Jakob Wassermann
Etzel Andergast
Jakob Wassermann

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Es erscheint mir ratsam, die Erzählung Andergasts ohne Rücksicht auf mehr oder weniger interessante Einzelheiten auf ihren Kern zusammenzudrängen, da es sich hier nicht um eine Sitten- und Charakterstudie handelt, sondern um Historie. Der Leser hat dann nicht zu befürchten, daß der Vorgang stimmungsmäßig aufgebauscht und durch ein darin befangenes Medium gefärbt ist. Und was ihm an Spannung entgeht (ich komme immer mehr dahinter, daß es nichts Langweiligeres gibt als die sogenannte Spannung), gewinnt er an Überblick und rascher Folge.

In der Dienstagnacht (am Nachmittag hatte das Begräbnis von Mutter und Sohn stattgefunden, und zwar unter der Beteiligung zahlreichen Publikums) läutete gegen halb zwei das Telephon bei Lüttgens. Doktor Lüttgens hatte ein starkes Schlafmittel genommen und hörte das Signal nicht, nur Hilde war wach und ging an den Apparat. Eine matte Stimme rief klagend den Namen Roderichs, zwei- dreimal, und als Hilde beklommen und unwillig fragte, wer es sei, kam keine Antwort mehr. Zwanzig Minuten darauf schrillte die Glocke abermals, Hilde ging wieder hin, und wieder kam die Stimme und rief nach Roderich, flehend, fast wimmernd. Um Gotteswillen, wissen Sie denn nicht . . ., flüsterte Hilde bestürzt, und dann: wer sind Sie denn? wer ist es denn? Kaum vernehmlich sagte die Stimme bloß: Hilde, oh Hilde. Geisterhaft wie aus dem Jenseits. Hilde war weder abergläubisch, noch leicht in Furcht zu setzen, zuerst dachte sie an eine dumme Büberei, einen schaurigen Spaß, den sich jemand machte, der Stimme nach ein Frauenzimmer, da kam es ihr vor als habe sie die Stimme schon einmal gehört. Sie blieb eine Weile am Telephon stehen und wartete. Hierauf nahm sie den Hebel wieder auf, um sich mit der Auskunft verbinden zu lassen und in Erfahrung zu bringen, wer angerufen habe, unterließ es jedoch und sagte laut vor sich hin: das muß Jessie Tinius gewesen sein. Sie stand da, die Hand an der Stirn und überlegte. Plötzlich war ihr Entschluß gefaßt Fünf Minuten später war sie zum Ausgehen fertig, stieg in die Mansarde hinauf und klopfte an Andergasts Türe. Er war bis eins bei ihr drunten gewesen und wollte eben zu Bett gehen. Sie bat ihn um seine Begleitung. Ihr Vorhaben erklärte sie mit drei Sätzen. Er stellte keine einzige Frage, nickte bloß, schlüpfte in den Mantel, und nach einigen Minuten waren sie auf der Straße und gingen zu einem Taxistandplatz. Sie fuhren in die Nürnberger Straße. (Die Adresse hatte Hilde unlängst auf einem Brief Roderichs gelesen.) Keines sprach ein Wort. Es dauerte ziemlich lang bis ihnen das Haustor geöffnet wurde. Oben im vierten Stock, an der Tür links ein Messingschild: Carola Breitenfeld, darunter eine Visitenkarte: Jessie Tinius. Sie läuteten und läuteten. Nichts rührte sich. Erst als Andergast mit der Faust an die Tür hämmerte, schlurften Schritte. Eine schmierige Person im Nachthemd und grünem Kittel, offenbar die Dame Breitenfeld, fragte erbost, was sie zu nachtschlafender Zeit hier suchten. Ich übergehe die Verhandlungen und wie sie durch Gewaltanwendung Andergasts in Jessies Zimmer drangen. Andergast packte Hilde am Arm und hielt sie fest. Achtung, Leuchtgas, zischte er. Er stürzte in die Küche, näßte ein Handtuch an der Wasserleitung, schlug es über sein Gesicht, daß nur die Augen frei blieben, eilte so in Jessies Stube und riß die beiden Fenster auf. Sie hatten das Schlimmste gerade noch verhütet. Unter dem widrigen Gejammer und Schimpfen der Carola Breitenfeld stellten sie Wiederbelebungsversuche an, die Erfolg hatten. Andergast brauchte hiezu keinen Arzt. Seine Anweisungen waren kurz und zweckentsprechend. Um vier Uhr früh verließ er das Haus, Hilde blieb bei Jessie. Er schlief vier Stunden, unterrichtete beim Frühstück Hildes Schwester Hedwig von dem Geschehenen, und um neun war er wieder in der Nürnberger Straße. Daß Jessie nicht unbeaufsichtigt bleiben konnte, war klar. Daß man sie nicht Fremden übergeben möge, flehte sie mit aufgehobenen Händen. Spital oder Klinik war nicht mehr notwendig, sie klagte nur, Folge der Vergiftung, über quälenden Kopfschmerz und Brechreiz. Hilde war zuhause nicht entbehrlich, der Vater bedurfte ihrer, die sechzehnjährige Hedwig war hilflos ohne sie, beide Dienstmädchen waren nach dem Doppeltod in törichter Panik weggelaufen. Jessie in ihrer Wohnung bei der erbitterten Breitenfeld zu lassen war unmöglich, sobald man den Rücken wandte, würde sie den mißglückten Versuch wiederholen, und mit größerer Umsicht diesmal, ohne vorherigen Ruf ins Telephon (welche Tatsache vielleicht Zweifel an dem Ernst ihres Vorhabens wecken konnte, aber es war eine halb wahnsinnige Anwandlung gewesen, als bilde sie sich den Tod des Freundes vielleicht bloß ein, ein letztes Sichklammern an den Namen, ein Adieu und, mit einem Funken Hoffnung möglicherweise, die Kundgebung: noch leb ich, noch könnt ihr mich retten). So beschlossen Hilde und Andergast, sie ins Lüttgenssche Haus zu bringen. Hilde glaubte diese Maßnahme ihrem toten Bruder schuldig zu sein, sie handelte und fühlte genau so als ob Jessie ihre legitime Schwägerin sei, obgleich sie sie nur zweimal im Leben gesehen hatte, das erste Mal um Weihnachten auf dem Polytechnikerball, wo Roderich sie ihr als seine Freundin vorgestellt hatte, dann erst wieder beim Begräbnis, da war sie abseits gestanden, allein, im schwarzen Kleid, ganz bleich. Jessie erhob nur schwachen Einwand, zu Mittag war die Umquartierung geschehen, im Mansardenstock war neben der von Andergast bewohnten noch eine Kammer frei, dort wurde sie untergebracht, und Andergast, Hilde und Hedwig teilten sich in die Aufgabe der Überwachung, dem Doktor Lüttgens wurde die Sache aus guten Gründen verheimlicht, was nicht viel Verstellung erforderte, da er keinerlei Teilnahme für das zeigte, was um ihn vorging. Beide Töchter waren von so vielen häuslichen Pflichten in Anspruch genommen, hatten so viel Besuche zu empfangen und abzufertigen, daß Andergast den größten Teil des Tages wohl oder übel allein bei Jessie bleiben mußte und sich höchstens einmal auf eine Stunde entfernen konnte: den ganzen Mittwoch, die Nacht auf den Donnerstag, den ganzen Donnerstag und die letztvergangene Nacht. Am ersten Tag weinte sie unaufhörlich. Andergast ging entweder schweigend im Zimmer herum, oder er saß am Fenster und schwieg auch dort, mißlaunig. Was fängt man mit der Närrin an? dachte er, fatale Geschichte, von der kein Ende abzusehen ist. Wenn er sie anredete, gab sie keine Antwort und verzog nur schmerzlich das Gesicht. Gegen Abend schlief sie ein wenig, in der Nacht lag sie mit weitgeöffneten Augen da. Hilde hatte auf dem Sofa ein Notbett aufgeschlagen, aber sie hatte sich in den Kleidern aufs Bett geworfen, sich auszuziehen weigerte sie sich stumm. Am Morgen bat sie um Zigaretten und rauchte ununterbrochen so wie sie am Tag zuvor ununterbrochen geweint hatte. Einigemal machte sie Anstalten, aufzustehen und wegzugehen, Andergast bedeutete ihr unfreundlich, er könne sie nicht fortlassen. Sie fügte sich mit feindseliger Miene. Natürlich kannte sie ihn längst. Zu ihrem Verdruß hatte Roderich ihn bisweilen aufgefordert, mit ihnen beiden beisammenzusein. Sie fürchtete sich vor ihm. Sie hielt ihn für einen schlechten Menschen und behauptete, er habe einen unheilvollen Einfluß auf Roderich. Er wußte es. Er hatte ähnliche Erfahrungen schon öfter gemacht. Das Mißverständnis lag nah und verdiente Mitleid. Jetzt faßte er plötzlich Interesse für das Mädchen. Nicht bloß für den »Fall«, auch für die Person, also mit einer Zutat von Sympathie. Sie war klein und unscheinbar und hatte etwas infantiles im Wesen, aber als er einmal beim Auf- und Abwandern einen Blick auf sie warf und sie auf dem Bett kauerte, mit dem Gesicht nach unten, die Stirn auf der Armbeuge, rührte ihn der schmale Nacken, der einem entschälten Ast glich. Er fing an, darüber nachzudenken, wie man ihr helfen könne. Er konnte nicht ewig bei ihr Posten gehen und die Polizisten nachahmen, die in der Nähe gewisser Brücken patrouillieren, um bei der Hand zu sein, wenn die Selbstmörder ins Wasser springen. Es war albern, man mußte einen Ausweg aus der dummen Verlegenheit suchen und die Lüttgens-Mädels von der Last befreien. Das einzige Mittel war, ihr die krankhafte Todessucht auszureden, eine Hoffnung in ihr zu entfachen, ihr ein Ziel zu zeigen. Er erinnerte sich nun, daß ihre ganze Beziehung zu Roderich nichts anderes war als sinnliche und seelische Betäubung dieser Todessucht, der Freund hatte es ihm einmal gestanden, ich bin ihr Opiat, hatte er gesagt und dann hinzugefügt: naja, was willst du, auf diese Weise hängen wir alle aneinander, sofern wir aneinander hängen. Er legte sich einen Plan zurecht, es erwies sich aber bald, daß er die Schwierigkeit unterschätzt und sich in der Annahme geirrt hatte, er könne sie mit billigen Weisheiten bekehren. Wohl verstand er sie zu fassen, sie mit List oder Derbheit aus ihren kleinen Hinterhalten zu locken und ihre etwas beschränkten Verstocktheiten ins Lächerliche zu ziehen, er war vertraut mit der Vorstellungswelt solcher Geschöpfe, kannte ihr Idiom, ihre Vorurteile, ihren engen Lebenshorizont. Sozial betrachtet gehörte sie einem verbreiteten Typus an, Artistin mit bürgerlichen Ambitionen. Als Weib war sie mit ihrer Mischung von Gewitztheit und Unschuld, Zynismus und Opheliahaftigkeit nicht ohne Reiz für Neulinge. (Wir müssen annehmen, daß es kein geringes Erfahrungsmaterial war, das den Zwanzigjährigen zu derlei Erwägungen und Unterscheidungen führte; später werden wir sehen, wie es sich damit verhält.) Aber wie gesagt, er kam mit seiner ganzen Taktik nicht sehr weit. Er erkannte, daß die Todesentschlossenheit tiefer verwurzelt war als er geglaubt, es trat da eine aus dem Blut stammende Willenslenkung zutage, wenn man es nicht Wahn oder psychopathische Verkrampfung nennen wollte, und das dargebotene Bild war weniger das eines einzelnen Schicksals als vielmehr, auf eine für ihn nicht überraschende, obschon ihn immer wieder beunruhigende Weise, das von vielen, von schauderhaft vielen. Da genügte kein bloßes »Zureden«, keine onkelhafte Alltagslogik, genügten keine moralischen Gemeinplätze, da hieß es Kraft einsetzen, mit Umsicht handeln, und als er das erst begriffen hatte, wurde sein Ehrgeiz rege; er sagte sich: das Mädel muß ich herumkriegen, die darf mir nicht so mir nichts dir nichts entschlüpfen. Darum weigerte er sich, in seine Stube zu gehen, als ihn Hedwig in der zweiten Nacht ablösen wollte, und schickte sie mit einem gnädigen Kuß schlafen. Kurz vorher hatte Jessie wieder den Versuch gemacht, sich einer Zwangsaufsicht zu entziehen, die sie in verbissenen Trotz hineintrieb; als er sie fragte, wohin sie wolle, zuckte sie die Achseln, er gab sich den Anschein als hätte er nichts dagegen, daß sie ihrer Wege ging, sie hatte schon die Türklinke in der Hand, da legte er den Arm um ihre Schultern, zog sie ein paar Schritte zurück und zitierte mit parodistischer Weinerlichkeit die Verse: ich bin so dumm, du bist so dumm, wir wollen sterben gehen, kumm. Sie lachte, zum ersten Mal. Bis jetzt hatte sie keinen Bissen gegessen, er brachte sie dazu, etwas zu sich zu nehmen, er hatte Brot und Butter in der Lade, öffnete eine Sardinenbüchse und stellte Wasser zum Tee auf den elektrischen Kocher. Seinem Drängen nachgebend aß und trank sie mit ziemlichem Appetit und sah ihn dabei mit ihren feuchten Malaiinnen-Augen fortwährend scheu und mißtrauisch an. Aber sie hörte ihm doch zu, als er mit ihr redete, ihre Miene wurde aufmerksam, allmählich ließ sie sich herbei, seine Fragen zu beantworten, seine Gründe zu widerlegen, seine Meinung über sie zu berichtigen und das zu verteidigen was sie als ihr verdammtes Recht bezeichnete, das einzige, das ihr und ihresgleichen niemand streitig machen könne, wie sie sagte. Sie geriet in Eifer, sie wurde schlagfertig; wenn er sich eine Blöße gab und sie ihn bei einem Widerspruch ertappte, hakte sie geschickt ein, so daß er sich halb ärgerlich, halb verwundert bemühen mußte, die erlittene Schlappe wieder gutzumachen. Er kam überhaupt aus dem Staunen nicht heraus, da war eine naturhafte oder volkshafte Art die Dinge anzuschauen, die keine Zweideutigkeit, kein Zwielicht zuließ, eine furchtlose Entschlossenheit zum Wirklichen (so wie er das Wirkliche verstand), die wie alles Einfache und Echte den Eindruck erweckte als sei es zum ersten Mal so gesehen und werde zum ersten Mal so gesagt. Ein Wort, eine Wendung, und ein Erlebnis flammte auf, das in ihren Augen nicht weiter bedeutungsvoll war und dabei das schärfste Schlaglicht nicht bloß auf ihre Existenz, sondern auf eine ganze Klasse warf, auf eine halbe Million Jessies gleichsam, als sähe man einen langen langen Zug von Schatten, die zwischen der Finsternis, aus der sie kamen, und der Finsternis, in die sie gingen, für die Dauer eines Augenblicks in den Kegel eines Scheinwerfers tauchten. Nun, das war Wasser auf Etzel Andergasts Mühle, er hatte nicht bedacht, daß er plötzlich in die Notwendigkeit versetzt wurde, des Teufels Advokaten zu machen. Wenn sie ihn wild und höhnisch anfiel: was wollen Sie? sagen Sie, was Sie wollen, sagen Sie mir, was ich tun soll, ehrlich, mein Lieber, nur ehrlich! dann schnappte er nach Luft, biß sich in die Lippen, packte die Hand des Mädchens und drückte ihre Finger so heftig, daß sie laut aufschrie. Es gab kein Zurück mehr für ihn. Da sie allmählich in seinen Anteil hineinwuchs, das heißt teil an ihm hatte, bürdete sie sich seiner Sorge auf, und der Appell erging an sein Pflichtbewußtsein. Versagte er, so war seine Anmaßung auf der einen Seite, seine Schwäche auf der andern offenbar. Zuviel Tod ringsherum, zuviel Defaitismus, und alle diese waren keine Römer, die sich, um nicht zu Sklaven gemacht zu werden, ins eigne Schwert stürzten, sie kapitulierten von vornherein, lieferten sich mit gebundenen Gliedern aus, feig servil und entnervt. Verrat. Fahnenflucht. Deshalb war er ja auch diesem Roderich so gram, daß er nicht mehr von ihm hören und reden wollte; als er an seiner Leiche gestanden, hatte ihn die Wut übermannt, am liebsten hätte er den Toten an den Schultern gerüttelt und ihm ins Ohr geschrien: warum, du Idiot? So schiens fast eine Abwehrhandlung, daß er sich die Kugel ins Ohr gejagt hatte. Jessie starrte ihn mit entsetzt aufgerissenen Augen an, als er ihr dies mit herzloser Ruhe auseinandersetzte. Seine eisige Leidenschaftlichkeit schüchterte sie unbeschreiblich ein, es wäre besser, wenn er mich schlüge, dachte sie. Dann wieder wurde er in komödiantischer Weise zärtlich, beschwor und flehte, versprach ihr seine Freundschaft und allen Beistand, den sie haben wollte, das ängstigte sie noch mehr, sie brauche seinen Beistand nicht, nein, er solle ihr vom Hals bleiben mit seiner Kakelei, und sie schüttelte halbe Minuten lang den Kopf: nein nein nein nein. Was lag ihm schon daran, was lag ihm an ihr. Ich glaube, du bist ein ganz doller Lügner, sagte sie (mitten in der Nacht hatten sie plötzlich angefangen, einander zu duzen). Instinktiv spürte sie, daß es ihm nicht so sehr um ihr persönliches Wohl und Weh ging als vielmehr um eine Kraftprobe, deren Sinn sie allerdings nicht verstand, eine Art Sportleistung, das erbitterte sie und verlieh ihrer Widerspenstigkeit etwas Fanatisches. Willst du mir vielleicht was für mein Leben zahlen, rief sie ihm haßerfüllt zu, oder bekommst du was dafür gezahlt? streckte ihm aber gleichzeitig mit zuckenden Lippen die flach aneinander gelegten Hände entgegen. Ja, beim Reichspräsidenten kassier ichs ein, erwiderte er trocken. Ob es nun Erschöpfung war oder einfach die menschliche Nähe, seine Haltung verlor immer mehr von jener rabiaten Sachlichkeit, die sie so abstieß und verletzte, er fand Worte, die sie bewegten und ihr ans Herz griffen, und das war das Schlimmste, was passieren konnte, da schlug das Unglück vollends über ihr zusammen, das Unglück nichts zu sein und niemand zu besitzen, nicht leben zu können und nicht sterben zu dürfen, und es endete wie es begonnen, mit hemmungslosem unstillbaren Weinen.

Wollte ich das ganze Gespräch aufschreiben, so müßte ich wenigstens hundert Seiten damit füllen. Es dauerte mit geringen Unterbrechungen einundzwanzig Stunden. Eine der Unterbrechungen war, daß er zum Telephon ging und Eleanor Marschall anrief. Nell, so wurde sie im intimen Kreis genannt, lag mit einer Halsentzündung zu Bett, sonst wäre sie gekommen, denn daß man Jessie zu Lüttgens gebracht, und welche Schwierigkeiten sich daraus ergeben, hatte er ihr schon am Mittwoch mitgeteilt. Sie hatte das Ganze für eine bodenlose Dummheit erklärt, das Verkehrteste, was man hatte tun können. Jetzt, nachdem er ihr berichtet hatte, wie verzweifelt die Sache stand, sagte sie: »Du hast einen Gefangenen gemacht der dich nicht losläßt, treib die Pfuscherei um Gotteswillen nicht noch weiter, siehst du nicht, daß du mit aller Gewalt etwas herbeiführst, was du verhindern willst?« Dann eben gab sie ihm den Rat, Kerkhoven aufzusuchen, sie habe Unglaubliches von ihm gehört, in solchen Fällen vollbringe er wahre Wunder. Als er in die Mansardenkammer zurückkehrte, lag Jessie vor Hilde auf den Knieen und bettelte um ein schnellwirkendes Gift. Wozu die Unkosten? warf Andergast brutal hin, kannst ja in die Spree gehn oder dich im Tiergarten an einem Baum aufhängen. Er wußte nicht mehr, was er sagte, der Kopf war ihm ganz wüst. Hilde zog ihn in eine Ecke und raunte ihm zu, Vater habe was gemerkt, lautes Sprechen höre man durch den Fußboden durch, wenn er erfahre, die Geliebte seines Sohnes sei im Haus und unter solchen Umständen, seien die Folgen nicht abzusehen, leider habe sie sich das vorher nicht überlegt. Sie kamen überein, Jessie eine starke Dosis Brom in den Tee zu mischen. Bei dem rohen Ausfall Andergasts war sie zusammengezuckt und hatte die Hand auf den Mund gepreßt. In ihrem schwarzen Trauerkleid saß sie am Tisch, folgte den beiden mit den Blicken und ließ alles mit sich geschehen. Das Medikament tat die gewünschte Wirkung, sie schlief ein. Hilde verbrachte den Rest der Nacht bei ihr und hörte sie mehrmals im Schlaf schmerzlich aufseufzen. Andergast, statt endlich zu Bett zu gehen, verließ um Mitternacht das Haus, fragte in einer Bar und in einer Weinstube, ob Lorriner da sei, den man gewöhnlich um diese Zeit dort traf, und da er ihn nicht fand, lief er bis zum Tagesgrauen planlos durch die Straßen. Mit zwanzig Jahren verfügt man über Kräfte, die sich schon durch eine andere Richtung der Bewegung erneuern.

 

Kerkhoven ersuchte ihn, eine Viertelstunde im Wartezimmer Platz zu nehmen, er werde gleich mit ihm gehen. Der Mann macht wenigstens keine Geschichten, dachte Andergast und war ebenso angenehm überrascht, als der Professor auf die Sekunde pünktlich erschien und ihn mit einem Kopfnicken bedeutete, er sei bereit. Unten stiegen sie ins Auto. Kerkhoven blieb während der Fahrt schweigsam. Sonderbarerweise hatte dieses Schweigen nichts Bedrückendes für Etzel Andergast. Er empfand weder Unbehagen noch Verlegenheit, hatte auch nicht, wie es in solchen Situationen häufig vorkommt, den leeren Impuls, etwas zu sagen, weil man sonst mitsamt dem andern plötzlich in ein finsteres Loch fällt. Nach seinen Beobachtungen beruhte die Angst der meisten Menschen vor dem Schweigen darauf, daß jeder die Gedanken des andern fürchtet wie eine Beleidigung, vor der man sich nur durch pausenloses Reden und Fragen schützen kann. Von dieser argwöhnischen Haltung, die vielleicht auf einer Tiefenverletzung des Selbstbewußtseins beruhte, hatte er die würdigsten, die von sich selbst erfülltesten Personen nicht frei gefunden. Der Mann an seiner Seite war frei davon, und das mit Sicherheit zu fühlen und zu wissen hatte etwas von einem unverhofften Geschenk, denn es war selten. Es war vor allem in seinem Dasein selten, das voller Tumult, voller Worte, voller Kampf gegen Anspruch und Argwohn war. Er schloß die Augen, und ihn dünkte als gebe ihm der Mann an seiner Seite die Erlaubnis zu ruhen, als verstehe er seinen Zustand besser als jeder andere Mensch ihn verstehen konnte, ja als befehle er ihm innerlich, mittels einer ihm verliehenen Kraft, sich ihm ohne Widerstand hinzugeben. Es war ungeheuer wohltuend. Merkwürdiger Mann, der Mann an seiner Seite.

 

Hilde Lüttgens stand an der Treppe zur Mansarde und schloß sich Kerkhoven und Andergast an, als sie hinaufgingen. Sie berichtete flüsternd, Jessie habe bis sieben Uhr morgens geschlafen, das Frühstück habe sie unberührt stehen lassen und wieder Zigaretten verlangt, von denen sie mindestens zwanzig geraucht habe. Gesprochen habe sie nichts, soviel man aber erkennen könne, sei sie furchtbar erregt, weswegen sie sie keinen Augenblick allein gelassen habe. Kerkhoven hörte still zu, dann bat er, man möge ihn zu ihr führen. Hilde eilte voran, öffnete die Tür ein wenig und winkte ihrer Schwester, die drinnen bei Jessie war, sie solle herauskommen. Kerkhoven verbeugte sich an der Schwelle vor den drei jungen Menschen, womit er ihnen zu verstehen gab, daß er ihrer nicht mehr bedürfe. Die Mädchen gingen in das untere Stockwerk, Etzel Andergast, um Kerkhoven den Weg zu weisen, wenn er das Zimmer verließ, und darauf zu achten, daß nichts geschah, was Doktor Lüttgens die Anwesenheit des fremden Arztes verraten konnte, setzte sich im Flur auf eine Fensterbank und wartete. Er hatte ein Buch vor sich aufgeschlagen, las aber nicht darin. Von Zeit zu Zeit starrte er in den Hof hinunter, den rußiger Nebel so dicht verhängte, daß von zwei teppichklopfenden Weibern nur Umrisse zu sehen waren und sogar das marternde Klopfen sowie in den Pausen das gänsehafte Geschnatter der beiden davon gedämpft wurde. Nach dreiviertel Stunden öffnete sich die Tür, Kerkhoven und Jessie traten heraus, er erhob sich und ging hin. Jessies Gesicht war verändert. Als sie seiner ansichtig wurde, streifte ihn ihr Blick nur ganz flüchtig als sei es ihr nicht erlaubt, ihre Aufmerksamkeit von Kerkhoven abzuwenden. Dieser legte behutsam die Hand auf ihren Arm und sagte mit einer Stimme, die Etzel durch den außerordentlich tiefen Klang wie verstellt erschien: »Sie haben alles Nötige bei sich, nicht wahr? Sonst können wir auch in Ihre Wohnung fahren und holen, was Sie brauchen.« Dann, mit derselben tiefen Stimme, zu Etzel gekehrt: »Ich bin sehr froh. Fräulein Tinius hat sich entschlossen, mit mir zu gehen. Sie kann mir nämlich in einer schwierigen Angelegenheit recht behilflich sein. Sie sind vielleicht so freundlich, Herr von Andergast, die Damen Lüttgens zu benachrichtigen, wir wollen uns verabschieden.« Gelungen, meditierte Andergast auf dem Weg, er wickelt sie scheints um den Finger. Er hatte den Eindruck als sei der Kerkhoven da oben nicht mehr derselbe wie der, dem er im Sprechzimmer gegenübergesessen war. Darin lag etwas Verwirrendes wie in der Darbietung eines Zauberkünstlers, es löste auch ein ähnliches bestürztes Erstaunen aus. Natürlich nur solange man den Trick nicht kannte. Zu Hilde sagte er, während sie hinaufgingen: »Der Mann ist uns verflucht über, der versteht sein Geschäft.« Als Hilde und Hedwig auf Jessie zutraten, spielte sich eine stumme kleine Szene ab, die Andergast mit kritischer Neugier verfolgte. (Vielleicht weil er auf den Trick kommen wollte.) Der Abschied von den Schwestern rief nämlich einen Rückfall hervor, den Kerkhoven offenbar gewünscht hatte, um die Widerstandskraft zu prüfen, die er ihr eingeflößt; sie kreuzte die Arme über der Brust, lehnte sich an die Wand und schaute verstört von einem zum andern, dann gegen die Treppe hin als überlege sie die Möglichkeit einer Flucht. Ohne sich ihr zu nähern sagte Kerkhoven leise, jedoch mit unerwarteter und daher erschreckender Strenge: »Nehmen Sie sich zusammen, Kind. Haben Sie vergessen, was Sie mir versprochen haben? Sie müssen endlich begreifen, daß Sie Ihren Freunden etwas Rücksicht schuldig sind, Sie haben ihre Geduld ohnehin auf eine harte Probe gestellt. Oder nicht?« – »Ja,« hauchte Jessie, »ja.« Sie lächelte unterwürfig. Stärker als die Worte wirkte das Auge des Mannes auf sie, soviel Andergast beurteilen konnte, und stärker als das Auge die Gewalt seiner Gegenwart. So sind mächtige Bäume oder Tiere gegenwärtig. Wo war also der »Trick«? Es gab vielleicht keinen. Vielleicht gab es nicht einmal etwas wie Routine bei dem. Vielleicht hatte er auch nur äußerlich mit der Wissenschaft zu tun. Vielleicht war er auf eine Weise Arzt, die nur entfernt mit der aller andern seines Zeichens zusammenhing, nicht mehr als seine, Andergasts, Existenz mit all den Existenzen, die sie scheinbar berührte und kreuzte. Schon möglich bei dem Mann. Es war etwas Aufregendes um den Mann, nicht zu leugnen. Sich ihm anvertrauen war ein Gedanke, der nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen war. Anvertrauen, dummes Wort; sich ihm in den Weg stellen, ihn aufhalten, ihm zurufen: schau mal her, was da für einer ist und ob du ihn brauchen kannst. Wozu, das wird sich finden. Ob sichs dir lohnt, wird sich finden. Nicht ausgeschlossen, daß er stutzig wurde und wirklich hinsah. Nicht ausgeschlossen, daß er, mit diesen Hexenmeister-Augen, zu sehen imstande war, was keiner sah, wenigstens keiner von denen, die, jenseits der Wendekreise, in der verderblichen Zone des Erfolgs und der Geschäfte wohnten: die Fetten, die Beruhigten, die Aktionäre, die Gesetzeshüter.

Unerklärliches Verlangen, das sich auf einmal regte. Eitle verrückte abstruse Hoffnung, als ob, was nie sich ereignet hatte, in der bittersten Verzweiflung nicht, jetzt sich ereignen könne. Gab man der verdächtigen Regung nach und wurde schwach, so konnte man elend hereinfallen, und was in aller Welt sprach dafür, daß man nicht hereinfiel? Du bist ein gebranntes Kind, hüte dich vorm Feuer. Trotz dieser Erwägungen, mit denen er sich zu ernüchtern und abzuschrecken suchte, überlegte er hin und her, wie er es ermöglichen könne, wieder mit Kerkhoven zusammenzutreffen, vielmehr sich ihm auf eine Art zu nähern, die eine andre Verbindung herstellte als diese flüchtige, deren Anfang auch schon Ende war. Natürlich sah er die Aussichtslosigkeit, soweit sein eigner Wunsch in Frage kam, vollständig ein, es war ungefähr so wie wenn er erwartet hätte, der Justizminister würde ihn täglich zum Mittagessen bitten, weil er vor Jahren einmal, als halber Bub noch, für die Unschuld eines zu lebenslänglichem Zuchthaus Verurteilten beinah sein Leben eingesetzt hatte. Doch er war heftig im Wunsch, sein Wille war schwer zu brechen, er gewann es nicht über sich, mutlos zu verzichten. Er begleitete Jessie und Kerkhoven ans Auto, und im letzten Augenblick, als dieser schon den Fuß auf dem Trittbrett hatte, fragte er ihn, wohin er Jessie Tinius bringe und ob sie dort Besuche empfangen dürfe. Die eigentümliche Bezüglichkeit im Ton, das Aufglimmen der goldigen Einsprengsel in der Iris verriet Kerkhoven den Hintersinn der Frage, er fixierte den jungen Menschen einige Sekunden lang, wobei ihm die Frische der Lippen und die jugendliche Schönheit der Stirnbildung auffiel, und während er freundlich Bescheid gab (»Sie werden sie in meiner Anstalt finden, selbstverständlich können Sie kommen, zu jeder Zeit«), empfand er außerordentlich intensiv und viel bewußter als vor zwei Stunden im Sprechzimmer den fast beunruhigenden Reiz, den dieses Gesicht auf ihn ausübte, und er fügte rasch hinzu: »Vielleicht suchen Sie auch mich dort mal auf, ich bin jeden Tag da, und wir unterhalten uns ein wenig miteinander.« Andergast, barhaupt, ohne Mantel, sah dem Wagen nach bis er um die Ecke verschwunden war. Darauf ist kein Verlaß, sprach er zu sich, es ist mir nicht sicher genug, der Mann hat mehr zu tun als sich an so vage Aufforderungen zu erinnern, würde mich komisch angucken, wenn ich ihn beim Wort nähme. In seiner herrischen Ungeduld dünkte ihn jeder Aufschub von Übel, jedes Zuwarten Verringerung der Möglichkeit. Es war wie Examenfieber, er begriff sich nicht. Die schreckliche innere Bedrängnis, die war chronisch bei ihm, die war er gewöhnt, aber diese akute Wut, sich einem Menschen »in den Weg zu stellen«, von dem man schließlich nichts wußte, nichts erwarten durfte und der alle Ursache hatte, die Zudringlichkeit mit einem Fußtritt zu beantworten, was sollte die bedeuten, wozu sollte es führen?

Andern Tags kam Hilde in seine Stube und erzählte, der Vater habe eine schlechte Nacht gehabt und sehe überdies so leidend aus, daß sie die ärgsten Befürchtungen habe. Da riet ihr Andergast, den Professor Kerkhoven anzurufen, wenn er sich nur zu einer Untersuchung bestimmen lasse, sei schon viel gewonnen. Dies leuchtete Hilde ein, und sie ging gleich zum Telephon. Nach einer Weile kehrte sie erfreut zurück und berichtete, sie habe ihn nicht selbst sprechen können, aber er habe ihr durch den Assistenten sagen lassen, er sei bereit zu kommen, vorausgesetzt, daß Doktor Lüttgens nicht schon in Behandlung eines andern Arztes sei, in welchem Fall er nur als Konsiliarius erscheinen könne. Sie hatte versichert, es sei noch kein Arzt dagewesen. Am späten Nachmittag kam er. Andergast war unten bei den Mädchen. Seit dem Mittag schon. Er spielte mit Hedwig Schach. Bei jedem Läuten spitzte er die Ohren. Während Kerkhoven dann bei Doktor Lüttgens war, sah er zwanzigmal auf die Uhr. Nach einer halben Stunde kam Kerkhoven wieder heraus. Er gab Hilde einige vorläufige Anweisungen und beruhigte sie. Andergast begleitete ihn in den Vorplatz. Sie sprachen ein paar Worte miteinander, dann ging er mit ihm. Kerkhoven schien es erwartet zu haben. Er rief dem Chauffeur eine Adresse zu und ließ das Auto vorausfahren. Alles hatte sich ganz natürlich ergeben.

So spann sich das an.

 

Kein Mensch, auch der im breitesten Wirkungsfeld stehende nicht, kann alle Provinzen des Lebens überschauen. Im Gegenteil, je größer die Kreisfläche ist, die er abschreitet, je mehr unerforschtes Gebiet wird sie in sich schließen. Es ist die ungeheure ununterbrochene Bewegung der sozialen Welt, die es verursacht, daß sie nie aufhört, geheimnisvoll zu sein, und zwar so, daß gerade der erfahrenste Betrachter am meisten davon verwirrt und gequält wird. Alles vorgebliche Wissen täuscht, alles noch so verbürgte Material, alles da und dort ans Licht gezogene Geschehen; sie vermitteln immer nur die ungefähre Kenntnis eines Ausschnitts, einer jeweiligen lokalen Erschütterung, während die entscheidenden Vorgänge und Verflechtungen verborgen bleiben. Das Verhältnis zwischen Aufklärbarkeit und Unzugänglichkeit liegt ähnlich wie bei der Erdmasse, der tiefste Brunnen, die tiefste Bohrung durchstoßen nicht einmal die alleroberste Schicht und Epidermis, das Innere bleibt Mysterium. Es gibt Geister, die daran zerbrechen, daß es sich ihnen nicht entschleiert.

Mit den Jahren hatte sich in Kerkhoven ein unermeßlicher Lebensstoff angehäuft. Ihn zu sichten oder zu verarbeiten und bestimmte Schlüsse praktischer oder theoretischer Natur daraus zu ziehen war ihm nicht gegeben. Dazu fehlte ihm alles. Er war kein intellektueller Mensch. Er war, wenn ich mich so ausdrücken darf, der Probierstein der Phänomene und Prozesse, in deren Mitte ihn sein Schicksal gestellt hatte. In der Rückwirkung gegen ihn erwies sich der Aggregatzustand, die Affinität, der Gehalt, das Karat der andern, und so mußte er die Menschen gleichsam erst erleiden, um sie verstehen zu können. Vielleicht beurteile ich ihn ungerecht, aber ich glaube, er besaß die Fähigkeit zur Definition und Analyse nur in sehr geringem Grad, und dies war nicht nur ein geistiger Mangel, er trat auch in seinem Charakter hervor. Darin lag vermutlich der Grund, weshalb seine Bedeutung als Wissenschaftler von so vielen angezweifelt wurde. Er hatte wenig Ideen, er hatte nur Gesichte. Er war niemals denkerisch an einem Problem interessiert, betraf es ihn überhaupt, so ging er mit seinem ganzen Wesen darin auf. Eine ständige Gefahr, aber die Weisheit seines guten Dämons hatte Mittel gefunden, ihn davor zu schützen: einmal die Langsamkeit, ja fast Trägheit seiner Reaktionen und dann eine seltsame sinnliche Liebe zu aller Erscheinung. (Wenn ich ein psychologisches Porträt von ihm zu liefern hätte, würde ich von diesen beiden Grundeigenschaften alle übrigen ableiten.) Die Tragödie im Haus Lüttgens und die Sache mit Jessie Tinius, in die ihn der junge Andergast wie der Bote im antiken Drama handelnd einzugreifen zwang, waren natürlich nichts Unerhörtes oder nur Ungewöhnliches in seiner Praxis. Ähnliche Fälle kamen ihm fast täglich unter, ihre Gesetzmäßigkeit, soziale Bedingtheit und ihre typischen Formen hatten wieder und wieder sein beklommenes Nachdenken erregt. Die Anzeichen einer Epidemie ließen sich nicht verkennen, und zwar als einer klinisch-pathologischen Tatsache, wie wenn der Gesamtorganismus der Gesellschaft in einer lebenswichtigen Funktion beschädigt sei. (Schon in einer der ersten Unterhaltungen mit Andergast sprach er davon als von einer »Massenerkrankung des Wirklichkeitssinns,« infektiös insofern, als eine generelle Widerstandslähmung vorlag.) Ja es war etwas wie Eiterung im Körper des Volks, ein krebsiges Geschwür, kein Chirurg konnte da herankommen, auch wenn er übermenschliches Genie besessen hätte, und bei der »Bestrahlung« hätte ein Berg aus Radium nichts genützt, denn so weit sind wir noch nicht, daß die Seele wie wucherndes Gewebe zu beeinflussen wäre durch die Atomwanderung von Elementen. Keine Krankheit schlägt so tief ins Gewissen des Arztes wie die, die er nur zu erkennen vermag, ohne helfen und heilen zu können; bringt ihn das Versagen aller Wissenschaft und Menschenmacht schon im einzelnen Fall zur Verzweiflung, wie erst, wenn er einer panischen Seuche gegenübersteht, bei der die Symptomgleichheit noch erschreckender wirkt als die Unaufhaltsamkeit des Verlaufs. Er kann die Zeit beschuldigen und die menschlichen Einrichtungen verantwortlich machen, die Entartung zentraler Triebe, Schwächung bestimmter Abwehrfunktionen, doch damit wäre nicht gedient, ihm nicht, der Sache nicht. Es muß eine kosmische Störung sein, sagte sich Kerkhoven manchmal, eine Unordnung in den Gestirnen, gegen die anzukämpfen freilich so vergeblich wäre wie wenn einige Infusorien in einem Wassertropfen beschließen würden, sich dem Wellengang zu widersetzen, den der Sturm verursacht.

 

In den Raum der bedrohten Vitalität und des zynischen Sterbens, in dem Kerkhoven bisweilen zumute war als sei alle Jugend von einem Wundmal gezeichnet und wehre sich immer weniger gegen den Tod und immer mehr gegen das Leben, das heißt gegen das Leben-Sollen, gegen das Sein als solches (vielleicht kennt die Geschichte kein schwereres Verhängnis, sagte er sich), trat nun mit einem Mal dieser Etzel Andergast. Trug eine bemerkenswerte Entschlossenheit zur Schau. Kannte offenbar genau den Sitz des Übels und schien gesonnen, dagegen anzukämpfen, zu diesem Zweck gewissermaßen bis an die Zähne bewaffnet. Ließ in naivem Draufgängertum, mit einer Art unschuldiger Frechheit durchblicken, daß er ihn, Joseph Kerkhoven, nicht ungern zum Verbündeten hätte. Oder mißverstand Kerkhoven die Geste? war es nur die Not, die ihn die Haltung eines Fordernden einzunehmen zwang? Ein Hilfeschrei kann kategorischer klingen als ein Befehl. Oder gab er die gutgespielte Kreuzfahrer-Rolle nur vor, gehörte er in Wirklichkeit selbst zu denen, die leukämisch entkräftet am Ende aller Dinge standen, ehe sie noch recht begonnen? Nicht wahrscheinlich, doch konnte sich Kerkhoven dem Verdacht nicht ganz entziehen, in manchen Momenten glaubte er eine durch und durch erschütterte Natur vor sich zu haben, die derartige Wälle um sich aufgetürmt hatte, daß es unmöglich schien, sie zu fassen, in andern wieder dünkte ihn, er sei noch nie einem menschlichen Wesen von solcher Ungebrochenheit und Durchsichtigkeit begegnet. Dies verwirrte ihn, er fragte sich verwundert, was ihn an dem jungen Menschen, kaum daß er ein paar Worte mit ihm gewechselt, so unwiderstehlich angezogen hatte, daß es ihn weder überraschte noch befremdete, als er ihn nach dem Besuch bei Doktor Lüttgens plötzlich an seiner Seite und in einer seltsamen Weise zutraulich fand, einer kindlichen Weise fast, bei aller Härte und kalten Gerafftheit, als wäre für ihn keine Distanz vorhanden, kein Unterschied des Alters und der Stellung. Als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt und durch ein nagelneues, wenn schon noch nicht allgemein bekanntes Gesetz dekretiert, daß ein kleiner Student sich einem Mann von Namen Rang und Jahren »in den Weg stellt«, zunächst in keiner andern Absicht, wenigstens keiner eingestandenen, als um, wie der Interviewer einer Zeitung, im Lauf von zehn Minuten drei Dutzend Fragen an ihn zu richten und, jenachdem die Antwort ausfiel, entweder anerkennend zu nicken oder zweifelnd mißbilligend erstaunt den Kopf zu schütteln. Und was für Fragen: »Kann man einen Charakter jemals ganz erkennen?« »gibt es überhaupt Charakter oder was man so nennt?« »kann man einen Menschen ändern?« »sind Umstände denkbar, unter denen eine lebensnegierende Geistesverfassung ansteckend wirkt und welche?« »warum ist alle Wissenschaft steril, sobald der Mensch seine Handlungen darnach einrichten will?« »ist Seelenkrankheit eine Realität oder eine Hypothese, eine vom Innern der Natur aus gesehen unhaltbare?« »ist nicht überall da, wo wir ein Minuszeichen vor eine lebendige Erscheinung setzen, ein gewisser mathematischer Hochmut schuld, der die Verkümmerung der Phantasie durch Begriffe und Konstruktionen verdecken will?« Und so fort. Alles atemlos hervorgestoßen, zugleich herrisch und bittend, aufs knappste formuliert, immer mit dem Unterton: halt mich nicht hin, ich muß das unverzüglich erfahren, keine Ausreden, keine Winkelzüge, ich geh dir nicht von der Falte, bevor ich nicht weiß, wie du darüber denkst. Es schwindelte Kerkhoven. Das Tempo war eine Zumutung für ihn. Es war wie ein Überfall. Es erinnerte an Verhöre, die man im Krieg mit Spionen vornimmt. Er hatte kaum Zeit, die eine Frage so gut es eben ging zu beantworten, da kam schon die nächste, mit derselben kalten Glut, derselben gebieterischen flehentlichen Dringlichkeit. Es war neu. Es war unerhört neu und interessant. Dieser Mensch stand unverkennbar in einem Spannungsverhältnis zur Umwelt, das sein Nervensystem, seine Empfindung, alle aufnehmenden und ausgleichenden Kräfte beständig in die Nähe der Verbrennung brachte, eine Gefahr, die durch den eisernen Willen zur Bändigung und eine ins Innerste gedrungene, fast zur Selbstaufhebung gewordene Skepsis erhöht wurde. Die Grundeinstellung war die: bilde dir nicht ein, daß ich dir glaube, ich versuchs bloß mit dir wie mit ix andern auch, wenn ich die übliche Abfertigung in der Tasche hab, Bedauern und schöne Sprüche, troll ich mich wieder. Oder, etwas konzilianter: so jemand wie dich könnt ich vielleicht brauchen, dazu müßten wir uns aber erst kennenlernen, und ich weiß doch wie es geht, ihr habt ja für das Wirkliche niemals Zeit. Allein Kerkhoven wäre nicht der gewesen, der er war, wenn er das Unausgesprochene, hinter die Not Verdrängte nicht hätte hören können, namentlich wenn es sich mit so aufgespeicherter Gewalt mitteilte. Schon durch seine tiefe Ruhe brachte er die schrillen herausfordernden hämischen rebellischen Stimmen in dem Menschen zum Schweigen, sein ganzes Verhalten gab zu verstehen: du ereiferst dich ohne Ursache, ich werde Zeit haben, dazu bin ich da. Es kam also Andergast gar nicht unerwartet, obwohl er große Augen machte und ihm die Antwort im Hals steckenblieb, als ihn Kerkhoven am Schluß der sonderbaren Unterredung auf der Straße einlud, andern Tags um drei Uhr in die Anstalt zu kommen; »erstens können Sie bei der Gelegenheit gleich Fräulein Tinius besuchen, und dann . . . na, wir werden sehen.« Andergast hielt die Türklinke des Autos in der Hand und warf halb verlegen, halb schnoddrig hin: »Sie haben was Dolles fertiggebracht gestern, Herr Professor . . . zehn Jahre meines Lebens gäb ich drum, wenn ich wüßte, wie Sie das mit Jessie gemacht haben.« Kerkhoven lächelte und winkte ihm zu: »Auf morgen also.«

 

Es war keine bloße Floskel, die schmeichelhaft sein sollte, die Bemerkung über Jessie Tinius. Er hatte gleich an Lorriner gedacht, denn was mit Lorriner geschehen sollte, lag ihm schwer auf der Brust. Es war eine Sache, die ihm den Atem verschlug und den Himmel verfinsterte, zu schweigen von verschiedenem anderm, sehr Bedrückendem, zum Beispiel allem was mit Nell Marschall zusammenhing. Aber er hätte sich eher die Zunge abgebissen, als daß er gegen Kerkhoven die geringste Andeutung darüber hätte fallen lassen, obschon in der Folge kein Mangel an Gelegenheiten war und Kerkhoven nur darauf zu warten schien. Manchmal sah er ihn an als wollte er sagen: na, was geht vor? heraus mit der Sprache! Dann kehrte sich Andergast ab und warf in seiner trotzigen Manier, mit einem kurzen Ruck, den Kopf in den Nacken. Nein, er mußte das alles allein ausfressen, was immer draus entstand. Und dabei blieb er bis er einfach nicht mehr weiterkonnte. Nur hingehn mußte er zu dem Mann, nur bei ihm sein. Täglich, zweimal täglich, wieder, wieder. Er nahm ihn auf, der Mann, er hatte Zeit, er schuf Zeit für ihn. Da war etwas Unbezwingliches, das jeden Einwand wegfegte. Da war zum ersten Mal, bei Gott zum allerersten Mal, ein wirklicher Mensch. So wie man sich das immer vorgestellt hatte. Daß man einen Menschen träfe. Neunzehnhundert Millionen soll es von der Sorte geben, schön, weiß ich, weiß ich, Volkszählung und so, aber wenn man ein Sieb hätte, um sie durchzusieben, die neunzehnhundert Millionen, um, wie man zu sagen pflegt, die Spreu vom Weizen zu sondern, da bekäme man ein Gebirge von Spreu und hochgerechnet ein paar Handvoll Weizen. Hat er nicht irgendwo gelesen, der Mensch müsse zertreten werden, wenn er nicht angebetet werden kann? Großartiges Wort. Aber der Mensch zum Anbeten, wo ist er, wo findet man ihn, gibt es heilige Haine, wo er sich versteckt hält? Doch wozu die übertriebenen Ansprüche, wozu gleich anbeten wollen, der Mensch braucht ja nur Augen zu haben, Menschenaugen, eine Menschenstimme, eine Menschenseele. Ja, macht euch lustig darüber so viel ihr wollt, eine Seele, eine Menschenseele. Und die hatte der Mann Kerkhoven. Zweifellos. Durch diese Eigenschaft und außerdem noch einige andere war er zur Menschenwürde qualifiziert. Stand oben, auf einem erhöhten Punkt, sodaß man zu ihm hinaufschauen mußte. Angenehm, zu einem Menschen hinaufschauen. Ihr feixt? ihr nennt das primitiv? Mag sein, ich bin eben ein wenig primitiv. Ihr habt doch von Pythagoras gehört und der goldnen Hüfte, die seine Jünger an ihm zu sehen glaubten? Der Mann hat das auch, der Mann hat die »goldne Hüfte«. Nur die Meister haben die goldne Hüfte, die, deren Worte man weitergibt und dazu wie die Jünger des Pythagoras spricht: autos epha, er selbst hat es gesagt.


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