Jakob Wassermann
Etzel Andergast
Jakob Wassermann

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Es gibt unter jungen Leuten politische Charaktere (und ein politischer Charakter war Lorriner nach seiner ganzen Anlage), deren Radikalismus auf dem verzehrenden Verlangen nach einer Mitte beruht, nicht einer Mitte der Parteien, einer Lebensmitte. Es ist eine heimliche Sehnsucht, von innen aus zieht es sie nach dem Punkt der Ruhelage, aber das Gesetz des Pendels bewirkt, daß sie nach beiden Seiten gleich weit über ihn hinausschwingen, es sei denn, der Bewegung stelle sich ein Hindernis entgegen, das ihnen Halt gebietet, wobei sie zugleich Gefahr laufen, sich den Schädel zu zerschmettern. Moralische Wertung ist da nicht statthaft, ihnen Verrat vorwerfen wäre dasselbe als wolltest du den Stein verantwortlich machen, den ein Unbekannter in deine Fensterscheibe schleudert. Von »Abfall« zu reden, das hätte tieferen Sinn. Kerkhoven sagte einmal zu Etzel, die meisten Konflikte, die man als geistige und seelische betrachte, seien rein statisch oder dynamisch. Donnerwetter, dachte Etzel, wenn das wahr ist, und es scheint wahr zu sein, muß man seine Urteile gründlich revidieren.

Eines hatte er bald heraus. ein inspirierter Mensch war Lorriner nicht. Keiner von den Seltenen, denen eine Sache zum Werk wird, wenn sie sich ihr weihen. Er hatte nicht einmal die Unerbittlichkeit der Zielsetzung, weil er im Innern nicht Raum genug hatte für ein hoch- und weitgestecktes Ziel. Er schuf nicht, er bediente sich der von den Schöpfern geprägten Münze. Es war der Gedanke Größerer, den er dachte. Es waren fertige und abgestempelte Worte, die er dem Gefühl der Massen verlieh. Kein wirklicher Heiland, wo denkt ihr hin, die allgemeine Verzweiflung machte ihn zu einer Spezies davon wie so viele andere kleine Kreuzträger, die es doch nicht zum Erlöser bringen. Die Zeit hat sie mit Schmerzen geboren, das ist alles was man zu ihrer Verteidigung sagen kann. Erlöser sind dünn gesät. Von Lorriners Vergangenheit wußte er zunächst nur, was als Hörensagen umlief und was Lorriner selbst für gut fand, ihm widerwillig andeutend mitzuteilen. Daß infolge seiner Schwenkung von der äußersten Rechten zur äußersten Linken ein Odium an seinem Namen haftete, ließ sich nicht verbergen. Etzel sah darin nichts Ehrenrühriges, in der Tatsache an sich nämlich. Aber die maßgebenden unter seinen Freunden widersetzten sich aus diesem Grund der Führung Lorriners aufs heftigste. Sie konnten sich nicht entschließen, ihm zu vertrauen, und es kam zu einer erregten Diskussion. »Man ist noch kein Schuft, wenn man seine Überzeugung wechselt,« sagte Etzel, »einem Menschen muß verstattet sein, umzukehren.« – »Er hat seine Fahne verlassen,« antworteten jene, »er wird jede verlassen.« – »Eine Fahne ist ein Fetzen Tuch,« gab Etzel zurück, »jemand an den Eid binden, den er einem Fetzen Tuch geleistet hat, ist Stumpfsinn. Außerdem ist in jedem Eid der Meineid implicite enthalten.« – »Oho. Sei auf der Hut, Andergast. Wenigstens über den Dolus darf kein Zweifel herrschen.« Das mußte er einräumen. Ob man einen Irrtum erkennt und abtut oder ob man die eine Sache aufgibt, weil die andere mehr verspricht, ist nicht dasselbe. Ob man einem Herrn den Dienst aufsagt oder ob einen der Herr vor die Tür setzt, ist nicht dasselbe. Es ist ein Unterschied zwischen dem, der nach innerem Kampf über sich selbst entscheidet, was sein unveräußerliches Recht ist, und dem, der sich als Konjunkturschmarotzer bald auf die eine, bald auf die andere Seite schlägt. Mußte eingeräumt werden, gewiß, aber er glaubte sich für Lorriner verbürgen zu können. Jene wollten sich damit nicht zufrieden geben. Sie fragten: »Warum kommt er überhaupt zu uns? Was können wir ihm bedeuten? Er war schon eine große Nummer in seiner Partei, dann hat man ihn fallen lassen, und jetzt sollen wir ihm die Leiter halten, auf der er wieder hochkommen will. Was kann er da uns bedeuten?« – Etzel, in die Enge getrieben, antwortete mit einem Rabulismus: »Wenn ich eine wunderbare Maschine, die mir geschenkt wird, bloß deshalb nicht arbeiten lasse, weil der frühere Besitzer nichts mit ihr anzufangen gewußt hat, bin ich ein verdammter Idiot.« Das Argument wurde aus Achtung für ihn überhört. »Also wäre zu fragen,« fuhr der Sprecher fort, »kommt er unsertwegen zu uns, oder kommt er seinetwegen zu uns? das wäre festzustellen.« Schwierige Feststellung, fand Etzel. Einen Menschen auf sein Ja und Nein erforschen, ist schwer; das schwerste, was es gibt. Als ob einer nicht zu gleicher Zeit Künder und Verleugner sein könnte, Kreuzträger und Judas. Ja, wenn man ihm die Seele herausnehmen könnte, dann! Trotzdem sagte er: »Ich bin seiner so sicher wie meiner selbst.« – »Das kannst du gut sagen,« wurde erwidert, »wir aber können durchaus nicht sicher sein. Wo hat er denn seine Haut zu Markt getragen und unzweideutig dargetan, um was es ihm eigentlich geht?« – Darauf Etzel, voll Zorn: »Aber was verlangt ihr denn? Soll er vielleicht in den feurigen Ofen kriechen, damit ihr an ihn glaubt?«

Ein in der Hitze des Kampfs hingeworfenes Wort. So schien es. In Wirklichkeit war es das heimliche Motto, das über seiner ganzen Beziehung zu Lorriner stand, und nicht etwa als Frage wie hier, sondern als Imperativ. Aber hören wir weiter. Es konnte nicht ausbleiben, daß das Gerücht von dem Dokumentendiebstahl, dessen Opfer Lorriner geworden, von der Opposition aufgegriffen wurde. Wenn man dem Gerede glauben durfte, hatte sich die Sache so zugetragen: Lorriner war in die Netze einer raffinierten Frauensperson geraten, einer Tänzerin oder Schauspielerin, die es verstanden hatte, ihn dermaßen einzuwickeln, daß er sich ihr wie ein Gymnasiast ohne Arg anvertraute und ihr schließlich Einblick in jene wichtigen Papiere verschaffte, die sie ihm dann, während er sinnlos betrunken war, entwendete. Etzel bezeichnete die Geschichte als glatte Verleumdung. So konnte es nicht gewesen sein, so war es nicht. Jedoch die Gegner forderten Aufklärung. Es wurde eine Abordnung von fünf jungen Leuten ernannt, die Lorriner um einen wahrheitsgetreuen Bericht ersuchen sollten. Unter diesen fünf war außer Etzel auch Roderich Lüttgens, mit dem er damals schon eng befreundet war. Die Zusammenkunft fand in Lorriners Wohnung statt, noch nicht in der Glasgower Straße, dorthin zog er erst später, in der Landsberger Allee. Alle fünf saßen auf Stühlen in der Runde, Lorriner lehnte mit verschränkten Armen im Winkel eines mit gelbgeblümtem Kattun überzogenen Kanapees. Nachdem sich der Wortführer, ein gewisser Peter Christians, seines Auftrags mit kühler Geläufigkeit entledigt hatte, erhob sich Lorriner, verbeugte sich ironisch, sah einem nach dem andern lächelnd ins Gesicht und sagte: »Ihr bläht euch ja nicht übel auf, ihr Herren Abgesandten. So ne Würde. Wer hat euch denn den Klimbim beigebracht? Das erinnert ja . . . na, ick weeß nich . . . studentische Fatzkereien sind das. Ick lache Tränen. Rechenschaft ablegen. Am Ende auch noch Ehrenwort, wie? Nee, Kinder, mit som Stuß kommt mir nich. Wird nicht verzapft. Macht er nicht.« Während seine Sprache im allgemeinen ohne ausgeprägte Dialektfärbung war, verfiel er, wenn er böse wurde, ins Berlinische. Keiner der fünf rührte sich. Mit einer Kopfbewegung, die die strohgelben Haare zurückfliegen ließ, und einem eindrucksvollen Straffen des hageren Körpers fuhr er fort: »Ob ich Dreck am Stecken habe oder Lorbeer, darum habt ihr euch den Teufel zu kümmern. Das Berühren der Fijüren mit die Foten is verboten. Ich habe mich euch nicht aufgedrängt. Oder habe ich? Rede du, Baron . . .« Er nannte Andergast immer nur Baron, ganz ernsthaft, als sei es ein bürgerlicher Name; anfangs hatte Etzel geärgert abgewehrt, jetzt achtete er kaum mehr darauf. »Nein,« sagte er ruhig, »im Gegenteil.« – »Also. Ich war der Meinung, es läge euch was an der frischen Brise. An der geistigen Entlausung. Es läge euch was, hab ich gemeint, verzeiht mir den Irrtum, am Farbebekennen. Es müssen doch welche mal den Anfang machen. Das ist ja das deutsche Unglück, daß schließlich alles in einer mulmigen Romantik versandet. Ihr kommt mir vor wie die Kellner in den Restaurants, wenn sie zwischen den Tischen herumrennen und »Achtung, Sauce« brüllen, aber schaut mal auf eure Schüsseln herunter, die sind ja leer, da ist ja nichts drin. Meine Antwort wollt ihr wissen? Da habt ihr sie: ich leugne, daß meine Person mit alledem was zu schaffen hat. Meine sogenannte Vergangenheit kann euch vollständig schnuppe sein. Genau so schnuppe wie sie mir ist. Wer in der Pulverfabrik zu tun hat, kriegt schwarze Hände. In Betracht kommt einzig und allein, ob ihr an mich glaubt. Das natürlich stell ich jedem frei.« Er ging mit raschen Schritten zur Tür, öffnete sie weit und sagte mit parodistisch-schwungvoller Geste: »Bitte ergebenst: die schlechten ins Kröpfchen, die guten ins Töpfchen.« Bedrücktes Schweigen. Das hat er nicht übel gegeben, dachte Etzel und blickte Lorriner, der in kraftvoller Gespanntheit, grimmig lächelnd dastand, mit heiterer Anerkennung ins Gesicht. Dies Elementare der Willensausströmung bewirkte auch, daß es so lange dauerte, bis sich Peter Christians erhob. Zwei andere, die auf seine Entscheidung gewartet hatten, folgten seinem Beispiel. Sie nahmen ihre Hüte und verließen in komischem Gänsemarsch das Zimmer. Etzel und Roderich Lüttgens blieben sitzen. Lorriner schlug mit einem Knall die Tür zu und lachte. Auch das Lachen war ein Knall. »Na, und ihr zwei beide?« wandte er sich an Etzel und Roderich, »kleinen Schluck auf den Schrecken?« Er stellte die Kognakflasche und drei Wassergläser auf den Tisch, schenkte für sich ein und goß ein halbes Glas hinunter. Sodann zündete er seine kurze Pfeife an und ging mit Stechschritten hastig auf und ab. Roderich Lüttgens folgte ihm unablässig mit den Augen und sah erregt aus. Aha, dachte Etzel, der hat angebissen. Er kannte den Vorgang. Er kannte ihn nur allzu gut. So hatte es bei ihm auch angefangen. Wiederholung im andern bedeutet fast immer Verzerrung. Aber Roderich, noch umhegt von der Zärtlichkeit der Familie, war Neuling und in seiner brennenden Lebenserwartung viel gefährdeter. Man müßte es verhüten, dachte Etzel bekümmert, aber das hieße eine Gemeinheit an Lorriner begehen, und wahrscheinlich eine nutzlose, der Effekt wäre der gegenteilige. Eine Überlegung, die Etzel nicht ungewohnt war. Freund seiner Freunde, mußte er häufig trachten, einen schwächeren vor Einflüssen zu schützen, die für den stärkeren unschädlich waren. Alles mußte sein richtiges Maß haben. Lorriner, sonst ohne Differenziertheit, spürte, daß ihm Andergast hier entgegenwirkte. Er hatte Absichten mit Roderich. Seine Situation war prekär; er hatte keinen festen Boden mehr unter den Füßen, wenn er in einer bestimmten Angelegenheit Roderichs Vater für sich gewinnen konnte, war er gerettet. Die Erbitterung, die er über den stattgehabten Auftritt empfand und die sich in seinem nervösen Hin- und Herschreiten äußerte, kehrte sich gegen Andergast. Schon deswegen, weil er Zeuge seiner Niederlage gewesen war. Die praktischen Folgen, die sich aus dieser Niederlage ergeben mußten, erwog er dabei gar nicht. Es hätte ihm außerordentlich geholfen, wenn er die zersplitterten Jugendbünde hätte vereinigen und als ihr Führer wieder in die Arena hätte treten können. Es wäre der Weg zu neuem Aufstieg gewesen. (Das hatten ja die jungen Leute geargwöhnt und seine Berechnung zunichte gemacht.) Doch für den Augenblick verdroß es ihn hauptsächlich, vor Etzel Andergast schlecht abgeschnitten zu haben. Das hatte nichts mit Eitelkeit zu tun. Er war nicht eitel, sogar in einem auffallenden Grad nicht. Aber in Etzels Miene Mißfallen Enttäuschung Unzufriedenheit zu lesen, war ihm einfach unerträglich. Zu erklären vermochte er es nicht. Der Bursche brauchte bloß seine kurzsichtig zwinkernden Augen auf ihn zu richten, da war ihm schon zumut wie als Pennäler, wenn er im Griechischen aufgerufen wurde und Angst hatte, nicht zu »entsprechen«. Immer unter Kontrolle, immer vor der stummen Forderung wie vor der Mündung eines geladenen Revolvers, verdammt lästig. Er, der alle in den Sack steckte, Männer und Weiber, sie erschauern machte, wenn er den Kopf zurückwarf, daß die strohgelben Haare flogen, der jeden Widerstand mit einer Bewegung seiner Braue zum Schweigen bringen und eine tausendköpfige Versammlung in hellen Brand versetzen konnte, der einem Stalin imponiert und den Polizeichef von New York genötigt hatte, sich wegen fälschlich angeordneter Verhaftung bei ihm zu entschuldigen: er in innerer Habtachtstellung vor einem Studenten, immer in der dämlichen Sorge, nicht zu »entsprechen«, wo doch nicht einmal ein Zweifel bestand, daß der Mensch zu ihm aufblickte als zu einem Vorbild und mit ihm durch dick und dünn gehen würde . . .

»Setz dich mal auf deine vier Buchstaben, Lorriner, damit man ein vernünftiges Wort reden kann,« sagte Etzel in die Stille hinein. Lorriner knurrte, klopfte die Pfeife aus und setzte sich auf das Fenstersims. Vielleicht lag ihm daran, daß sein Gesicht im Schatten blieb. »Du solltest uns in dieser Sache doch reinen Wein einschenken,« begann Etzel vorsichtig, »wenigstens Lüttgens und mir. Es sind da einige Unklarheiten . . .« – »Dahier ist keine Weinschenke,« brauste Lorriner auf, »ich habe nichts richtig zu stellen und erteile kein Privatissimum.« Etzel senkte den Kopf. »Schon,« sagte er, »schon (und spielte mit seinen Fingern), ich hab mir nur gedacht . . . ich meine nämlich, die persönliche Integrität ist unentbehrlich, wenn . . . Ja, ja, ich weiß, das sind bourgeoise Vorurteile . . . in der Beziehung bin ich rückständig . . . kurz und gut, Lorriner (er hob den Kopf wieder), ich finde, man muß tadellos saubere Hände haben, wenn man . . . wenn man so ohne weiteres die Schlechten ins Kröpfchen schickt.« – »Begreife das Geschmuse nicht,« erwiderte Lorriner barsch, »für mich ist der Zwischenfall erledigt. Warum bist du sitzen geblieben? Ich habe euch doch gezeigt, wo der Zimmermann das Loch für die Schlappschwänze gemacht hat.« – »Richtig, Lorriner, aber das war für die Galerie bestimmt. Zwischen dir und mir liegt es ein wenig anders. Ich halte dich für einen außergewöhnlichen Menschen. Ich war vom ersten Augenblick an begeistert von dir. Du machst nicht viel Federlesens mit einem. Reißt einen einfach mit. Ohne dich wäre ich wahrscheinlich auf der Strecke geblieben. Du hast was in dir, was einen in die Kniee zwingt. Aber ich kann an einen Menschen nur glauben, wenn sein Bild ohne den geringsten Flecken ist. Du mußt mir jeden Tag beweisen können, daß du der bist, den ich in dir sehe. Natürlich kannst du es verweigern, aber dann muß ich mich auch verweigern.« – »Das halte nach Belieben. Ich seh nicht ein . . . wozu die Sprüche . . . was hat es mit meinem . . . mit meiner Integrität zu tun, daß ich einem perfiden Frauenzimmer auf den Leim gegangen bin?« – »Das bist du. Ganz gehörig. Man könnte allerdings einwenden: das ist kein Pech, es ist ein Defekt. In dem Fall. Das ist eine, die! Verflucht. Da versteht man manches. Nun, sie behauptet –« Er konnte nicht weitersprechen, mit einem wahren Jaguarsprung war Lorriner an seiner Seite und umklammerte mit eisernem Griff seinen Nacken. »Du kennst sie?« fragte er tonlos, mit einem unheimlichen Grinsen im Gesicht, das davon herrührte, daß er die unteren Zähne über die Oberlippe schob. Roderich Lüttgens erhob sich erschrocken, setzte sich aber gleich wieder. Etzel befreite sich unwillig aus der schmerzhaften Klammer. »Natürlich kenn ich sie,« sagte er, »vor einiger Zeit schon hatte ich die Ehre. Hab mich nicht drum gerissen, hat auch keine Mühe gekostet, das Fräulein Sperling ist recht zugänglich. Na, und es war ganz interessant. Sie behauptet . . . aber keine Handgreiflichkeiten mehr, sei so gut. Es verdirbt mir die Laune. Es überzeugt mich auch nicht. Muskelübungen mach ich nur freiwillig. Sie behauptet, du seist ihr gar nicht auf den Leim gegangen, seist nicht mal betrunken gewesen.« – »Sondern?« – »Es sei ein Geschäft gewesen wie jedes andere.« – Lorriner wich zurück. Sein Gesicht war gelb. – »Das braucht dich nicht zu alterieren,« fuhr Etzel fort, »ich werde schon dafür sorgen, daß sie in Zukunft . . . Aber es muß da noch Verschiedenes zur Sprache kommen . . . Am besten wärs, wenn ihr euch mal in meiner Gegenwart . . . Nein? Na, wie du willst, reg dich nicht auf. Ich habe nur meine Pflicht getan. Ich hatte dies und jenes gehört, habe aber kein Wort von der ganzen Geschichte geglaubt, nur war ich dir schuldig, der Sache nachzugehen. Wir werden ja sehen . . .« Trotz der Unverfänglichkeit und der Beschwichtigung in den Worten lag im Ton der Stimme eine gewisse harte Entschiedenheit. Lorriner starrte vor sich hin. »Aus dir wird man nicht klug,« sagte er finster, »du hast was eigentümlich Tückisches an dir. Hätt ich zu befehlen, ich weiß nicht, ob ich dich nicht an die Wand stellen ließe. Na, laß man,« wehrte er mit einer verächtlichen Handbewegung ab, als Etzel antworten wollte, »laß das man für jetzt. Werde mir das Luder nächstens kaufen.« – »Ja, aber nimm dich in acht, die Dame hat Giftzähne.« – »Laß man, laß man,« wiederholte Lorriner halb drohend, halb gequält. Etzel schwieg, schien aber betroffen. Es verflossen drei oder vier peinliche Minuten, dann sagte Etzel mit veränderter tieferer Stimme und ohne die Spur jener Harmlosigkeit, mit der er sich sonst gleichsam eine Rückendeckung verschaffte: »Ich möchte noch etwas Abschließendes bemerken, wenn du erlaubst. Ich habe in der letzten Zeit viel über dich nachgedacht und bin zu folgendem Resultat gekommen Es gibt drei Möglichkeiten, drei mögliche Schlüssel zu deinem Wesen. Fragt sich, welcher der richtige ist. Erstens kannst du ein Neurastheniker sein. Nichts weiter, aber mit allem, was drum und dran hängt. Schwäche in Form von Kraft, viel Wille, viel Ehrgeiz, aber krank krank krank. Ich denke jetzt nicht einmal an das Individuum Lorriner, sondern mehr an die Kategorie. Zweitens: du kannst ein Dschingiskhan sein. Kommentar überflüssig. Es wimmelt von Dschingiskhans bei uns. Ex oriente mors. Parole: nicht das Kind im Mutterleib wird geschont. Vielleicht überschätzt man den alten Dschingiskhan, die neuen verstehen das Handwerk bestimmt besser. Dann wäre das dritte. Du könntest der Mann sein, der in den feurigen Ofen kriecht. Das ist meine große Hoffnung. Du kennst doch die Legende. Es waren drei. Drei Männer im feurigen Ofen. Sie sangen Loblieder, während man einen Braten aus ihnen zubereitete. Genau das Umgekehrte von dem, was der Dschingiskhan tut, und genau das, was der Neurastheniker auf keinen Fall über sich bringt.« Lorriner stand stocksteif, die Fäuste in die Hüften gestemmt, und schaute mit einem zerrinnenden bösen und ratlosen Lächeln auf Andergast herunter. Etzel ließ auch seinerseits den Blick nicht von ihm. Auch er lächelte, eigentümlich höflich, mit den kurzsichtig zwinkernden Augen. Während der ganzen Unterredung hatte Roderich Lüttgens nicht einen Laut von sich gegeben. Nur sein Blick war erregt und begierig von einem zum andern gegangen. Auf der Straße fragte er Etzel: »Was hast du eigentlich gemeint mit dem feurigen Ofen?« Etzel blieb stehen, legte ihm die Hand auf die Schulter, und statt auf die Frage zu antworten, raunte er ihm geheimnisvoll tuend zu: »Ich fürchte, er wird nicht hineinkriechen, du; paß auf, er wird nicht . . .«

 

Aus dem ganzen Zwiegespräch geht ziemlich evident hervor, daß Etzels Vertrauen bereits erschüttert war, daß er dies aber um keinen Preis wahrhaben wollte. Er hatte eine unsinnige Angst vor der Enttäuschung und kämpfte verzweifelt darum, sein Idol rein zu erhalten, viel mehr als er sich merken ließ. Es scheint, daß er nur intellektuell nicht zugänglich ist, sagte er sich bisweilen, oder daß ihm die Bildungselemente fehlen, als Natur und Phänomen ist er ohnegleichen. Hier beging er, nicht zu verwundern, den typischen Irrtum der jungen Menschen, daß sie ihr Wunschbild so leidenschaftlich in sich verwirklichen, daß sie die äußere Wirklichkeit fast nicht mehr sehen. Wozu kommt, daß Lorriner in der Tat einige in hohem Grad verführerische Eigenschaften besaß, vor allem eine beispiellose Bedürfnislosigkeit und Uneigennützigkeit (aus diesem Grund erschien es ja Etzel so undenkbar, daß er sich verkauft haben sollte, wie Emma Sperling behauptete), dann die selbstlose und hingebende Art, mit der er sich hilfsbedürftiger Freunde und Genossen annahm; das Elend des Volkes ging ihm nah, es raubte ihm den Schlaf, es machte ihn krank und wild. Etzel war oft dabei gewesen, wenn er mit Hungernden und Arbeitslosen gesprochen und sie beraten hatte, da war er ein ganz anderer Mensch, etwas Messianisches war dann um ihn, von neuer Zeit und Zukunft. Eines Tages hatten sie ein abstraktes Gespräch über Gerechtigkeit, Lorriner war aber nicht imstande, sich im Gedanklichen zu halten, er erzählte einen haarsträubenden Fall von Klassenjustiz, Akt der Willkür beinah, durch den einer seiner Parteifreunde für zwei Jahre ins Zuchthaus gekommen war. Mitten im Wort unterbrach er sich und verfiel in einen fürchterlichen Weinkrampf, der länger als eine Viertelstunde dauerte und in einen katatonischen Zustand überging. Damals fand Etzel an dem Anfall noch nichts Bedenkliches, nicht das jedenfalls, was ihn später veranlaßte, vom Neurastheniker als einem beherrschenden Typ des öffentlichen Lebens zu sprechen. Im Gegenteil, das Schauspiel bewegte ihn so tief als wäre es ein Beweis von Auserwähltheit, denn wie wir geboren sind und wie wir leben müssen, pflegt sich Auserwähltheit ja nur im Leiden und im Schmerz zu dokumentieren. Der Eindruck verwischte sich lange nicht, bewirkte lang, daß Etzel im Umgang mit Lorriner zarter und rücksichtsvoller war als gegen die meisten andern Menschen. Er setzte eben alles daran, wider sein rebellisch werdendes Gefühl, wider sein zunehmendes Wissen, zuletzt wider den Augenschein, sich das Bild rein zu erhalten. Die Folge war eine wachsende innere Unruhe, beständiges Schwanken, quälende Uneinigkeit mit sich selbst. Was zieht ihn denn immer herunter, wenn er im Begriff ist zu fliegen? fragte er sich und biß vor Wut in seine Fingerknöchel, Rückfall in eine Bubengewohnheit; es ist als ob er sich selber feind wäre, es ist als ob der Wind in ein Feuer schlüge. Suchend und spähend, kam er auf eine Fährte. Ein großer Teil von Lorriners Leben schien mit seinen erotischen Beziehungen ausgefüllt. Es war ziemlich schwierig, dahinterzukommen, nichts lag am Tage, nichts war frei und offen, es war auch keine Leichtigkeit darin, kein Leichtsinn, alles dunkel schwül und versteckt. Mit der ihm eigenen Beharrlichkeit verfolgte Etzel systematisch die verschiedenen Spuren. Den Anstoß hatte ihm ein Notizbuch gegeben, das er eines Tages in Lorriners Bude, als er auf ihn wartete, in einer offenen Schublade liegen sah. Er blätterte kaltblütig drin herum und stieß auf eine seitenlange Reihe weiblicher Vornamen, vom Familiennamen nur der Anfangsbuchstabe, dann die Wohnungsadresse und bei den meisten ein Kreuz am Rande, wodurch offenbar dargetan war, daß die Betreffenden ausgespielt hatten, das Kreuz war ein Grabkreuz. Es erinnerte ein wenig an das Memorial eines Provinzdonjuans oder gewerbsmäßigen Heiratsschwindlers. In seinem schmerzlichen Drang nach Aufhellung dieses komplizierten Charakters ging er mühselige Wege, auf denen wir ihm nicht folgen wollen. Schwer, diese Geschöpfe mitteilsam zu machen, die trotz der erlittenen Enttäuschung noch an dem Manne hingen, der sie um alles betrogen hatte. Etzel kam sich selber wie ein Verführer vor, wenn er sie mit vieler List zum Reden brachte, und wie ein Geheimagent, wenn er bei Nachbarn Mietsfrauen und Brotgebern Erkundigungen über sie einzog. Er war sehr bestürzt über das Gesamtergebnis, sehr deprimiert. Peinlich der Vorgang, klein und banal die Mittel. Wie wenn einer in sturem Vernichtungstrieb sich darauf verlegte, Existenzen zu knicken. Immer nach demselben Schema, immer dieselben Schwüre, dieselben glühenden Briefe, die gleiche Dauer sogenannten Glücks, das gleiche Ende im Stil eines Rührstücks mit veralteten Effekten, die nur darum glaubwürdig wirken, weil sie sich wirklich ereignen: eine Schwangere, die ins Wasser geht, eine von den Angehörigen Verstoßene, die zur Dirne wird, eine verzweifelte Siebzehnjährige, die mit blutiger Rache droht, eine Eifersüchtige, die der Nebenbuhlerin Vitriol ins Gesicht schüttet. Die Opfer gehörten sonderbarerweise nicht dem Proletariat an, es waren fast ausschließlich junge Mädchen aus kleinbürgerlichen Familien, Töchter von kleinen Beamten und Kaufleuten, Zöglinge von Schauspiel- und Musikschulen in der Vorstadt, junge Fürsorgerinnen, zumeist unschuldige unverdorbene Dinger, auf deren Verschwiegenheit und Ergebenheit er bauen durfte und die ihm wehrlos zufielen, eine nach der andern, wie durch Ansteckung. Sie waren um dreißig Jahre hinter ihrer Zeit zurück, daß sie kniefreie Röcke und Seidenstrümpfe trugen, ins Kino gingen und Tanzdielen besuchten, war ein Anachronismus. Sie waren von keiner ausgeprägten Art, hatten keine höheren Gaben, liebe sympathische Dutzendpersonen, die schlicht und fleißig dahinlebten, ein wenig wie Pflanzen, die an Orten wachsen, wo keine Sonne scheint. Solche zeitlosen Seelen gibt es viele, Lorriner besaß die Witterung für sie. Es hatte etwas seltsam Gespenstisches.

Da war keine Ähnlichkeit, nicht die entfernteste, mit dem, was Etzel und alle seine Kameraden, alle jungen Männer, die er kannte, mit allen Mädchen und Frauen, die er kannte, verband. Der Fall regte ihn zum Nachdenken an. Wie ist es denn mit dir? fragte er sich und schaute sich prüfend in seinem Leben um, wie würde zum Beispiel ein anderer Etzel, ein Überetzel nehmen wir an, in der Sache über dich urteilen? Er suchte einen Punkt zur objektiven Betrachtung seines eigenen Ichs, erschreckt von dem Gedanken, er beurteile sich vielleicht viel zu nachsichtig. Er hat kein Talent zu einem heiligen Antonius, stellt er fest. In richtiger Erkenntnis der inneren Gleichgewichtsgesetze sorgt er dafür, daß die Versuchungen nicht zur Phantasiebelastung werden. Es läuft nicht allemal glatt ab. Es gibt Aufregungen Wirrnisse Mißverständnisse. Man muß unmotivierte Ansprüche zurückweisen und sich übertriebenen Erwartungen entziehen. Man darf sie nicht wecken, die Erwartungen, man darf sie auch nicht hegen. Sich jemand in den Kopf setzen ist schädlich. Er hat es bisher mit Erfolg vermieden. Er hat sich vor jeder Gefühlsbindung schwer gehütet. Ohne sich übermäßige Skrupel zu machen, hat er doch stets das fair play beobachtet. Er entsinnt sich nicht, daß es je zu einem sogenannten Bruch mit Lärm und Szenen gekommen ist. Das Wesentliche ist, daß man ohne Ausrufungszeichen lebt. Ausrufungszeichen sind aus der Mode. Man trennt sich in gegenseitiger Achtung, bei Wiederbegegnung lächelt man einander aus den Augenwinkeln freundlich wissend zu, über die Kluft hinweg, die die veränderten Umstände geschaffen haben. Er ist für Abwechslung. Eine einzige Nacht kann mehr bedeuten als zwanzig, die nachher kommen und sie abschwächen. Und das alles beruht auf Übereinkunft, auf freier Entschließung. (Später, in seinen Geständnissen gegen Kerkhoven, sprach er sich ja ähnlich aus. Da war es schon ein Programm, und dieses Programm befliß sich im Hinblick auf das Wort und den Begriff Liebe einer puritanischen Enthaltsamkeit als käme »Liebe« für ihn so wenig in Betracht wie eine Reise mit der Postkutsche. In der Selbstverständlichkeit, mit der er von einem Gefühl keine Notiz nahm, es sozusagen totschwieg, das immerhin einige Jahrtausende hindurch die menschlichen Angelegenheiten beherrscht hatte, lag eine gewisse herzerfrischende, obschon unfreiwillige Komik.)

Ungeheuer fremd also, was sich ihm vom Leben Lorriners enthüllte. Abwegig und bedauernswert. Das Barbarische erweckt Mitleid. Er fand es wenigstens. Die verhehlte Brunst, das Aufspüren der Beute, die finstere Gier nach Seelenmord, die fixierte soziale Sphäre (so wie ein Raubtier sein bestimmtes Revier hat), die Roheit und Unfreiheit, es berührte ihn wie Rückfall in einen Urzustand, Verrat an der helleren Welt, die doch konstituiert werden sollte. Er sah keine Möglichkeit der Aussprache, zu fragen stand ihm nicht zu, zu richten stand ihm erst recht nicht zu, es war wie es war, leider Gottes. Der Achtundzwanzigjährige ist ein fertiger Mensch, die sieben Jahre, die er voraushat, verleihen ihm eine materielle Autorität, in die Substanz kann man nicht eingreifen, moralische Verirrung heißt schließlich nichts anderes als Fehlschlag der Natur, nur er selber kann sich dann korrigieren, kann sich dem gewandelten Verhältnis anpassen, allein das ist schon das Ende von Bewunderung und Enthusiasmus, ein trübes Wesen mit Vorbehalt und Kompromiß. Aber noch gab er Lorriner nicht auf, konnte es gar nicht, selbst wenn er es gewollt hätte, da waren zu viele Fesselungen, zu viel Gemeinsames, zu viel Verpflichtendes, zu viel Vertrautheit. Und noch zu viel Glaube. Es sei nicht Feigheit gewesen, rechtfertigte er später seine Haltung gegen Kerkhoven, er sei sich vorgekommen wie bei einer Gletscherbesteigung, da könne man auch nicht den Führer mir nichts dir nichts zurückschicken, weil einem vielleicht seine Nase nicht mehr gefällt, man muß weiter mit ihm, oder man kommt um. »Schlechter Vergleich,« antwortete Kerkhoven darauf, »umgekommen wären Sie auf ein Haar auch so, und der andere wars ja, der Sie im Stich gelassen hat.« Aber der große Arzt wußte natürlich Bescheid über die geheimnisvollen Hintergründe solcher Bindungen.

 

Er hatte es nicht für gut befunden, Lorriner die ganze Wahrheit über die Beweggründe mitzuteilen, die ihn zu Emma Sperling geführt hatten. Auch daß er sie schon drei Wochen kannte, hatte er verschwiegen. Ferner war er ihr keineswegs zufällig begegnet, wie er Lorriner glauben gemacht, sondern hatte ihr geschrieben, er müsse sie in einer wichtigen Angelegenheit sprechen. Er hatte ja seine Ohren überall, zwei- oder dreimal hatte er ihren Namen zusammen mit dem Lorriners und der Dokumentengeschichte nennen hören, und zwar immer mit ausdrücklicher Ausschaltung einer intimen Beziehung. Niemand fiel es ein, etwas anderes darin zu sehen als eine politische Fädelung, sei es, daß die Person Lorriners diesen andern Gedanken nicht aufkommen ließ, Menschen, die öffentlich wirken, haben ja ihre bestimmte Marke, sie stehen gleichsam unter einem allgemein angenommenen Vorurteil, sei es, daß Emma Sperling es mit ihrer fabelhaften Geschicklichkeit verstanden hatte, einen solchen Verdacht von vornherein zu zerstreuen. Zudem hatten nur sehr wenige Menschen Kenntnis von dem Geschehnis, auch das Gerede war nur auf einen engen Kreis beschränkt. Etzel hatte triftigere Gründe als alle übrigen, nicht an eine Liaison zwischen Lorriner und der Tänzerin zu glauben, das schloß sich sozusagen chemisch aus, meinte er und hielt deshalb das ganze Gerücht für eine böswillige Erfindung; was sollte Lorriner (bei kaltem Blut also) zu einer solchen Kopflosigkeit bewogen haben, dazu war er viel zu gewitzt, viel zu mißtrauisch. Etzel wäre auch fürs erste gar nicht darauf verfallen, sich an Emma Sperling zu wenden, wenn er nicht Zeuge eines sonderbaren Auftritts geworden wäre, der sich in einer kleinen Bar im Westen abspielte. Er saß mit Lorriner, Lüttgens, dessen Schwester Hilde und einem gewissen Max Mewer an einem Tisch, als eine Gesellschaft von zwei Damen und zwei Herren eintrat, die sich ziemlich laut gebärdete, namentlich eine der Damen machte sich durch eine Lebhaftigkeit bemerkbar, die an Exaltation grenzte. Es war Eleanor Marschall, er lernte sie wenige Tage nachher kennen. Die andere war Emma Sperling, die von allen Gästen im Lokal neugierig angestarrt wurde. Da sie vor kurzem einen großen Erfolg gehabt hatte, war ihr Name in aller Mund, die illustrierten Blätter hatten ihr Bild gebracht, so war es kein Wunder, daß die Leute wußten, wer sie war. Als Lorriner ihrer ansichtig wurde, blieb ihm das Wort in der Kehle stecken, sein scheu auflodernder Blick glitt an ihr vorüber zu Eleanor Marschall, und während ihn Emma Sperling mit ihrem stereotypen Rätsellächeln musterte, ohne dabei mit einer Miene merken zu lassen, daß sie ihn kenne, malte sich im Gesicht ihrer Begleiterin ein intensiver Schrecken, freilich nicht länger als eine Sekunde, dann kehrte sie sich jäh einem der Herren zu und fuhr augenscheinlich verwirrt in einem begonnenen Gespräch fort. Weder eine Geste noch ein Blick der drei entging Etzel. Bis jetzt hatte außer ihm keiner der am Tisch Sitzenden etwas wahrgenommen. Das Eigentümlichste an ihm war, daß er seine Beobachtungen, denen es doch an Schärfe nicht fehlte, oft ganz unabhängig von den Augen machte, es mußte eine außerordentliche Reaktionsfähigkeit der Nerven sein, die ihn von geschehenen Veränderungen in seiner Umgebung unterrichtete, denn Gesichter, die durch die Weite eines Zimmers von ihm entfernt waren, konnte er schon nicht mehr unterscheiden. Er war jedoch gespannt, wie sich die Dinge entwickeln würden, und im Verlangen nach deutlichem Sehen nahm er unauffällig die Brille aus dem Futteral und setzte sie auf. Aus irgendeinem Grund mußte Hilde Lüttgens darüber lachen. Dieses Lachen war für Lorriner das Signal, von seinem Sitz aufzuspringen, so jäh, daß der Stuhl hinter ihm umfiel, und sie sowohl wie Andergast drohend anzustieren. Etzel begriff sofort, daß es sich um ein Scheinmanöver handelte, einen krampfhaften Ablenkungsversuch, und legte beschwichtigend seine Hand auf Lorriners Arm. Er spürte wie der ganze Mensch von oben bis unten bebte. Lorriner schüttelte mit einer rabiaten Bewegung die Hand ab. Da sah Etzel, daß Nell Marschall, die ihnen Gesicht zu Gesicht gegenübersaß, den Blick mit einem beschwörenden Ernst auf Lorriner heftete, zugleich winkte sie ihm kaum merklich zu, wie wenn man jemand zu verstehen geben will, er führe sich auf wie ein Narr. Ei, die kennen sich also auch, ging es Etzel durch den Kopf. Lorriner griff nach seinem Hut und stürmte in größter Hast, wort- und grußlos, davon. Und noch etwas nahm Etzel wahr. Emma Sperling hatte sich zuerst neben Eleanor Marschall gesetzt. Dann schien es als fühle sie sich unbehaglich. Es war offenbar das Benehmen Roderichs, das sie störte. Der junge Mensch schaute ihr unablässig wie entgeistert ins Gesicht. Sie erhob sich brüsk und wechselte den Platz. Sie saß nun mit dem Rücken gegen Etzels Tisch. Sie hatte den Pelzmantel anbehalten. Über dessen Kragen erhob sich ein schmaler Knabenkopf mit einer Knabenfrisur und kleinen rosigen frechen Ohrmuscheln.

 

Emma Sperling zu einer stichhaltigen Aussage zu bewegen, war ein Kunststück. Was sie mit ihrer tiefen heiseren Stimme sagte, wirkte ungemein treuherzig und zutraulich, dann wandte sie ganz langsam den Kopf zur Seite und machte ein Gesicht als freue sie sich diebisch, daß man ihre Worte für bare Münze nahm. Wenn sie eine Zeitlang ernst geredet und Etzel ihr ernst zugehört hatte, brach sie plötzlich in ihr Baßgelächter aus und rief begeistert: »Das haben Sie geglaubt? wirklich? Aber Sie sind ja ein Eselchen, Sie sind ja ein ganz entzückender kleiner Idiot!« Etzel stellte sich als sei ihm ein so widerspruchsvolles Wesen noch nie vorgekommen, ging eifrig auf alles ein, schien in naiver Weise düpiert und hingenommen, auf einmal tat er maßlos erstaunt wie wenn ihm ein Licht über ihren interessanten Charakter aufgegangen wäre und verlautbarte den Umschwung seiner Meinung durch eine beiläufig klingende Bemerkung, die der Überraschten vor Ärger das Blut in die Wangen trieb, weil sie sich durchschaut und selber gefoppt fühlte. Dann schmollte sie und versuchte es mit einer neuen Harlekinade. Sie war ihm gewachsen, vielleicht sogar über. Er spürte es gleich. Aber mit ihrem urwüchsigen Weiberinstinkt, dem Instinkt einer Paria, die sich mit zusammengebissenen Zähnen hat durchsetzen müssen, erkannte sie den ebenbürtigen Gegner.

Der Beginn war komödienhaft. Sie hielt ihn für einen Reporter, der sie interviewen wollte. Er ließ sie eine Weile dabei. Als er fand, daß sie sich mit dem hochtrabenden Getue eines frischgebackenen Stars genügend lächerlich gemacht hatte, sagte er trocken, er sei ein Analphabet, könne kaum einen Brief schreiben, geschweige einen Zeitungsartikel und hoffe, sie werde sich mit seiner Bewunderung unter vier Augen begnügen. Sie platzte beinahe vor Zorn, mußte aber trotzdem lachen. Die Mischung von Hanswurst und Wildkatze trat in all ihren Lebensäußerungen zutage. Sie erfaßte jede Situation blitzschnell wie ein Tier, das gewohnt ist, sich gegen erfahrene Verfolger zu wehren, und seinen Ehrgeiz darein setzt, es auf möglichst geschmeidige und erfinderische Manier zu tun. Ihre lärmende Vitalität fiel ihm auf die Nerven. Wenn sie mit ihrer Jungfer herumschrie oder die Friseurin wegen einer Unpünktlichkeit abkanzelte, erinnerte sie an ein leicht angetrunkenes Marktweib. Sie hatte auch nicht mehr Erziehung als ein Marktweib. Obenauf lag ein bißchen gesellschaftliche Tünche. Wenn sie mit Menschen beisammen war, die sich gegen ihre Hemmungslosigkeit empfindlich zeigten, übertrieb sie sich noch. Mit Frauen vertrug sie sich leidlich, ihre Grundeinstellung gegen Männer war eine bachantische Verachtung. Sie hielt jeden Mann für eine Art Mißgebilde, töricht, leichtgläubig, überheblich und weitaus lasterhafter als irgendeine Frau sein konnte. Ein Geschlecht, das die Stirn hat, die Welt regieren zu wollen, und sie so auf den Hund bringt, daß man am liebsten drauf spucken möchte, verdient doch nicht, daß man es ernst nimmt, pflegte sie zu sagen. Über Etzel machte sie sich zunächst bloß lustig, war wütend, daß er immer wieder kam, und bedeutete ihm, er möge sie ungeschoren lassen, er sei ihr »höchst assommant«. Dann gewöhnte sie sich an seine Besuche, war sogar ungehalten, wenn er einmal ausblieb, dann erfuhr sie von Nell Marschall, die wieder von ihren jungen Freunden unterrichtet war, Dinge über ihn, die sie veranlaßten, ihn mit andern Augen zu betrachten. Aber sie traute der Sache nicht recht. »Sie sollen ja ein so rares Exemplar sein,« sagte sie eines Tages, »alle Leute behaupten es.« Er schien verwundert. »Rar? wieso? Ich bin gar nicht rar. Ich bin sehr häufig.« – »Ich verstehe nur eins nicht . . . wenn wirklich was los ist mit Ihnen, warum hängen Sie sich denn an ein Subjekt wie den Lorriner?« – »Vielleicht hilft er mir zu meinem Fortkommen.« – »Unsinn, damit verplempern Sie doch nur Ihre Zeit.« – »Ich hab unmenschlich viel Zeit. In der Beziehung bin ich ein Rockefeller.« – »Was jeden andern zugrund richtet, kann doch nicht zu Ihrem Fortkommen dienen. Ausgerechnet der.« – »Ich bin eine Ausnahme, Spatz. Es ist alles umgekehrt bei mir. Mein Leben ist in Spiegelschrift geschrieben . . .« Sie schaute ihn verdutzt an. In ihren Augen flimmerte eine träge Begehrlichkeit als wolle sie sagen: man könnte es mal mit dir probieren. In seinem Blick hingegen lag die Antwort: ich sag nicht nein, aber zuerst will ich Bescheid haben, vor allem will ich die Wahrheit über die Geschichte mit Lorriner wissen. Die Person ließ ihn nicht kalt. Er dachte es sich nicht ohne Reiz, eine Woche lang ihr Geliebter zu sein. Vorläufig studierte er sie noch, dann würde man sehen. Alles nach der Reihe. Ihre Herkunft Lebensführung Gewohnheiten und Neigungen beschäftigten ihn zum Zweck der Artbestimmung wie einen Käfersammler, der einen noch nicht klassifizierten Deckflügler gefunden hat.

Sie war polnischen Ursprungs, war aber schon als Kind, Kriegskind, nach Deutschland verschlagen worden. Der Vater war Uhrmacher gewesen. Sie war im Elend aufgewachsen. Sie erzählte es stolz. Sie erzählte unter anderm, daß sie als Achtjährige drei Stunden durch den Schnee marschiert sei, weil ihr die Gutsfrau ein Korallenhalsband zu Weihnachten versprochen hatte. Ihre Eltern waren seitdem in die Stadt gezogen, niemand hatte ihr die Korallen gebracht. Als sie hinkam, war die Gutsherrschaft tot, vom Schloß waren nur rauchende Trümmer übrig. Einer der kampierenden Soldaten labte sie mit Branntwein, der Leutnant schenkte ihr eine Pelzjacke, die er von einem Berg von Kleidungsstücken nahm und die ihr viel zu groß und zu weit war, so daß sie eine Schleppe hinter ihr machte. Aber sie fühlte sich märchenhaft glücklich. Daher rührte ihre Leidenschaft für Pelzwerk.

Alles ist erobert in ihrer Existenz, alles auch gesetzlos, das Gestern zählt nicht. Ihre Unordentlichkeit ist einer Zigeunerin würdig. Den ganzen Tag sucht sie ihre Sachen. Beim Aufstehn sucht sie ihr Hemd, im Bad die Seife, bei der Toilette den Schminktiegel, beim Ausgehen die Ringe. Die Zimmer sehen aus wie Jahrmarktsbuden vor dem Abbruch. Ihre Rechnungen bezahlt sie gar nicht oder zweimal. Mit dem Geld ist es überhaupt ein Jammer. Sie weiß nie, wieviel sie besitzt und was sie ausgegeben hat. Wenn nicht ehrliche Leute um sie sind, ist sie verloren. Am Tag, wo sie ihre Gage erhält, versteckt sie eine Handvoll Noten in der Matratze, eine andere in einem Blumentopf oder in einer alten Zigarettenschachtel, braucht sie dann das Geld, so wirft sie alles in der Wohnung verzweifelt durcheinander, und wer zu ihr kommt, muß suchen helfen. Jedem, der sie darum angeht, leiht sie oder schenkt sie, aber weniger aus Gutherzigkeit als aus Großmannssucht und Gedankenlosigkeit. Ebenso gedankenlos nützt sie andere aus, und was man ihr nicht freiwillig gibt, fordert sie ohne die Spur von Scham. Zehn Jahre hat sie von Wurst und Käse gelebt, jetzt will sie Austern und Kaviar haben, natürlich auf fremde Kosten. Sie hat die seltsamsten Gepflogenheiten. Zum Beispiel wandert sie, wenn sie allein ist und sich langweilt, im Zimmer auf und ab, macht einer imaginären Person eine lange Nase und schneidet die scheußlichsten Grimassen. Fast jede Woche hat sie ihren melancholischen Tag, da läßt sie niemand zu sich, verhängt die Fenster, schminkt sich eine Dumme-August-Fratze zurecht und sitzt stundenlang am Klavier, mit dem Zeigefinger Melodien zusammenstoppelnd. Außer einer etwas negerhaften Putzsucht hat sie keine besondern Passionen, ihr Erfolg als Tänzerin beruht mehr auf Clownerie als auf Kunst, trotz ihrer Robustheit ist sie hypochondrisch, medizinische Bücher sind ihre Lieblingslektüre, wenn sie sich in den Finger schneidet, wird sie ohnmächtig. Sie hält sich nicht für schön, aber sie weiß um den Zauber ihres Lächelns und der zwei Wangengrübchen, den Perlmutterglanz ihrer Haut und die sinnliche Ausstrahlung ihres Körpers. Von der Liebe hält sie nichts, hie und da ist sie der Anlaß zu einer Vergnüglichkeit, sonst lediglich ein Mittel, Karriere zu machen. So widerwärtig ihr der Gedanke an eine Ehe ist, einen Grafen zu heiraten wäre sie nicht abgeneigt. Primitiv. Aber solche Geschöpfe sind primitiv.

 


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