Jakob Wassermann
Etzel Andergast
Jakob Wassermann

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Viertes Kapitel

Bei den häufigen Begegnungen mit Kerkhoven hatte Marie immer ein ungutes Gefühl. Sie war auf freundliches Entgegenkommen angewiesen, wenn es fehlte, wurde sie leicht an sich selbst irre. Es verdroß sie, daß er ihr nie ins Gesicht sah, immer über sie hinüber. Es störte sie, wenn jemand sie in ihrem Bestreben, eine gute Meinung von ihm zu hegen, nicht unterstützte. Sie liebte Wohlwollen zu empfangen und wohlwollend zu sein. Eines Tages faßte sie sich ein Herz und fragte ihn geradezu (es war im Vorzimmer, als er von Irlen kam und seinen Mantel vom Kleiderhaken nehmen wollte), fragte ihn, warum er sie nie ordentlich grüße. Kaum war das Wort heraus, bereute sie es schon. Er war dermaßen erschrocken, daß er die Hand mechanisch am Haken ließ. »Ich? wieso?« stotterte er und verfiel sogleich in seine geschraubte Höflichkeit, die etwas noch Verletzenderes hatte als seine Ungeschliffenheit; »es ist mir wirklich nicht bewußt, Frau Bergmann. Sie müssen sich täuschen.« Marie schüttelte befangen den Kopf. »Verzeihen Sie bitte, es steht mir nicht zu,« stammelte sie, »aber ich hatte den Eindruck als sei es Ihnen lästig . . .«. Sie wandte sich ab, er warf hastig seinen Mantel über, verbeugte sich ungeschickt und suchte so schnell wie möglich den Ausgang zu gewinnen. Am andern Tag schien es ihr, daß er auf eine Gelegenheit wartete, mit ihr zu sprechen. Sie merkte es und kam ihm entgegen. Er sagte, er habe über ihre Reprimande nachgedacht. Sie möge recht haben. Zu seiner Entlastung könne er nur seine Kurzsichtigkeit anführen. (Ausrede; er war nicht kurzsichtiger als die meisten studierten Männer, hatte auch nie Augengläser getragen.) Marie lächelte ein wenig und erwiderte nicht ohne Spott: »Das dacht ich mir ohnehin, aber es gibt doch eine Menge kurzsichtige Leute, die einen trotzdem artig grüßen. Sprechen wir nicht mehr darüber, Herr Doktor. Ich habe mir etwas herausgenommen, vergessen Sie es.« Kerkhoven bedachte sich eine Weile. »Ich muß Ihnen ein komisches Geständnis machen,« sagte er dann, »ich lebe in der Beziehung fortwährend auf Kredit. Da ich in vielen Einzelfällen ganz stattliche Summen von . . . von Freundlichkeit verausgabe, bild ich mir ein, ich könnte mir bei unwichtigen Anlässen die Formalitäten schenken. Natürlich bleibt dabei immer eine Rechnung offen. Seh ich ein. Sie sind die erste, die mir das vor Augen führt. Und um ganz aufrichtig zu sein, spielt da auch eine innere Faulheit mit. Sicher. Eine Gefühlsfaulheit. Ich bin Ihnen dankbar, daß Sie mich darauf aufmerksam gemacht haben, Frau Bergmann. Ich werde mich bessern.« Das alles klang so ehrlich, und sein Gesicht hatte einen so sorgenvollen Ausdruck, daß Marie versucht war, ihn zu trösten, und ihre Empfindelei noch ungerechtfertigter fand als vorher. Plötzlich fühlte sie eine starke Sympathie für ihn, völlig unerwartet, von einer Sekunde zur andern. Da sie schwieg und ihn ihr ernster Blick verlegen machte, fügte er mit gezwungener Jovialität hinzu: »Sie dürfen nicht zu streng ins Gericht mit mir gehen. Diese Faulheit ist wahrscheinlich eine Schutzvorrichtung. Jeder Mensch hat gewisse Wächtereigenschaften, sie funktionieren wie das Fett auf den Muskeln, wie die Leukozyten im Blut. Item . . . ich bin ja auch nicht zufrieden mit mir. Gar nicht, gar nicht, das können Sie mir glauben.«

 

Sie hatte nicht vorausgesehen, daß ihn ihr unüberlegtes Zurredestellen beschäftigen würde. Er schien wenig Bescheid über sich zu wissen, infolgedessen war er bestürzt, wenn man etwas an ihm aussetzte. Dann wurde er nicht fertig damit, Marie erinnerte sich lächelnd, daß ihr Vater solche Leute Nagetiere genannt hatte. Und doch war es manchmal wieder nicht so, manchmal schien es ihm Spaß zu machen, etwas Bezeichnendes über sich zu erfahren, auch wenn es keineswegs schmeichelhaft war, oder er forderte sogar in einer gutmütigen Weise den Spott über sich heraus. Dazu sind nur sehr gefestigte Naturen imstande, die ihrer Wurzeln sicher sind. Warum aber dann das Einbekenntnis der Selbstunzufriedenheit? Sie hatte geglaubt, er ruhe unverrückbar in seiner eigenen Kraft. Diese stille, gleichsam ein für allemal gewährleistete Kraft strömte Ruhe aus und verlieh Ruhe, man wünschte nicht, sie bezweifelt zu wissen. Während sie darüber nachdachte, fing sie an zu begreifen, was Irlen zu ihm hinzog. Es war der Gegensatz der dunklen und chaotischen Natur zu seiner hellen und geordneten. Er hatte es einmal angedeutet. Wie wenn eine mythische Bindung darin läge, Urverwandtschaft hinter Urfremdheit. Ob es ein ähnliches Gesetz war, das ihn in die afrikanischen Wildnisse geführt hatte? Er hatte von Kerkhovens »Güte« wie von etwas Seltenem gesprochen, das nicht hoch genug einzuschätzen war (dabei verhehlte er nicht, daß ihn gewisse problematische Züge seines Charakters mit Sorge erfüllten), offenbar verstand er unter Güte nicht ganz das was man gemeinhin darunter versteht, sondern etwas wie den Karat eines Diamanten.

 

Es verstimmte Marie und setzte sie vor sich selbst noch mehr ins Unrecht, als an einem der nächsten Tage die Senatorin Irlen während eines Mittagessens bei ihren Enkelkindern ziemlich schroffe Kritik an Kerkhoven übte. Daran bin ich schuld, dachte Marie. Offenbar hatte sie einen Lieblosigkeitsbazillus ins Haus getragen, der günstigen Nährboden fand. Frau Irlen war bereit, alle Vorzüge des Doktors anzuerkennen; »mag er meinetwegen ein Engel sein,« sagte sie, »aber auch ein Engel muß einem auf die Nerven gehen, wenn er so hoffnungslose Manieren hat wie dieser Mann.« Ernst Bergmann, in dem ritterlichen Bestreben, einen Abwesenden zu verteidigen, fragte lächelnd: »Wirklich, Großmama? gesetzt den Fall, ein Engel könnte schlechte Manieren haben, würde man nicht darüber hinwegsehen müssen?« Die alte Dame behauptete: nein; sie wolle gut behandelt werden, wenigstens von Menschen, im Umgang mit Engeln fehle ihr schließlich die Erfahrung. »Ich lege Wert darauf, daß man mich achtet, und brauche die äußern Zeichen dafür. Ich lasse mir nicht gern auf die Zehen treten. Findet ihr das zimperlich? Ein manierlicher Dummkopf ist mir eben lieber als ein taktloses Genie.« – »Er ist nicht taktlos, gewiß nicht,« wagte Marie einzuwenden, »Genie, das kann ich nicht beurteilen, aber taktlos? nein.« – »So etwas dürfte man auch erst sagen wenn wir mit Genies so reichlich versehen wären wie mit Dummköpfen,« bemerkte Ernst Bergmann lachend. Die Senatorin seufzte wehleidig. »Was verlangt man denn?« fuhr sie in einem Ton fort als beklage sie ein ganzes Zeitalter der Ungeschlachtheit, »ein bißchen Firnis. Ist das so schwer? Man muß nicht mit Gewalt einen Kinderschreck aus sich machen. Man muß nicht in die linke Zimmerecke stieren, wenn einem rechts jemand freundlich zunickt. Man muß auch nicht, während eine gewisse alte Frau was erzählt, mags interessant sein oder nicht, mit furchtbar gelangweilter Miene die Daumen umeinander drehn. Nein, liebe Kinder, bei aller Toleranz, aller Achtung vor der Wissenschaft kann ich unmöglich zugeben, daß das zu den . . . wie sagt man? zu den unveräußerlichen Rechten der Persönlichkeit gehört.« Sie nickte wie eine Hofdame und legte den Kopf resigniert auf die Seite. Ernst Bergmann spürte, wie unangenehm das Gespräch für Marie war, und lenkte es geschickt auf ein anderes Thema. Der Grad seiner Sympathie für Kerkhoven ließ sich schwer bestimmen. In der unbegrenzten Bewunderung, die er seiner Frau entgegenbrachte, hatte er bis jetzt alles, Menschen und Dinge, mit ihren Augen angesehen. Trotzdem war eine kühle Zurückhaltung gegen den ihm innerlich sehr fremden Mann nicht zu verkennen, sie schwand erst, als er Ende November an einer heftigen Gastritis erkrankte, die Kerkhoven behandelte. In den Tagen der Rekonvaleszenz gestand er Marie, daß er seine Ansicht über ihn völlig geändert habe. Als Arzt jedenfalls habe er etwas ganz Einzigartiges. »Wenn ein Musikinstrument Empfindungen hätte, müßte es sich in der Hand eines Virtuosen ungefähr so fühlen,« sagte er, »es geht eine magische Wirkung von ihm aus.« Marie antwortete lebhaft, genau dasselbe sage Onkel Irlen auch. (Damals war das Wort »magisch« noch nicht so mißbraucht und abgegriffen wie heute.) Da schwieg aber Ernst. Sonderbar: ihre Schwärmerei für Irlen hatte von Anfang an seine heimliche Eifersucht erregt. Während er an ihrem wachsenden freundschaftlichen Interesse für Kerkhoven nicht das geringste auszusetzen fand und sich jeder mißtrauischen Regung geschämt hätte, beunruhigte ihn die leidenschaftliche Ergebenheit, mit der sie an Irlen hing, täglich mehr, und oft hatte er Mühe, seinen Verdruß zu verbergen. Dabei war er sich der Unvernünftigkeit dieser Haltung vollkommen bewußt, aber es war als stehe sein Wert gegen den Irlens in einer Proportion, aus der ein Kerkhoven von vornherein ausgeschaltet war. Marie fühlte es natürlich. Was konnte sie anderes tun als die Zärtlichkeit verdoppeln, mit der sie ihren Gatten immerfort umgab? Ihr Lebensgleichgewicht war ja um diese Zeit ernstlich gestört.

 

Eines Tages bekannte sie Irlen die eigentümliche Unsicherheit, in die sie durch ein voreiliges Wort gegen Kerkhoven geraten war, erzählte auch, wie absprechend sich die Großmutter über ihn geäußert habe. Sie war befangen wie immer, wenn sie sich an ihn als an die höhere Instanz wandte. Er hatte aufmerksam zugehört, als sie geendet hatte, sagte er: »Es ist eine schwierige Sache. Was den sogenannten guten Manieren Bedeutung gibt, ist das was man damit darstellt. Benutzt sie einer bloß, um sich selber zu präsentieren, so werden sie auf die Dauer verdächtig. Das Verhältnis zur Welt mit allen seinen Bezogenheiten ist eben etwas äußerst Heikles. Man stellt sich dar, das heißt man regelt seine Verpflichtungen gegen die Gesellschaft. Es fragt sich ob man ein Convenu anerkennt. An einem alten Tor in Oxford stehen die Worte: manners make men. Vielleicht ist das richtig. Das Wunderliche ist, daß man bei wilden Völkern viel mehr gute Manieren findet als bei uns. In unser Lager wurde einmal eine Akkafrau gebracht, von einem Zwergenstamm. Sie würde Ihnen höchstens bis zur Schulter reichen. Sie war splitternackt. Ich kann Ihnen versichern, Marie, ich habe nie ein manierlicheres Geschöpf gesehen. Wie sie sich benahm, bewegte, man hatte eine Lady vor sich, an die Nacktheit dachte man gar nicht mehr.« Er schwieg eine Weile, die Hand über die Augen gelegt, dann fuhr er fort: »Meine Mutter ist ungerecht. Sie sieht bei Kerkhoven die Ausnahme nicht. Sie ist zu verwöhnt, um sich auf eine solche Unbequemlichkeit einzulassen, man muß es auch nicht von ihr verlangen. Gott weiß, was ihr vorschwebt, die Erziehung eines Halbproletariers zur Salonfähigkeit vielleicht. Rühren wir da nicht unvorsichtig an. Der Mann steckt unter einer Eisdecke. Die muß er erst durchstoßen. Er hat keine Zeit, Figur zu machen und sich um unser Zeremoniell zu kümmern. Hat nie die Zeit gehabt. Was uns ein gnädiges, aber gedankenloses Geschick in die Wiege gelegt hat, darum hat er blutig ringen müssen und muß es noch. Vergessen Sie das nicht, Marie. Vergessen Sie die Eisdecke nicht.« Marie nickte drei viermal rasch hintereinander, und bei jedem Mal sagte sie: »Ja; ja; ja.« Im Ton einer dankbaren Schülerin. Das Bild der Welt war ihr plötzlich größer geworden.

 

Kerkhoven war nicht auf den Kopf gefallen und spürte den Widerspruch, den er durch seine Art bei der Senatorin Irlen hervorrief, obwohl sie ihm meist mit einer betonten Liebenswürdigkeit begegnete, zu der sie sich als Dame von Welt und als Oberhaupt der Familie verpflichtet hielt. Das war es ja, daß sie ihm ihre Stellung zu fühlen gab; sie rückte an der Spitze ihrer gesamten Kaste gegen ihn an und bewies ihm durch die Musterhaftigkeit ihrer Haltung, wie sehr die seine zu wünschen übrig ließ. Er spottete; er lachte; er ärgerte sich. Manchmal benahm er sich wie jemand, der arglos in einen Raum tritt, alle Blicke auf sich gerichtet glaubt und die peinliche Empfindung nicht los wird, ein Loch in der Hose zu haben und sich davon nicht vergewissern zu dürfen. Manchmal übertrieb er absichtlich eine Verfehlung, wenn er an den Mienen bemerkte, daß er im Begriff war, sie zu begehen. Dann konnte es vorkommen, daß ein Blick, ein Achselzucken Maries ihn beschämte und er sich so ungeschickt zusammennahm wie er sich ungeschickt hatte gehen lassen. Verdammt, dachte er dann, diese Leute sind mir über, und wenn ich nicht herauskriege wodurch, bin ich in Gefahr, ihnen den Tanzbären abzugeben. Da weit und breit kein Grund zu erblicken war, weshalb sie sich ihm anpassen sollten, entschloß er sich widerwillig, es seinerseits mit der Anpassung zu probieren. Es war nicht leicht. Allmählich dämmerte ihm die Erkenntnis auf, daß sich eine knallgrüne Krawatte über einer schwarzen Samtweste mit roten Karneolknöpfen übel ausnahm. Daß gelbe Schuhe zum schwarzen Gehrock und grauen Schlapphut der Erscheinung eine exotische Unglaubhaftigkeit verliehen. Nach und nach verschwanden die pittoresken Westen und Schlipse in aller Stille von der Bildfläche. Die Haare wehten nicht mehr borstig um den Kopf, sie waren schlicht zurückgebürstet, was den Vorteil hatte, daß eine bemerkenswert schöne Stirn dominierend wurde. Beim Betreten eines Zimmers versuchte er ein heiteres Gesicht zu zeigen, auch wenn Irlen nicht allein war, und auf Fragen, die man an ihn richtete, ohne verletzende Zerstreutheit zu antworten, auch ohne die nicht minder verletzende Besessenheit des Tschechowschen kleinen Beamten. Er gewann es über sich, der Frau des Hauses den Vortritt zu lassen, wenn sie zu gleicher Zeit durch eine Tür zu gehen hatten, und zog nicht mehr den Hornzahnstocher aus seinem Taschenmesser, um damit zur Bekräftigung seines Nachdenkens in den Mund zu fahren. Errungenschaften. Sie wurden auf der andern Seite gebührend anerkannt. Marie hatte dann eine Art, ihm zuzulächeln, die ihn an die Vorstellung erinnerte, die er als Knabe vom Ritterschlag gehabt. Ihr Verhalten in dieser für ihn scheinbar so unbedeutenden und kleinlichen, in Wirklichkeit weittragenden, weil sein Bewußtsein weckenden, sein Selbstgefühl straffenden Angelegenheit gab ihm wichtige Aufschlüsse über ihren Charakter. Er fand, daß die sympathetischen Handlungen der Menschen genau so gesetzmäßig gegeneinander wirken wie die mathematisch bestimmten Bewegungen der Himmelskörper. Er entdeckte Verstand bei ihr, eine höchst anziehende Form davon, und wunderte sich. Schließlich, sie war ein Frauenzimmer, ihr versteht, außerdem so jung, dreiundzwanzig vielleicht. In der Tat, drang man hinter die Hülle reizbarer Scheu und zaghafter Abgeschlossenheit, so leuchtete unversehens eine zarte Klugheit auf, von leiser Selbstironie umflort und listig immer wieder in die Entfernung gerückt wie man eine Lampe wegträgt, deren Licht möglicherweise zu grell ist für die unbeträchtlichen Dinge, die sie bescheinen soll. (»Nein, schaut lieber nicht hin, es heißt nicht viel.«) Und immer behielt sie etwas von sich zurück, hätte man dem nachgehen wollen, so hätte sie wahrscheinlich alle Wege verrammelt, mehr erschrocken als erzürnt. Irlen sagte einmal von ihr: sie erinnert an einen Pagen, der die Geheimnisse seines Herrn hüten muß. Nun, ihre eigenen wußte sie mindestens ebensogut zu hüten.

 

Er kam oft mit ihr ins Gespräch. Sie faßte leicht Zutrauen. Da ihr jede Launenhaftigkeit fremd war, blieb sie sich im Umgang immer gleich. Das verringerte nicht den Reiz, der in der Unterhaltung mit ihr lag, es erhöhte ihn. Durchsichtiges Wasser hat größere Lockung als trübes. Sie sprachen, wieder und wieder, von Irlen, seinem Schicksal, seiner geistigen Art, dem unergründlichen Zauber seiner Persönlichkeit. Da kam dann auch ein anderer Kerkhoven zum Vorschein als der etwas kleinbürgerlich angehauchte Doktor, der den Leuten von Welt Stoff zu mokanten Glossen lieferte, ein völlig anderer Mann war das, unheimlich in manchem Betracht. Am unvergeßbarsten erfuhr es Marie bei einem gemeinsamen Spaziergang; sie gingen von der Villa ein Stück gegen den Hexenbruch hinauf. Nach zwanzig Jahren noch erinnerte sich Marie an jedes seiner Worte, an jeden einzelnen Baum an der menschenleeren Chaussee, an die kleinen Hügel welker Blätter, die vom Wind aufgehäuft unter ihren Füßen raschelten, an die Krähen, deren schwarze Körper sich in drohend langsamen Flugbahnen gegen den milchigen Himmel abzeichneten.

 

Er begann mit der Feststellung, daß die Bekanntschaft mit Johann Irlen zum überwältigenden Erlebnis für ihn geworden sei und alle seine Maße verändert habe. »Unfaßlicher Zufall, der mir den Mann in den Weg geführt,« sagte er mit grüblerischem Ausdruck. Als Marie bei dem Wort Zufall den Kopf schüttelte, korrigierte er sich. Natürlich, Zufall, das heiße nichts. Gnade müsse mans nennen. Aber kaum hatte er es ausgesprochen, nahm er es wieder zurück. Gnade, nein; Gnade stimme nicht mit seiner Gemütsverfassung überein; die sei derart, daß er eher behaupten könne, es gereiche ihm zum Unheil. »Warum?« forschte Marie erschrocken. Es sei eben so, er sehe nicht ab, was da werden solle, antwortete er unbestimmt. Marie wollte sich damit nicht begnügen, sie forderte ihn auf zu erklären, was er meinte. Er sagte widerstrebend: »Es gibt Fälle, wo der Arzt ein Heiland sein muß, wenn er nicht als Schwindler dastehn soll.« Marie zuckt zusammen. Sie bleibt stehn und schaut ihn an als hätte sie sein Gesicht bis zu diesem Augenblick nie richtig betrachtet. Beim Weitergehn hält sie den Kopf tief gesenkt. »Das ist der springende Punkt,« fährt Kerkhoven fort, indem er gegen den dunkler werdenden Westhimmel starrt, »diese gräßliche Krankheit. Daß man ohnmächtig zusehn muß. Da hilft kein Studieren und Nachschlagen in Büchern. Die Kollegen zucken die Achseln. Die Autoritäten haben es bis zu soundsoviel Prozent Heilungen gebracht. Das Mittel, versichern sie, ist probat. Es wirkt ja auch in den meisten Fällen, bei der einen einmaligen Konstitution Irlen scheint es zu versagen. Ich möchte noch nicht abschließend urteilen, aber ich fürchte, es ist ein unaufhaltsamer wenn auch schleichender Prozeß. Was tun? Man leiert sein Sprüchlein her, zerdenkt sich das Hirn, kein Lichtblick, kläglicher Bankrott. Ich kann nicht in das vergiftete Blut hinein, ich hab die Gewalt nicht, das Auge nicht, ich kanns nicht erzaubern, ich muß bei meinem dilettantischen Hokuspokus bleiben. Klar, nicht? Und jetzt kommt das Beschämendste. Er weiß, daß ich nichts weiß, aber aus Noblesse stellt er sich als glaube er an den Hokuspokus. Er hat doch diesen wunderbaren Organinstinkt, wenige Menschen besitzen ihn in solcher Vollkommenheit, es ist ein fabelhaft präziser Meldedienst, das gibt es, darin verhält er sich zu den Durchschnittsnaturen wie . . . na, wie ein kostbarer Chronometer zu einer ordinären Taschenzwiebel. Sie haben mich einmal gefragt, Frau Marie, ob ich nicht einen Professor zur Behandlung beiziehen will. Ich habs damals für zwecklos erklärt. Es mag Ihnen vermessen vorgekommen sein, Sie werden sich gedacht haben, der Mann muß sich verteufelt sicher fühlen, daß er so große Verantwortung übernimmt. Ich kann Ihnen gestehen, daß mir nachher allerlei Bedenken aufgestiegen sind und mir nicht ganz wohl war in meiner Haut. Das ist vorüber. Sie schaun mich erstaunt an. Ja, was ich Ihnen jetzt sage, klingt sehr merkwürdig: heute, wo ich doch weit und breit keine Hoffnung sehe, wo ich eigentlich nichts tue als auf das Wunder warten, das die Wendung bringen könnte, heute ist mein Gewissen in der Hinsicht weniger als je beunruhigt, und wenn Sie mich wieder fragten: Hand aufs Herz, Doktor Kerkhoven, können Sie es allein auf sich nehmen, ich würde ohne Zaudern antworten: Ja.« – »Wie das?« fragte Marie kaum hörbar. Kerkhoven schwieg eine Weile erregt in sich hinein. »Das ist schwer,« entgegnete er, und sein Schritt verlangsamte sich, »wie soll ich das . . . Nämlich, ich kenne seinen Körper wie ihn kein andrer kennen kann. Ich hab mich mit ihm beschäftigt, ihn erforscht, untersucht und wieder untersucht, hab seine innere und seine äußere Beschaffenheit langsam entziffert wie eine Rätselschrift; aber das ist schließlich Sache der Geduld, der Erfahrung, der Einsicht, darin wäre mir der betreffende Herr Kollege in jedem Fall voraus. Das mein ich nicht. Sondern . . . Passen Sie mal auf, Frau Marie. (Er packte sie beim Handgelenk.) Blicken Sie mal dort hinüber, auf den Hügelsaum, da leuchtet noch ein schmaler Scharlachstreifen, sehn Sie nichts?« – »Nein, nichts . . .« flüsterte Marie verwundert. – »Aber ich. Ich sehe den Körper von meinem Freund Irlen.« Marie schauderte unwillkürlich als werde ihr ein Gespenst gezeigt. Sie hatte einen Moment das Gefühl, Irlen sei tot und Kerkhoven sähe ihn als Geist. Und wie er das Wort Freund aussprach, das er gleich darauf wiederholte als wolle er es auf seinen Gehalt nachprüfen (»Freund . . . ich hab nie einen gehabt, er ist der erste«), berührte sie im Innersten. Auf einmal war sie unscheinbar klein neben ihm, schutzbedürftig, weltverloren. In Irlens Nähe war sie nie »verloren«. Irlen blieb stets in seinen Grenzen, er war kein dunkles Elementarwesen, das andre aus der Bahn schleudert. Ja, es war als entglitte ihr der Boden, als entglitte sie sich selbst. Noch immer schaute sie naiv-gebannt in die von Kerkhoven gewiesene Richtung. Trotz des Dämmerlichts konnte sie die Ruhe in seinen Zügen wahrnehmen, da begriff sie, daß er keineswegs phantasierte, und als er das Wort wieder an sie richtete, büßte der Vorgang zwar nicht seinen geheimnisvollen Charakter ein, aber was Wirklichkeit an ihm war, trat umso ergreifender hervor.

Durch die innige Hingabe an den einen Gegenstand, Ziel der Obsorge, war Kerkhoven mit Irlens physischer Beschaffenheit so vertraut geworden, daß er sich die leibliche Gestalt wie das Spiel der inneren Teile in jedem beliebigen Augenblick bis zur vollkommenen Sichtbarkeit vergegenwärtigen konnte: eine durch den Willen beschworene Halluzination. (Ähnlich wie ein Maler durch beständig wiederholtes Anschauen des Modells das Bild zuletzt auswendig auf die Leinwand zu setzen vermag.) Es gelang ihm dies mittelst einer Anspannung, die auf der den ganzen Raum seiner Seele füllenden Sympathie beruhte. Damit schien sich ein Problem von selbst zu lösen, über das er oft nachgedacht hatte: ob Zuneigung und freundschaftliche Verbundenheit mit dem Leidenden den Blick des Arztes trüben und seine Entschließungen lähmen müssen oder ob sie, von der Angst umflackert, die Sinne schärfen, die Kräfte jeweils steigern. Er erfuhr das letztere.

Er sah den Körper des Freundes in verschiedener Art. Manchmal so wie wenn an Stelle des Herzens eine Quarzlampe hinge, die die Hautwand durchsichtig machte. Näher lag freilich die Ähnlichkeit mit einem vor dem Röntgenapparat befindlichen Objekt. Das Muskelgeflecht ein verwirrendes Kreuz und Quer rotglühender Bänder. Dahinter die Knochen wie Säulenschäfte; wie Schwibbögen; wie Tragflächen und Schalen, in allen Größen, senkrecht und wagrecht. Nieren Leber Milz Eingeweide Magen und Hirn, jedes in seiner unverkennbaren Bildung, seltsamen Tiefseeorganismen verwandt und im Gegeneinanderwirken ihrer Funktionen wie lautlose Dynamos und Regulatoren in Blasen Schlauch und Schwammform. Der Schleimstrang des Rückenmarks in seinem gotisch gezackten Rohr aus beweglichen Gliedern. Die unsäglich verästelten Gewebe und Schaltwerke der Nerven; Silberdrähte Seidenfäden polypische Büschel, in zitternder Empfindlichkeit das Feste und Halbfeste, Feuchte und Trockene umspannend, die Sinne scheidend und zugleich vereinigt ins Bewußtsein ziehend. Die schlabbrigen Säcke und Traubengehänge der Drüsen. Das Herz, die rätselhafte Pumpmaschine, selber wie eine nicht ganz verhärtete Riesendrüse. Der Blutlauf in zahllosen Kanälen, von der königlichen Aorta bis in die äußersten Kapillargefäße; das hatte etwas wie purpurne Musik; alle diese Arterien, carotis, occipitalis, brachialis, radialis, ulnaris, femoralis und wie sie sonst hießen, waren wie die einzelnen Pfeifen in einem geisterhaft lautlosen Orgelkonzert.

Eine anatomische Vision. Allein sie hatte nur den Bezug auf Irlen. Es war der Irlensche Leib, der Irlensche Körperstaat, dessen allgemeine Verfassung den anthropos ausmachte, die Gattung, homo sapiens, dessen persönliche Besonderheit aber einmalig war, nie wiederkehrend, nie wieder möglich. Und wenn man in seiner Erforschung weit genug vordrang, bis zum Plasma, bis in den Zellkern, bis in die geheimsten Schwingungen unwahrnehmbarer Nervenfasern, war es dann nicht denkbar, mit Hilfe der Angst und der Liebe denkbar, daß man damit Klarheit und Wissenschaft für die gesamte Spezies erlangte, da doch das höchst entwickelte Exemplar alle geringerwertigen in sich schließt? Dieser Gedanke verfolgte Kerkhoven mit der Hartnäckigkeit einer Wahnidee. Was macht den wahren Arzt? In die Form des andern Menschen schlüpfen, daß das Gebrechen zum Bild wird. Der Ausdruck »Bild« genügte ihm jedoch nicht, er ersetzte ihn nach einigem Suchen durch den ihm treffender erscheinenden »Engramm«, den er Marie erst erklären mußte. »Über die Zerstörungsarbeit der Parasiten können wir uns nicht mehr täuschen,« sagte er, »die Frage ist: wie das Unheil aufhalten? Es kommt mir manchmal fast vor als wenn die äußern Eingriffe den Verlauf tückisch verschleiern würden. Vorgestern bekam er nach der Injektion in der Nacht heftiges Erbrechen. Alles bleibt in der Latenz. Drei Wochen lang sieht es wie Besserung aus, dann die ärgste Rezidive. Ist das Mittel zu schwach, zu stark? Sind die Zwischenräume in der Dosierung zu lang, zu kurz? Am Ende treibt man den Teufel mit Beelzebub aus. Oder vielleicht mästen sich diese . . . diese Trypanosomen bei der Behandlung statt daß sie krepieren? Woher soll man das alles wissen? Es geht nicht vorwärts, es dreht sich im Kreis. Bisweilen kommt mir der verrückte Einfall: die Krankheit wäre bekämpfbar, nur der Kranke steht dem entgegen. Die Krankheit kann ich erreichen, den Träger nicht. Sie verstehen nicht? Tut nichts, hören Sie gar nicht zu. Gestern Abend wollte er gerade anfangen zu erzählen, was zwischen ihm und Otto Kapeller gewesen ist, ich erinnerte ihn an die Geschichte, er hatte mirs mal erlaubt, ihn zu erinnern, das alles interessiert mich ja brennend, sein Leben, seine Vergangenheit, daraus lassen sich Schlüsse ziehn, es gehört für mich gewissermaßen zur Anamnese. Na, schön; er hatte noch nicht zehn Worte gesprochen, da wird er aschfahl im Gesicht, kann die Zunge und den Kiefer nicht mehr bewegen, die Augen sind weitoffen und blickstarr. Ich wußte, das geht vorbei, es war ja nicht der erste derartige Anfall, und wie ich mich über ihn beuge und ihm in die Augen schaue, seh ich wie in einer Zauberkammer die innere Verheerung, Leber und Milz vergrößert, Lymphdrüsen vergrößert, Lunge und Magenschleimhaut blutend, das Knochenmark dunkelrot statt grau, die Gefäßwände verändert, die Blutzusammensetzung verändert, alles im Augenhintergrund signalisiert, aus dem Brunnen herauf, der Menschenleib ist ja der tiefste Brunnen der Welt, mir ist so was nie begegnet, mir war zumut wie . . . na wie soll ichs denn sagen, genau wie dem gewissen Rafael ohne Hände. Was kann mir die Gabe nützen, wenn sie mir andrerseits alle meine Wissenslücken, guter Gott, Lücken! gähnende Schlünde! wenn sie mich meine himmelschreiende Ignoranz hundertfach fühlen läßt? Besitz ich nicht wenigstens das Ungefähr von dem was zur Stunde gewußt wird und gelernt werden kann, so bleib ich auf ewig was ich bin, nämlich ein Tropf und Scharlatan. Glauben Sie mir, Marie, das ist die Wahrheit. Man bringts ja nicht einmal so weit, zu wissen, was man nicht weiß. Plätschern, schwimmen, raten; schauderhaft.«

Endlich erkannte Marie seine Not. Sie mußte an Irlens Wort von der Eisdecke denken. Was sollte sie erwidern; die Hilflosigkeit krampfte ihr das Herz zusammen. Im zaghaften Verlangen ihn zu trösten oder nur zu bedeuten, daß sie da sei, ein mitempfindender Mensch, strich sie ihm mit der Hand über den Rockärmel. Er merkte die mutlose Bewegung gar nicht, in seiner Benommenheit, es war inzwischen finster geworden, stolperte er in den Straßengraben und arbeitete sich leise schimpfend wieder heraus. Da sagte Marie: »Das Schlimmste ist, scheint mir, in einem Zustand beharren, den man unerträglich findet.« – »Sehr richtig, kluge Frau Marie, aber wie stellen Sie sich vor, daß ich ihn ändern soll?« – »Daß Sie so fragen, wundert mich nicht. Ich glaube, jeder Mensch, der vor etwas Neuem steht, muß so fragen. Ich, ich weiß es natürlich nicht. Aber wenn Sies nicht wüßten, insgeheim wüßten, mein ich, dann hätten Sie mir ja das alles nicht gesagt. Hab ich recht oder nicht, Doktor Kerkhoven?« Nun geschah etwas ziemlich Sonderbares. Kerkhoven griff in die Tasche, holte eine Streichholzschachtel hervor, zündete eins der Hölzer an, und als es aufflammte, hielt er es Marie vor das Gesicht. Im Schein des Lichts sah er sie an, nickte ernsthaft und warf das noch brennende Holz auf die Erde. »Ich glaube, wir müssen umkehren,« sagte Marie nach einer Weile verwirrt.

 

Was sich unterdessen mit Nina Kerkhoven zutrug, ist ein trüber Teil dieses Kapitels. Sie hat längst gemerkt, daß mit ihrem Giuseppe etwas nicht stimmte. Man konnte in dieser Hinsicht nicht wachsamer sein als sie. Wachsamkeit ist vielleicht nicht die treffendste Bezeichnung, da es ein Zustand von Blutsverbundenheit war, vollkommene innere und äußere Gleichrichtung und Gleichfärbung, fast ohne Überschuß von Eigenleben. Ein solches Phänomen ist außerordentlich selten, obschon man nach allem, was über die Beziehungen zwischen den Geschlechtern geschrieben und gedichtet wird, glauben sollte, es käme alle Tage vor. Zu seiner Entfaltung bedarf es einer Atmosphäre wie sie das Wachstum der Blumen begünstigt, temperierte Wärme; Nina war durchaus ein blumenhaftes Wesen, und jene unveränderliche Wärme, die sie brauchte, die spendete ihr Joseph Kerkhoven mit seiner breiten an einen gutgeheizten Kachelofen gemahnenden Natur. Dieser Ersatz für südliche Luft und Sonne hatte sie bei der Verpflanzung in ein Klima, wo der Winter sechs Monate dauerte, wahrscheinlich vor dem sonst unvermeidlichen Seelenfrost behütet.

Sie war allgemein beliebt. Die Frauen der Nachbarschaft rühmten ihre häuslichen Tugenden, ihre Gefälligkeit und Anspruchslosigkeit. Die Männer hielten schmunzelnd mit ihrer Meinung zurück als sei ihre Zustimmung ein Preis, um den möglicherweise noch gekämpft werden könne. »Reizendes Weibchen,« schnalzten sie am Stammtisch und schleuderten einen lüsternen Jägerblick in die imaginäre Richtung des glücklichen Besitzers. Da es sich dabei um Honoratioren handelte, Beamte Gymnasial- und Universitätsprofessoren Rechtsanwälte Ärzte Ingenieure und so weiter, war die trotz ihrer Rebellenvergangenheit stockbürgerliche Nina zufrieden im Bewußtsein, daß ihr gehuldigt wurde; das geringste Mehr hätte sie chokiert. Die Italienerin lebt sich nie aus der Provinz heraus, und das Gefühl, daß eine Frau verschuldetermaßen Freiwild ist, wenn sie die Liebe ihres Gatten verliert, gehört zu ihren geheiligten Vorurteilen.

 

In der letzten Zeit hat ihr mancherlei nicht mehr gefallen. Sein Appetit hat nachgelassen, der jungenhaft gesunde Hunger, mit dem er von den Krankenvisiten nachhause gekommen ist, um erst in der Küche vergnügt zu schnuppern, il ficcanaso, und zu erspähen, was auf der Pfanne brodelte und im Topf kochte. Er hänselte sie gern mit seiner strengen Doktormiene, machte sich über ihren Eifer lustig und blies auf ihre hochroten Wangen wie man auf einen Kuchen bläst, der noch zu heiß ist, um gegessen zu werden. O er konnte furchtbar spaßig sein, dieser geliebte Giuseppe, die Leute täuschten sich sehr, wenn sie ihn für einen brontolone hielten, mit Unrecht zitterten sie vor seinen dunkeln Zaubereraugen, sie hätten nur sehen sollen, wie er strahlte, wenn sie die köstlich duftenden spaghetti al pomodoro auf seinen Teller häufte, nicht genug konnte er davon bekommen. Die Bereitung der heimischen Gerichte war freilich eine Sache, auf die sie sich verstand, es war nur in der Ordnung, daß er sie jedesmal laut belobte und eine Meisterin des Faches nannte. Aber das hat aufgehört, warum nur, Dio mio? Sie konnte die verführerischste zuppa milanese vor ihn hinstellen, seine Miene erheiterte sich kaum. Wenn ein Mann in den Speisen herumgabelt, statt herzhaft zuzugreifen, ist ihm nicht mehr zu trauen, da hat er was im Sinn, gib acht, Nina.

Die sonderbare Person; sie trieb das Achtgeben so weit, daß sie sich nächtelang wach hielt, um seinen Schlaf zu behorchen. Bei jedem Stocken seines Atems spitzte sie die Ohren und lauschte, ob er im Traum sprechen werde. Wenn sie aus seinen Armen geschlüpft war, grübelte sie stundenlang in körperlicher Unruhe über seine Zärtlichkeit nach, deren Verminderung sie angstvoll spürte, ohne doch einen andern Grund dafür gelten zu lassen als die eheliche Gewöhnung und die Sorgen des Berufs; erlaubte sie ihren Gedanken nur den kürzesten Flug in die Finsterkeit ihrer Befürchtung, so fühlte sie ihr Bleichwerden wie kalte Nässe im Gesicht und wühlte die Wangen ins Kissen, um schreckliche Vorstellungen drin zu ersticken. Horchen, horchen . . . Der schwere Schlaf, den er schlief, das schwere, widerwillige Erwachen, als ob nicht sie da wäre, als ob er nicht zu ihr erwachte . . . Allerdings ist er beim Aufstehen morgens von jeher kratzbürstig und verdrossen gewesen, allein nach einer halben Stunde hat er meistens den Humor seiner Übellaunigkeit erfaßt und sie gelegentlich im Ton einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung darüber belehrt, daß bei einem richtigen Mannsbild die matinale Verdüsterung kein Charakterdefekt, sondern Ausdruck des allgemeinen Lebensjammers sei, bloß die Windbeutel ( fanfanori) begännen ihren Tag mit Holdrio und fidibum. Derlei zweifelhafte Sprüche, verstand sie sie auch nur halb, söhnten sie mit seiner Brummigkeit wieder aus, wurden doch seine Züge mit jeder Stunde heller. Jetzt hingegen wich das trübe Gewölk überhaupt nicht mehr von seiner Stirn, sie konnte die Hände falten und stillverwundert den Kopf schütteln so viel sie wollte, er bemerkte es nicht. Was ging denn vor, daß er nach dem letzten Bissen aus dem Haus stürzte? Kaum war die Ordination zu Ende: Mantel Hut und Tasche und fort; ein paarmal hatte er sogar Patienten weggeschickt, die noch warteten. Wohin, Giuseppe, wohin, caro mio? Er zuckt die Achseln, murmelt etwas zurück. In die Anatomie? In die Poliklinik? Warum denn? Jeden Tag in den Seziersaal, ins Spital, zu Vorlesungen, wozu um Gottes willen, bist doch ohnehin ein großer Gelehrter, was willst du denn noch lernen? Da konnte er sie beim Genick packen wie man eine Katze anpackt und sich zu ihr herunterbeugen und lachen, aber in einer Art, daß sie erschrak und ängstlich die Schultern zusammenzog und, genau wie eine Katze, ein wenig miaute. Auch abends hielt es ihn nicht mehr daheim; ins bakteriologische Institut, in die Bibliothek, zu einer angesagten Nachtoperation oder viel öfter, wieder und wieder und wieder, zum Major Irlen hinaus aufs Glacis. Was ging da vor, ihr Heiligen! Blieb er jedoch zuhause oder kam er vor Mitternacht zurück, so setzte er sich ins Sprechzimmer zu den Büchern, die auf seinem Arbeitstisch nach und nach zu kleinen Türmen wuchsen, biologische Werke, psychiatrische histologische anatomische urologische dermatologische und las las las bis drei Uhr, vier Uhr früh, zeichnete exzerpierte notierte wie ein Student vor dem Examen, vergaß, daß er müde war, daß er eine Frau hatte, daß um acht Uhr die Berufsarbeit anfing. Wenn sie barfuß hinüberschlich, hinter seinen Stuhl, die Hände auf seine Schultern und ihren unbegreifenden Kummer in den Wohllaut ihrer Muttersprache legte, der ihn stets entzückt und bezwungen hatte, dann wandte er den Kopf zurück und schaute sie an wie eine Fremde, die von der Gasse kommt, als wollte er sagen: wer bist du, was störst du mich, was schwatzest du, da hielt sie ihr Schluchzen zurück, senkte langsam den Kopf, und ihre Finger spielten schüchtern mit dem silbernen Amulett, das auf ihrer Brust hing, seit der Kindheit trug sie es, fest überzeugt, daß sie ihm alles Glück zu verdanken hatte, dessen sie bis jetzt teilhaftig geworden war.

Sie begriff nicht, begriff nicht und zerdachte sich das Hirn.

 


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