Jakob Wassermann
Etzel Andergast
Jakob Wassermann

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Am Tag nachher hatte Kerkhoven in der Nähe der Infanteriekaserne zu tun, als er das betreffende Haus verließ, gewahrte er wenige Schritte vor sich eine Ansammlung aufgeregter Menschen. Sie umstanden das Tor eines einstöckigen barackenähnlichen Gebäudes, vor welchem, als sollte es abgetragen werden, Leitern Bretter Schaufeln und Sandkarren herumlagen. Zwei Schutzleute wehrten die Neugierigen vom Eindringen ab, an einem Fenster des Erdgeschosses zeigte sich ein dritter, und als Kerkhoven näher kam, hörte er furchtbares Winseln aus dem offenen Fenster. Er verzögerte unwillkürlich seinen Schritt, da erkannte ihn jemand aus der Menge, ein Schreinermeister, den er behandelt hatte, und rief: »Man muß keinen Doktor mehr holen, da ist schon einer.« Die Leute machten ihm sofort Platz, er ging auf den Schutzmann zu, nannte seinen Namen und fragte, ob ärztliche Hilfe gebraucht werde. Der Beamte erwiderte, man erwarte die Sanitätsleute, vielleicht wolle er sich inzwischen das arme Weib drinnen mal ansehen, ihr besoffener Mann habe sie gänzlich zuschanden geschlagen, habe sich im Hof verbarrikadiert und drohe auf jeden zu schießen, der sich blicken lasse. Unterstützungsmannschaft, ihn zu fangen und unschädlich zu machen, werde gleich anrücken, der Herr Doktor könne aber beruhigt ins Haus gehen, das Hoftor sei abgesperrt.

Er fand eine etwa vierzigjährige Frau in Agonie. Sie lag mit einem blutnassen Hemd bekleidet auf einer schmutzigen Strohmatratze auf dem Boden. Neben der Tür standen zitternd aneinandergeschmiegt zwei Kinder, sechs- und siebenjährig, und starrten mit weit aufgerissenen Augen auf die Mutter. Der Schutzmann salutierte, als Kerkhoven eintrat, und berichtete, daß er das Mädel und den Buben aus dem Bretterverschlag im Vorplatz hervorgeholt, in den sie ihr Vater hineingestoßen hatte, um die Frau ungestört mißhandeln zu können. Tagelang sei der Kerl vom Hause fort gewesen und habe das Weib verdächtigt, ihn mit einem Schlossergesellen betrogen zu haben, grundlos, die Frau hatte bloß Sorge, wie sie für sich und die Kinder Brot schaffen solle. Typischer Eifersuchtswahn des Alkoholikers. Nachdem er drohend die Wohnung umlauert, war er in die Stube getorkelt und hatte die Frau mit dem Knotenstock niedergeschlagen. Dann kochte er sich seelenruhig eine Mehlsuppe, und sattgegessen, sperrte er die Kinder ein und griff abermals nach dem Stock. Als er aufhörte, lag ein Fetzen zuckendes Fleisch vor ihm. Mit grimmigem Mitleid deutete der Polizist hin. Kerkhoven schüttelte den Kopf, der Körper war vom Hals bis zu den Schenkeln eine einzige Wunde, der Puls kaum mehr zu spüren. Fraglich, ob sie den Transport ins Spital überleben würde. Er kniete hin.

Unter der Tür erschien ein Herr; weiße Kappe, Armbinde mit dem roten Kreuz. Hinter ihm schoben zwei Träger die Krankenbahre auf die Schwelle. Kerkhoven erhob sich, die Morphiumspritze in der Hand. Er kannte den Arzt, sie begrüßten einander. »Ich glaube, Herr Kollege, Sie können da nur noch die behördliche Leichenschau veranlassen,« sagte er. Als er in den von saurem Mörtelgeruch erfüllten Hausgang kam, drangen gerade sechs Polizisten mit entsicherten Revolvern in den Hof. In einer Regung von Vergeltungssucht folgte er ihnen. Kein Verlust, wenn eine solche Bestie niedergeknallt wurde. Der Elende hatte sich am andern Ende des Hofes in einen Schuppen geflüchtet, der aussah wie ein Gänsestall. Hinter einer Tür aus dünnen Latten kauerte er mit dem Gewehr im Anschlag. Wie sich nachher herausstellte, hatte er es in der Kaserne gestohlen und in einem leeren Kohlensack unbemerkt weggetragen. Der Lauf blitzte zwischen den Latten. Er kauerte hinter einer Kiste, ein Mensch mit schwächlichen Schultern und dem Gesicht einer Ratte. Kerkhoven dachte: man müßte sehen, ob das Vieh Appell im Leibe hat. Hinter diesem Gedanken lag etwas anderes: das Verlangen, eine Probe mit sich zu machen. Er sagte zu dem Wachtmeister: »Vielleicht kriegen wir den Burschen ohne Munitionsverschwendung. Überlassen Sie ihn mir.« Der Beamte wollte Einwendungen erheben, aber er war schon vor die Truppe getreten, ohne den Menschen eine Sekunde lang aus dem Blick zu lassen. Dabei winkte er befehlend nach rückwärts, worauf sich die Schutzleute widerstrebend unter das Tor zurückzogen. Wenn ich nachgebe, bin ich verloren, sagte sich Kerkhoven, es geht um den Kopf. Als er später Marie Bergmann den Vorgang schilderte, sagte er, es sei ihm plötzlich zumute gewesen als trüge er das im wörtlichen Sinn totgeschlagene Weib auf seinen Armen, er habe auch die Arme ein wenig vor sich hingehalten, instinktiv, wie in einer Rolle, und dem Mörder sei dies zur Vision geworden, anders habe er, Kerkhoven, sich das Gelingen des gefährlichen Wagestücks nicht erklären können. »Markmann!« rief er fest, ohne jedoch zu schreien, »tun Sie den Schießprügel weg!« Der Unhold hatte bereits den Finger am Drücker, seine Augen glitzerten tückisch, auf einmal ließ er das Gewehr sinken und glotzte stupid. »Machen Sie keine Geschichten, Markmann,« fuhr Kerkhoven fort, »kommen Sie her, kommen Sie auf der Stelle her zu mir.« War es die Stimme, oder der Blick, oder die übertragene Vision, der so Angerufene erhob sich wirklich, ließ das Gewehr fallen als seien die Hände lahm geworden, rückte mit den Knieen die Kiste beiseite, stieß, ebenfalls mit den Knieen, die Lattentür auf und schwankte einknickend mit halbgeschlossenen Augen und an der Hose herumtastenden Fingern auf Kerkhoven zu. Der drehte sich nach den Schutzleuten um, die auf ihn losstürzten. Der Wachtmeister stand vor Kerkhoven stramm und legte mit dem Ausdruck soldatischer Hochachtung die Rechte an den Helmrand.

Es hätte übel ausgehn können, dachte Kerkhoven, als er wegging, wie bin ich denn nur darauf verfallen, früher hätt ich mir so was bestimmt nicht zugetraut, offenbar vermag der Mensch viel mehr als er weiß, daß er vermag: eine Lehre, eine bemerkenswerte Lehre . . .

 

Es kam aber eine andere hinzu, von ganz verschiedener Art.

In der Altstadt, über der Brücke, im dritten Stock des sogenannten Zunfthauses, wohnte eine junge Näherin, Berta Willig, die ein uneheliches fünfjähriges Kind hatte, ein Mädchen, an dem sie mit abgöttischer Liebe hing. Durch ihren Fleiß und ihre Bescheidenheit hatte sie sich die Sympathie der ganzen Nachbarschaft erworben, sodaß kein Mensch mehr von ihrem Fehltritt sprach oder ihr den Umstand, daß sie unverheiratete Mutter war, zum Vorwurf machte, nicht einmal die frommen Kirchengänger. Wenn sie außer dem Haus beschäftigt war, was oft vorkam, nahm eine der Familien das Kind tagsüber zu sich und betreute es wie ein eigenes. Die Willig hatte viel Angst um das Kind ausgestanden, schon in den ersten Lebensjahren hatte es nicht recht gedeihen wollen, später war es alle paar Monate krank gewesen, kein Doktor hatte sagen können, woran es eigentlich fehlte. Umsomehr war sie auf der Hut, empfahl auch denen, die die kleine Anna gelegentlich beaufsichtigten, genaue Befolgung der von ihr geübten Vorsorge. Die sie näher kannten, wußten, daß sie immer Unglück gehabt hatte, mit achtzehn Jahren hatte sie in der Verzweiflung Gift genommen, auch das Verhältnis mit dem Vater des Kindes hatte auf die schnödeste Weise geendet; während sie blind an ihn glaubte, hatte er sie belogen und betrogen, ihre Ersparnisse durchgebracht und war schließlich spurlos verschwunden. Jetzt stand es so mit ihr, daß das kleine Wesen ihr einziger Halt war, sonst hatte sie nichts, nur Plage, das wußten alle Leute, und wie es im Volk manchmal geht, sie legten in dem Benehmen ihr gegenüber eine ganz besondere Nettigkeit und Hilfsbereitschaft an den Tag.

Eines Abends klagte das Mädchen über Halsschmerzen, wollte nichts essen und hatte gleich hohes Fieber. Berta war glücklicherweise zuhause, brachte es zu Bett und bat die Frau des Buchbinders, die auf demselben Gang wohnte, ihren Buben zum Kassenarzt zu schicken. Der war jedoch über Land, man wußte nicht, wann er zurück sein würde. Da erinnerte sie sich an Kerkhoven, den sie im Haus des Professors Gaupp, wo sie zuweilen nähte, ein paarmal gesehen hatte. Sie besann sich nicht lang, drückte dem Buben ein Fünfzigpfennigstück in die Hand und trug ihm auf, den Doktor Kerkhoven zu holen, die Wohnung könnte er in der Dom-Apotheke erfragen. Telephon gab es in der ganzen Gasse keines. Kerkhoven kam nach einer halben Stunde. Er stellte eine akute Mandelentzündung fest, beruhigte die aufgeregte Mutter, verordnete Umschläge, flüssige Nahrung, verschrieb ein Rezept zum Gurgeln und versprach, am andern Morgen wieder nachzuschauen. Bei der Untersuchung hatte ihm das kleine Mädchen nicht recht gefallen wollen, schwächliche Konstitution, Herzgeräusche, der Bericht der Mutter über frühere Anfälligkeit ließ auf Störung der Drüsenfunktionen schließen, doch war in alldem kein Zusammenhang mit der gegenwärtigen Erkrankung nachzuweisen, und das Bild verwischte sich wieder. Das verzieh er sich später nicht. »Man muß so ein Bild festhalten können,« sagte er immer wieder, »ob es nun ein zufälliger Eindruck oder eine Augenblickseingebung ist, wer dazu nicht fähig ist, mag ein guter Rezeptschreiber, ein guter Masseur und ein guter Krankenwärter sein, ein Arzt ist er nicht.«

Am andern Tag ging es der Patientin beträchtlich besser; »bleib nur schön im Bett liegen, Annchen,« sagte er zu ihr, »wenn du brav bist, kannst du übermorgen aufstehn, Mittwoch komm ich noch einmal, aber eigentlich brauchst du mich nicht mehr.« Das war Sonntag. Dienstag stand die Kleine wirklich auf, war fieberfrei, und Berta erlaubte ihr, trotzdem es ziemlich kühl und regnerisch war, daß sie mit einer Freundin in den Hof spielen ging. Sie selbst war den Tag über in der Arbeit, sie nähte an einer Ausstattung bei der Oberstin Warberg und kam erst abends um halb zehn nachhause. Sie fand die älteste Tochter der Buchbindersleute in ihrer Stube, Annchen lag bereits im Bett und schlief. »Ist was los, Hermine?« fragte Berta erschrocken, »sie sieht ja so blaß aus . . .« – »Gar nichts ist los,« war die Antwort, »sie war furchtbar müd, da hab ich sie schlafen gelegt.« Berta befühlte die Stirn des Kindes, die aber ganz kühl war, nur schien es ihr, daß der Atem unregelmäßig ging. Aber als Hermine berichtete, daß der Doktor, weil er in der Nähe zu tun gehabt, gegen Abend dagewesen sei und sich zufrieden geäußert habe, wich die ahnungsvolle Beklommenheit von ihr. Hermine hatte sich schon verabschiedet, da kehrte sie noch einmal zurück und sagte: »Du hast dich den ganzen Tag geplagt, Berta, du mußt deinen Schlaf haben, wenns dir recht ist, will ich bei Annchen wachen, du gehst in deine Kammer, ich bleib hier auf dem Sofa.« Berta wollte zuerst nichts davon wissen, aber weil sie sich in der Tat kaum auf den Beinen halten konnte, gab sie nach und ließ sich nur von Hermine versprechen, daß sie sie bei Tagesgrauen wecke. Hermine stellte ein Lämpchen auf den Ofen, bis Mitternacht hielt sie sich halbwegs munter, dann schlummerte sie ein. Als sie erwachte, stand Berta im Hemd auf der Schwelle zum Nebenzimmer. »Ich hörs gar nicht schnaufen,« flüsterte sie. Beide traten an das Bett des Kindes. Das Gesicht war kreidig entfärbt, die Brust atmete nicht, nur die Nasenflügel bewegten sich, was die Ärzte als flachen Atem bezeichnen. »Da ist was, Hermine,« keuchte Berta angstvoll, »heb seinen Kopf, da ist was.« Hermine ergriff das Kind an den Schultern, es rührte sich eiskalt an, bei dem Versuch, es aufzuheben, knickte der Kopf wie gebrochen zurück, und an den Lippen zeigte sich weißlicher Schaum. Ein gräßlicher Schrei gellte durch das Haus. Berta brach in die Knie und heulte: »Der Doktor! Der Doktor soll kommen.«

Als Kerkhoven erschien, er war gleich mit der verstörten Hermine gegangen, war das Kind bereits tot. Die Ursache war ziemlich klar: Herzmuskelschwäche durch Infektion. Allerdings auf einer abnorm geminderten Widerstandskraft des Organismus beruhend. Das war es eben, das war es. »Ich habe keinen Fehler begangen,« sagte er später zu Nina, die ihn mit schlechten Gründen trösten wollte, »hunderte solcher Fälle verlaufen gutartig, ich war nur talentlos und gottverlassen.« Das Ereignis brachte das ganze Viertel in Aufregung. Von morgens bis abends pilgerten ununterbrochen Frauen zu Berta Willig. Zu Dutzenden standen sie in der Stube und auf der Treppe und weinten. Sie begriffen alle, daß da jeder Zuspruch Anmaßung und Überhebung sei. Es war ein Trauertag der Mütter. Kerkhoven schickte auch Nina hin. »Das ist keine Leidtragende mehr,« sagte er, »die ist noch ärger geschlagen als das Weib von dem Markmann.« Sie lag sechsunddreißig Stunden stocksteif, mit stieren Augen. Zu Marie Bergmann sagte Kerkhoven: »Wenn Sie etwas für mich tun wollen, nehmen Sie sich der armen Person ein bißchen an.« Als Marie, voller Zaghaftigkeit, in das alte Zunfthaus ging und die Wohnung Bertas betrat, war Kerkhoven gerade bei ihr. Der liebreiche Ernst, mit dem er der Unglücklichen zuredete, machte einen tiefen Eindruck auf sie.

 

Abends bei Irlen. Als Kerkhoven kam, saß dieser mit einem Buch bei der Lampe. Er blickte innerlich beschäftigt empor. »Was Sie neulich von der Erleuchtung sagten, hat mir zu denken gegeben,« redete er Kerkhoven an; »da lese ich eben eine Stelle im Paracelsus, die müssen Sie hören.« Er las vor: »Es ist mit den Dingen des Irrsals gleich wie mit dem falschen Glauben, da nicht ein jeglicher, der da spricht: ›Herr, Herr‹ wird erhört. Das ist wie wenn du kein Arzt bist und gebrauchst dich des doch. So du dein Experiment nimmst und sagst: tue das, tue das, es tut es aber nicht, denn die Arznei erhört dich nicht, bist du nicht der rechte Hirt zu diesen Schafen. Die Kranken müssen den Arzt haben, deshalb müssen sie ihn auch erkennen, denn er ist ihnen beschaffen. Darum allein der, so da beruft wird, ein Arzt ist, demselbigen wächst die Arznei aus der Erden, sie kennt ihn und hat ihn zu setzen und zu entsetzen. Der Mensch wird erlernt von der großen Welt und nicht aus dem Menschen. Da ist die Konkordanz, die den Arzt ganz macht: so er die Welt erkennt und aus ihr den Menschen, welche ein gleich Ding sind und nicht zwei.«

»Sie lesen mir das vor, und dabei blättern Sie mich um als wäre ich selber ein Buch, sonderbar,« sagte Kerkhoven still. Irlen erwiderte in beiläufigem Ton: »Ja, für diesen Geist existieren die Jahrhunderte nicht. Sie merken natürlich, daß er unter Arznei allen Arztbehelf schlechthin versteht. Aber hören Sie noch das: ›Jegliche Form ist äußerlich in der Nahrung in allem Aufwachsen, so wir die nicht haben, wachsen wir nimmer auf, sondern sterben in verlassener Form. Denn in uns ist ein Wesen gleicherweise wie ein Feuer, es verzehrt uns unsere Form und Bild hinweg. So wir nichts hinzutäten und die Form unseres Leibes mehrten, so stürbe es in verlassener Bildnis. Darum müssen wir uns selbst essen, auf daß wir nicht sterben aus Gebresten der Form. Darum essen wir unsere Finger Blut Fleisch Füß Hirn Herz. Darauf nun wisset, daß jegliche Kreatur zwiefach ist: die ein aus dem Spermate, die andere aus der Nahrung. Er ist eine Kreatur selbst, die Nahrung auch eine, er hat die Freiheit der Form des Menschen, darum ist der Mensch in Verzehrung der Form gesetzt durch den Tod. Einen Leib haben wir aus Gerechtigkeit, aus Vater und Mutter, daß aber derselbige nicht sterbe und abgang, empfahen wir ihn aus Gnade, durch Bitt gegen Gott: unser täglich Brot gib uns heut, was so viel ist als: gib uns unsern täglichen Leib. Also haben wir zween Leib: der Gerechtigkeit und der Barmherzigkeit, und zwo Medizin: der Gerechtigkeit und der Barmherzigkeit . . .‹« Irlen hielt inne. Nach einer Weile sagte er: »Ihm sind Gerechtigkeit und Barmherzigkeit die Grundelemente der Form. Das ist ungeheuer tief. Die Form ist ihm der Sinn der Welt.« Kerkhoven antwortete nicht. Er sah aus als ringe er mit etwas Schwerem.

Die Frage war: wie es fassen und aus der »Begrabenheit« herausziehen. Es lag wie ein Fremdkörper in seinem Innern, verkrustet und mit den untersten Wurzeln verwachsen. Wenn er es greifen und lockern konnte, war es vielleicht wie die Befreiung von einem heimlichen Geschwür, dessen schädlichen Einflüssen er nicht genügend Beachtung geschenkt. Er mußte nur zuvor ertasten, wo es saß, er hatte bloß ein Gefühl davon, kein Wissen. Möglicherweise handelte es sich nicht allein um das eine Erlebnis, das erst in den letzten Tagen deutlich aus seiner Erinnerung emporgestiegen war wie eine versunken gewesene Insel, Ort des Schreckens allerdings, sondern außerdem um zwei oder drei andere, zum Beispiel das mit dem Epileptiker Domanek. Er müßte einmal davon reden, von dem und dann erst von dem mit der Mutter. Er hatte nie davon gesprochen. Er begegnete Irlens Blick und schöpfte Mut aus diesen Augen, die in vielen Abgründen des Lebens Erfahrung gesammelt hatten. Was Irlen betrifft, erwartete er schon lang, daß Kerkhoven sich erschließe, er war sicher, daß sich damit manche Dunkelheiten seines Wesens aufhellen würden, auch für ihn selbst. Ihn direkt aufzufordern hatte er bisher nicht gewagt, weil er spürte, daß es ein von ihm gemiedenes Gebiet war, dem sich auch ein Freund nur mit Vorsicht nähern durfte.

Aber nun war es so weit. »Ich bin unter keinem guten Stern geboren,« sagte Kerkhoven. Er saß vor dem Kamin und sprach in die Höhlung hinein. Seine Geburtsstadt war Düsseldorf. Die Familie stammte väterlicherseits aus Holland. »Mein Vater war ein geringer Mann, er wollte hoch hinaus und hatte nie Erfolg. Was er angriff, schlug fehl. Das nenn ich gering: mit aller Gewalt Türen aufmachen, zwischen denen man eingeklemmt wird. Daß er den Mut nicht verlor, wundert mich noch heute. Gering, aber mutig. Heldenhaft sogar. Es gibt unter kleinen Leuten viele Helden, man weiß nur nichts von ihnen.« Pause. Dann: »Nachdem er mit einer Erfindung, einem Bankgeschäft, einem Reisebureau und Gott weiß was noch gescheitert war, begann er eines Tages Schachteln zu fabrizieren. Er gründete eine Fabrik, das heißt er mietete einen geräumigen Schuppen, nahm Arbeiter auf und machte Schachteln. Meine Kinderjahre . . . wissen Sie was eine Kreissäge ist? Vom Kreischen der Kreissäge war meine frühe Jugend erfüllt. Sie wurde durch einen fünfpferdigen Motor betrieben, auf den mein Vater so stolz war, daß er immer mit der Zunge schnalzte, wenn er an ihm vorbeiging. Ich glaube, eine Menge sogenannte praktische Geschäftsleute sind im Grunde rührende Phantasten. Er machte also Schachteln. Kleine viereckige Holzschachteln. Jede war mit einem Bildchen beklebt: Blumen, Landschaften, idiotische Zwerge, ein Fräulein mit einem Hund. Oben stand in gebogener Schrift: remember me, unten: made in Germany. Feine Sache. Die Schachteln gingen nämlich alle nach England. Der widrigste Teil der Herstellung war, daß die Bilder schön lackiert werden mußten. Zwischen meinem siebenten und neunten Jahr habe ich nach der Schulzeit vielleicht zwanzigtausend blödsinnige Bilder lackiert. Der Pinsel mußte breit aufgesetzt und der Lack dick gestrichen werden, damit es glänzte. Meine Hände rochen beständig nach Terpentin. Remember me, made in Germany, das verfolgte mich in die Träume.« Pause. Starren ins Kaminloch. Dann: »Da ist noch etwas. Ich muß die Eindrücke auseinanderhalten. Wo wir wohnten war im Parterre eine Bierwirtschaft. Wahrscheinlich stammt daher mein Abscheu vor allem Saufen. Jede Nacht wüstes Gejohle, Messerstechereien, dann rückte die Polizei an. Das ärgste aber, jeden Samstag wurde im Hof ein Schwein geschlachtet. Das höllische Quieken ging einem durch Mark und Bein, eine lebendige Kreissäge. Bis heut hat der Samstag einen Blutgeruch für mich. Schon am Nachmittag fing ich an mich zu fürchten, im Bett zog ich die Decke über den Kopf und verstopfte mir die Ohren mit Brotkugeln. Nützte nichts, sobald das Vieh in der Todesangst schrie, wurde ich selber mitgeschlachtet. Am Sonntag starrten noch die Blutpfützen im Hof, erst Montag wurden sie fortgespült. Böse Mischung, das alles zusammen, Kreissäge, Terpentingeruch, Remember me, Schweinsgebrüll, Säufergejohl – was Gräberhaftes. Klar, nicht?«

Er stand auf, ging quer durch das Zimmer (sehr schönes Zimmer, dachte er, könnte in einem alten Palast sein), setzte sich wieder, griff nach dem Band Paracelsus auf dem Tisch, und mechanisch blätternd fuhr er fort. Die Geschichte mit Domanek. Dieser Domanek war eine Art Kommis, beim Fabrikanten Kerkhoven angestellt, für einen Bettellohn, der Bursche war auch danach. Joseph, um diese Zeit neun Jahre alt, lackierte nun zusammen mit Domanek die Made in Germanys. Plumper finsterer Mensch, das Gesicht mit Pickeln besät. Eines Tages redet er von Mädchen, prahlt mit seinen Eroberungen und wie herrlich es in den Bordellen ist. Joseph versteht keine Silbe. Domanek platzt vor Lachen, folgt die übliche sexuelle Aufklärung, lüstern unflätig handgreiflich. Dem Kind Joseph krampfen sich vor Ekel die Eingeweide zusammen, er muß sich erbrechen. Domanek ist auf eine Leiter gestiegen, um eine Garnitur Schachteln zu holen, schaut herunter und wiehert vergnügt. Auf einmal lautes Gepolter, hochgellender Aufschrei, der Mensch stürzt von der hohen Leiter herab, windet sich wie ein Wurm auf dem Boden, das Gesicht violett, die Lippen voll Schaum, die Fäuste verkrampft, mit Armen und Beinen um sich schlagend. Es kommen Leute, man schafft ihn fort. Ein paar Tage darauf erkrankt Joseph an schwerem Scharlach. Er findet, das sei ein Glück gewesen, auf diese Weise habe er den Unflat aus sich herausgeschwitzt, sich gleichsam am Rand des Todes gesäubert. Dennoch glaubt der heutige Kerkhoven, dergleichen verschmerze sich nicht, eine bübische Enthüllung wie die, neunzig Prozent aller Männer trügen das nämliche Erlebnis als Seelenwunde mit herum. Allerdings schnitt hier die Kerbe durch die Koinzidenz mit dem Anfall besonders tief ein. Das Herunterstürzen des Menschen von der Leiter als wäre er vom Blitz getroffen (wobei er sich aber nicht im mindesten verletzte); der nach hinten gezerrte Kopf; die glasigen Pupillen, aufeinandergepreßten Kiefer, vortretenden Halsmuskeln; das zyanotische Gesicht, die Zuckungen: das Bild schraubte sich tief in die Phantasie des Knaben, vermengt mit dem unzüchtigen Eindruck, wie Männer und Weiber miteinander umgingen. Was ein Kind schweigend in sich verschließt, könne von Erwachsenen nicht ermessen werden, bemerkt er, nicht unmöglich, daß deshalb so viele Kinder eine hochmütig-verschlossene Haltung gegen Lehrer und Erzieher einnähmen. Die Domanek-Geschichte hat noch ein Nachspiel. Der Vater hatte ihn entlassen, da er nicht einen Menschen mit der fallenden Sucht im Geschäft haben wollte. Nach einiger Zeit ließ er sich aber von Domaneks Bitten erweichen und nahm ihn wieder auf. Joseph ging ihm aus dem Weg, weigerte sich auch mit ihm zu arbeiten, der Vater zwang ihn aber dazu. Alsbald nahm er wahr, daß Domanek in seinem Betragen gegen ihn wie ausgetauscht war. Die freche Überheblichkeit hatte sich in eine widerwärtig wirkende hündische Ergebenheit verwandelt. Wenn Joseph den Pinsel fallen ließ, bückte er sich eilig und hob ihn auf. Jeden Tag wollte er sein Vesperbrot mit ihm teilen. Wenn der Knabe müd wurde, drängte er ihn, sich auszuruhen, und übernahm sein Quantum Arbeit. Hundert solche Dinge. Joseph ließ sich alles ohne Dank gefallen. Eines Tages im Juli, er vergaß den Tag nicht, es war sehr heiß, die Säge krisch wie ein tollgewordener Hengst, legt Domanek Pinsel und Schachtel weg, beugt sich über den Tisch, packt Josephs beide Hände und murmelt sonderbar störrisch: »Vergib mir, du mußt mir vergeben. Ich bin ein Dreck, und du bist ein Licht. Du scheinst auf mich Dreck herunter. Dank dir schön dafür.« Das Gerede war dem Knaben über alle Maßen grausig, er lief Hals über Kopf davon. Am andern Tag kam die Polizei und verhaftete Domanek. Er hatte ein zehnjähriges Mädchen vergewaltigt und übel zugerichtet.

 

Irlen war bis jetzt aufrecht gesessen, nun legte er sich auf den Diwan. Er verspürte leichten Schwindel. Kerkhoven schaute ihn besorgt an, er sagte, es sei wohl genug für heute, doch Irlen machte eine dringlich verneinende Bewegung mit der Hand, und die Art, wie er Kerkhoven nicht aus den Augen ließ, gab diesem zu verstehen, daß er es als eine schlecht angebrachte Rücksicht betrachten würde, wenn er in diesem Moment abbräche. Bisweilen streifte er Kerkhoven mit einem eindringlich forschenden Blick. Es war etwas an dem Mann, was ihm je mehr zu denken gab, je länger er ihn kannte. Derart als entfernte er sich von einem, wenn man sich ihm näherte. Manchmal glaubte man alles von ihm zu wissen, und er war einem heimlich und vertraut, plötzlich sagte oder tat oder verschwieg er etwas, wodurch er alsbald rätselhaft wurde und alle Urteile, die man sich über ihn gebildet hatte, fragwürdig machte. Die meisten Menschen, mit denen Irlen umging, hatte er nach kurzer Zeit überblickt, er kannte sie gewissermaßen auswendig, sie hatten die und die eingelebten Gewohnheiten Talente Launen und Fehler; bei Kerkhoven war das in beunruhigender Weise anders, woher mochte es rühren? Warum war er nicht zu »überblicken«? Vielleicht, weil sein Leben sich nicht in der Fläche ausdehnte, sondern in der dritten Dimension. Eine Kugel kann man nicht »überblicken«, sie bietet dem Auge immer nur Teilansichten. Vielleicht war das der Grund, daß einem die eine Seite von ihm wohlbekannt sein konnte und die andere, wie beim Mond, ganz und gar fremd; und dies bewirkte wohl auch den Eindruck von raumhafter Persönlichkeit, von Volumen und Geheimnis . . .

 

Jetzt begann er von der Mutter zu reden. Sie war das entscheidende Erlebnis des Knaben obschon er es nicht ausdrücklich sagte, es ging nur aus seiner Erzählung und der Haltung dabei hervor. Der Tag, an dem er sie in der Irrenanstalt besuchte, um sein dreizehntes Jahr herum, war das Ende unbewußter Kindheit, das Erwachen zur Wirklichkeit der Welt. Der Vater war um diese Zeit schon gestorben, er hatte sich totgearbeitet, wie alle Leute von ihm sagten, die Arbeit war sein Brandmal. In der bürgerlichen Ära gibt oder gab es Männer, denen die Erwerbsarbeit heilig ist oder war wie den mittelalterlichen Menschen der religiöse Dienst. Bei seinem Tod war die Mutter schon das zweite Jahr in der Anstalt. Kerkhoven bezeichnete sie als eine äußerst gutmütige Frau. Sie war aus einem westfälischen Pfarrhaus, als Mädchen war sie eine Zeitlang in Gefahr gewesen, sich in pietistischen Grübeleien zu verlieren. Allmählich hatte sich in ihr die fixe Idee festgesetzt, daß sie ausersehen sei, das Glück ihrer Kinder zu begründen, da ihr Mann hiezu nicht imstande war. Bisher hatte Kerkhoven nie erwähnt, daß er Geschwister habe, zwei Brüder, er gab zu, daß er sich nicht um sie kümmerte und nicht einmal wußte, wo sie lebten und wie es ihnen ging, eigentümlicher Zug, auch dies. Die beständigen Mißerfolge des Mannes und die zunehmende Verarmung brachten nach und nach ihren Geist aus dem Gleichgewicht. Sie legte heimlich Geld zurück und bewahrte es in alten Strümpfen auf, um den Söhnen ein Vermögen zu hinterlassen. Fünfhundert Mark für jeden wollte sie ersparen, doch sobald sie hundert beisammenhatte, verspielte sie alles, entweder in einer ausländischen Lotterie, oder sie fiel irgendwelchen Schwindlern, spanischen Schatzgräbern, einmal sogar Falschmünzern zum Opfer. Jedes Jahr machte sie ein anderes Testament und verfügte darin über eingebildete Liegenschaften und Kapitalien, sie stand in Briefwechsel mit Wanderpredigern und Heilsaposteln, nahm an spiritistischen Sitzungen teil und glaubte fest an Geistererscheinungen. Zuerst war alles harmlos, als aber die Vermögensumstände sich von Jahr zu Jahr verschlechterten, artete in Wahn aus, was anfangs nur Leichtgläubigkeit und mißleitete Geschäftigkeit gewesen war. Joseph war ihr Augapfel, ihn machte sie auch zum Erfüller ihrer Träume. Er sollte reich und berühmt werden. Abendelang, halbe Nächte lang redete sie mit dem Knaben von nichts anderem. Sie war davon durchdrungen, daß er zu etwas Außerordentlichem bestimmt sei. An dieser Stelle stockte Kerkhoven und starrte düster vor sich hin. Irlen wußte sofort, woran er dachte, die Andeutungen, die ihm Kerkhoven über seine Ehe und über Nina gemacht, ließen es ihn erraten, und hier eben war es, daß er betroffener als je zuvor des unheimlichen Gleichverlaufs inne wurde, der sich bisweilen im Schicksal eines Menschen kundgibt, Wiederholung derselben Grunderlebnisse, die offenbar vom Charakter her ihren Ausgang nimmt. Wie tragisch konsequent sie sich bei aller Verschiedenheit der Naturen in diesem Fall dann bis zum Ende auswirkte, konnte freilich keiner der beiden Männer ahnen.

Das Unwesen wurde nach und nach beängstigend. Sie lief zu den Lehrern, um ihren Joseph herauszustreichen, und verfeindete sich mit jedem, der ihn nicht für ein Wunder an Begabung erklären wollte. Sie bemühte sich, ihm Stipendien zu verschaffen und sein zukünftiges Studium sicher zu stellen, belästigte die Verwandten, die Behörden, die Rektoren und Verwaltungen. Sie zeigte seine Schulhefte herum und las in der Tramway zum Gaudium der Fahrgäste seine deutschen Aufsätze vor. Als es immer ärger mit ihr wurde, begann er sich zu wehren und aufzulehnen, sie machte ihm gräßliche Szenen und warf ihm Undankbarkeit vor. Sie sei sein Schutzgeist, rief sie emphatisch, er wisse gar nicht, wozu er erwählt sei, ihr habe es Gott offenbart. »Jeder vernünftige Mensch konnte sich ausrechnen, wohin das führen mußte,« sagte Kerkhoven, indem er die Hände im Nacken faltete und zur Decke starrte, »sie zog mir quasi den Erdboden unter den Füßen weg. Eine je größere Verantwortung sie auf mich legte, je weniger traute ich mir zu. Lobte man mich in der Schule, so wurde ich argwöhnisch. Sollt ich ein Gedicht aufsagen und ich hatt es noch so gut gelernt, ich brachte keine Silbe heraus. Wenn ich eine ernsthafte Arbeit vorhatte, zitterte ich davor, daß jemand Notiz davon nahm. Das dauerte bis in die Universitätszeit hinein, viel länger, eigentlich bis heute. Es ist heute noch nicht anders. Mein erster Impuls ist immer, wenn es jemand wirklich einfällt, was Freundliches über mich zu sagen, oder wenn ich mit Müh und Not was Diskutables zustande bringe, der erste Impuls ist immer: subtrahieren reduzieren klein machen. Damit sag ich Ihnen wahrscheinlich nichts Neues. Jeder normale Mensch hat seinen natürlichen anständigen Ehrgeiz. Meinem wurden die Flügel gebrochen damals. Es war nichts von Belang schließlich, ein Kreidestrich überm Weg. Aber diesen Kreidestrich hab ich wie ein dummer Vogel nie zu überschreiten gewagt. Als der unselige Einfluß aufhörte, war es zu spät. Das Wiedersehen im Irrenhaus, gerade in der Zeit, wo ich mannbar wurde, war nicht dazu angetan, mich zu befreien. Ich habe zu erzählen vergessen, daß der geistige Zusammenbruch bei ihr erfolgte, als die Fabrik des Vaters niederbrannte. Es war in der Nacht, sie lief laut singend in das brennende Gebäude, es fehlte nicht viel und sie wäre im Rauch erstickt. Da brachte man sie in die Anstalt. Als ich konfirmiert werden sollte, zweieinhalb Jahre später, wollte sie mich sehen. Die Frau meines Vormunds fuhr mit mir hin. Großartige Idee, das. Kein Mensch nahm Anstoß daran. In der Provinz sind die Menschen in solchen Dingen absolut hirnlos. Die Konfrontierung war nicht gerade das Wünschenswerte für mich. Schon das Haus. Ich mußte lange warten und schaute vom Flur aus in den Hof. Ein hohes Fenster, ich seh es noch vor mir. Seh auch die Männer unten, der Hof gehörte zur Männerabteilung. Einer mit braunem Vollbart machte unaufhörlich großartige Gesten wie ein Schmierenschauspieler. Dabei ging er allein auf und ab. Ein Rothaariger stand vornübergebogen wie versteinert, die Arme hingen schlaff, die wasserhellen Augen stierten unbeweglich auf einen Punkt in der Mauer. Er rührte sich nicht. Es waren vielleicht dreißig Leute, ich konnte die Augen nicht von ihnen abwenden. Sie erschienen mir wie Wachsfiguren, die man ein bißchen lebendig gemacht hat. Noch stärker hatte ich diesen Eindruck in den Weibersälen, durch die wir dann gingen. Die ruhige Abteilung. Manche lasen in zerfetzten Zeitschriften. Sie blickten auf und gafften mich erbittert an. Eine folgte uns nach und ging immer rings um uns herum, so ein freches Schleichen wars. An eine Schwarzhaarige entsinn ich mich auch, die auf einem Schemel hockte, die Ellbogen im Schoß, mit diesen Augen, in denen nichts drin ist als der Jammer der Kreatur, und der ist leer. Alle seh ich noch heute vor mir. Die Große, Schlanke, die ohne Unterlaß um den Tisch rannte; und die, die verschlagen in sich hineinlachte, wie wenn alle andern darauf brennen müßten, zu erfahren, was sie verschwieg, und sie dächte bei sich: ihr könnt lang warten. Es hat einen bestimmten Grund, daß ich mich so ausführlich darüber verbreite. Sie können sich kaum vorstellen, was das für mich war . . . ich spreche nicht von der Erschütterung, obwohl die auch . . . aber ich hatte doch schon einen dunklen Begriff von dem, was ich werden wollte . . . An dem Tag wurde mir der wahnsinnige Mensch . . . wie soll ich sagen . . . ein Wesen, das Gott am Weg liegen gelassen hat . . . Nein, besser so: ein Rechenfehler der Natur, und man kann ihn ausbessern. Durch Gnade freilich, durch besondere Gnade. Ich stand damals unter dem Eindruck, daß die Gnade dazu gehörte. Eine Zeitlang, als Student, wenn ich nach Wunsch hätte wählen können . . . zur Psychiatrie fühlte ich die meiste Berufung. Später hatte ich den Mut nicht. Ich traute mich nicht so weit vor. Fürchtete mich quasi vor der Seele. Der Kreidestrich . . . Sie verstehen. Nun, um zum Schluß zu kommen: als ich in das Zimmer trat, wo meine Mutter war, erkannte ich sie nicht gleich. Sie saß in einem Ohrenstuhl, breit hingegossen, die Haare hingen aufgelöst zu beiden Seiten bis auf den Boden, so breitete sie die Arme nach mir, stieß einen Schrei aus wie wenn der Erlöser in Person gekommen wäre, überschüttete mich mit Liebkosungen . . . aber wozu das ausmalen, die hochtrabenden Reden, das triumphierende Herumblicken als wäre das Zimmer voller Menschen, denen sie mich endlich zeigen konnte . . . wozu das . . . es war schließlich zu früh für den Abgrund . . . es hätte noch Zeit gehabt . . . zu früh für dieses Negativ der Menschenwelt . . . man hätte mich nicht hinlassen dürfen . . . es frißt sich zu tief ein . . . man überwindet es nicht wie den Scharlach . . . geritzt, vernarbt, ja . . . aber es geht zu sehr die Barmherzigkeit an und bleibt zu weit weg von der Gerechtigkeit, um mit Ihrem Paracelsus zu sprechen. Man ist ein Gezeichneter. Finden Sie nicht, daß man ein Gezeichneter ist?« – »Allerdings,« sagte Irlen nach langem Schweigen, »wer durch die Hölle geht, wird von ihr gezeichnet. Aber so ein Wort, ist es nicht eine theologische Verirrung, lieber Freund? Zeichnet dich das Schicksal, Joseph Kerkhoven, so zeichnet es dich aus . . .« Er sah rasch empor, fast herrisch. In Kerkhovens Gesicht ging eine Veränderung vor wie bei einem kleinen Jungen, der unerwarteterweise eine Taschenuhr geschenkt bekommt. »Du?« fragte er überrascht. Irlen nickte und streckte die offene Hand über den Tisch. »Das freilich . . . widerlegt mich,« sagte Kerkhoven mit zuckendem Unterkiefer und gab seine Hand schwer und bedächtig in die Irlens, dann, mit einem Anflug schmerzlichen Humors: »Jetzt müßte man sich vielleicht vergewissern, ob mit dem Joseph Kerkhoven was los ist oder nicht.«

 

In dieser Stunde empfand Irlen seine Krankheit als das Geschenk einer unergründlich weisen Fügung.


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