Bücherschränke ohne Bücher, Stühle, die kummervoll-erstaunt um einen Platz herumstehen, an dem der Tisch fehlt als wäre er gestorben und soeben beerdigt worden. Überall noch der Rahmen und nichts mehr drin, das Skelett ohne das Fleisch, Kirchhöfe und Mausoleen. Dort hat Etzel seine Leute aufzusuchen, wo man im Begriff ist, den letzten Halt zu verlieren, wo man das traurige Spiel Als-Ob spielt, wo aber noch was zu retten ist, ein wenig Stolz, ein wenig Hoffnung. In verschämter und in offener Armut hausen sie, denen er in die Zukunft hinüberhelfen will, Studenten Studentinnen, junge Techniker Kunstgewerbler, Novizen des Elends, durch seelischen Druck fast gefährdeter als durch materiellen, obgleich auch der auf keinen erheblichen Widerstand mehr stößt. Man muß sich sputen, über kurz oder lang haben sie ihr inneres Kapital verwirtschaftet, eines Tages werden sie stempeln gehn, vorläufig sind sie nicht »arbeitslos«, denn ihr Arbeitgeber sind sie selber, sie glauben, daß ihre Person noch einen Einsatz darstellt und daß nicht alle Ideale der Geisteswelt so räudig aussehen wie die, mit denen ihre Väter auf den Hund gekommen sind. Politisch haben sie sich noch nicht festgelegt, wenigstens nicht alle, das Termitenparadies lacht ihnen nicht, eher neigen sie dazu, die der Nation zugefügte Unbill zu rächen oder doch zu tilgen. Bürger: verachtetes Wort, hat es seinen edelbescheidenen Sinn gänzlich verloren? Dennoch sind sie Söhne und Töchter von Bürgern und werden sich erst am Tag der endgiltigen Verzweiflung zur Masse schlagen. Mancher hat eine kleine Rente; einen Monatswechsel von hundert Mark, davon soll er Kost Logis Wäsche Kleider Stadtbahn Studium zahlen. Das Zimmer kostet mindestens dreißig Mark, bleiben zwei Mark per Tag für alles andere, aber viele haben nur vierzig Pfennig und leben von Brötchen Tee Kaffee und einmal Suppe am Tag, an ein Bad ist nicht zu denken, dafür rechnet die Wirtin fünfzig Pfennige, eine »sturmfreie« Bude, in die man mal ein Mädel mitnehmen kann, ist auch selten. Aber wenn man nur einen Raum für sich hat, viele müssen sich mit einer Schlafstelle begnügen. Man meint immer der, bei dem man gerade ist, befinde sich auf der untersten Staffel der Not; holder Irrtum, nach unten gibts keine Grenze. Wer kein Hemd mehr auf dem Leib und seinen letzten Rock versetzt hat, kann immerhin noch ausgehen, wenn er zufällig noch einen alten Mantel besitzt, für den kein Leihamt mehr was gäbe; wenn aber das Schuhwerk hin ist und die Sohlen vom Leder fallen, was dann? Und wenn er krank ist, wenns mit der Lunge hapert, wenn das Geld nicht mehr zu einem Mittagstisch in der Mensa oder zu dem scheußlichen Fraß in einem der Eßhäuser reicht, wenn die Mutter und kleine Geschwister um einen herum hungern, was dann? Etzel, der Prüfungskommissär, hat dann nur die Frage zu beantworten: wer ist es, der dieses leidet? Fällt in die Rubrik: Eigenschaften und besondere Art des Bewerbers. Er kommt sich wieder einmal wie ein Spitzel vor, der unter der Maske der Freundschaft und Teilnahme Indizien sammelt. Wirf die Katze, wie du willst, sie fällt auf die Füße. Nach drei Tagen hat er seine Auswahl getroffen. Der erste ist ein gewisser Seyschab. Neunzehn Jahre alt. Beide Eltern sind den Leuchtgastod gestorben. Studiert Philosophie, bringt sich als Lektor in einem Verlag für pornographische Literatur durch und hält damit auch einen jüngeren Bruder über Wasser. Aber nur knapp. Hungerkünstler. Sieht aus wie ein Leichnam. Wohnt in einem Bretterverschlag, zu dem man durch die einzimmerige Behausung einer achtköpfigen Proletarierfamilie gelangt. Der Bruder schläft hinter einem Vorhang aus zusammengenähten Säcken in der großen Schublade einer nicht mehr vorhandenen Kommode. Diesem Menschen ist ein ruhiger lächelnder, man könnte sagen hoheitsvoller Mut und eine leuchtende geistige Reinheit eigen. Etzel kennt ihn von der Universität her und hat sich oft mit ihm unterhalten. Von den schrecklichen Umständen, in denen er lebt, weiß außer Etzel fast niemand. – Der zweite ist ein junger Graf Grünne, zweiundzwanzigjährig. Etzel hat ihn einmal bei einer blutigen Keilerei in einer nationalsozialistischen Versammlung aus den Händen eines Kommunisten befreit, der ihn beinah erdrosselt hätte. Danach sind sie die ganze Nacht miteinander spazierengegangen. Man sieht Grünne nie anders als in einer alten ledernen Automobiljacke. Das dazugehörige Auto garagiert auf dem Mond. Er hat überhaupt keine Subsistenzmittel. Wovon er lebt, ist rätselhaft. Bisweilen schickt ihm ein Onkel, der auf einer Klitsche bei Arnswalde haust, zehn Mark. Er sieht aus wie der Prinz Louis Ferdinand, ist homosexuell, glänzender Mathematiker, glühender Patriot und leidet unter wiederkehrenden Migränen epileptoiden Charakters. Er hat die bezauberndsten Manieren und die schönsten Hände, die Etzel je bei einem Mann gesehen hat. Er macht sich nichts aus seiner jammervollen Lage, er sagt, und man glaubt es ihm ohne weiteres, er wolle noch bis Neujahr 1929 zuwarten, und wenn sich bis dahin nichts geändert habe, mit ihm nicht und in der Welt nicht, werde er die Budike schließen. – An dritter Stelle kommt eine Studentin der Kunstgeschichte, Helene Grätz. Ihren Unterhalt erwirbt sie als Turnlehrerin für Kinder in Privathäusern, so viel nämlich, daß sie ihre Dachkammer bezahlen kann und nicht verhungern muß. Sie steht völlig allein in der Welt. Sie hat keinerlei Anhang, es ist als sei sie von keiner Mutter geboren worden, so allein ist sie. Sie hat eine zierliche Gestalt, ist dünn wie ein Faden, man denkt, die Natur habe ihr aus Mildherzigkeit dieses Nichts von einem Körper gegeben, um es ihr zu ermöglichen, mit dem Mindesten von Nahrung so zäh, so energisch, so arbeitsam zu sein, wie sie ist. Sie liebt fanatisch die »Schönheit«. Mit diesem Wort begreift sie alle großen Werke der bildenden Kunst. Seit ihren Kindertagen träumt sie von einer Reise nach Italien. Um einmal die sixtinische Kapelle zu sehen, würde sie sich eine Hand abhacken lassen. Sie weiß, daß es nicht sein kann und wahrscheinlich nie sein wird. Seit drei Wochen hat sie alle Stunden verloren, sie ist von einem Omnibus gestürzt und hat sich eine schmerzhafte Verstauchung des Knöchels zugezogen, die noch Monate zur Ausheilung brauchen wird. Die Dachstube ist ihr gekündigt worden, am ersten Juni wird sie obdachlos sein. Sie ist nicht verzweifelt, sie ist nur betroffen. Sie hat keine Ahnung, was da werden soll. – Vier und fünf endlich sind ein Zwillingspaar, Bruder und Schwester, Herbert und Anna Dedeken heißen sie, noch nicht achtzehn alt. Etzel hat ihre Bekanntschaft in einem Nachtkabarett gemacht, wo er mit Jessie Tinius und Roderich war; die Zwillinge produzierten sich dort als Wunderkinder mit indianischen Liedern und Tänzen (kläglich übrigens). Damit verhielt es sich so. Als Sechsjährige waren sie mit den Eltern nach Südamerika ausgewandert. Herbert mußte täglich mit dem Vater in den Urwald hinaus und ihm bei der Arbeit helfen. Weißen Menschen sahen sie niemals, nur bisweilen Indianer, aber diese Wilden waren freundlich mit ihnen, so mißtrauisch sie sonst den Ansiedlern aus dem Weg gingen, luden sie zu ihren Festen ein und lehrten sie ihre Gesänge. Die Einsamkeit machte den Vater zum Trinker, und er fing an, die Mutter grausam zu mißhandeln. Die Zwillinge fürchteten und haßten den Vater mehr als alles auf der Welt und hingen mit angstvoller Leidenschaft an der Mutter. Sie starb schon im dritten Jahr. Vierzehn Monate hausten sie mit dem Vater allein, diese Zeit war die düsterste ihres Lebens. Er ging am Säuferwahnsinn zugrunde. Wie sie durch Wald und Prärie zur nächsten Stadt wanderten, das mußte man von ihnen selbst hören. Ein dänischer Farmer nahm sie mit nach Europa, kümmerte sich aber dann nicht weiter um sie. Wo sie in den nächsten Jahren überall herumgestoßen wurden, konnte Etzel nicht erfahren, nur daß sie eine Zeitlang in einem Erziehungshaus waren, natürlich nicht in demselben, er in der Knaben-, sie in der Mädchenfürsorge. Sie konnten aber eins ohne das andere nicht leben, verabredeten sich zur Flucht, in einer Herbstnacht brachen sie zur gleichen Stunde aus und schlugen sich nach Berlin durch. Sie erinnerten sich der armseligen Künste, die sie den Urwaldindianern abgelernt hatten, und nach schrecklichen Entbehrungen gelang es ihnen mit Hilfe eines stromernden Schauspielers, der sich ihrer angenommen hatte, bei jenem Kabarett unterzukommen. Aber das dauerte nur ein paar Monate, dann waren sie wieder brotlos. Sie mußten sich hüten, aufgegriffen zu werden, sonst hätte man sie wieder auseinandergerissen und wahrscheinlich wieder in die Korrektion gesteckt. Im Februar hat ihnen Etzel eine notdürftige Unterkunft bei einer Portiersfrau verschafft, aber die will sie jetzt nicht mehr beherbergen. Herbert hat sehr viel Sinn für Mechanik und bastelt den ganzen Tag an selbsterfundenen Apparaten herum, sicher wird er einmal eine große Erfindung machen, wenn ihn das Leben nicht vorher zertritt, unablässig lernt und studiert er, jedes Buch ist ihm ein Heiligtum. Das Mädchen ist immer in seiner Nähe oder er in ihrer, denn das Seltsamste ist, daß sie beide wie ein einziges Wesen wirken, wie ein Hermaphrodit mit getrennten Hälften, es ist als dächten sie zu gleicher Zeit dieselben Gedanken, hätten zu gleicher Zeit dieselben heitern oder traurigen Empfindungen. Herbert hatte Etzel erzählt, daß er in der Fürsorge einmal an einer Halsentzündung erkrankt war; am selben Tag und in derselben Stunde war auch Anna an einer Halsentzündung erkrankt.

 

Als er diese Wahl getroffen hatte, bestellte Etzel die Fünf für den folgenden Nachmittag in die Siedlung. Gegen sechs Uhr war Nell gewöhnlich zu sprechen. Sie kamen pünktlich. Im Sekretärsbüro teilte ihm Mewer jedoch mit, Miß Marschall sei in die Stadt gefahren. Dann wolle er auf sie warten, entgegnete Etzel, er müsse ihr die Leute vorstellen; heute noch. – »Wer weiß, wann sie zurückkommt,« sagte Mewer, »es kann spät werden.« – »So wirds eben spät. Kann unmöglich die jetzt wieder nach Hause schickem Wo sollen wir denn hin einstweilen? Es regnet wie aus Scheffeln.« – Mewer schielte ihn über die Hornbrille hinweg an. Ein kleines scheues Unbehagen wurde er gegen Etzel nie los. Er war ihm nicht heimlich, obwohl er ihn bewunderte, ja sogar ihm nachlief. Wo er nur konnte, suchte er in seiner Nähe zu sein. »Du siehst stark mitgenommen aus, Andergast,« sagte er, »das Wasser rinnt dir ja bei den Schuhen heraus. Solltest acht auf dich geben. Wenn du mir folgst, legst du dich in die Klappe.« – Etzel klopfte verdrießlich die triefende Windjacke ab und schaute an sich herunter. Tatsächlich stand er in einer Wasserpfütze. – »Führ sie doch in eins der neuen Häuser hinüber,« schlug Mewer vor, »sind zwar noch nicht fertig eingerichtet, aber das stört wohl nicht. Wenn Miß Marschall kommt, laß ich dirs sagen oder hol dich selber.« – »Dank dir,« sagte Etzel und machte kehrt. Draußen setzte er sich an die Spitze seiner Schützlinge und marschierte mit ihnen quer durch die Siedlung zu dem ersten der noch unbewohnten Blockhäuser. Alle waren bis auf die Haut naß und schüttelten sich wie die Hunde, als sie in dem Gemeinschaftsraum, in den man unmittelbar von der Straße aus gelangte, vor der Sintflut in Schutz waren. »Machts euch bequem, so gut ihr könnt,« sagte Etzel, »jetzt heißts Geduld haben.« Was mochte mit ihm los sein? Er war zum Umsinken müde. Vielleicht hatte er sich in den letzten drei Tagen übernommen. Nicht ausgeschlossen. Er kauerte sich in einem Winkel auf den Fußboden und ließ den Kopf vornüber fallen, hob ihn aber gleich wieder hoch und murmelte: »Was soll denn das? wirst du wohl parieren, verdammtes Gerippe!« Er befand sich ungefähr in der Verfassung eines hochgradig Fiebernden, dem das Bewußtsein des Fiebers fehlt; nichtsahnend geht er seinen Geschäften nach und begreift nicht, warum seine Glieder so bleiern sind und bald Hitze bald Kälteschauer über seine Haut jagen.

Sonderbare Situation. Sechs junge Leute, von denen fünf einander vollkommen fremd sind, in einem ihnen fremden Raum gewissermaßen interniert und zu einem Warten verurteilt, dessen Ursache und voraussichtliche Dauer sie nicht kennen, denn der sie hergebracht hat und den sie als ihren Führer betrachten müssen, ist ganz gegen seine sonstige Art in stumme Teilnahmslosigkeit versunken, ja er scheint sogar zeitweise zu schlafen. Er hat bestimmte Hoffnungen in ihnen erregt als solle sich an diesem Abend ihr Schicksal zum bessern wenden, dies beschäftigt sie innerlich stark, sie können nicht recht daran glauben, es geschehen keine Wunder, es geschehen nicht einmal Überraschungen, jedenfalls sind sie gegen die übliche Enttäuschung gewappnet. Jeder ist aus einer andern Welt, es scheint gar keine Brücke zwischen ihnen zu geben, und doch, Viertelstunde um Viertelstunde vergeht, endlich muß einer von ihnen reden, wenn der dort im Winkel sich noch länger in Schweigen hüllt. Ringsum herrscht tiefe Stille, die durch das eintönige Rauschen des Regens nur noch drückender ist, sie können sich nicht entsinnen, je eine solche Stille erlebt zu haben, vielleicht nur die Zwillinge, in ihnen taucht die Kindheitserinnerung an den Urwald auf. Sie sehen einander in die Augen und lächeln ihr seltsames Hermaphroditenlächeln. Schiffbrüchige, die sich ans Land gerettet haben und in einer Höhle beisammenhocken bis der Morgen graut und der Sturm aufhört, erzählen einander gern Geschichten, wenigstens steht es in den Büchern so, jeder berichtet irgend etwas aus seinem Leben. So jovial geht es hier nicht zu, diese Achtzehn- Zwanzig- Zweiundzwanzigjährigen sind harte karge unbeschauliche Leute, kein Schiffbruch der Welt kann sie zur Schwatzhaftigkeit über sich selbst verführen. Gleichwohl kommt ein Gespräch in Gang. Da fällt ein Wort, dort eins. Stockend, widerwillig, nach Beziehung tastend, das Terrain sondierend. Frage nach der Tageszeit. Mürrische Hindeutung auf das Wetter. Spottende Bemerkung von Helene Grätz über ein etwas kitschiges Bild, das neben der Tür hängt. Grünne zieht eine Stulle aus der Tasche, und als er den begehrlichen Blick Herbert Dedekens gewahrt, verbeugt er sich höflich und teilt sie mit ihm. Seyschab hat Zigaretten, bietet sie an, alle beginnen zu rauchen, die Mienen entspannen sich, man ist wohlwollender gestimmt. Seyschab, der nie ausgeht, ohne ein Buch zu sich zu stecken (er ist mit einem Buchhändler befreundet, der ihm wissenschaftliche Werke borgt), hat anfangs zu lesen versucht, jetzt klappt er das Buch zu. Der Graf beugt sich zu ihm herüber und liest den Titel: Psychologie des Traums. Er blickt Seyschab nicht ohne Respekt an, kann sich aber nicht enthalten, sein Mißtrauen gegen »all solches Zeug« zu äußern. Seyschab setzt ihm in ein paar Worten die Gesichtspunkte des Autors auseinander. Grünne hört aufmerksam zu. Die Zwillinge rücken näher. Seyschab entwickelt eine tiefsinnige Theorie des Traumlebens, die in scharfem Gegensatz zu den Freudschen Lehren steht. Es ist eine förmliche Metaphysik, und obwohl der junge Graf sich Mühe gibt, ihn zu verstehen, kann er ihm doch nicht ganz folgen. Das Thema interessiert ihn, aber er braucht das lebendige Beispiel. Da entspinnt sich eine allgemeine Unterhaltung über Träume. Mit Rücksicht auf den Schläfer oder Halbschläfer im Winkel erhebt sich der Ton selten über das mezza voce. (Jedoch Etzel schläft nicht, er ist allerdings nicht völlig wach, es ist ein Zwischenzustand, der sonderbarerweise seine Empfänglichkeit steigert; indem jene von Träumen sprechen und ihre Träume erzählen, sieht er jeden einzelnen mit erstaunlicher Deutlichkeit vor sich. Sie geben sich ihm in ihren Träumen zu erkennen, und dieser Vorgang wird für ihn wiederum traumhaft.) Grünne hat nur Sinn für leichtfaßliche Deutungen. Da er wenig Phantasie besitzt, sind seine Traumwege unverschleiert und der Wirklichkeit sehr nah. Am Tag bevor seine Migräne beginnt, träumt er jedesmal, er habe die entsetzlichen Kopfschmerzen bereits und schneide sich mit einer Schere die Pulsadern auf; mit dem Augenblick, wo das Blut fließt, lindern sich die Schmerzen, und wenn er dann in einem warmen Blutsee liegt, hören sie ganz auf, da fühlt er sich wie neugeboren. Helene Grätz fragt verwundert, wie es kommt, daß in so vielen Träumen das Blut eine Rolle spielt; sie hat von Zeit zu Zeit folgenden Traum: eine große flache Schüssel wird vor sie hingestellt, darauf liegen achtzehn bis zwanzig abgeschnittene Taubenköpfchen, die sich noch bewegen und mit den Augen neugierig herumschauen; das Blut in der Schüssel versickert langsam, erst wenn es verschwunden ist, rühren sich die Köpfchen nicht mehr. Herbert Dedeken sagt, auch er habe einen Traum, den er jeden Monat mindestens einmal träume: er befindet sich auf einem Schiff, das er nach vielen Mühseligkeiten und Fährnissen erreicht hat, die Verfolger stehen an Land und drohen ihm mit erhobenen Fäusten, das Schiff hat die Anker gelichtet, kann aber nicht aus dem Hafen, niemand weiß warum. Jede Minute ist wichtig, die Mutter erwartet ihn, trifft er zur rechten Zeit nicht ein, so wird er sie nie mehr sehen, muß aber das Schiff wieder vor Anker, so wird er den Verfolgern ausgeliefert. »Erzähl doch mal deinen Traum vom Reh,« wendet er sich an die Schwester, »das ist ja so ein Bluttraum.« Anna errötet, sie scheint nicht gern daran erinnert zu werden. Es ist so: sie wandert über eine schneebedeckte Waldschneise, ein Wolf bricht vor ihr ins Gebüsch. Erschrocken will sie umkehren, da gewahrt sie ein Reh, das sich mit den Vorderläufen in einer eisernen Falle gefangen hat, während der ganze Hinterleib eine einzige Wunde ist, der Wolf hat ihn zerrissen und angefressen. Der Anblick des Rehs ist von unausdenklicher Gräßlichkeit, die flehenden Augen, vorn das Zerren am Eisen, hinten der zuckende rauchende Rumpf . . . alle drei bis vier Wochen kommt dieser Traum. Die andern nicken verstehend, sie erkennen die Tiefe der Lebensangst, die aus dem Traum spricht; um den lähmenden Eindruck zu mildern, erzählt Seyschab »seinen« Traum: Er sieht sich selbst, das heißt, ein zweiter Seyschab geht vor ihm her, er weigert sich, an die Spaltung seiner Persönlichkeit zu glauben, er empfindet sie als unlogisch und zuchtlos; das andre Ich kümmert sich aber um seine Entrüstung nicht, es trabt gleichmäßig weiter, und um es für die Aufsässigkeit zu bestrafen und der Sache ein Ende zu machen, hebt der Ur-Seyschab einen Stein auf und schleudert ihn dem Abtrünnigen an den Kopf; der Stein trifft ihn selbst, und von dem Schmerz erwacht er. Alle lachen, am ausgelassensten der junge Graf. Das ist einmal ein richtiger Philosophentraum.

Etzel blickt empor. Die Träume, die sie einander erzählt haben, spiegeln sich in seinen Augen. Es sind magische Bilder, jedes die knappste Zusammenfassung eines Schicksals. Sie brauchen nicht gedeutet zu werden, da sie doch mehr von der Seele künden, so lange sie in ihrer geheimnisvollen Sprache reden. Es wäre so als wollte man den Sinn eines Gedichtes dadurch ergründen, daß man es grammatikalisch zergliedert. Plötzlich weiß er so viel von diesen Menschen als hätte er das Leben jedes einzelnen gelebt . . .

 

Es war schon finster, als Mewer kam. Sie hatten die letzte halbe Stunde im Dunkeln sitzen müssen; die neuen Gebäude waren noch nicht an die elektrische Leitung angeschlossen. »Bist du da, Andergast?« rief Mewer, den Kopf in der Türspalte. Auf Etzels Zuruf schob er sich herein und meldete, Miß Marschall sei zurück. »Sie erwartet dich,« sagte er, »aber allein, ohne deine Leute.« – Hockend, die Arme um die Kniee geschlungen, schaute Etzel zu ihm empor. Ihm ahnte nichts Gutes. »Warum allein?« fragte er mißtrauisch. – »Weiß nicht. Sie will dich sprechen.« – »Was ist denn noch zu sprechen,« maulte Etzel und erhob sich schwerfällig. – »Weiß wirklich nicht. Sie scheint mir nicht bei Laune.« – »Na, schön. Indessen könntest du denen hier Gesellschaft leisten, Mewer. Das blödsinnige Herumsitzen. Bis man da zur Audienz kommt . . . Hungrig werden sie auch schon sein. Seid ihr hungrig?« wandte er sich an die Fünf. – »Ach wo, nicht so schlimm,« hieß es zögernd. – »Sieh doch zu, daß du eine Kerze bekommst, Mewer. Unterhalte sie. Sing ihnen das Judenlied vor.«

Das Judenlied war eine berühmte Leistung Mewers. Er hatte es selbst gedichtet. Auch die Musik, halb Gassenhauer, halb Tempelklage, stammte von ihm. Er blies sie auf einem in Fließpapier gewickelten Taschenkamm. Es waren sechs oder sieben Strophen, die in drastischer Verkürzung das Schicksal seines Volkes schilderten. Jahrtausendleid zu einer Jahrmarktsballade verarbeitet und im Moritatenstil vorgetragen. Ahasver als Bänkelsänger. Freilich entsprach Max Mewer nicht dem gewaltigen Bild, das man sich vom ewigen Juden macht. Er sah aus wie ein Wiesel und war dürr und armselig von Statur. Sein Gesicht denunzierte ihn bei allen Spöttern und Hassern, das empfand er als sein Spezialpech und bezeichnete es als ethnologische Schlamperei. Vielleicht hatte er einmal gehofft, der nicht sein zu müssen, der er war, schließlich hatte er begriffen, daß er sich nicht entschlüpfen konnte, die ätzende Bitterkeit seiner Seele bewirkte nicht nur, daß er sich bekannte, sondern auch, daß er sich, halb schmerzlich, halb zynisch, übertrieb. Darin lag ein gewisser schamloser Trotz, dessen Quelle die Aussichtslosigkeit einer demütigenden Situation von weltgeschichtlichem Ausmaß war. Im Jahr 1920, er war damals noch ein Knabe gewesen, hatte sich sein um zwölf Jahre älterer Bruder aus diesem Grund erschossen. Nachdem er als Freiwilliger den ganzen Krieg mitgemacht und viele Auszeichnungen erhalten hatte, wurde er von einer studentischen Verbindung, der er seit vielen Jahren angehörte, wegen seines Judentums ausgeschlossen. Die besondere Roheit dieses Aktes und die Folgerung, die der Betroffene daraus zog, hatten dem Fall seinerzeit die allgemeine Aufmerksamkeit zugewendet. Es war an einem Festabend geschehen. Erst sollte eine Programmdebatte stattfinden, daran anschließend Konzert und Tanz. Einer der ersten Anträge lautete, es solle darüber abgestimmt werden, ob Juden in der Verbindung fernerhin verbleiben dürften. Hermann Mewer, der einer der Gründer war und im Vorstand saß, meldet sich zum Wort. Der Vorsitzende verweigert es ihm zunächst und fragt die Versammlung, ob sie Mewer hören wolle. Die meisten sind dagegen, erst nach langer Beratung versteht man sich dazu. Kaum hat er seine Rede begonnen, als einer der »alten Herren« dem Kapellmeister ein Zeichen gibt. Mewer redet, die Kapelle spielt. Mitten im Satz verstummt er, verläßt seinen Platz, geht ins Nebenzimmer und jagt sich eine Kugel in den Kopf. Er ist mit geladenem Revolver zu dem Abend gegangen. Er hat um die Verschwörung gewußt. Er war entschlossen zu sterben, wenn ihn die Freunde von einst aus ihrer Gemeinschaft ausstoßen würden. In einem hinterlassend Brief war es zu lesen: »Die Erwägung, daß es einem gerecht empfindenden Menschen unmöglich ist, in einer so aller Ehre, allen Anstandes baren Welt zu leben, zwingt mich, dieser Welt den Rücken zu kehren. Gewissenlosigkeit Verblendung und Haß haben sich der Männer bemächtigt, denen ich ehemals mit Stolz und Freude Kamerad war, und da man mir auch den ritterlichen Waffenschutz nicht zubilligt, ich andrerseits zum Verbrecher nicht werden, niedriger Rachsucht nicht nachgeben will, bleibt mir nichts als der Tod.« Ein unbefangener Chronist richtete kurz nach dem Selbstmord an die Kommilitonen Mewers die sarkastische Frage: Darf man erwarten, daß die abgebrochene Debatte jetzt noch einmal und ohne Musikkapelle aufgenommen wird? Dieses Erlebnis bestimmte die Lebens- und Geisteshaltung Max Mewers. Als er eines Tages Etzel den Vorgang erzählte, konnte sich dieser vor Verwunderung nicht fassen. »Warum hat er sich denn da erschossen?« fragte er, »das versteh ich nicht. Nimm mal an, beispielsweise, eine jüdische Gesellschaft setzt mich vor die Tür und aus Kummer darüber schieß ich mich tot. Wäre doch geradezu blödsinnig, was? Weil sie sich besser oder vornehmer oder was weiß ich dünken, soll ich mich umbringen? Damit liefere ich doch keinen Ebenbürtigkeitsbeweis. Siehst du nicht ein, daß das ein kompletter Stiefel ist?« Nein, Mewer sah es keineswegs ein. Mit verbissener Miene antwortete er: »Du stellst die Dinge auf den Kopf, Andergast, weil du sie so wie sie sind nicht wahr haben willst. Und damit gehörst du noch zu den halbwegs Anständigen.« Etzel wußte von seinen Waremme-Tagen her viel von Juden, viel von jener tiefreichenden Erschütterung des Selbstbewußtseins, an der sie litten wie an einem Erbübel. Er war sich natürlich darüber klar, daß das Argument, mit dem er sich gegen Mewer für den Augenblick salviert hatte, eine dreiste Spitzfindigkeit war, eher eines schlauen Winkeladvokaten als Etzel Andergasts würdig, aber die ganze Frage ging ihm nicht nah, sie betraf ihn zu wenig, er verstand sie nicht recht, wenn er sich mit ihr zu beschäftigen hatte, geschah es wohl in seiner mutigen und ehrlichen Weise, aber er ermaß weder die Schuld auf der einen Seite, noch fühlte er das Leiden auf der andern. In dieser Stunde, wo sein Körper so empfindlich war als sei er ohne Haut, die Sinne aufgewühlt, die Nerven so gespannt, daß er zu gleicher Zeit hätte weinen, beißen und um sich schlagen mögen, sah er auch Mewer in einem neuen Licht, steckte auch in ihm auf einmal drinnen wie vorher in den Traumerzählern. Er ahnte den vergeblichen unaufhörlichen erniedrigenden Kampf, spürte den leidenschaftlichen Appell, das ungesühnte Unrecht. Er erinnerte sich einer Auseinandersetzung, die er vor ein paar Tagen mit Grünne gehabt, gleich nachdem er ihn endlich ausfindig gemacht; er war ja lang auf der Suche nach ihm gewesen. Grünne war durch seine politische Richtung gewissermaßen zum Judenhaß verpflichtet, willig übernommenes Vorurteil hatte den Boden bereitet. Bei irgendeinem zufälligen Anlaß kam die Rede darauf, Grünne ging scharf ins Zeug und sagte, die Juden seien das tödliche Gift im nationalen Körper, ohne sie wäre solches Unheil nie über Deutschland gekommen, sie unschädlich zu machen sei der erste Schritt zur Wiedergeburt. Etzel schien eine Weile sehr nachdenklich, er spürte die echte Verzweiflung und die echte Überzeugung in den Worten des Kameraden, er konnte nicht widersprechen und wollte es auch nicht, da er einsah, daß da mit Gründen nichts auszurichten sei, es war ein zugefrorenes Terrain, und es aufzutauen war eine Frage der Temperatur, nicht der Worte, nicht des Geistes. »Kennst du denn eigentlich Juden?« erkundigte er sich schließlich, »hast du schon mit welchen verkehrt?« Davor möge ihn Gott bewahren, erwiderte der Graf, er hoffe auch künftig von ihnen verschont zu bleiben. »Du bist ein Kamel,« sagte Etzel, »ich wette mit dir, daß du mindestens einem halben Tausend schon die Hand gedrückt hast. Was stellst du dir denn vor? Glaubst du, sie tragen Hörner und sitzen nachts auf den Bäumen? Ich werde dich nächstens mit einigen zusammenbringen, es sind manchmal famose Kerls, sag ich dir, du wirst deine blauen Wunder erleben.« – »Danke bestens,« hatte Grünne erwidert, »dann kannst du gleich deine Karte mit p. p. c. bei mir abgeben.« Was für ein Satan ist in die Menschen gefahren? war Etzels verwunderter Gedanke gewesen; sie hassen, und warum? weil sie hassen. Ohne Kenntnis des Objekts; sozusagen aus unschuldigem Herzen; der gute Grünne wenigstens und viele von seiner Gilde. Ein soziologisches Rätsel. Da ist offenbar kein Kraut dagegen gewachsen, man müßte die Köche in den Giftküchen zu fassen kriegen, die ihnen den Haß schmackhaft und appetitlich auf den Tisch liefern . . .

»Fang nur an mit deinem Lied,« forderte er Mewer auf, »ich möcht es gern wieder hören. Und du, Grünne, hör auch zu. Ein Riesenspaß. Moment! . . . es werde Licht.« Er zog die elektrische Taschenlampe, die er stets bei sich trug, aus seiner Rocktasche und drehte sie auf. Die grellweiße Flamme beleuchtete sein Gesicht zuerst. Es hatte einen Zug von Wildheit, der es förmlich zerspaltete, die Augen lagen tief und glühend in den Höhlen. Mewer setzte sich auf den Tischrand und schlug die Beine übereinander. Er durchsuchte seine Taschen nach dem Kamm, der bei der Produktion unentbehrlich war. Endlich fand er ihn. Statt des Fließpapiers benützte er das abgerissene Stück eines Briefs. Etzel ließ den Schein der Lampe im Kreis herumgehen. »Komm her, Grünne,« rief er mit einer fremden gellenden Stimme, »drück dich nicht. Ich hab dir einen Juden versprochen, jetzt kriegst du ein Konzert obendrein und ohne Eintrittsgeld.« Grünne trat neugierig, doch mit zögernder Verachtung näher. Alle Gesichter, auf die das Blendlicht fiel, sahen wie Gipsbüsten aus. Mewer raunte Etzel zu: »Es ist Zeit, du darfst die Miß nicht länger warten lassen.« – »Ja, fang nur an,« entgegnete Etzel, »ich geh dann schon. Also das Judenlied steigt, Kinder!« Er reichte Seyschab die Laterne und tauchte in die Finsternis. An der Tür blieb er stehen und lauschte. Erst kam die scheußliche Melodie auf dem Kamm, sie erinnerte an das Gequäkse eines Saxophons. Hierauf begann Mewer mit öliger Tenorstimme:

Ich komm vom Anbeginn der Welt und geh ans End der Zeiten,
im Anfang, heißt es, war das Wort, und was hats zu bedeuten?
Blut Tränen Leid und Narben
Angst Zittern Schnorren Darben
Flucht Zähneklappern Wandern
Vom Euphrat bis nach Flandern.

Von wem ist denn das schöne Liedlein? Vom braven Jüdlein, vom frechen Jüdlein!
Abraham Isak Jakob & Co.
Rote Rose von Jericho.

Zu Worms und Wien, Madrid und Rom ward ich zutodgeschunden.
Krieg Hungersnot und Pestilenz hätt ich für sie erfunden:
So sprachen Kaiser Papst und Zar, so legtens die Konzilien dar
Und Hund Mensch Pfaff Soldat und Ritter bespuckten mich durchs Käfiggitter.
Zehnfach zahlen, hundertfach sterben, tausendfach büßen
Und dann noch dem Henker die Füße küssen.

Von wem ist denn das schöne Liedlein? Vom braven Jüdlein, vom frechen Jüdlein!
Abraham Isak Jakob & Co.
Rote Rose von Jericho.

Nach dieser Strophe ging Etzel. Undeutlich hörte er von draußen, durch die Fenster, noch die dritte:

Ich bin von König Davids Stamm, das hab ich ganz vergessen,
hundertprozentiges Königsblut, und so viel Unflat fressen!
Ich tu als wär ichs nicht,
Das ist mein Strafgericht.
Getrost, getrost, zweitausend Jahr: ein Sandkorn in der Ewigkeit,
Ich hab ja noch so viel Geduld, Geduld für einen Berg von Zeit.
Steh auf, Sohn Zions, und sei stolz,
Die Quäler sind aus schlechtem Holz.

Der Refrain verklang dann:

Von wem ist denn das schöne Liedlein? Vom braven Jüdlein, vom frechen Jüdlein!
Abraham Isak Jakob & Co.
Rote Rose von Jericho.

 

Nell empfing ihn sofort. Sie hatte Gesellschaft bei sich, hatte aber Auftrag gegeben, sie zu rufen, wenn er kam. Als sie seiner ansichtig wurde, zog sie die Brauen hoch, und ihr Blick wurde eigentümlich starr. Ohne stürmische Begrüßung wie sonst fing sie zu sprechen an und schien vor allem bestrebt, ihn nicht zu Wort kommen zu lassen. Sie befanden sich im gleichen Zimmer wie neulich, wo der dreiteilige Spiegel stand. »Ich muß dir eine traurige Eröffnung machen, darling,« begann sie in kaltem und eiligem Ton, »ich bin genötigt, meine Zusage wegen deiner Freunde zurückzunehmen. Es tut mir fürchterlich leid, das kannst du dir denken. Aber es sind mittlerweile dringende Verpflichtungen in den Vordergrund getreten. Du mußt mir verzeihen . . . ich war bereits gebunden, als ich dir das übereilte Versprechen gab . . . kurzum, es geht diesmal nicht.« Sie machte mit dem Kopf eine Schrägbewegung wie eine Amsel bevor sie nach einem Korn pickt, die Finger zupften nervös an dem breiten Spitzenkragen, den sie um den Hals trug. Sie vermied es, ihm ins Gesicht zu sehen. Sie fürchtete sich davor. Sie hatte sich schon den ganzen Tag davor gefürchtet. Es war ihr nicht wohl bei der Sache. Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, welchen Schlag sie mit ihrer plötzlichen Weigerung gegen ihn führte. Sie kannte den Ernst, die unbeugsame Energie, mit der er sich solchen Aufgaben unterzog, sie spürte ihm an, sie witterte es geradezu, was ihn die Erfüllung gekostet hatte und daß das Nein so unerwartet auf ihn niederdonnerte wie das Beil auf ein Schlachttier. Aber das war ja eben die Absicht. Nicht aus Bosheit, es war keine boshafte Faser an ihr; nicht aus verhehlter Abneigung, sie hatte ihn gern, er interessierte sie, sie hatte eine große Meinung von ihm und war nicht im geringsten darauf erpicht, ihn zu strafen, weil er es gewagt hatte, Emma Sperling herabzusetzen und schlecht zu machen, oder weil er Jürgen Lorriner »verraten« hatte; auch die kritische Wachsamkeit, mit der sie sich seit langem von ihm beobachtet wußte, verübelte sie ihm nicht, obschon sie sie reizte und beunruhigte. Jedes dieser Motive wäre niedrig gewesen, und Niedrigkeit war ihrem Wesen fremd, der Antrieb kam aus tieferen Schächten, er hatte mit einer uneingestandenen Eifersucht zu tun, mit der Stellung, die Etzel unter den jungen Menschen einnahm, dem unbedingten Vertrauen, das sie ihm schenkten. Es war eine Eifersucht wie die eines Künstlers auf den Rivalen, womit nicht gesagt sein soll, daß sie in ihrer Wirkung weniger verheerend war als irgendeine häßliche und geistlose Intrige. Sie bewies es ja durch die Tat. Eifersucht war vielleicht das einzige Laster Nells, und wenn ihre Lebensarbeit dabei ins Spiel kam, die ideale Berufung, ihr enthusiastisches Verhältnis zur Jugend, gab sie sich dem Gefühl ohne Maß und Schranke hin und schreckte vor keinem Mittel zurück, den vermeintlichen Nebenbuhler ihre überlegene Macht spüren zu lassen, selbst um den Preis der Verleugnung ihres Helfertums wie hier. Zu retten, Dank und Liebe zu ernten, als gütige Schicksalsgöttin einzugreifen, wenn die Not am höchsten war, dazu war sie da, sie allein und niemand sonst.

Etzels erster Gedanke war: um Gottes willen, wie soll ich es denen beibringen . . . die haben sich doch schon darauf eingerichtet . . . die glauben doch, sie sind aus dem Wasser . . . ich kann ihnen ja nicht mehr unter die Augen treten . . . die müssen mich für einen gemeinen Schwindler und Aufschneider halten . . . was tu ich denn da . . . ich weiß gar nicht, was ich da tun soll . . . Er wankte ein wenig. Seine Beine hatten sich in zwei empfindungslose Pflöcke verwandelt. Der Schädel war entsetzlich leer, dabei innen heiß, er hatte das Bedürfnis, ihn in eiskaltes Wasser zu tauchen. Die Finger bewegte er mechanisch wie man tut, wenn die Hände blutlos und abgestorben sind. Er näßte die Lippen mit der Zunge und stotterte etwas von fester Abmachung und daß er sich darauf verlassen habe und daß drei von den Leuten jetzt einfach auf der Straße lägen. Er sagte dies ebenso automatisch hin wie er automatisch die Finger spreizte und einzog, sein Blick hatte etwas blöde Glotzendes, und während er unter der quälenden Sinnestäuschung stand, Nell schwebe unaufhörlich im Kreis um ihn herum, mußte er immer wieder dasselbe denken: wie sag ichs ihnen nur . . . was fängt man mit ihnen an . . . die gehn ja drauf . . . die können sich nicht mehr erfangen . . . es ist der letzte Moment gewesen . . .

Nell sprach zu ihm. Ihre Stimme war wie ein Schraubenzieher. Er antwortete: ja, nein; ja, nein; ohne zu verstehen. Oder er schüttelte den Kopf, das heißt, er wußte, daß er den Kopf schüttelte, und sah es wie von außen, aber es hatte keinen Sinn. Auf einmal war Nell weg. Oder war er selber weggegangen? Jedenfalls war er allein. Eine Weile später befand er sich auf der Straße. Er ging vorwärts, machte eine Unmenge Schritte. Wieder eine Weile später hielt er einen Laternenpfahl umfaßt und preßte die Stirn daran. Ein Schupomann stieß ihn in den Rücken und empfahl ihm barsch, seinen Rausch zu Hause auszuschlafen. Wohin soll ich denn? dachte er verzweifelt, zu denen kann ich doch nicht zurück . . . ich kann ihnen doch nicht sagen daß . . . kann ich doch nicht . . . wohin also? Da rührte sich etwas in seiner Brust wie eine kleine windscheue Flamme. Gab es nicht einen Menschen, zu dem er fliehen konnte? Wie war es möglich gewesen, ihn zu vergessen? Vor dem brauchte er sich nicht zu schämen, dem mußte er nichts explizieren, der begriff ohnehin alles, wußte alles, sah alles. Doch wie zu ihm gelangen? Es war zu weit. Er durchwühlte angstvoll seine Taschen: nichts . . . Er hatte nicht zehn Pfennig im Vermögen. Das letzte Geld hatte er Helene Grätz gegeben, damit sie ihre Schulden beim Bäcker und Lebensmittelhändler bezahlen konnte, dreizehn Mark. Bis in die Große Querallee zu Fuß zu gehen fühlte er sich nicht fähig, es war ein Weg von Stunden. Unmöglich heute. Ich weiß, was ich tu, überlegte er dumpf, ich nehme ein Taxi und borg mir das Fahrgeld dort vom Pförtner aus.

Gegen zehn Uhr abends läutete er an Kerkhovens Privatwohnung. Das Mädchen, das ihm öffnete, sagte, der Herr Professor sei zwar zuhause, er arbeite jedoch und habe befohlen, ihn nicht zu stören. Kaum hatte sie ihren Spruch beendet, so stieß sie einen Schrei aus: der junge Mann vor ihr fiel längelang zu Boden wie ein Stock.


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