Jakob Wassermann
Etzel Andergast
Jakob Wassermann

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Anfangs leugnete sie, mit Lorriner überhaupt zu tun gehabt zu haben. Sie habe ihn ein paarmal bei Nell Marschall gesehen, wo sie ihn auch kennengelernt, das sei alles. Das Gerücht über die Dokumente gehe auf ihren freundschaftlichen Verkehr mit einem Generalstabsoffizier der Reichswehr zurück, dessen Name in einem Spionageprozeß viel genannt worden sei. Etzel konnte ihr jedoch beweisen, daß sie innerhalb einer gewissen Zeit fast täglich mit Lorriner beisammengewesen war. Und daß sie außer mit jenem Offizier auch mit einem berüchtigten Spitzel, der im Sold einer Rechtsfraktion stehe, lebhaft verkehrt habe. Zum Beispiel sei sie mit ihm in Leipzig gesehen worden. Sie preßte trotzig die Lippen aufeinander. Sie sagte, es könne bald der Moment kommen, wo sie seiner Impertinenz satt sei, dann werde sie ihn im Bogen hinauswerfen. Er schaute sie groß an. »So,« sagte er. Mit kurzem gestoßenen o. Weiter nichts. Sie kannte den Grund seiner Hartnäckigkeit. Eines Tages riß ihr die Geduld. »Dein Lorriner ist ein Schwein,« fuhr sie ihn an, »ich laß ihn grüßen und ihm sagen, er ist ein Schwein. Wenn du dann noch weiter vor ihm auf den Knieen rutschen und ihn als gottähnlich verehren willst, weißt du wenigstens, wie ich darüber denke.« Und in der unverkennbaren Absicht, Etzel alle Illusionen auf einmal zu rauben, setzte sie ihm mit grausamem Hohn auseinander, daß Lorriner die Papiere für zehntausend Mark ausgeliefert habe, einen genauen Umsturzplan mit topographischen Karten und einer Proskriptionsliste, die vierhundert Namen enthielt. Etzel blieb ruhig. »Aufgelegter Schwindel, Spatz. Erstens, was soll Lorriner mit dem Geld gemacht haben, wo soll es hingekommen sein? für sich hat er jedenfalls keine Verwendung dafür. Zweitens ist er einer solchen Gemeinheit nicht fähig, das weiß jedes Kind, auch nicht, wenn man ihn vorher in Alkohol legt. Was steckt dahinter? Rede, Spatz, oder du wirst es bedauern. Wirklich, du wirst es bedauern.« Sie sagte: »Schluß mit Jubel. Drohen kannst du deiner Waschfrau.« Er redete ihr ins Gewissen. Er schmeichelte, er verlangte Angaben im einzelnen und hielt ihr deren Unwahrscheinlichkeit vor, bis sie schließlich in die Enge getrieben zugab, es habe sich nicht um eine so große Summe gehandelt, es sei ein Gedächtnisfehler. Kurzum, die zehntausend Mark schrumpften auf fünfhundert zusammen. Etzel lachte ihr ins Gesicht. »Und du meinst, ich soll glauben, ein Lorriner verkauft seine Seele für fünfhundert Mark?« rief er. »Was steckt dahinter, Spatz, was steckt dahinter?« Sie beharrte. Sie könne nichts anderes sagen. Er habe sich damals in einer scheußlichen Klemme befunden, Gelder, auf die er seit Monaten gewartet, seien ausgeblieben, eine Familie, der er Unterstützung versprochen, sei am Hungertod gewesen, er selber krank, kaum imstande sich aufrecht zu erhalten. Es klang zumindest plausibel. Ob er ihr die Originaldokumente übergeben habe? oder nur Abschriften? oder sie nur Einblick habe nehmen lassen? forschte Etzel wie ein Untersuchungsrichter. Sie wand sich und wollte sich nicht mehr erinnern können.

Was steckte also dahinter? Der Plan, den er schon bei dieser Gelegenheit erwog und den dann Lorriner, mit einer Geste bloß, aber wild genug zurückwies, nämlich ihn Emma gegenüberzustellen, ließ sich nicht durchführen. Da hätte er ihn und sie gefesselt zueinander bringen müssen. So viel war ihm alsbald klar: auf Seiten Lorriners war eine unsinnige, geradezu verrückte Leidenschaft im Spiel. Müde der billigen Eroberungen und einer Gleichförmigkeit der Abenteuer, die seiner trüb und unruhig flackernden Sinnlichkeit keine neue Nahrung mehr gab, war ihm Emma (Tänzerin! Künstlerin!) wie die Erscheinung aus einer andern Welt in den Weg getreten. Daß der finstere, in seinen Trieben so eindeutige Mensch bei der kapriziösen, herzenskühlen und gesellschaftlich streberhaften Emma kein Gehör gefunden, daß sie seine Huldigungen verlacht, sein Werben verspottet und ihn zuletzt, da ihr jede Art von Besessenheit schreckhaft und zuwider war, hart hatte ablaufen lassen, daran war nicht zu zweifeln, es ließ sich aus den Charakteren rekonstruieren. Nicht ganz erklärlich war ihr unversöhnlicher Haß gegen ihn. Ihr war ja nichts zuleide geschehen, ihm hatte sie Leid zugefügt, und im Übermaß, nicht nur indem sie sich ihm in einer Weise verweigert hatte als wäre sie ein unnahbarer Engel (daher rührte wohl auch die schwärmerische und reichlich komische Überzeugung Nell Marschalls von ihrer »Unschuld«), sondern auch dadurch, daß sie sich zum Lockvogel bei einer politischen Zettelung gemacht und allen Widerwillen vergessen hatte, um sich zur Delila herzugeben, die einen unbequemen Simson entmannt. Es sah beinahe aus als habe sie nebst diesem niedrigen Auftrag noch den andern erhalten, ihre beleidigten und geschändeten Schwestern an ihm zu rächen. So was gibt es. Es gibt Solidarität des Geschlechts. Da hätte er ja dann seinen Lohn dahin, sagt sich Etzel, Don Quichotte der Gerechtigkeit, der er ist. Wenn er es auch um keinen Preis wahrhaben will, daß Lorriner, wie Emma behauptet, ein Unheil für die Welt und insbesondere sein, Etzel Andergasts, Verhängnis sei, in der einen Sache, wo sie selber nicht weiß, daß sie ein Werkzeug der Vergeltung ist, muß er still sein und die Augen niederschlagen. Er kann sich nicht recht rühren. Er kommt unter die Räder und wird überfahren.

 

Nun die Ereignisse, die zu Roderich Lüttgens Selbstmord führten. Zwei oder drei Tage nach der Auseinandersetzung mit Lorriner, in deren Verlauf er hatte zugeben müssen, daß er in Verbindung mit Emma Sperling stehe, fiel Etzel das gedrückte Wesen Roderichs auf. Direkte Fragen und freundschaftliches Zurredestellen hatten zunächst keinen Erfolg, der andere verschloß sich ängstlich. Er mußte seine gewohnten Umwege gehen und sich aufs Beobachten verlegen. Da ergab sich denn, daß der Mensch heillos in Emma Sperling verschossen war. Auch der. Wie die alle hineinsausten. Betrübliche Duplizität. Man kann doch nicht die Kinderfrau machen. Der Teufel hol dich, Spatz. An jenem Abend in der Bar war das Malheur geschehen. Von da an war er jeden Abend, an dem sie auftrat, im Theater. Nach der Vorstellung wartete er zwischen Ladenmädchen Handlungsdienern und ähnlichen Enthusiasten am Bühnenausgang, um sie im Vorüberhuschen zu sehen. Täglich schickte er ihr, ohne sich zu nennen, Blumen in die Garderobe, eine Ausgabe, die über seine Verhältnisse ging. Durch Jessie Tinius, die sich nun mit seiner brüderlichen Freundschaft begnügen mußte, wurde er in die Siedlung eingeführt und machte die Bekanntschaft Eleanor Marschalls. Eines Tages traf er Emma bei ihr. Sie beachtete ihn kaum. Sie kam ziemlich regelmäßig zu Nell, das heißt dorthin, wo Nell war, mit dieser konnte man nicht allein sein, stets war eine Korona von Anhängern Helfern und Hilfesuchenden um sie versammelt. Lüttgens fehlte nie. Er saß in einem Winkel und sprach kein Wort. Für ihn war nur Emma vorhanden. Je mehr seine Verliebtheit wuchs, je aussichtsloser erschien sie ihm. Er beging die üblichen Dummheiten, schrieb Briefe von zwanzig Seiten Länge, die er nicht abzuschicken wagte, stand halbe Nächte vor ihrem Haus in der Matthäikirchstraße und schaute zu den Fenstern empor, machte Gedichte und kaufte alle Bilder von ihr, deren er habhaft werden konnte. Doch es war ein tiefes Gefühl, eins, das den Menschen trägt und wandelt, nicht sinnliche Behexung wie bei Lorriner, noch weniger eine verspätete Jugendtorheit. Das eben übersah Etzel, als er wußte, wie es um den Freund stand, denn schließlich eröffnete sich ihm Roderich doch. Merkwürdiges Geständnis, er lag auf dem Bett, die Hände im Nacken gefaltet, und sagte, wie ihm zu Sinn sei, die Zukunft verdunkelt, das Herz wund, ganz ganz hoffnungslos, aber bei alledem war er gefaßt, beinah heiter und nahm es als Schicksal. So hatte Etzel eine kleine Entschuldigung dafür, daß er die Art dieser Ergriffenheit so leichtfertig verkannte. Ihm war dergleichen nie passiert und würde ihm wahrscheinlich nie passieren, folglich sah er keine Realität darin. Jedoch dauerte ihn Roderich, er tröstete ihn nach Kräften und machte ihn aufhorchen, als er ihm sagte, er solle nicht den Kopf hängen lassen, er, Etzel, halte es durchaus nicht für ausgeschlossen, daß ihm geholfen werden könne. Andern Tags sagte er zu Emma Sperling: »Du, Spatz, da ist einer, ein sehr guter Freund von mir, der verliert aus Liebe zu dir den Verstand, nimm dich doch ein bißchen seiner an.« Am folgenden Sonntag, nach dem Theater, brachte er Roderich zu ihr. Emma hatte unterdessen erfahren, daß Lüttgens der Unbekannte war, der ihr so oft Blumen geschickt, das rührte sie. Es stimmte sie gnädig. Sie sah einen jungen Menschen vor sich, dem sie alles bedeutete, was es Hohes und Schönes auf der Welt gibt, dessen Gesicht ein einziges Leuchten war, wenn sie ihn bloß anschaute, der zudem nach was aussah und einen populären Namen trug; schmeichelhaft. Sie fand es über die Maßen spaßig, daß Andergast sich so eifrig für den Freund einsetzte, in frivoler Gefallsucht schürte sie die Glut, statt sie niederzuhalten, gewährte kleine Freiheiten, entzog sich wieder, und einmal, als mehrere Freunde, die den Abend bei ihr verbracht hatten, gegangen waren, gab sie ihm ein Zeichen und behielt ihn bei sich. Damit war auch schon alles zu Ende. Sie empfing ihn nicht mehr. Sie wollte ihn nicht mehr sehen, wollte nichts mehr von ihm hören. Etzel fragte sie verwundert, was denn vorgefallen sei, weshalb sie ihm ohne ersichtlichen Grund den Laufpaß gegeben. Sie erwiderte brutal: »Soll ich ihn vielleicht zu meinem Favoriten auf Lebenszeit ernennen, deinen verliebten Kapaun? Leute mit Nervenkrisen gehören ins Sanatorium und nicht zu mir ins Bett.« – »Versteh ich nicht, Spatz. Er hat doch ein Mädel. Du hättest Geduld mit ihm haben sollen . . .« Da lachte sie wie toll, warf sich in den Handstand und baumelte mit den Beinen vor seiner Nase herum, daß er zurückfuhr. »Laßt wohlbeleibte Männer um mich sein, die nachts gut lieben, und keine hysterischen Schulbuben,« quäkste sie ihm vom Boden herauf zu.

Lüttgens war zwei Tage lang verschwunden. Er hatte einen Zettel in Etzels Stube gelegt, worin er ihn bat, den Eltern gegenüber sein Wegbleiben mit einer Ausrede zu erklären. Als Etzel ihn wiedersah, war er fast nicht zu erkennen. Schlottrig, hohlwangig, wie einer, der ein Verbrechen auf dem Gewissen hat, kam er ins Zimmer, reichte Etzel nicht die Hand, stand da, schaute stumm vor sich hin. »Wo kommst du her?« fragte Etzel. – »Von Lorriner.« – »Von Lorriner? Ich war gestern bei ihm, er hat nicht dergleichen getan . . .« – »Ich bin erst abends zu ihm gekommen. Hab auf seinem Sofa geschlafen.« – »Und was geschieht jetzt? Du siehst aus als seist du schon wieder auf dem Sprung.« – »Nein, ich muß auf Vater warten. Hab mit ihm zu sprechen.« – »Wegen Lorriner am Ende?« – »Ja.« – »Was denn?« – »Kanns nicht sagen.« – An der Tür drehte sich Roderich wieder um, schien unschlüssig und bedrückt, fragte dann: »Sag mal, Andergast, hast du eigentlich was mit Hilde?« – »Warum?« – »Antworte zuerst.« – »Gott . . . wir haben uns ganz gern. Ist nichts Ernstes. Mach dir keine Sorgen.« – »Nichts Ernstes,« murmelte Roderich bitter, »das ist es ja . . . nichts Ernstes . . .« – »Was meinst du? Sprich dich doch aus.« – Und jener gequält, mit irrendem Blick: »Ich meine . . . weil es so ist . . . weil wir so leben . . . Nichts Ernstes . . . so gemein leben wir . . .« und mit einer Wendung ins Saloppe: »Na, behüt dich der Himmel, Alter. Können wir uns abends noch sehen?« – »Ja. Können wir.«

Zwischen fünf und sechs Uhr an diesem elften März fand das Gespräch zwischen Vater und Sohn Lüttgens statt, das auf den Entschluß Roderichs, zu sterben, nicht weniger Einfluß hatte als seine unglückliche Leidenschaft und in deren Verlauf die schrecklichen Eifersuchtsszenen, die ihm Jessie Tinius machte. Von diesem Gespräch erfuhr Etzel erst eine Woche nach der Katastrophe, eine Andeutung Hildes veranlaßt ihn, Doktor Lüttgens aufzusuchen, der um diese Zeit wieder leidlich hergestellt war und nicht zögerte, ihm den Inhalt des Gesprächs mitzuteilen. »Mein Sohn hat damals von mir verlangt, ich solle Jürgen Lorriner in meiner Zeitung rehabilitieren,« berichtete er mit seiner kränklichen verbrauchten Stimme; »Roderich war durchdrungen davon, daß es gefälschte Papiere waren, die man Lorriner herausgelockt. Lorriner scheint ihm diese Überzeugung beigebracht zu haben, so als ob es sich um eine bewußte Irreführung der Regierung gehandelt hätte. Derartige unsaubere Köder, durch die eine Partei die andere zu Unbesonnenheiten verlocken will, sind ja in unserm politischen Leben an der Tagesordnung. Auf meinen Einwand, daß in diesem Fall Lorriners eigene Leute für ihn eintreten müßten, antwortete Roderich, das habe Lorriner verschmäht, er habe selber das Tischtuch zerschnitten. Die Gründe wußte Roderich nicht, auch ich kenne sie bis heute nicht, aber um der bloßen Sensation willen und ohne schlagende Beweise konnte ich Lorriner das Blatt nicht zur Verfügung stellen. Ich bin ja verantwortlich. Sein Artikel hat mir vorgelegen. Roderich hatte ihn mir gebracht. Eine fulminante Schrift, außerordentlich geschickt in der Verteidigung wie im Angriff. Wir hätten damit möglicherweise eine bedeutende Kraft zu uns herüberziehen können. Ich hatte das Vertrauen nicht. Ich mußte ablehnen. Mein armer Junge schien sich Lorriner gegenüber verpflichtet zu haben, er geriet in schreckliche Erregung, zum erstenmal gab es zwischen uns böse Worte . . . Aber ich konnte ihm nicht zu Willen sein. Ich konnte nicht.« Er schwieg und zupfte nervös an seinem grauen Bart. Etzel erinnerte sich plötzlich an die überschäumende Lustigkeit Roderichs am letzten Abend seines Lebens. Solche Lustigkeit (oder Lust?), Aufhebung der Schwere, kommt wohl erst über den Menschen, wenn er ganz mit sich im reinen ist, dachte er. Keine Emma Sperling mehr, kein Lorriner, keine Hilde, keine Jessie, kein unerbittlicher Vater, kein blöder blinder Etzel Andergast mehr: Frieden. Unflat Dummheit Stunk und Krach im Rücken, vor sich: Frieden. Das macht offenbar lustig. Aber Roderichs Tod zeigte sich nun in einem neuen Licht, vielmehr, es kam ein Licht hinzu. Es sind eben viele Stöße nötig, um einen Menschen so weit zu bringen.

 

Vorerst konnte er weder klar denken noch planmäßig handeln. Die Katastrophe mit Roderich lag ihm in den Knochen wie eine schlecht überstandene Krankheit. Daß er so ahnungslos gewesen und dann vor der vollzogenen Tatsache mit offenem Maul gestanden war, bäh, das wurmte ihn, beschämte ihn und schraubte sein Selbstgefühl auf den Nullpunkt herunter. Wozu bin ich denn gut, klagte er in sich hinein, wenn sie sich vor meinen sehenden, allerdings miserabel sehenden Augen die Hirnschale zertrümmern, weil sie Dinge für unwiderruflich halten, die man mit einem Minimum von Grütze einrenken kann, wozu bin ich denn gut, wenn sie mir nichts dir nichts die Flinte ins Korn werfen und es nicht mal der Mühe wert finden, einem richtig Adieu zu sagen, bevor sie sich trollen. Kurzum, seine Verzweiflung war groß, viel größer als er merken ließ und als sogar Kerkhoven ermaß. Lorriner war für ein paar Tage nach Hamburg gefahren, er kam von dort mit den fertigen Plänen zu dem Putsch in Neukölln zurück, von dem gleich die Rede sein wird und der der mittelbare Anlaß zu der schweren Kopfwunde war, mit der Etzel in die Anstalt Kerkhovens flüchtete. Es dauerte ziemlich lang, bis er Lorriners habhaft wurde, es schien als ginge ihm der geflissentlich aus dem Weg. In der Tat wechselte Lorriner während dieser Zeit dreimal seine Wohnung, wahrscheinlich, um sich den polizeilichen Recherchen zu entziehen. Als er sich in der Glasgower Straße eingemietet hatte, kamen viele Leute zu ihm, die nicht aussahen als sei es ihnen um ein Plauderstündchen zu tun. Er hatte einen scheuen Blick und war unstet wie eine Ratte. Eines Abends, nachdem sie eine halbe Stunde in einem gewittrigen Schweigen vor einander gesessen waren, fing Etzel an, von Lüttgens zu sprechen. Da sprang Lorriner auf, packte ihn an den Schultern, schüttelte ihn, daß ihm Hören und Sehen verging, und sagte mit hohl rasselnder Stimme: »Wußte gar nicht, daß du auch Kuppelgeschäfte betreibst, du Scheißkerl. Besser, du hältst die Fresse, noch einen Ton, und die Nase sitzt hinten.« (Er hatte also Wind bekommen von der Geschichte mit Roderich und Emma Sperling, hatte es die ganze Zeit in sich hineingewürgt. Wer mochte es ihm zugetragen haben? Vielleicht war ihm auch Roderichs Zustand aufgefallen, er hatte ja solche Macht über ihn besessen, daß es ihn keine Anstrengung hatte kosten können, ihn zum Beichten zu bringen.) Etzel erhob sich. »Hände weg!« befahl er leise. »Hände weg, sag ich! Du kannst mir den Schädel einschlagen, wenn dich das freut und du mich dazu kriegst. In dem Fall hab ich mich nur vorzusehen. Aber anrühren? Anrühren wirst du mich nicht mehr. Verstanden?« Lorriner wich in geduckter Haltung zurück. »Den Schädel einschlagen?« murmelte er mit dem zerrinnenden Lächeln, »du, das ist eine glänzende Idee. Daran hab ich noch gar nicht gedacht. Sieh mal an, was das Männeken für Erleuchtungen hat.« – »Diese Alternative interessiert mich aber nicht,« fuhr Etzel trocken fort, » la guerre comme à la guerre. Was mich ausschließlich interessiert, weißt du. Solltest dus vergessen haben, so wende dich an den andern Lorriner, mit dem du zusammen schläfst. Vielleicht sagt er dirs im Schlaf.« Lorriner zog die Schultern bis an die Ohren, wollte antworten, bekam aber einen heftigen Hustenanfall. Mitten im Keuchen stieß er die Worte hervor (es klang als erbräche er sie): »Ich wollt, ich hätt dich nie erblickt. Ich wollt, du bliebst mir überhaupt vom Leibe.« – Etzel warf sich auf einen Stuhl und bohrte die Hände in die Hosentaschen. »War ja wieder ein Meisterstück von dir, den armen Lüttgens ins Trommelfeuer zu schicken,« sagte er. Lorriner fuhr herum, wagte aber nicht, etwas zu entgegnen. »Jaja,« sprach Etzel weiter, »die guten ins Töpfchen. Nützliche Sache. Man muß nur Dumme finden. Selber spielt man dann den großen Mann.« (Wir werden diese Stimme noch einmal hören, diese Tonart noch einmal, dann wird der Gehetzte, zur Raserei gebracht, versuchen, dem Bedränger den Mund zu verschließen, den Ausgang kennen wir ja.) Eine Weile herrschte Schweigen. Lorriner ging auf und ab und wischte sich mit dem Taschentuch die Stirn, die von dem Hustenanfall mit Schweiß bedeckt war. Endlich sagte er: »Von deiner Welt zu meiner Welt ist kein Weg. Das hätt ich früher begreifen müssen. Ihr tut alle nur so. Da ist und ist kein Weg.« – »Mag schon sein,« erwiderte Etzel, »dafür sorgt ihr schon selber, daß keiner ist. Der Haß kann nichts bauen.« – Lorriner blieb stehen. Er streckte die Hand aus und sagte mit abgekehrtem Gesicht: »Laß mich nicht im Stich, Mensch. Und wenn, dann nicht grad jetzt. Vielleicht wirst du mit mir zufrieden sein. Nur kneif nicht.« Zögernd ergriff Etzel die dargereichte Hand. Aber mit dem Glauben war es vorbei.

 

Es gibt Erlebnisse, die in der Erinnerung wie Visionen sind, denn die echte Vision ist der Wirklichkeit an Kraft und Dauer überlegen. Sie drücken nicht bloß eine abgeteilte Zeit und ein spezifisches Geschehen aus, sondern einen Weltzustand. Das Irreführende der Nähe vergeht, ein umfassendes Gefühl von Schicksal bleibt. Wenn Etzel später an die Stunden zurückdachte, die er, mehr hingezogen als hingehörend, mehr schauend als tätig, im schrecklichen Getümmel des Aufruhrs verbracht hatte, erschien ihm das Bild eines Menschen, und dieser Mensch war er selber, der am ungeheuern Klöppel einer ungeheuern Glocke angebunden ist und mit dem nach rechts und links an die gewaltig tönende Metallwand schwingt.

Es war eine großangelegte Aktion. Daß Lorriner auf eigne Faust gehandelt hatte, stellte sich erst heraus, als der Anschlag mißglückt war und ihm diejenigen, die sonst mit ihrer Anerkennung nicht gekargt hätten, die Verantwortung in die Schuhe schoben. Auf einen Gewaltstreich kam es ihm an. Wenn er gelang, war seine Stellung gesichert, waren seine Sünden vergessen. Aber er begann schon mit dem Fehler, daß er sich zuerst an eine auswärtige Gruppe wandte und sich von dort Unterstützungsgelder verschaffte. Die Zentralleitung fühlte sich überrumpelt. Wichtige Befehle gingen über Nebenstellen, deshalb konnten zum Beispiel die Sturmabteilungen erst viel zu spät eingesetzt werden.

Von dem was sich vorbereitete hatte Etzel keine Ahnung. Er gehörte nicht zu den Eingeweihten, man hielt ihn nicht einmal für einen Parteigänger, man ließ ihn mitlaufen. Niemand nahm Anstoß an seiner unklaren Haltung, nicht bloß, weil ihn Lorriner deckte oder irgendein anderer, der gerade was zu sagen hatte, sondern weil das eben die Form war, die alle für ihn gelten ließen, stillschweigend, jetzt wie früher. Außerdem hatte er auch hier seine Freunde, die ohne Rücksicht auf politische Anschauungen zu ihm hielten, in Familien, auf den Arbeitsstätten, unter den Stemplern. Um halb sechs kam er zu Lorriner, als dieser mit mehreren seiner Leute, äußerst entschlossen aussehenden Burschen, seine Wohnung verließ. Lorriner gab ihm einen Wink, ihnen zu folgen, unten stand ein Taxi, sie fuhren los. Von da an war alles Traum. In einer Seitengasse sind sie aus dem Wagen gestiegen, Lorriner und seine Leute sind verschwunden. Was ihm Lorriner zugerufen, hat er nicht mehr gehört. Eine tausendköpfige Menge hat ihn verschluckt, schiebt ihn weiter und weiter. Es riecht nach Kohlenrauch und Schweiß. Zuerst sind sie unheimlich ruhig, die Tausende, plötzlich steigt ein vereinigter Schrei aus der Masse empor, die Bewegung wird zum Krampf, alles stiebt nach allen Richtungen auseinander, die Straßenbeleuchtung erlischt, Etzel ist wie blind, tastet sich vorwärts, die Straße ist leer, in seinem Hirn spukt ein Reim herum, mit dem ihn seine Großmutter geneckt, als er ein kleiner Bub war: armer Etzel, ganz allein, muß in die weite Welt hinein. Panzerautos rattern in die verdunkelte Straße, die Mannschaft hochaufgerichtet, die Karabiner schußbereit im Arm. Es ist Weisung ergangen, daß in den Häusern kein Licht brennen darf, auf jeden, der sich am Fenster zeigt, wird geschossen. An den Mauern huschen Schatten entlang, in den Lichtkegeln der Scheinwerfer tauchen in fahlen Bündeln wutverzerrte Gesichter auf, Scharen von Halbwüchslingen drängen sich schrill johlend und pfeifend unter den Haustoren, auf den Dächern kauern Leiber, die sich gegen den düsterlohenden Himmel wie Aufsatzfiguren abheben, Schüsse kreuz und quer, explodierende Handgranaten, da und dort das dumpfe Kommando: Hände hoch, ein Platz, angestopft mit Ballonmützen, die tief über die Augen ihrer Besitzer gezogen sind und aussehen als trieben phantastische Pflanzen auf einem finstern Wasser. Etzel geht ziemlich ruhig, ziemlich ungerührt durch die verrückte Hölle, mehrmals hat er das Gefühl, daß ihn die Kugeln durchlöchern, ohne daß er was merkt, er hat nicht acht auf Zeit und Weg, auf einmal wird er am Arm gefaßt, es ist eine junge Person, die bei der Roten Hilfe arbeitet, er kennt sie durch Hilde Lüttgens, sie zieht ihn schweigend vorwärts, in der Bergstraße schiebt sie ihn durch eine Tür in ein Lokal. Sie nimmt wohl an, daß er sich verlaufen hat und seinen Freund Lorriner sucht; wo der sich aufhält, weiß sie. Im Winkel eines dielenartigen Raums brennen ein paar Kerzen auf einem langen Tisch, vor diesem sitzt Lorriner und schreibt. Er fertigt Befehle aus, junge Leute kommen und gehen, einige stehen um den Tisch herum, dies ist offenbar das Parteibüro, eine Art Hauptquartier, Etzel tritt an den Tisch und schaut und schaut, Hände auf dem Rücken, ein einziges Mal begegnet sein Blick dem Lorriners, und nachdem er eine ganze Weile geschaut hat, entfernt er sich wieder. Er trifft auf eine Kette von Schupoleuten, die ihn nach einigen Fragen passieren lassen, dann wandert er in tiefen Gedanken der Stadt zu. Bis Mitternacht treibt er sich planlos herum, dann fängt er an, Lorriner in verschiedenen Bars Weinstuben und Caféhäusern zu suchen, wo sie einander zu treffen gewohnt sind. Er findet ihn nirgends. Gegen drei Uhr nachts stößt er zufällig auf einen gewissen Kahlbaum, es ist einer von denen, die Lorriner am Nachmittag abgeholt haben, der teilt ihm mit, daß Lorriner in einer Kneipe in der Windhuker Straße sitzt. Er geht hin. Es ist eine räucherige Stube, eine Kellerwirtschaft, keine Seele mehr da außer Lorriner. Er hat die Ellbogen auf die schmierige Tischplatte gestützt, den Kopf zwischen den Händen, grüßt nicht einmal, als Etzel sich zu ihm setzt, stiert bloß, seine Augen sind blutunterlaufen. Eine halbe Stunde vergeht, keiner redet eine Silbe, da erscheint der Wirt und setzt sie an die Luft. Nachdem sie etwa dreihundert Meter auf der völlig verödeten Straße gegangen sind, bleibt Etzel stehen und spricht in die Stille der Nacht hinein: »Also der feurige Ofen, das ist ein unbrauchbares Möbel, den wollen wir mal in die Rumpelkammer stellen, Lorriner. Hab mirs jetzt überlegt. Sehe ein, daß es schlauer ist, in der Direktionskanzlei zu hocken und mit dem Federhalter zu kämpfen als selber auf die Barrikaden zu steigen. Eklige Sache. Kann dir das nachfühlen. Bluten sollen die andern. Dazu sind sie da.« Herausforderung sondergleichen. Ihr offener Hohn entspringt der endgiltigen unheilbaren Enttäuschung. Neuer Bruch. Neuer Absturz. Es ist einer der Momente, wo sich innere Umwälzungen vollziehen, die sich erst nach langer Zeit auswirken.

Er hat Lorriner den Weg vertreten, schaut ihn von oben bis unten an, wobei seine Lippen beben, dann macht er kehrt, um allein weiter zu gehen. Lorriner stöhnt auf. Er langt in die Tasche, zieht den Schlagring hervor, holt aus und läßt ihn dreimal mit voller Wucht auf Etzels Hinterkopf niedersausen. Als der Hingestreckte sich nicht mehr bewegt, nickt der Meuchler befriedigt. Das Nicken bedeutet: jetzt hab ich Ruhe vor dir. Dann geht er gleichmütig weiter.

Etzel lag anderthalb Stunden bewußtlos auf dem Pflaster. Der Kopf hing über den Randstein. Kein Mensch ging während dieser Zeit vorbei. Als er aus der Ohnmacht erwachte, dämmerte es. Er kroch quer über den Bürgersteig, lehnte sich an die Hausmauer, verband sich notdürftig mit seinem Taschentuch und schleppte sich langsam bis zur Afrikanischen Straße, wo ihn eine vorüberfahrende Autodroschke aufnahm.

 

In den ersten Tagen, wo er ganz still liegen mußte, war er bemüht ein wenig Ordnung in sein Inneres zu bringen. Es war sehr notwendig. Es sah aus dadrin wie in einem Magazin vor einer Versteigerung. Er dachte viel über Lorriner nach. Er empfand nicht den geringsten Groll gegen ihn. Er sagte sich: urteilt man unvoreingenommen, so hat der Mensch in berechtigter Notwehr gehandelt. Wenn einer das mir tut und mir nicht von der Pelle geht und absolut einen Arnold von Winkelried aus mir machen will, was doch schließlich ein fauler Zauber ist, reißt mir wahrscheinlich auch der Geduldsfaden; bei Licht besehen, hab ich mich aufgeführt wie ein Kamel; nichts zugelernt, die Realität der Dinge nicht begriffen. Als er so weit mit sich im reinen war, schrieb er einen Brief an Lorriner, sehr freundlich, sehr trocken, worin er ihm mitteilte, daß er den häßlichen Zwischenfall als ungeschehen betrachte, es aber im beiderseitigen Interesse für wünschenswert halte, daß sie einander nicht mehr begegneten. Dieser Entschluß wurde ihm natürlich durch den zunehmenden Einfluß, den der Umgang mit Kerkhoven und seine beruhigende Nähe auf ihn hatten, wesentlich erleichtert. Eine seltsame Verzagtheit hatte sich seiner bemächtigt, ja, es kam vor, besonders in der Nacht, daß er sich einer herzeinschnürenden Angst zu erwehren hatte als sei er dem nicht mehr gewachsen, was ihm bevorstand. Aus der Finsternis riefen Stimmen nach ihm, erst leise, dann immer lauter, erst mahnend, dann ungeduldig, dann befehlend. Er antwortete: was wollt ihr, ich bin ja da, ich kneif doch nicht, zuletzt bohrte er die Finger in die Ohren, um nicht mehr hören zu müssen. Zitternd, schweißnaß wartete er auf den Anbruch des Tages, und wenn es Tag war, wartete er sehnsüchtig auf Kerkhoven. Da er ein unglaublich feines Gehör hatte, erkannte und unterschied er seinen Schritt, sobald er den Korridor betrat, dann starrte er auf die Tür, sein Puls ging schneller und schneller, endlich öffnete sich die Tür, und die hohe Gestalt mit der wundervollen Stirn und den unsagbaren Augen erschien, ja sie erschien und verjagte den Nacht- und Dämmerspuk.

Nur der Auflockerung seines Wesens, die einen Instinktverlust bedingte, war es zuzuschreiben, daß er seinem Vorsatz, Lorriner nicht mehr zu sehen, untreu wurde und sich neuerdings in Gefahr begab, in größere als vorher. Durch Emma Sperling, die von Nell Marschall wußte, daß er in der Kerkhovenschen Anstalt war, erfuhr er, daß Lorriner sein Quartier verlassen und in der Siedlung Unterschlupf gefunden hatte. Lorriner hatte Ursache sich eine Weile zu verstecken, der Überfall auf Etzel machte ihm noch die wenigsten Sorgen; von ihm hatte er keine Anzeige zu befürchten, daß er ihn anderswie verfolgte, schloß sich aus, auch wenn er ihn nicht fürs erste knockout geschlagen hätte. Nell Marschall nahm ihn mit offenen Armen auf. Sie traf die umsichtigsten Vorkehrungen für seine Sicherheit, brachte ihn sogar, um unliebsame Begegnungen zu verhindern, in einem entlegenen Raum ihrer eigenen Wohnung unter, wo sie ihn betreute und ihm in ihren freien Stunden Gesellschaft leistete. Sie bewunderte ihn mit dem ganzen Schwung, dessen sie wie wenig andere Frauen fähig war, außerdem lebte sie in Bezug auf ihn und seine Existenz in einem Gespinnst phantasievoller Fiktionen, die mit der Wirklichkeit kaum noch etwas zu schaffen hatten. Freilich war ihr Verhältnis zu fast allen Dingen und Menschen so, durchaus illusionistisch, von einem vorsätzlichen Optimismus getragen, das hing mit ihrer amerikanischen Herkunft und Erziehung zusammen. Hätte ihr jemand den Beweis geliefert, daß sie ihre Begeisterung an einen Unwürdigen verschwende, sie hätte nur ein verächtlich-entrüstetes Lächeln dafür gehabt. Da sie ungewöhnlich klug und ebenso scharfblickend war, wußte sie vermutlich an einer heimlichen Stelle ihres Intellekts recht gut Bescheid, aber sie begehrte dieses Wissen nicht, sie ließ es nicht in sich aufkommen. Fiktion Nr. 1: Lorriner, das große politische Genie, das am Neid und an der Undankbarkeit der Zeitgenossen scheitert. Fiktion Nr. 2: dieser große Mensch nicht nur verkannt, sondern auch umdüstert von einer tragischen Liebe, die ihn zur Entsagung zwingt. Dem Gegenstand dieser Liebe galt dann logischerweise die Fiktion Nr. 3: Emma Sperling, stolzes jungfräuliches Geschöpf, dessen einziges Lebensziel die Kunst ist, rührende Nachtwandlerin, die man nicht aus ihrem holden Trancezustand reißen darf. Wer darin ein zu bestimmtem Zweck errichtetes Lügengebäude sehen wollte, ginge in der Beurteilung einer solchen Natur sehr fehl, diese Dichtungen wurden mit unheimlicher Kraft festgehalten, sie waren ein Lebensbedürfnis, und nicht allein jede Kritik, auch jede Tatsache prallte machtlos an ihnen ab. Was Emma Sperling betrifft, so ließ sie sich die Idealisierung seelenruhig und vergnügt gefallen. Es wäre unpraktisch gewesen, die Märchengestalt zu zerstören, die sie für Nell darzustellen hatte; sie war Nell verpflichtet für vielfache Förderung, sie hielt sie für unermeßlich reich und war ihr auch in ihrer tierchenhaften Weise zugetan. Ihr widersprechen war ein Ding der Unmöglichkeit, auch konnte man ihr nicht gram sein, sie war die aufopferndste Freundin und fühlte sich nur glücklich, wenn sie helfen und sich für die Ihren einsetzen konnte. Aber man mußte offen erklären, daß man zu den Ihren gehörte. Man mußte es immerfort und bei jeder Gelegenheit erklären.

Sie war vielleicht der einzige Mensch, dem Lorriner Vertrauen schenkte. Ihre Anbetung duldete er mit einem paschahaften, etwas mürrischen Ernst. Ihre Vorhaltungen über sein unvernünftiges Leben, die zerstörerische Wildheit seines Temperaments hörte er schweigend an und schien bisweilen zerknirscht. Manchmal machte er ihr schwerwiegende Geständnisse, die bis zu einem gewissen Grad aufrichtig waren und durch die er sein Verlangen nach Selbstgeißelung befriedigte. Während der zehn Tage, wo sie ihn beherbergte, war er schlimmen Depressionen ausgesetzt, die unvermittelt in heftige Erregungszustände übergingen. Sie ahnte den wahren Charakter des Leidens nicht, sprach auch mit niemand darüber. Daß zwischen ihm und Andergast eine entscheidende Auseinandersetzung stattgefunden, erwähnte er gleich am ersten Abend; es ließ ihm offenbar keine Ruhe, er kam immer wieder darauf zurück und bekannte schließlich, daß die Sache nicht eben glimpflich für den jungen Menschen geendet habe. »Wie denn?« erkundigte sie sich atemlos, »erzähle.« Da erzählte er es. Nell erschrak gewaltig. Da er sich mit dem Tatsachenbericht begnügte, ohne sich auf die Beweggründe einzulassen, und sie ihn bei aller Verhimmelung von einem verbrecherischen Anschlag nicht ganz freisprechen konnte, blieb ihr nichts übrig als die Reihe der Fiktionen um eine zu vermehren. Sie wußte von tiefgehenden Meinungsverschiedenheiten zwischen Lorriner und Andergast; ferner wußte sie, daß zwischen diesem und Emma Sperling eine Beziehung bestand, die, so unschuldig sie in Nells Augen war, dennoch für Lorriner (wie sie Lorriner sah) eine Quelle unerträglicher Seelenpein geworden sein mußte, sodaß er schließlich die Besinnung verloren und sich von dem Rivalen, in zwiefachem Sinn Rivalen, zu befreien gesucht hatte. Aus diesen beiden Motiven erwuchs die Fiktion Nr. 4: Etzel Andergast, ein satanischer Geist, mephistoähnlich, der den Freund verriet und das ätherische Märchenwesen bedrohte. Diese Redaktion der Wirklichkeit bestimmte dann ihr Verhalten in den Unterredungen mit Kerkhoven.

Der Absagebrief Etzels versetzte Lorriner in eine unbeschreibliche Wut. Mit Schaum vor dem Mund schwor er, er werde dem Dreckbuben das Genick umdrehn, der Lump müsse erledigt werden, die erste Lektion sei vorbeigelungen, die zweite werde besser glücken. Aber gerade dieser Ausbruch legte die geheimnisvollen Fäden bloß, die ihn mit Andergast verbanden. In seinem Unbewußten hatte er auf Versöhnung gehofft; der, an dem er sich menschlich messen konnte, in dessen Aug und Sinn er gleichsam auferstanden war, entzog sich, paschte ab, überließ ihn seinem lichtlosen, seinem maßlosen Geschick: übel, sehr übel, in keiner Weise auszuhalten, daneben fiel der Denkzettel nicht ins Gewicht, den er ihm gegeben, so was kommt doch mal vor unter Kameraden . . . Nell Marschall wurde äußerst besorgt. Sie sah voraus, daß Lorriner über kurz oder lang seine Freiheit wieder zu erlangen wünschte und seine Drohungen zur Tat machen würde, so wandte sie sich an Emma Sperling und trug ihr auf, Andergast zu warnen; sie fand es am ratsamsten, wenn er für einige Zeit verreiste. Emma stimmte ihr zu und besuchte Etzel in der Anstalt.

 

Auch von anderer Seite wurde Etzel bedeutet, er möge sich vor Lorriner hüten. Es stehe bedenklich mit ihm, alle seine Bekannten gingen ihm aus dem Weg. Er war in die Glasgower Straße zurückgekehrt, den Tag über sperrte er sich ein, bei Nacht strich er in den Straßen umher. Ja, das war die richtige Bezeichnung, er strich umher wie ein Wolf und suchte Etzel Andergast. Der Gedanke an Andergast beherrschte ihn ausschließlich. Allen möglichen Leuten gab er zu verstehen, daß er bald ein Ende machen werde. Es war sein Wahn. Etzel hatte keine Angst. Er lachte anfangs über die Warnungen. Es kam aber doch so, daß er sich beengt und allerorten umstellt fühlte. Etwas in ihm erschlaffte und wurde schwach. Er sagte zu sich selbst: du wirst feig, E. A. (so redete er sich oft an: E. A.), und läßt dich von einem Gespenst ins Bockshorn jagen, in dieser Tonart gehts nicht weiter. Er geriet in Verwirrung. Er hatte Halluzinationen. Es war wie ein seelischer Schwindel. Am Tag, wo er bei Kerkhovens zu Mittag war, hatte er Lorriner wissen lassen, er werde zu ihm kommen. Er mußte mit ihm »fertigwerden, so oder so«, wie er zu Marie sagte. Der Einfall, Emma Sperling mitzunehmen, kam ihm ganz zuletzt. Er zweifelte freilich an der Ausführbarkeit und war auf Emmas Weigerung gefaßt. Von dem Zweck, der damit erreicht werden sollte, hatte er nur unklare Vorstellungen. Es war wieder die alte Zwangsidee von Konfrontation. Der Gerechtigkeitsfimmel. Noch immer war die Schuld Lorriners in der Dokumentengeschichte nicht erwiesen. Wenn schon Abrechnung, dann Generalabrechnung, dachte er. Daß es sich um »Abrechnung« längst nicht mehr handelte, entging ihm in seiner Verstörtheit.

Er mußte in der Matthäikirchstraße fast eine Stunde auf Emma warten. Als sie eintrat, saß er vor einem Haufen Chrysanthemumblättern. In seiner Nervosität hatte er sieben oder acht von den großen Blüten nacheinander aus einer Vase genommen und zerrupft. Jetzt war ihm leid um die Blumen. Er hatte ihr etwas antun wollen, nicht den Blumen. Seit Roderichs Tod war sie ihm in der Seele zuwider. Er ließ ihr nicht Zeit zu ärgerlichen Bemerkungen, sprang auf und sagte ihr, weshalb er da sei. Sie war sprachlos. Seine Miene, die Stimme, der Blick schüchterten sie dermaßen ein, daß ihr Herzschlag stockte. Er packte sie am Handgelenk, um sie mit sich zu ziehen. Sie rief: »Um Himmels willen, Mensch, warte wenigstens bis ich mich bemalt habe.« Sie eilte zum Spiegel und »bemalte« sich. Sie überlegte dabei. Sie preßte die Hände an die Wangen und schaute furchtsam zu ihm zurück. Er stampfte vor Ungeduld auf den Boden. Sie sagte: »Wenn du bei Trost wärst, tät ichs nicht. Aber du bist nicht bei Trost, so mags also sein.« Neugier und Sensationslust hatten ihren Widerstand besiegt. Hätte sie den Ausgang geahnt, nichts hätte sie bewegen können, ihm zu Willen zu sein, auch nicht die Angst, die sie vor ihm empfand. Lorriner wurde erdfahl, als er ihrer ansichtig wurde. Etzel schien er zunächst gar nicht zu gewahren. Er wich langsam zum Fenster zurück, umklammerte die Klinke mit der rechten Hand, die linke streckte er gegen Etzel aus, und mit pfeifender Stimme richtete er drei Fragen an Emma, die sie alle drei mit einem kurzen Kopfnicken beantwortete. Halb machte es den Eindruck als finde sie es nicht mehr der Mühe wert, zu leugnen, halb als erliege sie der dämonischen Gewalt des Moments. In ihrer Haltung war sogar etwas Wollüstiges, eine grausame lüsterne Freude. Ja: sie hat ihn ins Netz gelockt. Ja: sie hat ihn betrunken gemacht. Ja: sie hat ihm die Papiere aus der Tasche gezogen. Schön, und? was ist dabei? Lorriner verbeugte sich unzählige Male vor ihr und begleitete jede der Verbeugungen mit einem gräßlichen Gelächter. Dann wandte er sich zu Etzel und schrie, indem er die Arme im Kreis in den Gelenken schwang: »Na, was sagst du, Baron? was sagst du zu der Hure? sieh dirs nur recht genau an, das Saumensch . . . von wegen . . . du weißt schon . . . von wegen der Integrität.« Um gleich darauf vor Emma auf die Kniee zu stürzen und vor ihren Füßen die Stirn auf den Boden zu schlagen.

Und dann kam der Anfall, der damit begann, daß er sich die Kleider vom Leib riß.


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