Jakob Wassermann
Etzel Andergast
Jakob Wassermann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Weiß Nell Marschall Bescheid über Emma Sperling, oder ist sie ahnungslos? Ist ihre leidenschaftliche Freundschaft für sie, der Enthusiasmus, mit dem sie von ihr spricht, ehrlich oder nicht? Ist es nur blümerantes Weibergetue oder wirkliche Verblendung, die man ihr nicht anrechnen darf und der einmal, so oder so, die Erkenntnis folgen wird? Steckt eine Politik dahinter und welche, oder ist es ein leeres Feuerwerk? Glaubt sie an das Frauenzimmer, oder ist es Seifenbläserei mit eingebildeten Gefühlen? Das waren die Fragen, die Etzel nach der Szene in Lorriners Wohnung nicht zur Ruhe kommen ließen. Der Grund ist zunächst nicht einzusehen. Was konnte ihm daran liegen, was Nell an Emma Sperling zu lieben und zu bewundern fand? Was war für ihn gewonnen, wenn Nell in Emma das verächtliche Geschöpf sah, das sie in seinen Augen war? Was ging es ihn überhaupt an? Nichts erklärlicher am Ende, als daß eine so schwärmerisch veranlagte Person wie Nell, Altruistin durch und durch, von diesem lebendigen Spielzeug, diesem hübschen kleinen Insekt berückt war und sich nicht viel darum kümmerte, was für Unfug es in der Welt stiftete. Und mehr war es bestimmt nicht als äußere Berückung, vielleicht nicht einmal mehr als das exzentrische Vergnügen an der Gegenspielerin, Sehnsucht des beschwerten Menschen nach dem, der keine Schwere hat. Eine erotische Beziehung kam gar nicht in Betracht, wenn man Nell Marschall kannte.

Aber um Nell selber handelte es sich für Etzel erst in zweiter Linie. Die Sache war für ihn ziemlich ernst. Um zu verstehen warum, müssen wir sein Verhältnis zur Siedlung kennen. Anfangs, als er davon hörte, auch nach einigen flüchtigen Besuchen, war er nicht sonderlich begeistert gewesen, er sagte sich, es ist eines der zahllosen Experimente, in denen das schlechte Gewissen der oberen Klassen zum Vorschein kommt. Die amerikanische Abstammung der Gründerin verringerte sein Mißtrauen auch nicht. Aber dann änderte sich seine Meinung. Als er sich von der Großzügigkeit der Anlage, der zielbewußten Führung, der Opferfreudigkeit Nells überzeugt hatte; als viele seiner Freunde und Freundinnen, die ohne Angehörige und zu arm waren, um sich ein möbliertes Zimmer zu leisten, Hunderte von mittellosen Universitätshörern, Kunst- und Musikschülern, Söhne und Töchter zugrunde gegangener Familien, nicht eingeschriebene Arbeitslose, Literaten ohne Erwerb, Journalisten ohne Anstellung, durchwegs junge Leute, denn für solche war die Siedlung ausschließlich bestimmt, als alle diese dort Aufnahme fanden, wobei weder nach der Konfession noch der politischen Richtung gefragt wurde, sondern nur Bedürftigkeit und Würdigkeit den Ausschlag gaben, da war er Feuer und Flamme für das Unternehmen, auf das wir zunächst einen Blick werfen müssen.

Es gibt in jener Gegend Berlins zahlreiche solcher Massenniederlassungen, die den verschiedensten Zwecken dienen, humanitären und pädagogischen, aus privater Initiative oder staatlicher Werktätigkeit entstandene. Sie haben unverkennbare Typen-Ähnlichkeit miteinander; obschon die Not ihr Baumeister war, drückt sich in allen das gleiche Verlangen nach Befreiung von erstarrten Lebensformen aus. Hier war es nicht anders, höchstens daß das äußere Bild sich ungewöhnlich vorteilhaft gab. Ein ausgedehntes Areal, fünfzig bis sechzig recht ansehnliche Blockhäuser. Jedes bot Raum für zwölf Insassen, diese zwölf machten einen sogenannten Ring aus, der dem Ringführer oder der -führerin unterstand. Im Zentrum die Wirtschafts- und Gesellschaftshäuser, Sportplätze und Nutzpflanzungen sowie das Haus, in welchem Eleanor Marschall mit dem Stab ihrer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen wohnte. Es hieß, die Erbauung dieser kleinen Stadt habe sie viereinhalb Millionen Mark gekostet, die Ausgaben für die Erhaltung beliefen sich auf sechs- bis siebenhunderttausend Mark (eine auffallend niedrige Ziffer übrigens). All dies zeugte von fürstlicher Generosität, die auf fast unbegrenzten Reichtum schließen ließ, die Gerüchte konnten nicht aus der Luft gegriffen sein, die Nell Marschall als einzige Tochter eines Pittsburger Stahlmagnaten und Erbin eines jener phantastischen Dollarvermögen bezeichneten, von denen man bei uns nur scheu zu flüstern wagt. Wunderlicherweise erlaubte sie keinem ihrer Freunde eine Anspielung darauf, auch die scherzhafteste empfand sie als grobe Taktlosigkeit und verzieh sie nicht leicht. Sie wollte an ihre Vergangenheit nicht erinnert werden, als sei der maßlose Luxus, in dem sie aufgewachsen, ein Fehltritt, den sie sich hatte zuschulden kommen lassen. In der Hinsicht wie in mancher sonst noch trat die Puritanerin und Enkelin von Puritanern hervor. Wahrscheinlich hätten ihre Mittel es ihr ohne weiteres verstattet, die Stiftung für viele Jahre hinaus sicher zu stellen, jedoch das lag nicht in ihrer Absicht, sie wollte etwas Vorbildliches schaffen und die Entschlußkraft zu gleichem Tun in andern wecken. Daß sie an Befristung und spätere Ablösung dachte, jedenfalls keine Verbindlichkeit für ewige Zeiten eingehen wollte, bewies der Vertrag, den sie mit der Stadtgemeinde geschlossen, wonach ihr eine erhebliche Subvention gegen Abtretung von Grund und Boden und sämtlicher Immobilien nach Ablauf von zwanzig Jahren gewährt wurde. Der Charakter der Siedlung war der einer kommunistischen Genossenschaft. Jeder Aufgenommene war gehalten, von jedem Verdienst, jedem Einkommen, auch dem kleinsten, einen bestimmten Prozentsatz abzugeben, ferner seinen Platz sofort einem andern zu überlassen, wenn sich seine Lebensumstände derart verbesserten, daß er auf Hilfe nicht mehr angewiesen war; er hatte dann ein Jahr lang nachträglich einen angemessenen Monatsbeitrag zu entrichten, und es muß gesagt werden, daß nicht ein einziger Fall eintrat, wo sich jemand dieser Pflicht entzogen hätte. Es gab keine Handwerker, keine Bedienung, keine Köche und Köchinnen, keine Aufsichtspersonen, alles war Gemeinschaftsarbeit, in wechselndem Turnus mit genauer Stundeneinteilung den Ringen auferlegt, weshalb auch die Regiekosten verhältnismäßig gering waren. Wenn einer häufiger Gast war, wie Etzel zum Beispiel, wurde ihm das Patronat über zwei oder drei Jüngere übertragen, die zum Fortkommen wenig geschickt waren und für die er nach besten Kräften zu sorgen hatte. Jede einzelne Einrichtung bekundete den durchdringenden Verstand der Urheberin, ihre organisatorische Begabung, ihre Lebenskenntnis und ihre weibliche Phantasie für das Soziale. Da war nichts Doktrinäres, nichts von der Verbissenheit der theoretischen Weltbeglücker, die sich und andern immerzu ihre sittliche Mission beweisen müssen, ein Geist der Heiterkeit und natürlichen Freiheit strahlte von ihr aus, der auf das ganze Gemeinwesen überging und ihm sein eigentliches Gepräge verlieh. Alle diese jungen Menschen, die sie vor Elend und Untergang gerettet hatte, waren ihre Brüder und Schwestern, von vielen kannte sie genau den Lebensgang, die einzelnen Lebensereignisse, Gesinnung und Neigungen, viele zog sie in ihre persönliche Nähe, duzte sie und ließ sich von ihnen duzen, ihre Lieblinge überhäufte sie mit Schmeicheleien und Kosenamen, keine Verlegenheit und Not, wo sie nicht augenblicks eingegriffen hätte, auch wenn einer davon betroffen war, der ihr nicht besonders nahe stand, auch wenn sie mit andern und wichtigeren Angelegenheiten beschäftigt war. Jeder wußte es. Man hat für eine dringliche Anschaffung kein Geld, man geht zu Nell; man braucht einen Paß, eine Empfehlung, Fürsprache bei einer Behörde, man wendet sich an Nell; es ist ein Meinungsstreit ausgebrochen, Nell soll ihn schlichten; man steht vor einer schweren Entscheidung, Nell soll raten. Nell kann alles, ordnet alles, findet immer einen Weg. Nell ist eine Art Schwester-Königin, das Reich, das sie beherrscht, ist ein richtiges Matriarchat.

So etwas war ganz nach Etzels Sinn. Er hatte eine heimliche Vorliebe für das human Gelockerte einer Gemeinschaft, deren Seele eine Frau war. Es hing wohl mit Regungen zusammen, die tief in seinem Innern verlagert waren, gewaltsam von ihm erstickte Erinnerungen an die Mutter, und mit jener Zärtlichkeitsentbehrung, von der Kerkhoven einmal gesprochen hatte. Wo immer sich der Anlaß bot, pries er Nell Marschall, nannte sie eine zweite Jane Addams, eine Person großen Stils, vor der man sich zu neigen habe. Es war selten, daß er in der Anerkennung so weit ging, Menschen wie er, die frühzeitig üble Erfahrungen gemacht haben, behalten für immer etwas Einschränkendes in ihrem Urteil, sie sind nicht mehr beherzt genug zu einem unbedingten Ja. Umso glücklicher macht es sie, wenn sie sich der Hemmung einmal entledigen können, da wird die gefesselte Empfindung zum freien Strom. Er hatte niemals Kritik an Nell geübt; selbst wenn sie ihm Grund dazu gab, ließ er seine Gedanken nicht bis an die gefährliche Zone, sie war ihm einfach tabu. Und nun war das gekommen. Dieser Zweifel. Dieser häßliche Verdacht. Dieser Schatten oder nur geargwohnte Schatten über einem Bild, dem er Verehrung hatte zollen dürfen. Keine Kleinigkeit. Es gab nicht so viel verehrenswerte Leute. Kerkhoven, ja der. Aber Kerkhoven war der Meister, die große Ausnahme, an ihm konnte überhaupt nichts und niemand gemessen werden. Er konnte aber nicht der Einzige sein, konnte nicht alle andern ersetzen, es mußten doch ein paar übrig bleiben, an die man sich außerdem halten konnte, die nicht versagten, sich nicht untreu wurden, deren Sein und Tun sich nicht als Humbug herausstellte, wenn man es unter die Lupe nahm. Wundern wir uns nicht über die unerbittliche Strenge eines jungen Menschen, der sich zu allen Dingen der Welt, allem Geschehen, allen Worten, allen Gesichtern in einem Verhältnis qualvoller Spannung befand und an einem Punkte seines Lebens war, wo er Enttäuschungen schlechtweg nicht mehr ertrug, so wie ein überreizter Nerv keine Berührung mehr aushält, ohne unsinnige Schmerzen zu verursachen. Wäre der Fall um einen Grad weniger ernsthaft, so brauchten wir uns um diese fortwährenden Windmühlenkämpfe nicht länger zu kümmern und könnten den gerechten Kammacher, als der er vielleicht manchen erscheint, sich selbst überlassen. Man fragt sich in der Tat, was ihn daran stört und erregt, daß Nell und die Tänzerin Emma Sperling ein Herz und eine Seele sind, was es groß für ihn bedeuten kann, selbst wenn sich Nell in ihrem Innern keiner Illusion über Emmas Charakter hingibt. Nun, er überlegte so: ist Emmas abgründige Verlogenheit kein Geheimnis für Nell, und vergöttert Nell sie trotzdem, so ist sie nicht das, was sie scheint; man kann nicht mit der verkörperten Lüge in innigem Kontakt leben, ohne was davon abzubekommen und selber ein Stück Lüge zu werden; unter diesen Umständen kann man nicht bloß an sie nicht mehr glauben, sondern auch an ihr Werk nicht, was einen daran überzeugt und zur Bewunderung hingerissen hat, muß noch einmal untersucht werden, und man hat sich zu vergewissern, ob man nicht das Opfer eines Betruges geworden ist und wo der Wurm im Holze sitzt; etwas ist faul im Staate Dänemark, mag Nell bona fide sein oder nicht, und ob sies ist, muß zu allererst ins klare gebracht werden . . . Weitgehende Folgerungen, überheblich und abstrus wären sie zu nennen, wenn sie nicht aus der äußersten Lebensunsicherheit, der verzweifelten Suche nach festem Boden entstanden wären. Auf dem Weg, den er einschlug, machte er unerwartete Entdeckungen, die nicht geeignet waren, sein Gleichmaß wiederherzustellen. Krankhaft gesteigerte Hellsichtigkeit gewährte ihm Einblicke, auf die seine Sinne sonst wohl kaum geantwortet hätten.

 

Er kam täglich in die Siedlung. Sprach mit Freunden, suchte den und jenen auf, trieb sich in den Gassen herum, in der Bibliothek, in den Werkstätten, half bei einer Arbeit, schrieb Briefe, und zum Schluß, am Abend meistens, fand er sich bei Nell Marschall ein, in dem geräumigen, mit fast japanischer Kargheit ausgestatteten Zimmer, wo sich nach dem Nachtessen ihre Bevorzugten zu versammeln pflegten. Da saß er stundenlang in einer Ecke, fast unbeachtet, und hörte mit merkwürdig stillem Gesicht den Gesprächen zu. Obwohl die schwachsichtigen Augen immer halb gesenkt waren, schien ihnen nichts zu entgehen, keine Gebärde, kein Lächeln, kein Spiel der Mienen. Manchmal trat Nell an ihn heran, legte die Hand auf seinen Kopf, beugte sich ein wenig zu ihm herunter und fragte mit ihrer hellen Glockenstimme: »And you, darling? what's the matter with you? Wach auf mein Herz und singe!« Dann lachte sie übermütig, schüttelte ihn heftig bei den Haaren und rückte ihn so in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Für die Dauer von zwei Minuten. Er kannte das. Es ließ ihn kalt. Er sang nicht. Er heuchelte leichtes Geschmeicheltsein wie ein Kater. Wenn sie im Kreise ihrer Gäste saß und erzählte, war atemloses Lauschen in seinem Gesicht. Die Augen öffneten sich plötzlich und hatten einen begierigen Glanz. Ihr Mutterwitz, die treffenden Bemerkungen, ihre Gabe, Menschen und Begebenheiten plastisch hinzustellen, ihre funkelnde Beredsamkeit, das alles trank er gleichsam in sich hinein, und in Momenten, wo er sich vergaß, erstarrte ein fragender Ausdruck in seinen Mienen, und er glich jemand, der noch immer bei Tisch sitzt, wenn schon längst alle aufgestanden sind. Es geschah zuweilen, daß ihn Nell von der Seite ansah, scharf und rasch, als sei ihr sein Benehmen nicht ganz geheuer. Da sie sehr feinfühlig und wie alle ihrer selbst nicht sicheren Menschen im Erraten dessen, was im andern vorging, oft geradezu clairvoyant war, wurde sie in seiner Nähe immer unruhiger und unruhiger.

 

Eines Abends, Ende Mai, kam er früher als gewöhnlich, der große Saal war noch leer. Er stellte sich an eines der Fenster und schaute in die Purpurröte des westlichen Himmels. Da vernahm er Gelächter und Stimmen aus einem anstoßenden Raum, Nells Stimme und eine zweite, die er ebenfalls kannte. Er ging hin und pochte leise an die Tür. Er war sich der Ungehörigkeit seines Beginnens bewußt, setzte sich aber darüber hinweg. Man rief drinnen, er trat ein. An der Schwelle stutzt er. Das Bild, das sich ihm bietet, ist ein wenig sonderbar. Vor einem dreiteiligen großen Toilettespiegel stehen Nell und Emma Sperling. Emma, mit ihrem frechen Gassenjungengesicht, den Grübchen in den Wangen und dem saugenden Märchenlächeln, ist voll Eifer dabei, der andern einige Tanzbewegungen zu zeigen, die sie offenbar für ihre Produktionen erfunden hat und die nicht eben dezent sind. Bisweilen stößt sie einen kleinen bellenden Schrei aus und schneidet ihrem Spiegelbild eine Fratze. Sie scheint Nell aufgefordert zu haben, den Partner zu markieren, denn Nell steht in ziemlich alberner Pose daneben, die Arme in der Luft, das linke Bein vorgestreckt. Sie sieht furchtbar komisch aus, und als Emma herausplatzt, kann sich Nell gleichfalls nicht mehr halten, ein Doppelgelächter bricht aus, Baß und Diskant. Als sie Etzels ansichtig werden, machen sie etwas erstaunte Gesichter, lassen sich aber im Lachen nicht weiter stören. Endlich haben sie genug, Nell, ganz erhitzt und matt, sinkt in einen Stuhl, Emma, die Etzel flüchtig zugenickt hat und dann von seiner Anwesenheit keine Notiz mehr nimmt, findet plötzlich, daß es höchste Zeit sei, zu gehen, um neun Uhr beginnt die Vorstellung, es ist halb. Aber das Auto steht ja draußen. Sie rafft ihre Sachen zusammen, schwatzt dabei unablässig und verabschiedet sich von Nell. Sie umarmen und küssen einander. Nell ist tief gerührt. Ihre Augen leuchten noch, als Emma längst verschwunden ist. Sie schaut Etzel mit naivem Entzücken an und erwartet, dasselbe Entzücken in seinem Gesicht zu sehen. Da dies nicht der Fall ist, verändert sich ihre Miene, sie scheint sich seines eigenmächtigen Eindringens zu erinnern und es nachträglich zu mißbilligen. Dennoch versucht sie, seine verletzende Gleichgültigkeit zu übersehen, er ist vielleicht nur zerstreut, denkt sie, und um ihn an das zu mahnen, was er ihrer gehobenen Stimmung und der Situation schuldig ist, fragt sie halb ungeduldig, halb aufmunternd: »Ist sie nicht ein Engel? Ist es nicht ein Glück, daß ein so süßes Geschöpf existiert?« Etzel hat sich ihr gegenüber in einen Sessel niedergelassen. Er steht noch einmal auf, schließt die Tür nach dem Saal, die nur angelehnt war, setzt sich wieder. »Sag mir aufrichtig, Nell, was hältst du eigentlich von ihr?« fängt er an. Nell versteht nicht. Was sie von Spatz hält? Hat sie recht gehört? Einfältige Frage. Was sie von einem Wesen hält, das . . . doch wozu Worte? Er scheint nicht bei Trost zu sein. – »Verzeih, Nell,« sagt er gelassen, wobei aber die Nasenflügel leicht vibrieren, »ich frage ja nicht zum Spaß oder um dich zu ärgern. Auch nicht, um deine auswendige Meinung zu hören, sondern deine inwendige.« – Was auswendig, was inwendig? Nell versteht noch immer nicht. Keine Silbe begreift sie. Sie schaut ihn fassungslos an. Da scheint ihr ein Licht aufzugehen. Em fraulich-mitleidiger Blick trifft ihn, ihre Augen schimmere sogar feucht. »Armer Kerl,« flüsterte sie, »ich kann mir gut vorstellen, daß sie dich leiden macht. Damit mußt du dich abfinden. Undinen und Elfen kann man nicht erobern. Die kann man nicht besitzen. Du bist zu verwöhnt darin, darling. Du bist ein blinder kleiner Fresser. Du meinst, alle Frauen sind über einen Kamm zu scheren. Ich fühle ja mit dir, aber andererseits . . . glaub mir, es ist dir ganz gesund, daß du mal auf die Ausnahme stößt und deinen Willen nicht bekommst.« Sie lächelt ihm gütig zu, beugt sich ein wenig vor und will seine Hand ergreifen. Als er sie ihr schroff entzieht, schüttelt sie erschrocken den Kopf. Er ist über und über errötet. Er empfindet keine Lachlust, kein Erstaunen, er schämt sich, daß jemand, den zu respektieren er alle Ursache hat, so maßlos törichtes Zeug redet. Deshalb ist er rot geworden. Er sinnt darüber nach, wie er sich verhalten soll. Es ist möglich, daß ihm Nell um jeden Preis entschlüpfen will, daß ihr seine Fragen äußerst unbequem sind und daß sie durchtriebenerweise diese Parade gewählt hat, die ihm nach ihrer Meinung den Mund verschließen muß. Es ist aber auch möglich, daß sie völlig überzeugt ist von dem, was sie sagt, und keinen Begriff hat von dem, worauf er bis jetzt nur vorsichtig angespielt hat. Das wären dann allerdings zwei ganz verschiedene Nells: eine, der er die Maske vom Gesicht reißen, und eine, der er einen Fetisch zerschlagen muß. Es wird sich zeigen, mit welcher er zu tun hat. (Er stellt sich die Welt noch immer zu einfach vor, als ob sich jeder Charakter auf eine Formel bringen ließe.) Indessen merkt er, daß ihre Geduld zu Ende geht, obwohl sie ihn noch liebreich lächelnd betrachtet. Mit der Bewegung eines Menschen, der das Versteckenspiel satt hat, sagt er rauh: »Weißt du denn nicht, Nell, daß Emma eine verworfene kleine Bestie ist? Eine Person, mit der man über das was anständig und was gemein ist gar nicht rechten kann, weil ihr das Unterscheidungsvermögen fehlt, die aber ein anständiger Mensch nicht über seine Schwelle läßt, wenn er sich nicht beschmutzen will –? Weißt du nicht, daß sie dem armen Roderich, als er nur noch mit einer Hand am Abgrund hing, den letzten Fußtritt versetzt hat? Weißt du auch nicht, daß sie Lorriner als das unwiderstehliche Hürchen, das sie ist, zuerst geködert und dann kaltblütig verkauft hat? Lorriner hat es nie zugestanden, mit Hebeln und Schrauben hätte man es nicht aus ihm herausbringen können, für den war sie ja . . . weiß Gott was . . . die große Astarte . . . da kuschte er . . . nahm alles hin, wie ihr Knecht, ihr Söldling . . . nur zum Schluß würgte sichs aus ihm heraus . . . da konnt er nicht mehr . . . das muß man erlebt haben . . . aber ich sag dirs jetzt, Nell, damit dus weißt. Auch ich hab einige Zeit gebraucht, bis ich dahinter gekommen bin, was für ein Früchtchen sie ist, obgleich ich sie nie für was anderes als einen Blender und Irrwisch gehalten habe.«

Die Wirkung dieser Worte ist schwer zu beschreiben. Nell sitzt regungslos, beide Hände auf den Knieen. Ihr Gesicht wechselt mehrmals schnell nacheinander die Farbe, von tiefer Blässe zu hektischer Glut. Ihr hübsches eigensinniges Kinn ist leicht vorgestreckt, wodurch die Kopfhaltung etwas Puppenhaftes bekommt und die Lider sich automatisch halb schließen. Die Züge haben den Ausdruck gespanntester Aufmerksamkeit und angestrengten Nachdenkens als müsse sie ihre ganze Geisteskraft aufbieten, um sich zurechtzufinden. Das dauert eine ziemliche Weile. Vom Saal herein dringen lebhaft redende Stimmen, die Korona hat sich offenbar schon versammelt. Nell dreht den Kopf und lauscht. Dadurch gewinnt sie Zeit. Dann steht sie mit jäher Bewegung auf, Etzel erhebt sich gleichfalls. Sie packt ihn am Ärmel und zieht ihn zu der dem Saal gegenüberliegenden Tür, von da in das nächste Zimmer, das finster ist, und nachdem sie dieses durchquert hat, in das dritte, wo sie Licht aufdreht. Es ist ihr Schlafgemach, ein bescheiden ausgestatteter kleiner Raum. Sorgfältig schließt sie die Tür, lauscht noch einmal zurück, streicht die schönen hellblonden Haare aus der Stirn. Nun wendet sie sich zu Etzel, der noch immer nicht wenig verblüfft ist von der wilden Energie, mit der sie ihn hierher befördert hat, und ergreift seine beiden Handgelenke. Ihre Brust atmet heftig. Ihre Augen blitzen ihn an wie zwei polierte Steine. Ihr Mund ist seinem Gesicht so nah, daß er ihren warmen Atem spürt. Mit heiserer Stimme sagt sie: »Ich habe nichts gehört und will nichts gehört haben. Verstehst du mich? Bilde dir nicht ein, daß ich etwas weiß. Du hast mir nichts gesagt. Nichts. Merk dir das.« Sie läßt seine Arme fallen, vielmehr sie wirft sie gleichsam weg und geht zweimal durch das Zimmer mit Schritten wie ein Mann. Das gibt sie gut, denkt Etzel, weiß von nichts, hat nichts gehört, das Rezept muß man sich wirklich merken. Aber es ist ihm keineswegs humoristisch zu Sinn, eher schwarz, ja richtig schwarz ist ihm zu Sinn, das »Violette« ist schwarz geworden. Was meint sie denn? spricht sie noch wie ein Mensch? Nell bleibt stehen, sie lacht bitter auf, aber es klingt gezwungen und ein wenig theatralisch. Etwas Hartes kommt in ihre Züge, um die Mundwinkel liegt eine schneidende Schärfe. Sie beginnt von Lorriner zu sprechen, und zwar so als ob es ein neuer Gesprächsstoff wäre, als ob der Name zwischen ihnen noch nicht genannt worden wäre und ihr das Alleinsein mit Etzel den langgewünschten Anlaß böte. Ob Andergast Nachricht von ihm habe? ihn vielleicht gesehen habe? Jaja, sie wisse schon, sie habe es auch vergeblich versucht, Kerkhoven halte ihn ja unter Verschluß wie einen gemeingefährlichen Irren. Nun, dafür trage er als Arzt die Verantwortung, er werde ihn gewiß nicht einen Tag länger der Freiheit berauben als unbedingt nötig sei, selbst wenn sich entgegenwirkende Einflüsse geltend machen sollten. Hinter den Worten liegt eine Warnung, ja eine leise Drohung. Etzel blickt verwundert drein, in der Magengegend hat er ein unangenehmes Gefühl wie von einem Krampf. Das mit den »Einflüssen« hat er überhört, er begreift nicht, was sie meint, nur die sonderbare Anspielung auf Kerkhoven bleibt in ihm haften. War nicht eine heimliche Verdächtigung drin? Es dünkt ihn so, er kann es aber nicht glauben. Er drückt die geschlossene Faust unters Kinn, eine Geste, die ihm seltsamerweise etwas Geharnischtes gibt. Nell beobachtet ihn verstohlen. »Es kann nicht unheilbarer Wahnsinn sein,« sagt sie schmerzbewegt, »es ist nicht möglich, daß ein so herrlicher Geist erlischt wie ein Zündholz. Wir werden ihn wieder haben, ganz gewiß. Du zweifelst doch auch nicht daran?« Als Etzel schweigt, tritt sie wieder dicht vor ihn hin, legt kameradschaftlich die Hand auf seinen Arm und sagt vertraulich-leise: »Hör zu, darling. Du bist doch so ein geschickter Spürhund, du kannst mir helfen. Ich habe die bestimmteste Nachricht, auch bei uns in der Siedlung spricht man überall davon, daß Jürgen Lorriner von einem seiner allernächsten Freunde ganz planvoll in die geistige Umnachtung getrieben worden ist. Ich ahne nicht, wer es ist, ich kannte ja seinen Umgang wenig, seine politischen Freunde gar nicht, jedenfalls handelt es sich um einen Menschen ohne Gewissen, einen eifersüchtigen Dämon, der nur das eine Ziel verfolgt hat, den Besseren Edleren Größeren aus dem Weg zu räumen. Du kannst mir ruhig glauben, wenn ich es sage, ist es so. Es ist ihm ja auch gelungen, für einige Zeit wenigstens. Aber lang wird er sich seines Triumphs nicht freuen, dafür will ich schon sorgen. Denk mal nach, darling, ob dir niemand einfällt, auf den mein Signalement paßt.« Etzel schaut schaut schaut. Komisch, wie ihn seine eigenen Haare kitzeln. Komisch, wie die Frau vor ihm hin und her schwankt. Komisch, was er für eine Lust hat zu piepsen, wie ein kleiner Vogel möchte er gern piepsen. Nell tätschelt mit zwei Fingern seine Wange. »Unsere Gäste werden sich wundern über das ausgiebige tête-à tête,« ruft sie und lacht schrill, beinahe hysterisch. Sie faßt ihn unter und nötigt ihn so, eingehängt mit ihr den Weg zurückzugehen, den sie gekommen sind. In dem Zimmer, worin sie sich zuerst aufgehalten haben, sieht Nell etwas auf dem Boden funkeln. Sie bückt sich und hebt es auf, ohne Etzels Arm loszulassen. Es ist ein dünnes goldenes Armkettchen. »Es gehört Spatz,« sagt sie und betrachtet es wie eine teure Reliquie; »das arme süße Kind . . . weißt du, darling, daß man ihr einen frühen und gewaltsamen Tod prophezeit hat? Heute erzählt sie mir das, so nebenbei, ganz munter, wie wenn man ihr was zum Geburtstag versprochen hätte. Du kannst dir vorstellen, wie mir dabei zumute war.« Etzel bleibt stumm, er hat kaum ein Wort von dem Gerede begriffen. (Sechs Monate später, als die Prophezeiung wirklich eintraf, erinnerte er sich daran wie an einen Traum, in welchem Nell selber zur weissagenden Sibylle wurde.) Arm in Arm betreten sie den Gesellschaftsraum; »endlich! wo warst du, Nell? wir wollten schon das Haus nach dir durchsuchen!« schallt es ihnen entgegen. Nell lacht, beschwichtigt, teilt Händedrücke Küsse Umarmungen aus, Etzel verliert sich still in der aufgeregten kleinen Menge, die ihm fast ebenso gespenstisch erscheint wie das, was er soeben erlebt hat.

 

Eins kommt zum andern. Wie es eine Gesetzmäßigkeit im Verlauf der Ereignisse gibt, so auch in der Entfaltung der Charaktere. Man könnte beinah sagen, sie durchleuchten sich selbst, wenn man im richtigen Augenblick zu sehen versteht. Dies wußte Etzel aus langer Erfahrung und bezog mit trainierter Ausdauer seinen Posten.

Nell war von einer ihr befreundeten Schriftstellerin, einer Frau von M., die unter dem Pseudonym Narzissa Horn schrieb, gebeten worden, eine eben vollendete Novelle bei ihr vorlesen zu dürfen. In aller Bescheidenheit, da sie eine Dame von Welt ohne blaustrümpfige Allüren war. Gattin eines bekannten Aristokraten und einflußreichen Mannes, hatte sie Nell schon manchen Dienst erwiesen, ihr den Wunsch abzuschlagen, war unmöglich. Nell, die ein außerordentlich scharfes literarisches Urteil besaß, schätzte die Frau persönlich hoch, von ihrer Begabung hatte sie jedoch keine große Meinung, hatte sich auch zu verschiedenen Malen recht mißfällig über ihre Bücher geäußert. Die Vorlesung fand also statt, Nell lud ihren ganzen Kreis dazu ein, auch Etzel; es war zwei Abende, nachdem er das seltsame Gespräch mit ihr gehabt. Natürlich folgte er dem Ruf. Die Aufmachung war wie üblich: stimmungsvoll verdunkelter Raum, Unterhaltungen im Flüsterton, willfährige Mienen, hinter denen die Furcht vor der Langeweile lauerte und sie verdrossen machte, wenn sie sich unbeobachtet wähnten. Das kannte er. Es war die höfliche Übereinkunft, sich einer Prüfung zu unterziehen, bei der der einzige Lichtblick war, daß sie nach menschlichem Ermessen bald überstanden sein würde. Narzissa Horn war eine Frau Mitte der Vierzig, sah gut aus, gab sich etwas lockerer als sie sich vermutlich sonst zu geben pflegte und versicherte immer wieder, daß sie nie im Leben solches Lampenfieber gehabt habe wie vor diesem Parterre von Kennern und Kennerinnen. Was mit gebührendem Protest aufgenommen wurde. Alle nahmen Platz, und nach endlosem Stühlerücken Räuspern und Husten gings los. Es war ein mittelmäßiges Elaborat, das sei gleich gesagt, ohne Salz und Schmalz, obwohl modern aufgeputzt und mit einigen mehr als gewagten Schilderungen erotischer Natur, die aus dem Mund einer so noblen Dame geradezu unanständig wirkten. Etzel genierte sich ordentlich, und seine Zehen in den Schuhen machten kleine Turnübungen. So war es mit allen, auch die Abgebrühtesten sahen merkwürdig bestürzt aus. Anderthalb Stunden dauerte die Vorlesung. Nell täuschte sich selbstverständlich nicht eine Sekunde über den Wert des Produkts. Es wäre gesellschaftlich zu begreifen gewesen, wenn sie sich mit einem konventionellen Lob begnügt hätte, bei ihrem diplomatischen Geschick konnte sie um die Verlegenheit leicht herumkommen, die andern wären ihr dankbar dafür gewesen. Statt dessen geschah das Unerwartete, daß sie vor der Autorin niederkniete und ihr die Hände küßte. Peinlicher Moment. Sie schien bewegt. »Ein bedeutendes Werk,« sagte sie mit Augenaufschlag. Betretenes Schweigen der Zuhörerschaft. Sie, erbittert durch dieses Schweigen, trumpfte auf und rühmte psychologische Feinheiten und erlesene Wendungen, die man in der Novelle vergebens gesucht hätte und die sie in ihrem Trotz und der Entschlossenheit, hingerissen zu sein, frei erfand. Als sie spürte, daß selbst ihre Getreuesten sie im Stich ließen, sich sogar erkältet und aufsässig zeigten, obschon sie ihr sonst jede Extravaganz zugute hielten, weil sie sie ja aufrichtig liebten, steigerte sie sich in einen verworrenen Hymnus hinein, sprach von adeliger Kunst, von spezifisch weiblicher Genialität, schüttelte die Haare wie eine Bacchantin und warb leidenschaftlich um Beifall, jetzt mehr für ihre eigenen Worte als für die Sache, die sie vertrat. Frau von M., die das Unziemliche des Ausbruchs lebhaft empfand und wahrscheinlich eine verständige Portion Anerkennung lieber gehabt hätte als den maßlosen Erguß, stand eine Weile ziemlich verschüchtert da, und es gelang ihr schließlich, Nell in ein Zwiegespräch zu ziehen. Aber es war als könne sie nicht mehr in ihre normale Gemütsverfassung zurückfinden. Den ganzen Abend hindurch war sie lärmend, lachte schrill und unmotiviert, ging von einem zum andern, drückte da ein junges Mädchen an ihre Brust, stellte dort irgend jemand wegen eines Wortes oder Blickes schroff zur Rede, zitierte Verse von Longfellow, legte eine Carusoplatte ins Grammophon und sang mit, obgleich sie weder musikalisch war, noch eine wohltönende Stimme hatte, kurz, es war ein unheimlicher Rausch, der ihr ganzes Wesen ergriffen hatte und sie zu hemmungsloser Selbstpreisgabe zwang. Dies brachte Etzel auch von der Meinung ab, sie habe Frau von M. nur aus Snobismus mit jenen Schmeicheleien überhäuft, die so lächerlich unwahr geklungen hatten, daß kein Schriftsteller der Welt naiv genug sein konnte, sie für bare Münze zu nehmen; er hatte gedacht: wenn so eine Amerikanerin mit einer waschechten Aristokratin zu tun hat, verliert sie den Kopf; es war nicht zum ersten Mal, daß sich Nell durch diese Schwäche in den Augen ihrer Freunde herabsetzte. Aber das konnte an ihrer seltsamen Aufführung nicht ausschließlich schuld sein. Je mehr er darüber nachsann, je geheimnisvoller dünkte ihn der Vorgang.

 

An der Ostseite der Siedlung waren fünf neue Blockhäuser errichtet worden. Selbstverständlich fehlte es an Bewerbern nicht, viele waren vorgemerkt, es war ein Wettrennen, die Sekretariatskanzlei war den ganzen Tag von Bittstellern belagert, wo sich Nell Marschall blicken ließ, stürzten Wartende auf sie zu. Sie sprach mit jedem wie mit ihresgleichen, ohne die Spur von Hochmut oder Herrengefühl, wenn sie ihr Unvermögen allen zu helfen eingestehen mußte, konnte sich niemand dem Eindruck der schmerzlichen Trauer entziehen, die ihr schönes Gesicht überschattete. Sie stand blaß und ratlos vor den Bittenden, ihr zuckender Mund schien sagen zu wollen: ich weiß, daß ich euch enttäusche, ich weiß, es ist alles zu wenig, viel zu wenig, was soll ich tun? Etzel hatte die Zusage von ihr erhalten, daß er fünf junge Leute seines Bekanntenkreises in die engste Wahl bringen dürfe. Sie hätte ihm das Versprechen kaum gegeben, hätte sie nicht gewünscht, ihn zu verpflichten und Frieden mit ihm zu schließen. Vielleicht vergaß er dann gewisse Dinge, die sich zwischen ihnen ereignet hatten. Sie hatte eine dunkle Furcht vor ihm und wollte ihn nicht zum Feind haben. Etzel wußte es und hatte darauf gerechnet.

Er hatte eine Liste mit zwei Dutzend Adressen angelegt. Aus diesen vierundzwanzig Namen mußte er sich für fünf entscheiden. Daß diese fünf dann auch aufgenommen würden, dafür wollte er schon sorgen. Zunächst hatte er durch ein weitläufiges Ermittlungsverfahren festzustellen, wer den Vorrang verdiente. Schwierige Aufgabe, da er sich nicht von Sympathien leiten lassen, sondern sich nur nach dem Notstand richten durfte. Wie Überblick gewinnen, wie verhüten, daß er den jeweils aktuellen Fall für den dringendsten nahm und über dem gegenwärtigen Augenschein den gestrigen vergaß? Er kannte hundert, wo man sofort hätte eingreifen müssen, die vierundzwanzig waren ja schon eine Elendsauslese, die sollte nun abermals destilliert werden, Extrakt vom Extrakt. Es bangte ihm vor einer Verantwortung, die ihn in Konflikt mit der Gerechtigkeit bringen konnte, jetzt hatte sichs wieder einmal zu erweisen, ob sie nicht bloß ein Begriff war, die berühmte Gerechtigkeit, eine Tugend, die man immer nur von den andern erwartete, indes man selber ihrer nicht fähig war und einem Eindruck, einer Verführung, einem Machtkitzel erlag. Sich allein auf das Gedächtnis zu stützen ging nicht an, er mußte Ausweise und Zeugnisse haben; um vergleichen und urteilen zu können, brauchte er die Unterlage von gesammeltem Stoff, so erweiterte er mit Hilfe Max Mewers, den er um Rat fragte, seine Liste zu einer Art Stammrolle mit einer Anzahl Rubriken, in denen Alter Beruf Familienverhältnisse Lebensumstände Erwerbsaussichten und Eigenschaften der Kandidaten verzeichnet werden sollten. Mit diesem Instrument in der Tasche machte er sich auf den Weg. Denn obwohl er weitaus die meisten seiner Schützlinge gut kannte, merkte er zu seiner Verwunderung, daß er von keinem einzigen genug wußte, um die Spalten der Fragebogen von selber ausfüllen zu können, Beweis für die Oberflächlichkeit aller Beziehungen.

 


 << zurück weiter >>