Jakob Wassermann
Etzel Andergast
Jakob Wassermann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Neuntes Kapitel

Mit Kerkhoven zu sprechen, in seiner Eigenschaft als Arzt nämlich, hatte sich Etzel Andergast leichter vorgestellt als es war. Obwohl die Ordination erst um neun Uhr begann, war das Wartezimmer schon eine Stunde vorher überfüllt. Zwei Frauen in Pflegerinnentracht schrieben die Namen auf und sorgten für Einhaltung der Reihenfolge. Eine Anzahl ambulanter Fälle stand in der Behandlung des Assistenten Doktor Römer, zu dessen Ordinationsraum einer jener langen Korridore führte, die charakteristisch für die Bauart Berliner Häuser sind. Das Haus lag am Ende der Großen Querallee, ein solides zweistöckiges Gebäude aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts mit einem Portal, das einen Renaissancepalast vorspiegelte. Bis zum Umsturz hatte eine landwirtschaftliche Bank darin amtiert. Im oberen Stock befand sich Kerkhovens Privatwohnung, wo er sich allerdings nur von Mitternacht bis sieben Uhr morgens aufzuhalten pflegte, und auch das nicht immer. Seit er die Leitung der ehemaligen Werther-Françoisschen Nervenheilanstalt übernommen und sie mit Hilfe staatlicher Zuschüsse nach seinen Ideen und Plänen ausgebaut hatte, brachte er zwei- oder dreimal wöchentlich dort die Nacht in einem primitiven Schlafraum zu.

 

Andergast war spät gekommen. Es lag ihm nicht daran, bald vorgelassen zu werden. Eigentlich wünschte er der letzte zu sein. Es war unbehaglich, an Wartende denken zu müssen, wenn man Gewichtiges vorzubringen hatte. Um nicht in müßige Erwägungen über den Ausgang seines Unternehmens zu verfallen, widmete er seine Aufmerksamkeit den Menschen ringsherum, fünfzehn bis zwanzig Gesichtern und doppelt so vielen Augen Schultern Händen Schenkeln und Füßen. Bei seinem entwickelten Sinn für das Soziale und der unzähmbaren Wißbegier danach schöpfte er Belehrung aus jeder Gebärde und Miene, aus der Haltung, der Frisur, der Beschaffenheit der Fingernägel und des Schuhwerks. Anhaltspunkte, die es bei einiger Schärfe der Beobachtung nicht schwer machen konnten, Beruf Lebensweise Charakter und Temperament zu bestimmen. Dennoch wußte er, daß das Vergnügen an diesem Spiel oft nur so lang dauert bis es sich vor der Wirklichkeit als Knacken leerer Nüsse herausstellt. Vielleicht war die überelegant gekleidete Person mit dem gipsweißgepuderten Gesicht, den traubengrünen Fischaugen und hennagefärbten Nägeln keine Filmstatistin oder Sängerin in einem Vorstadtkabarett, sondern Kassiererin in einem Handschuhladen oder ehrbare Gattin eines Automobilagenten; man konnte nie sicher sein, die Grenzen verwischten sich immer mehr, Kleinbürgerinnen sahen aus und betrugen sich wie Kokotten, Schnapsfabrikanten waren nicht von Pastoren zu unterscheiden, Reporter nicht von Diplomaten, und umgekehrt. Die einen gaben es nach oben hin etwas billiger, die andern nach unten hin etwas teurer, jeder wollte das am wenigsten sein, was er war. Immerhin müßte man abschätzen können, ob der kahlköpfige Herr in der Ecke, der mit übergeschlagenen Beinen hochmütig zurückgelehnt dasaß, nichts als eine aufgeblasene Null war, Deklassierter, der es sich selbst verhehlte, oder ob er nicht doch einigen Grund zu der lässigen Überlegenheit des einflußreichen Mannes hatte, die er zur Schau trug. Dann der blasse ältere Herr im Gehrock mit der edlen »Denkerstirn«, der neben der Büste von Helmholtz saß; es hatte den Anschein als sei sein Hirn der Geburtsort eines neuen philosophischen Systems; ebensogut konnten ihn aber die armseligsten Erwägungen beschäftigen, die Höhe der Lebensmittelpreise, Zwistigkeiten in der Familie, ein ärgerlicher Wortwechsel im Amt. Der wie ein lächerlicher Prahler wirkte, konnte ein aufopfernder Bruder sein, die gütigblickende Matrone eine Verleumderin, der Schwätzer, der unaufhörlich seine Nachbarn belästigte, ein genialer Erfinder. Warum konnte man nicht in sie hineinschlüpfen und sie gleichsam überführen, eines jeden Maß und Wahrheit erkennen, seine offene und seine geheime Existenz? Während der junge Mensch mit kalter Ruhe die ungeheuer fremden Gesichter betrachtete, in denen sich Erwartung Ungewißheit Hoffnung Angst und Kummer erschreckend deutlich malte, bekam er einen Begriff von der Macht des Mannes, der sie zwingen konnte, ihm ihre gehütetsten Geheimnisse preiszugeben. Es war Hineingenommenwerden in die Spannung und Willenslockerung all dieser Unbekannten, als wenn der Geist, der hier herrschte, ihn angerührt hätte, und er empfand eine unbestimmte Furcht. Es fehlte nicht viel, und er wäre aufgestanden und weggegangen. Er konnte keinen brauchen, der den eisernen Tresor aufsprengte, um die unter Verschluß gesetzte Seele zu beäugen. Aber wer sollte das fertigbringen? Unsinn. Er wollte ja nichts für sich, kam ja nicht in eigener Sache, es ging um eine andere Person, er selbst blieb außer Spiel.

Meinte er. Und an dieser Täuschung hielt er fest bis zu dem Augenblick, wo der »eiserne Tresor« aufgesprengt war.

 

Innere Veränderungen erleiden wir gewöhnlich nicht auf einmal und unvorbereitet. Es ist in der Regel ein langsamer Prozeß, der sich ohne unser Zutun und Wissen vollzieht. Verschiedene Strömungen vereinigen sich, und irgendein Geschehnis, das mit dem Umschlag in keinem unmittelbaren Zusammenhang zu stehen braucht, wirkt mit, jenen Zustand schmerzhafter Empfänglichkeit zu erzeugen, ohne den das Leben zum Mechanismus wird. Am Morgen vorher hatte Kerkhoven einen Brief von Marie aus Lindow bekommen. Seltsames Schreiben voll Andeutung Sehnsucht Resignation und trüber Betrachtung. Er hatte es zuerst nur flüchtig gelesen, aber die Worte hatten sich festgehakt und ihn hinter seinen Beschäftigungen beschäftigt, so daß er einige Stunden später den Brief aus der Tasche zog und zum zweiten Mal las, aufmerksamer als das erste Mal. Er schüttelte verwundert den Kopf. War das seine aufrechte heitere, nie kleinmütige Marie? Warum die melancholische Versonnenheit, das schier vernehmliche Seufzen um die vergehende Zeit und daß der Frühling so leer sei, so leer und so kalt, und daß sie friere, innen und außen. (»Du weißt, Lieber, mein Lieber, das Frieren werd ich nimmer los, aber heuer ists als seien mir die Blutadern zu Eis geworden.«) Er wußte es. Er hatte sich schon oft Sorgen darüber gemacht. Vermutlich laborierte sie an einer chronischen Zirkulationsstörung. Sie hätte ein paar Monate in den Süden gehen sollen, aber ohne ihn zu reisen, davon wollte sie nichts wissen, und für ihn war es ein unerfüllbarer Traum. Was ihn an dem Brief ein wenig erschreckte, war die Spannungslosigkeit, die Müdigkeit, die er erkennen ließ. Eine glückliche Frau schreibt nicht so, sagte er sich. Und er schüttelte abermals den Kopf, da er ja bis zu diesem Moment überzeugt gewesen, daß sie das gerade war: eine glückliche Frau. Hätte ihn Marie bei diesen Gedanken belauschen können, sie hätte in ihrer zärtlich-spöttischen Weise gelächelt, ganz geschwind und ganz verschwiegen wie über einen geliebten dummen Sohn, der sichs bei Tisch gut schmecken läßt und die Küche über den grünen Klee lobt, ohne im entferntesten zu ahnen, wieviel Kopfzerbrechen und heimliche Opfer der Aufwand Tag für Tag kostet. Denn Marie, das muß hier eingeschaltet werden, ging in der Schonung dieser echt Kerkhovenschen Selbsttäuschung so weit, daß sie eine offenere Kundgebung als das erwähnte Lächeln schon als Verrat an ihm empfunden hätte, vorausgesetzt, er hätte es bemerkt. In der Beziehung glich er einer Zauberfigur, die jedes Jahr einmal die Lider hebt, um sich zu vergewissern, ob in dem Raum, wo sie sich befindet, alle Dinge noch am selben Ort sind: der Tisch, der Ofen, die Truhe, die Frau. Und Maries Aufgabe besteht darin, sich im Moment, wo der geliebte Golem wieder die Augen öffnet, an den Platz zu stellen, wo sie gewesen, als er das vorige Mal die Augen geöffnet hat. Ganz leicht, man muß nur aufpassen und die Zeit wahrnehmen, auf Stunde und Minute läßt sich das Ereignis nicht berechnen, erst wenn er durch ein zufriedenes Nicken festgestellt hat, daß alles in der gewohnten Ordnung ist, kann die Gefahr als beseitigt gelten. Es ist riesig amüsant für Marie, aber auch ein bißchen bitter, und sie kann nichts dafür, daß sich das Bittere Tropfen für Tropfen sammelt und schließlich als Bodensatz in der Existenz verbleibt.

Kerkhoven hatte versucht, den Brief zu vergessen, allein es war wie wenn man sich den Finger geritzt hat, es tut nicht weh und tut doch weh. Als er am späten Nachmittag in die Wohnung kam, um rasch Tee zu trinken, war zu seiner Freude Marie da. Sie hatte sich plötzlich entschlossen, ihrem Brief nachzufahren, sie bereute, ihn geschrieben zu haben, es war eine Dummheit, sagte sie sich, man darf ihn nicht aufschrecken. Sie stellte sich das Gesicht vor, das er beim Lesen gemacht (falls er sich die Zeit zu genauem Lesen überhaupt genommen hatte), sie kannte es so gut, die ratlos blickenden Augen, den bestürzt fragenden Ausdruck eines fälschlich Beschuldigten, unwillkürlich mußte sie lachen. So setzte sie sich ohne viel zu überlegen in ihren kleinen Opel-Wagen, den sie selbst chauffierte, und war schon zu Mittag in der Stadt. Nachdem sie verschiedene Besorgungen erledigt, ging sie zu ihrer Schneiderin, wo man ihr die neuen Pariser Modelle vorführte, unter andern ein begehrenswertes Frühjahrskostüm. Man überredete sie, es zu probieren, es paßte wie angegossen, es machte sie schlank, obschon ihr Körper an Schlankheit nichts zu wünschen übrig ließ, es machte sie um fünf Jahre jünger, obschon ihr niemand mehr als dreißig, höchstens zweiunddreißig gegeben hätte. Verkäuferin, Direktrice, die jungen Fräulein äußerten eine durch die Würde der Kunst gedämpfte Anerkennung, und in einem angenehmen Rausch, im Wunsch, sich selber neu zu werden (der immer bei dem Verlangen nach schönen Dingen mitspielte), schlug sie die guten Vorsätze leichtsinnig in den Wind und erlag der Versuchung. Einige unbedeutende Verbesserungen mußten vorgenommen werden, dann zog sie das Kostüm gleich an, um sich Joseph darin zu zeigen. Und sie wettete im stillen mit sich, daß er es nicht bemerken würde. Wenn er es wider alles Erwarten bemerkte, war sie zu demütiger Abbitte bereit. Es war keine Abbitte nötig. Vergebens stellte sie sich zwei- dreimal auffällig vor ihn hin, vergebens lächelte sie mit fast flehendem Hinweis und dehnte sich ein wenig wie ein Kind, das sich größer machen will, er sah nichts. Dabei weiß sie, daß er eines Tages, in sechs Monaten ungefähr, überrascht fragen wird: hast du nicht ein neues Kleid an, Marie? woher ist es? es steht dir ausgezeichnet; und daß er dann hocherstaunt sein wird, wenn sie ihm erklärt, wie lang er es schon an ihr gesehen hat, ohne es zu sehen. Aber was hat es denn zu bedeuten. Sie erlaubt sich auch nicht, länger daran zu denken als es sich mit der Drastik der Situation verträgt, die in der Wiederholung des Gleichen liegt. Sie hat immer Angst, ihn aus seinem Zauberkreis zu reißen, sie hat einige Übung darin erlangt, sich auszulöschen und zu verschwinden. Ihn nicht stören, das ist seit vielen Jahren der Leitsatz ihres Lebens gewesen, in seiner Befolgung ist sie an den Kindern schier zur Tyrannin geworden; als Aleid noch klein war und die Wohngelegenheit beengt, hat sie immer ihre ganze Aufmerksamkeit darauf richten müssen, daß das Kind nicht zu laut lachte und zu lärmend spielte, wenn er im Hause arbeitete. In den Reden des indischen Buddho wird oftmals von der »innigen Hochachtung« gesprochen, die der heiligen Person gezollt wird. Das war es, was sie allen Menschen, mit denen sie zu tun hatte, für ihn einflößte, innige Hochachtung, genau das, Kindern, Dienstboten, gleichgiltigen Fremden, unabhängig davon, was er durch sich selber war und wirkte. Jetzt hatte sie manchmal die deprimierende Empfindung als hätten sie einander nicht mehr viel zu sagen. Er war außerhalb der Berufstätigkeit so schweigsam geworden, daß auch sie, die so bedürftig war nach Gespräch und Mitteilung, unter der Entbehrung litt wie man an Hunger oder Durst leidet und in seiner Gegenwart zwangvoll verstummte. Jetzt war sie drei Wochen von ihm getrennt gewesen, eine bedrückend lange Zeit, trotzdem sie in diesem Jahr fast den ganzen Winter mit ihm (oder doch im selben Haus wie er) verbracht hatte. Etwas lag ihr schwer auf der Seele, aber sich ihm anzuvertrauen trug sie Bedenken. Sie saß am Fenster, das Kinn in die Hand, den Arm auf das Sims gestützt. Er schritt auf und ab und erzählte ihr mit der Bewegtheit eines Mannes, der nach allem greift, was ihm dienen kann, auch dem scheinbar Entlegenen, weil ihm vieles schon dient, wenn er es bloß ahnt, ein deutscher Forscher habe im chemischen Institut in Schanghai den Nachweis für die Existenz des Protaktiniums geführt, eines rätselhaften Metalls, schwerer als alle bekannten Metalle, das infolge beständiger Atomexplosionen im Dunklen leuchte und mit dem sich die Radiologen seit langem beschäftigten. Marie sah interessiert aus, aber sie hörte nur die Worte. Von Zeit zu Zeit blieb er vor ihr stehen und schaute sie halb zerstreut, halb liebreich an mit diesen wundersamen Augen, deren Blick, wenn er sie traf, wenn er sie wirklich faßte, ihr noch immer durch und durch ging.

 

Endlich sagte sie es ihm doch: sie glaubt sich schwanger. Sie weiß es noch nicht sicher, aber die Wahrscheinlichkeit ist groß. Es steht aber so, daß sie dem Ereignis nicht mit Freude entgegenblickt. Über den Grund kann sie sich keine genaue Rechenschaft geben. Daß sie es nicht gewünscht hat, in diesem Moment des Lebens, kommt nicht in Frage. Es ist die letzte Neige der Jugend, nicht zu leugnen, und vielleicht hat das Schicksal noch etwas mit ihr vor, das erhebender ist als Kindbett und Ammenschaft. Vielleicht, man kann es nicht wissen. Es ist eine kleine dumme Märchenhoffnung, aber es ist so. Ein leiser Trotz regt sich in ihr, wenn sie daran denkt, daß sie sich dem geistlosen Zufall fügen soll, der ihr befiehlt zu gebären, auch wenn Körper und Seele nicht ganz einverstanden sind. Aber darüber käme sie leicht hinweg. Nicht aus Bequemlichkeit sträubt sie sich, ist ihr doch keine Eigenschaft verhaßter und keine ihrer Natur fremder als Bequemlichkeit, auch nicht weil sie sich innerlich der Verantwortung nicht gewachsen fühlt. Zwar kann sie ihre Erfahrungen nicht ausschalten, nicht einmal die physischen, alle ihre Geburten waren schwer, nach jeder hat sie viele Wochen gebraucht, um sich zu erholen. Jedem Kind muß man in einer neuen Weise Mutter sein, mit neuer Bereitschaft, wird man contre cœur hineingezwungen, so fehlt vielleicht der Schwung, die Heiterkeit, der rechte Mut. Sie denkt auch an ihn, an die abermals vermehrte Last, nicht bloß im groben Sinn, für ihn ist ja alles was er liebt zugleich Last Beschwernis Aufenthalt. Zudem wird sie Monate und Monate lang als Kamerad für ihn erledigt sein. Schon jetzt . . . Dies deutet sie zaghaft an, stockt aber sofort, die Lider zittern verdächtig, zugleich lächelt sie, um den Eindruck zu verwischen als beklage sie sich, denn noch nie, seit sie an seiner Seite lebt, ist es zu einer sogenannten Szene gekommen. Tapfer lächelt sie, in der nur ihr eigentümlichen Art: ungefähr wie eine Schülerin, die dem bewunderten Lehrer zu verstehen gibt, nichts was er von ihr verlangt sei für sie zu schwer. Und wartet mit verhaltener Spannung. Denn alles Widerstreben, alle Unlust, alle diese Bedenken, von denen sie weiß, daß sie selbstsüchtig und ihrer nicht ganz würdig sind, kann er durch ein einziges Wort, einen Laut, eine Bewegung fortfegen als wären sie nie gewesen. Darauf wartet sie. Deshalb ist sie eigentlich hier. Es war eine Flucht. Sie ist zu ihm geflohen.

Kerkhoven blickt schweigend in das ihm offen zugewandte ergebene Gesicht, das sich seit vierzehn Jahren in keinem Zug für ihn verändert hat. Er kennt alle Regungen darin, in den »blassen Blumen« spiegeln sich, davon ist er überzeugt, die geheimsten Gedanken. In dieser Hinsicht ähnelt er einem Mann, dem eines Tages ein großes Vermögen in den Schoß gefallen ist und der dann unbekümmert drauflos gelebt hat, ohne je nachzusehen, was er von dem Kapital noch besitzt; er wiegt sich in der angenehmen Illusion, der Überfluß werde ewig dauern. Derselbe Kerkhoven, der als Arzt die verborgensten Seelenschwingungen zu deuten und mit einem ans Wunderbare grenzenden Instinkt dort schon Gefahr und Leidenskeim zu entdecken vermochte, wo stumpfere Beobachter nicht die geringsten Symptome finden konnten, der hatte für den teuersten Menschen keine Augen und ließ sich täuschen durch einen stolz gewahrten Schein. Was in vielen Verhältnissen die Regel ist, wird hier ziemlich merkwürdig, wo es sich um einen Charakter handelt, der im Physischen wie im Seelischen als Feind und Leugner aller Regel auftritt. Auch in Marie bäumt sich alles auf gegen Regel und Tabulatur; schon als Kind war ihr die Vorstellung widerwärtig gewesen, daß jedes Jahr von der Geburt an bis zum Tode dreihundertfünfundsechzig Tage und zweiundfünfzig Sonntage haben sollte. Kam auch in den Schaltjahren noch ein dreihundertsechsundsechzigster Tag hinzu, so war das ein magerer Trost in der arithmetischen Wüste Gobi. Und so hatte sie alles gehaßt was nach der Vorschrift ging, und alles war ihr verleidet, wenn es Programm wurde. Man kann auch einem andern Menschen zum »Programm« werden, das er erledigt, schlecht und recht, dann ade, Schönheit und Traum. Es war wohl so, daß sein Wissen von ihr an einem bestimmten Punkt stehengeblieben ist. Die ungeheuern Ansprüche, die er an sich, die die Existenz an ihn stellte, verboten ihm ganz einfach, zu gewähren, was als ungestillter Wunsch ihr Herz aufzuzehren drohte. Sie war ja da, ihr Bild war da, das Gefühl von ihr war da, das mußte genügen. Sie sagte sich auch: es genügt, es genügt reichlich, und dennoch: es genügte nicht; im untersten Grund des Bewußtseins, dort, wo das »Warten« war, genügte es nicht. Er war in ihren Augen der Meister des Spiels, und sie spielte die Rolle, die er ihr zugeteilt hatte, gehorsam und mit täuschender Wahrheit. Aber verhindern ließ es sich nicht, daß er so über vieles, was sich in der letzten Zeit in und mit ihr ereignet hatte, ahnungslos wie der erstbeste Fremde war. Hätte er sie aufgeschlossen, sie aufzuschließen nur den Willen gehabt, sie hätte ihm seltsame Dinge erzählen können, schwebende, schwer faßbare, die ein großmütiges Verstehen voraussetzten, und unheimlich niedrige, die den Alltag verstörten, wie zum Beispiel das ganze Erlebnis mit der Mutter, das ihr den Aufenthalt in Lindow nachgerade zur Qual machte. In diesem Fall hatte sichs am deutlichsten gezeigt, wie sonderbar er ihr entrückt war, etwa wie einem ein Mensch entrückt ist, dem man fortwährend Briefe schreibt, die er nicht beantwortet. Weil er die Einsamkeit auf dem Gut für sie gefürchtet hatte und es ihm ein unbehaglicher Gedanke gewesen war, sie nur mit den Kindern, ohne einen vertrauten Menschen dort zu wissen, hatte er alles daran gesetzt, daß ihre Mutter nach Lindow übersiedelte. Es war ihm endlich gelungen, den Widerstand der Professorin Martersteig zu besiegen; an das Leben in der Stadt gewöhnt und sehr konservativer Natur, hatte sie sich lange gesträubt, er war wenigstens dreimal deswegen zu ihr nach Dresden gefahren. Natürlich hatte sich Marie den Anschein geben müssen als könne ihr nichts Lieberes geschehen, sie hätte ja keinen triftigen Grund angeben können, weshalb es ihr hätte unlieb sein sollen, seit ihrer ersten Verheiratung hatte sie die Mutter nur drei- oder viermal gesehen, dadurch war ein Gefühl der Verschuldung in ihr entstanden, das ihr die Zustimmung zur Pflicht machte. Des ungeachtet hatte sie Josephs Bemühungen mit banger Verwunderung verfolgt, wie wenn er ihr geheimes Gefühl hätte kennen, wie wenn er hätte voraussehen müssen, wovor sie sich dunkel ängstigte und was dann auch eintraf. Aber das gehörte eben zu den Dingen, die sie halb trotzig, halb um ihn zu schonen mit Schweigen bedeckte.

Und nun sah sie ihn an und wartete, was er sagen würde, ob das eine Wort kam, die eine innere Antwort vielmehr, die ihre Niedergeschlagenheit und lastvolle Traurigkeit in Zuversicht, ja in hellen Jubel verwandelt hätte. Er spürte das Verlangen und daß da etwas unendlich Heikles zwischen ihnen war, das ihn zu bedachtester Sorgsamkeit zwang, denn der Augenblick, wo er es im Entstehen hätte beseitigen können, war, das fühlte er, unwiederbringlich vorüber. Er war zu betroffen, um sich zunächst auch nur tröstend oder aufmunternd äußern zu können, er fand nicht einmal die Bestimmtheit der Haltung, die Marie, wie er wohl wußte, in jeder Situation mit der Überschwenglichkeit einer Achtzehnjährigen von ihm erwartete. Er glich einem Pferd, das mitten im Lauf stutzt, weil ein Balken überm Weg liegt. Erst nach und nach faßte er sich und redete ihr gütig zu. Er räumte ein, daß er ein wenig erschrocken sei, aber es sei ja töricht, es sei frevlerisch, darüber zu erschrecken, viel eher sei Anlaß zur Sorge für ihn, daß sie so verstimmt scheine. Marie lehnte den Kopf an seine Schulter und schwieg. »Du bleibst doch in der Stadt?« fragte er, indem er etwas nervös auf die Uhr sah. Sie nickte. »Ich möchte jetzt gern bei dir bleiben,« sagte sie, »oder wenigstens,« korrigierte sie sich eilig, »da sein, wo du bist.« – »Fein,« sagte er und küßte sie auf die Stirn, »ich will trachten, daß ich bald zuhause bin.« Dann ging er. Als Marie allein war, schaute sie die Tür an, durch die er verschwunden war, und ihre Augen füllten sich mit Tränen, die sie mit einer zornigen Kopfbewegung unterdrückte.

 

Etzel Andergast trat ein, setzte sich auf die stumme Aufforderung Kerkhovens diesem gegenüber und wartete die erste Frage ab. Es war schon das Ende der Ordination, Kerkhoven war ermüdet, er ließ einige Minuten verstreichen, bevor er sich dem Besucher zuwandte, und füllte die Frist damit aus, daß er ein paar Stichworte auf ein Blatt Papier schrieb und nur hie und da einen prüfenden Blick auf den vor ihm Sitzenden warf. Dann forderte er ihn auf zu sprechen. Nach den ersten zehn Sätzen war seine ganze Aufmerksamkeit wach. Eine sonderbarere Sache war ihm nie vorgetragen worden, und in welcher Weise noch dazu. Keine Befangenheit, keine Redensarten, kein äußeres Zeichen der Teilnahme, hart kalt knapp sachlich. Kerkhoven stützte das Kinn auf die Hand, neigte den Kopf ein wenig zur Seite, und mit halbgesenkten Lidern nahm er das Bild des Redenden in sich auf. Alles war ungewöhnlich an dem jungen Menschen, zum Beispiel war er mit gesuchter Sorgfalt gekleidet, dabei mindestens seit drei Tagen nicht rasiert; er hatte zarte Gelenke und lange schmale geistreiche Hände, aber der Brustkorb und die Schultern waren die eines Lastträgers, breit gedrungen muskulös; sein Dasitzen mit an den Leib gedrückten Armen hatte etwas Ungeduldiges wie bei einem Gefesselten, damit kontrastierte wieder die maskenhafte Starrheit des Gesichts, das von Kälte und Fühllosigkeit wie von einer Kruste überzogen und von Weichheit Träumerei und ähnlichen überholten Empfindungen nichts zu wissen schien, was um so befremdlicher wirkte als es trotz einer gewissen übernächtigen Mitgenommenheit ein recht wohlgebildetes Gesicht war, fast schön in seinen klaren und regelmäßigen Umrissen, mit Augen, die ein Kapitel für sich waren, man vergaß sie schwerlich, wenn sie einen einmal angeschaut hatten: grau, grüngetöntes Grau, mit bösen spöttischen jagenden Lichtern, ungeheuerlich erfahren und auf eine verschlagene und täuschenwollende Art jung; in manchen Momenten funkelte es krank und wild in ihnen auf, mit eingespritzten goldenen Körnern in der Iris, in manchen wieder waren es die Augen eines galgenhumoristisch aufgelegten Walzbruders, dreist bieder unbekümmert. Sie mußten übrigens, wie Kerkhoven gleich feststellte, hochgradig kurzsichtig sein, das häufige Zwinkern und der verhängte Blick ließen mit Sicherheit darauf schließen, beim Lesen und Schreiben bediente er sich wohl einer Brille, vermutlich nicht unter zehn Dioptrien, merkwürdig, daß er sie nicht ständig trug, es konnte sein, daß er seine Sehkraft ernstlich gefährdete, man mußte es ihm gelegentlich sagen. Wo kam der Mensch her? was war er? was stellte er vor? Jedenfalls eine seltsame Vereinigung anziehender und abstoßender Elemente, in einer Form, daß man beinah den Eindruck von Mystifikation oder Schauspielerei gewann, neckend und unheimlich.

 

Was ihn veranlaßt hat herzukommen, ist eine ganze Geschichte. Fraglich, ob er es ordentlich und in der richtigen Folge erzählen kann, er bittet im voraus um Verzeihung, wenn es verworren klingt, aber in seinem Kopf geht noch alles drunter und drüber, zudem hat er seit zwei Nächten nicht geschlafen. Doch handelt es sich nicht um ihn selber, das zu betonen ist wohl überflüssig, in dem Fall hätte er sich zu einem solchen Schritt nicht entschlossen. Es hat sich im Verlauf von gewissen unglückseligen Ereignissen eine Situation ergeben, bei der eine Familie in Mitleidenschaft gezogen ist, die sich ohnehin in einem Zustand befindet, für den der Ausdruck Verzweiflung noch gelind ist, und da er diesen Menschen nahesteht, hat er es auf sich genommen und ist da. Es muß eingegriffen werden, bevor noch weiteres Malheur passiert, und zwar von jemand, der Macht über eine heillos verstörte Seele hat. Daß er mit seinem Anliegen an der richtigen Stelle ist, weiß er, obschon er sich das Herz dazu erst gefaßt hat, nachdem ihm Eleanor Marschall gestern gesagt: geh zu Professor Kerkhoven, geh sofort zu ihm, er wird dich anhören, er wird dir helfen. Folgendes ist geschehen. Vor fünf Tagen, in der Nacht vom elften auf den zwölften März, hat sich sein Freund Roderich Lüttgens erschossen, dreiundzwanzig Jahre alt, Sohn des bekannten Redakteurs und sozialistischen Abgeordneten. Kerkhoven hob den Kopf. Schon bei dem Namen Eleanor Marschall hatte er aufgehorcht. Er wußte von ihr. Sie war die Gründerin der Jugendsiedlung in Britz bei Tempelhof, eine junge Amerikanerin, deren Reichtum und extravaganter Charakter gewissen Kreisen seit Monaten Stoff zu aufgeregtem Gerede lieferten. Der Fall Lüttgens war als besonders tragisches Ereignis in allen Zeitungen erörtert worden, schon wegen der Persönlichkeit des Betroffenen, der als führender Politiker im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses stand und (ein weißer Rabe) wegen seiner Ehrenhaftigkeit und moralischen Unbeflecktheit auch von den Gegnern geachtet war. Er hatte nicht nur den Verlust des einzigen Sohnes zu beklagen, auch die Frau war ihm am selben Tag entrissen worden, sie hatte sich zwölf Stunden mit aller Kraft zusammengenommen, hatte in erstaunlicher Haltung das Nötige angeordnet, sogar, wie versichert wurde, dem Mann und den beiden Töchtern mit heiterer Ruhe Mut zugesprochen, plötzlich war sie, im Übermaß des beherrschten Schmerzes, zusammengebrochen, ein Herzschlag hatte ihr Leben beendet. Als Etzel Andergast an Kerkhovens Miene erkannte, daß er um diese Vorgänge von ungefähr wußte, nickte er erleichtert, weil er sich dadurch kürzer fassen durfte, und schwieg einige Zeit mit sorgenvoll verzogener Stirn. Wie nicht anders zu erwarten, habe man von Mißhelligkeiten zwischen Roderich und seinen Eltern gefabelt, berichtete er weiter. Daran sei kein wahres Wort. Namentlich das Verhältnis zwischen Vater und Sohn sei das herzlichste gewesen, das man sich denken könne, wie zwischen ungleichaltrigen Brüdern, zärtlich und nachsichtig von der einen Seite, voll Vertrauen und Respekt von der andern. Nach seinem, Andergasts, Geschmack sei es sogar des Guten zuviel gewesen. (Wieso das? dachte Kerkhoven, zuviel Vertrauen? zuviel Liebe?) Jedenfalls gibt es für Roderichs Selbstmord kein nur halbwegs plausibles Motiv, deshalb erwähnt er die blödsinnigen Gerüchte. Auch er war total stuff und konnte sich die Sache auf keine Weise erklären. (Ob er in dem Punkt ganz aufrichtig ist? dachte Kerkhoven; mit seinem für jede Schattierung in Stimme und Tonfall empfänglichen Ohr glaubte er eine leise Übertriebenheit in der Beteuerung herauszuhören, die auf ein verhehltes Anderswissen schließen ließ, jedoch er tat natürlich als hege er nicht den leisesten Zweifel.) Schließlich kann man sich nicht wundern, meinte Andergast, die Jungs und Mädels haben es bereits in der Übung, es braucht ihnen bloß der Daumen zu jucken, da knallt es schon. Am Sonntag Abend ist er noch mit Roderich beisammengewesen, in größerer Gesellschaft, gegen elf sind sie nachhause gegangen, vor dem Schlafengehen hat er über irgendeine Dummheit auf der Treppe so laut gelacht, daß ihn Etzel hat ermahnen müssen, er solle seine Leute nicht aufwecken, dann ist jeder in sein Zimmer gegangen, und eine Viertelstunde später krachte der Schuß. Auf einen fragenden Blick Kerkhovens schaltete er erläuternd ein, Lüttgens hätten ihm seit November in ihrer Gartenvilla in der Lessingstraße eine Mansardenstube eingeräumt, und er habe das gastliche Anerbieten angenommen, wenigstens für gewisse Tage oder Wochen, denn er habe eigentlich kein ständiges Quartier, wohne bei verschiedenen Freunden, bald bei dem, bald bei jenem, oft auch draußen in der Marschallschen Siedlung. Das sei natürlich nicht von Belang, er teile es aber mit, um die Beziehung zu Lüttgens klarzustellen, da er nicht allein mit Roderich befreundet gewesen sei, sondern auch mit den Schwestern gut stehe, namentlich mit Hilde, der älteren, und indem er sie erwähne, sei er auch schon beim entscheidenden Punkt.

 


 << zurück weiter >>