Jakob Wassermann
Etzel Andergast
Jakob Wassermann

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Fünftes Kapitel

Für die Dauer einer Episode haben wir mit v. Möckern zu tun, Chirurg, Hoffnung der Fakultät und ihr jüngster Ruhm.

Zuvor eine allgemeine Bemerkung. Es könnte scheinen als ob hier die Dinge der Medizin und des ärztlichen Lebens auf Grund eigener Erfahrung wiedergegeben seien. Dem ist nicht so. Es ist alles von außen gesehen. Notgedrungen. Ich bin nur wie ein Spiegel, in den eine Reihe von Bildern und Antlitzen gefallen ist, die er aufbewahrt hat. Wer dürfte es wagen, sich als Laie auf einem Gebiet zu tummeln, dessen Unermeßlichkeit so einschüchternd ist, daß selbst die Kundigen Richtung und Überschau verlieren, sobald sie sich von der gewählten Arbeitsstätte zu weit entfernen. Hat doch hier der Menschengeist, wie wenn er für Jahrzehnte auf alle übrigen Aufgaben zugunsten dieser einen verzichtet hätte, Erstaunlicheres geleistet als jemals auf einem andern Feld. Mir obliegt Geschichtsschreibung, Schicksalsdarstellung, Blick in das Gewebe der Epoche. So betrachtet, wird alles andere zum Vorwand, und was sie bedeuten, diese Figuren und Schatten von Figuren, wo sie hingehn und welchen Sinn ihr Tun und Treiben hat, das kann ich selbst nur ergründen, wenn ich auf ihrer Fährte bleibe und ihnen auf ihren verworrenen Wegen geduldig folge.

 

v. Möckern kannte Kerkhoven aus dem Ambulatorium der Klinik, wo er seit einigen Wochen Volontärdienste tat; man hatte ihm auch acht Betten zugewiesen. Der Chefarzt hatte ein ungünstiges Vorurteil gegen den Hospitanten gefaßt. Nicht nur war ihm Kerkhoven persönlich nicht sympathisch (etwas an seinem Auftreten mißfiel ihm, die Gelassenheit vielleicht, der spürbare Mangel an Unterordnung), sondern auch als Arzt war er ihm nicht angenehm, er hielt ihn für einen Romantiker (Ausdruck der Geringschätzung), einen jener unverläßlichen Köpfe, die mit der Phantasie und dem Gemüt arbeiten statt mit der Beobachtung und dem exakten Nachweis, das Verhaßteste, was es für ihn geben konnte. Woraus er diese Schlüsse zog, kann ich nicht sagen, in der allerersten Zeit und vor der Sache mit dem Buchbinder Schaller hatte er keine Beweise dafür, ohne Zweifel handelte es sich um eine jener blutmäßigen Abneigungen, die sich zwischen Männern von polarer Natur und Geistesverschiedenheit nicht zu entwickeln brauchen, sie sind von Anfang an vorhanden, unversöhnlicher Gegensatz auf den ersten Blick. Doch wer war Joseph Kerkhoven schließlich im Vergleich zu Professor Doktor v. Möckern? Welchen Anlaß sollte die umworbene bewunderte, am Beginn einer großartigen Laufbahn stehende Kapazität haben, sich um den unbedeutenden und im Grunde ja recht bescheiden auftretenden Doktorsmann überhaupt zu kümmern? Merkwürdig, aber es war doch so. Der Mensch fiel ihm auf, sofort. Sein Anblick beirrte ihn, er wußte nicht warum. Er tat meist als übersehe er ihn, was ihn keine Überwindung kostete, auch nicht weiter bemerkt wurde, da es nicht seine Art war, irgend jemandem in seiner Umgebung persönliche Beachtung zu schenken, für ihn gab es nur »Fälle« und die für die Fälle nötigen Hilfskräfte, trotzdem war dieser eine Mensch störend zugegen. Merkwürdig. Man muß an eine vorahnende Eifersucht glauben, an eine Mobilisierung der kämpferischen Instinkte lange vor dem Waffengang, lang bevor der Gegner als solcher auf den Plan tritt. Während Kerkhoven zu Fuß in die Klinik marschierte, Hände in den Manteltaschen, und in seiner Gedankenversponnenheit achtlos in alle Pfützen tappte, hatte er genau dasselbe Gefühl wie als Einjähriger-Rekrut, wenn er wegen eines Subordinationsvergehens zum Rapport befohlen war.

 

Den Buchbinder Schaller hatte er mehrere Wochen hindurch in seiner Privatordination behandelt. Der Mann hatte an ständigen schweren Kopfschmerzen gelitten, die sich von Mal zu Mal verschlimmerten. Kerkhoven hatte an eine Höhlenentzündung gedacht, an Reizung durch ein exogenes Gift, an Zirkulationsstörung, an Hyperämie, an ein Dutzend anderer Ursachen, aber alles was er gegen das Leiden unternahm blieb wirkungslos, das einzige, wodurch er die Schmerzen zuweilen lindern konnte, war, wenn er dem Mann die Hand auf den Schädel legte. Das tue ihm wohl, sagte er mit einem rührenden Ausdruck der Dankbarkeit. Natürlich wußte Kerkhoven, daß er darauf keine Therapie bauen konnte, es war einfach eine suggestive Willensbeeinflussung, die nur vorübergehend war und die Wurzel der Krankheit nicht berührte. Der Patient beging aber dann, als ihn Kerkhoven endlich in die Klinik schickte, die Unbedachtheit, von dem Handauflegen zu erzählen und daß es ihm geholfen habe. Er sagte es nicht dem Chefarzt selber, sondern einem der Assistenten, und zwar kurz vor der Schädeltrepanation, die den vermuteten Tumor zeigte, doch v. Möckern hörte davon, und als Kerkhoven den Operierten in der Klinik besuchte, ziemlich verstört, denn er war sich des Fehlers, den er begangen, wie einer verbrecherischen Leichtfertigkeit bewußt, kam v. Möckern auf seiner Inspektionstour zu dem Bett des noch bewußtlosen Buchbinders, nickte Kerkhoven zu und sagte in seiner beintrockenen Manier und einem gespenstischen Lächeln um die kleinen farblosen Lippen: »Bei so ausgeprägten Symptomen eines Glioms, Herr Kollege, war die magnetische Kur nicht durchgreifend genug.« Und ging weiter. Die jungen Ärzte, die wie sein Hofstaat hinter ihm her zogen, kicherten belustigt und diskret. Kerkhoven wurde rot bis unter die Haare. Nicht fein von dem Mann, dachte er, aber die Lektion hab ich reichlich verdient. Die Schädelöffnung war übrigens in dem besondern Fall, er konnte sich später, als Zuschauer bei der Sektion, davon überzeugen, ein solches Meisterstück chirurgischer Kunst, daß sein Groll völlig in Bewunderung unterging.

Er blieb allen diesen Leuten fremd. Niemand hatte das Bedürfnis, sich ihm anzuschließen, zumal er älter war als die meisten. Ein Gruß, ein paar der Arbeit geltende Worte, darauf beschränkte sich der ganze Verkehr mit ihnen. Die Scheu, die er verspürte, erweckte Scheu, so ist es immer, versöhnend wirkte nur seine Art von Bescheidenheit, eine recht knifflige und undurchsichtige Art im Grunde, weil man sich sagte, er habe wahrscheinlich Ursache, sich in den Schatten zu stellen. Daher konnte es geschehen, daß von der Geschichte, die bei der Vorführung eines achtzehnjährigen Mädchens passierte, einer Schaffnerstochter, gar kein Aufhebens gemacht wurde, man erinnerte sich erst wieder daran, als es wegen des angeblichen Ileus der Prostituierten Klein zu dem Meinungsstreit zwischen ihm und dem Chefarzt kam. Das mit dem Mädchen verhielt sich so. Anscheinend völlig gesund, stand sie seit ein paar Tagen unter Beobachtung, da sie weder gehen noch stehen zu können behauptete und über Schmerzen in den Weichteilen klagte, ohne daß die Schmerzen lokalisiert werden konnten. Kerkhoven, der sich unter den Hörern befand, bat den demonstrierenden Assistenzarzt, seine Meinung äußern zu dürfen. Er hatte sich die junge Person genau angesehen, nun trat er vor und sagte, er könne der Annahme als handle es sich um einen Fall hochgradiger Hysterie nicht beipflichten, nach seiner Überzeugung liege eine Tuberkulose des Rückenwirbels vor, der bezeichnete Schmerz sei zweifellos reflektorischer Natur. Der Assistenzarzt war höchlich betroffen. Schon wollte er auffahren und unwirsch erwidern, auf Zuschauerdiagnosen könne er sich nicht einlassen, jedoch ein Blick in Kerkhovens Gesicht veränderte seine Haltung, er entschloß sich plötzlich zu einer neuen sorgfältigen Untersuchung, deren Ergebnis alsbald die Richtigkeit von Kerkhovens Erkennung bestätigte. Die Zeugen des Vorfalls, acht oder neun Praktikanten, waren nicht weniger verdutzt als der Assistenzarzt, aber unerklärlicherweise schwiegen sie wie auf Verabredung darüber. Nicht unter allen Umständen ist das Außerordentliche den Menschen verdächtig und unbequem; vorausgesetzt, daß es nicht eine Schädigung ihrer privaten Interessen bewirkt (wozu freilich schon die Aussicht sich mißliebig zu machen gehört), erkennen sie es sogar nicht ungern an. Für das aber, was oben befremdet und unten den zünftigen Zusammenhalt sprengt, haben die Mittelmäßigen eine untrügliche Witterung.

Ob der Chefarzt von der Sache erfuhr, blieb ungewiß. Als er das Mädchen im Gipsbett sah, berichtete ihm der Assistenzarzt die Krankengeschichte, ohne Kerkhovens Namen nur zu nennen. Gleichwohl mußte er von anderer Seite davon gehört haben, vielleicht durch die Kranke selbst, was ihn dann zu weiterer Nachforschung veranlaßte, denn Wochen nachher, bei der Auseinandersetzung über den Fall Klein (die Klein war Kerkhoven zur Behandlung zugewiesen), ließ er abermals eine beißende Bemerkung fallen, ungefähr des Sinnes: mit telepathischen Diagnosen möge man ja zuzeiten Glück haben, in der Regel empfehle sich die wissenschaftliche Methode als die korrektere. »Womit nicht gesagt sein soll, daß ich gelegentliche Leistungen auf diesem Gebiete unterschätze, Herr Kollege,« fügte er mit dem gespenstischen Lächeln hinzu, das seinem flachen Gesicht einen Ausdruck gab als habe er einen zu heißen Bissen im Mund. Kerkhoven bewahrte diesmal seine Ruhe. Diktatorisch verblieb v. Möckern bei der Feststellung des Ileus. Kerkhoven hatte, nach gewissenhafter Prüfung, nur eine einfache Kolitis konstatieren können. Allerdings täuschte das Krankheitsbild insofern, als die Patientin schwere Angstzustände erlitt, der Wahn, sie habe ein Geschwür im Leib, steigerte die ohnehin vorhandenen Schmerzen zu solcher Heftigkeit, daß sie blutigen Schleim erbrach, Folge der abstrahlenden psychischen Darmerregungen. So faßte er es auf, und es gehörte Mut und Festigkeit dazu, die Operation für überflüssig zu erklären und, in einem unbestimmten Gefühl ihrer individuellen Gefährlichkeit, vor ihr zu warnen. v. Möckern schüttelte starrsinnig den Kopf. Er war verantwortlich, offenbar, aber sein finsterer Blick sagte: ich lasse mir keine Verantwortung rauben. Zuletzt war es wieder das heimlich Zwingende in Kerkhovens Wesen und Miene, das selbst ihm ein Zugeständnis abzwang: er willigte in eine sechsstündige Frist. Diese Frist lief um acht Uhr abends ab. Das war der Grund, der Kerkhoven zu dem Gang in die Klinik nötigte.

 

Im Lauf des Nachmittags war die Klein in derartige Schmerzparoxysmen verfallen, daß der diensthabende Arzt, der Kerkhoven vertrat, den Chefarzt benachrichtigte, der dann nach kurzer Untersuchung von dem Aufschub nichts mehr wissen wollte und die sofortige Operation anordnete. Sie fand um halb sieben statt. Der Bauch wurde aufgeschnitten: von Ileus keine Spur. Aber das Weib starb unterm Messer, buchstäblich. Embolie in der Narkose, eine Wendung, die freilich niemand hatte voraussehen können. Die Oberschwester teilte es Kerkhoven mit allen Einzelheiten mit. »Der Chef ist wütend,« sagte sie, »man mußte ihm aus dem Weg gehen.« – »Ist er noch im Hause?« – »Ich glaube nicht.« – »So brauch ich mich wohl nicht mehr bei ihm zu melden.« – »Kaum, das wird jetzt gegenstandlos sein, Herr Doktor.« – »Ist für den Abend noch was vorgemerkt, Schwester?« – »Eine Laryngektomie. Saal elf. Aber wahrscheinlich erst spät.« – »Es fließt viel Blut hier,« sagte Kerkhoven und schaute den öden Korridor hinunter, in dessen Tiefe, man konnte sich vorstellen, daß er meilenweit hinlief, von einer Tür zur gegenüberliegenden lautlos drei hagere weibliche Gestalten in weißen Hemden glitten. – »Gewiß, Herr Doktor, die Wissenschaft verlangt es,« erwiderte die Schwester freundlich. Kerkhoven rückte die Krawatte zurecht. Sie lag immerfort schief. Die Oberschwester sagte lachend: »Warten Sie, der Kragen springt aus dem Knopf.« Sie stellte sich auf die Zehen und half ihm, während die Augen hinter der Brille lustig funkelten. – »Danke, Schwester. Gute Nacht.« – »Gute Nacht, Herr Doktor.« Sie blickte ihm mitleidig nach bis er an der Treppe verschwand.

Statt direkt auf das Glacis und zu Irlen zu gehen, wählte Kerkhoven den Umweg über den Kai. Am Ufer blieb er lange stehen und schaute ins Wasser des Flusses, dessen kleine Wellen in schwachem Mond wie silberne Blätter raschelten.

 

Als der Tisch abgeräumt und das Mädchen gegangen war, setzte sich Irlen in den Lehnstuhl, breitete eine Decke über die Kniee und schob die elektrische Lampe ein Stück weiter weg, da zu starkes Licht seine Augen angriff.

»Ich habe darüber nachgedacht,« begann er, »wie ich dir die Geschichte mit Otto Kapeller verständlich machen soll. Es ist eine Geschichte ohne Ereignis. Das Duell am Schluß gehört innerlich kaum dazu, es war nur die einzig mögliche Lösung, ich handelte dabei unter dem Zwang einer höheren Logik, obschon es zugleich der dunkelste Moment in meinem Leben war. Im Grunde ist es die Geschichte einer Enttäuschung, aber damit ist nur etwas über das Persönliche ausgesagt, es hatte einen Bezug weit über das Persönliche hinaus und nötigte mich am entscheidenden Punkt zur Revision meiner ganzen Existenz. Das klingt vorläufig rätselhaft, ich muß daher ein bißchen weiter ausholen. Ich habe dir aus meiner Vergangenheit bereits manches angedeutet, manches wirst du von andern gehört und dir in deiner Weise zurechtgelegt haben. Du weißt ja, wir haben davon gesprochen, daß seit zehn Jahren und länger noch meine Sorge um unser Land beständig gewachsen ist. Sorge, das ist ein Wort wie ein anderes, du verstehst mich schon, es steckt mehr dahinter als ich Lust habe zu erklären, daß es sich weder um verschrobene Opposition noch um einen esoterischen Edelpatriotismus handelt, wissen sogar meine Feinde, trotz der törichten Legenden, die über mich umlaufen. Ich weiß nicht, ob dir der Name Lagarde etwas sagt; nein? Einer der großen deutschen Warner. Siehst du, es handelt sich für uns schlechterdings um Sein oder Nichtsein. Wir sind das Herzvolk Europas. Unsere Krankheit ist auch die Krankheit Europas und stellt alles in Frage, die geistige Entwicklung der gesamten Menschheit, die Ernte von Jahrtausenden. Wer das nicht begreift, lebt eben nur sich, das heißt er lebt zum Schein. Es gibt ein Wissen über die Erfahrung hinaus, damit sag ich gerade dir nichts Neues. Von einer bestimmten Zeit an, fast könnte ich den Tag nennen, es war nach einem Gespräch mit dem alten Mommsen, bedrängte mich dieses eigentümliche Vor-Wissen mehr und mehr. Schlimmer als Träume und Gesichte einen bedrängen können, darunter hatte ich ja nie zu leiden, die Wirklichkeit, faßt man sie nur, ist stärker. Aber das Erfassen eben, das ist das Schwere. Ohne Phantasie und ohne Selbstentäußerung kann man nicht zur Wirklichkeit durchdringen. Nun, das führt zu weit . . . Der Zwiespalt war für mich der: entweder ich versumpfte in einer unmoralischen Untätigkeit, wozu ich auch irgendeine beliebige Beschäftigung rechnete, und ließ mich treiben, oder ich suchte Abhilfe und griff ins Geschehen unmittelbar ein. Da mir nach dem Abbruch meiner militärischen Laufbahn der Weg zum öffentlichen Dienst so gut wie verschlossen war, mußte ich einen andern wählen, um in Aktion zu treten, der Zustand des Hintreibens dauerte nicht lang, konnte nicht dauern, das ging über meine Kraft. So sammelte ich nach und nach einen ausgewählten Kreis von jungen Menschen um mich, was du nicht gar zu wörtlich nehmen mußt, alle diese Leute lebten da und dort verstreut, trafen einander da und dort, in zwanglosen Gruppen, als geistige Wahlverwandte, manchmal war ich zugegen, manchmal nicht, mit vielen stand ich nur in Briefwechsel oder regte sie zu wechselseitigem schriftlichen Meinungsaustausch an. Es sind natürlich die absurdesten Märchen darüber verbreitet worden, das läßt sich denken. Man witterte etwas wie einen politisch-pädagogischen Geheimbund oder ein Seminar für angehende Frondeure; dergleichen lag mir ganz fern. Ich hatte nicht nötig, den Präzeptor zu spielen, und Verschwörung, mein Gott, wir hatten nichts zu verbergen, das Erstaunliche war die selbstverständliche Sinneseinigkeit, wie wenn alle zu gleicher Zeit vom gleichen Geist und der gleichen Bewegung ergriffen worden wären. Wir waren wie Brüder aus demselben Haus, es bedurfte oft nicht einmal der Aussprache, die Sprache allein genügte, die Sprache als Leib und Rhythmus. Es war ein so wundervolles Erlebnis für mich. Ich sagte mir: zu verzweifeln ist noch kein Anlaß, diese Jugend gibt einige Gewähr für die Zukunft. Vielleicht war es einer der Augenblicke geheimnisvollen Aufflammens, auch die Völker haben solche Euphorien . . . du schaust mich entsetzt an, du denkst dir: wir liegen ja keineswegs auf der Totenbahre . . . gewiß, ganz im Gegenteil, dem Anschein nach sind wir noch nie so oben und vorne dran gewesen . . . aber lassen wir das . . . ich könnte nicht Rechenschaft darüber geben, was mir das Herz abdrückt, seit ich wieder in Europa bin. Jedenfalls ist es nicht bloß die Trypanosomiasis, die mich hingeworfen hat. Eine ganze Anzahl von den Freunden aus der damaligen Zeit ist ja auch noch da, steht nach wie vor zu mir, viele haben die Hoffnungen annähernd erfüllt, die ich auf sie gesetzt hatte, aber die Sache mit Otto Kapeller war eben doch der eigentliche Klaps für mich, wer weiß in welcher tückischen Weise sie den Boden für die Parasiten bereitet hat. Es gibt ja einen Zusammenhang zwischen physischen und psychischen Schädigungen, nicht wahr, lieber Doktor? Der Körper entschließt sich nur manchmal lange nicht zur Antwort.«

Pause, die durch die zehn Schläge der Kaminuhr ausgefüllt wurde. Als sie verhallt waren: »Ich erinnere mich nicht mehr, wer mich mit Otto bekannt gemacht hat. Er saß am Klavier und spielte Debussy. Ich habe nie einen jungen Menschen von einschmeichelnderem Wesen gesehen. Schlank, mit einem stählernen Körper, lächerlich blond, lächerlich hübsch. Er gab sich ohne jedes Zaudern in meine Hand als ob er nur darauf gewartet hätte, mir endlich zu begegnen. Darin war etwas von der Hingabe des Tons an die Hand des Bildhauers. Beschreiben kann man das nicht. Es überwältigte mich. Hauptsächlich das eine, daß er in mir das Gefühl zu erwecken verstand, ich hätte ihm bis jetzt gefehlt, ohne mich könne er sich nicht vom Erdboden erheben. Er bot sich mir gleichsam als Aufgabe, er schien zu sagen: da hast du Material, mach etwas daraus. Er hatte viel Feinheit in sich, viel Spürsinn. Im Grunde trieb er ein wunderliches Spiel mit dem Leben, er trieb das Spiel, daß es ernst sein solle. Eine durchtriebene Angelegenheit, niemand kann es ohne weiteres durchschauen. Dabei war er ein Dichter, war sich dessen aber nicht bewußt, es lag nur als schwebende Möglichkeit in ihm, als Phantasierichtung. Das hat mir viel zu denken gegeben, es ist etwas abgründig Deutsches darin, ich habe mehrere junge Leute von der Art gekannt, alle zwischen achtzehn und vierundzwanzig, nicht so interessant wie der, aber in jedem schäumte etwas vom Genie der Rasse auf, Ungeheures versprechen sie, man steht wie vor einer feurigen Fontäne, auf einmal: nichts, Finsternis, Stille. Ich hab das häufig erlebt, wie gesagt, bei andern Völkern geht es nicht so ins Extrem. Otto war der einzige Sohn, eine blendende Zukunft lag vor ihm, was die Kapeller-Werke sind, darüber muß ich dich ja nicht erst aufklären. Schon unsere ersten Gespräche drehten sich um die Verantwortung, die auf seinen Schultern ruhen würde, nicht viel geringer als die eines Königs. Ich begriff, daß er recht hatte mit der Erwartung in Bezug auf mich: da war wirklich eine Aufgabe. Denn der Weg, den er zu gehen hatte, lag genau in der Linie der Gefahr. Dort war das größte Gelingen, der sichtbarste Aufschwung, der entschlossenste Machtwille, die gewaltigste Anhäufung von Kapital, eine Vorherrschaft der Materie, eine Überlegenheit der äußeren Mittel, ein oligarchischer Fanatismus, die in anderthalb Jahrzehnten das Gesicht der Nation bis zur Unkenntlichkeit verändert hatten. Dieses Plusquamperfekt könnt ich mir schenken, aber ich erzähle ja Geschichte. Ja, es ist so, gaben mir die pessimistischen unter meinen Freunden zu, Deutschland ist wie ein Mann in einer schwarzen Rüstung, unheimlich ist alles an ihm geworden, unheimlich ist es zu leben, wir sind keine Nation mehr, wir haben einen Staat, wir sind kein Volk mehr, wir sind Belagerte in einer Festung, die man mit Füsilierung schreckt, wenn wir aufmucken. Gebt acht, daß ihr euch dem Mann in der schwarzen Rüstung nicht mit Haut und Haar überliefert, antwortete ich ihnen, man soll ein Schicksal nicht für unentrinnbar halten, weil man ein Symbol daraus gemacht hat. Sie verstanden mich und schwiegen. Wenn ich nicht irre, war es Otto, der mir eines Tages in großer innerer Erregung sagte, die Ideale, die man ihm und seiner Generation als ewigen Besitz der Menschheit ausgeredet, könnten angesichts der Lebenstatsachen bloß noch als schnurrige Phantome humanistisch gebildeter Oberlehrer gelten. »Kein Anlaß, darüber zu jubeln, daß Omar in unserem Alexandrien die Bibliothek nicht verbrannt hat, er hat sie nur noch nicht verbrannt,« rief er bitter. Ich stutzte. Daher weht der Wind, gings mir durch den Kopf. Was, Ideale, erwiderte ich ihm, habt Ideen, vielleicht braucht ihr dann die Ideale nicht. Aber gerade er hatte Ideen, sein Hirn war voller Projekte Entwürfe und Vorsätze. Er legte mir Siedlungspläne vor, großartige Wohlfahrtseinrichtungen, die Gründung von Arbeiter-Universitäten Musikhallen Arenen und Theatern mit Monstre-Aufführungen, unter anderm auch recht interessante Reformen zur Vereinfachung und Steigerung des Betriebs, die das amerikanische Taylorsystem durch Einbeziehung der Bodenbewirtschaftung beseitigen sollten; das alles hatte aber nicht genug Realität, war zu utopistisch, zu volksbeglückerisch; alle Romantik ist in diesem Fall nur der Versuch, dem tödlichen Ernst der Notwendigkeit auszuweichen, hielt ich ihm entgegen. Ich las ihm einige meiner nationalökonomischen Studien vor, zeigte ihm Hefte mit Statistiken, die ich im Lauf von Jahren angefertigt und oftmals überprüft hatte, schließlich reisten wir zusammen nach Manchester und in die Schneider-Creusot-Werke, an Empfehlungen mangelte es uns nicht. Indem er das Angeschaute verarbeiten lernte und sich zu einer ruhigen Betrachtung der bestehenden Verhältnisse bekehrte, dämmte sich der Überschwang von selber ein, er bewies mir seine Anhänglichkeit und Dankbarkeit auf jede Weise, und nicht nur das, er glaubte mich überhaupt nicht mehr entbehren zu können. Die erste Anregung, ich sollte in die Kapeller-Werke eintreten, ging von ihm aus, seinen Vater hat er erst nach und nach dafür gewonnen. Ich habe lange geschwankt. Ich hatte die Unabhängigkeit schätzen gelernt, daß ich sie schon wieder opfern sollte, fiel mir schwer. Meine jungen Freunde begriffen nicht, daß da überhaupt eine Lockung sein konnte, manche sahen einen Verrat schon in der Unschlüssigkeit. Den Ausschlag hat schließlich die Erwägung gegeben, daß mir ein Wirkungsfeld eröffnet wurde, wie ich es nie wieder finden konnte. Vor allem, daß ich in Otto, dem künftigen Herrn dieses gewaltigen Reiches der Arbeit, einen Menschen geformt hatte, geformt zu haben wähnte, mit dem sich große Dinge ausführen ließen. Ich hatte mich sehr an ihn attachiert. Er hatte mich ganz und gar gewonnen. Ich habe an ihn geglaubt. Das kann ich wohl sagen. Nun, ich kam bös zu Sturz. Als der alte Andreas Kapeller starb, sieben Monate nach meinem Eintritt in die Firma, dauerte es keine weiteren sieben Monate, und Otto begann langsam seine wahre Natur zu zeigen.

Der durchdringende blaue Blick, bisher fast ununterbrochen auf den Zuhörer gerichtet, senkte sich wie erschöpft zu Boden. »Wahre Natur . . . da stock ich gleich. Muß man sich nicht schämen, wenn man aus dem eigenen Urteilsdefekt fremde Schuld macht? Man war kurzsichtig, die Augen haben sich betrügen lassen, daraus konstruiert man eine Lebensenttäuschung und vergißt, daß uns der Instinkt verliehen worden ist, damit er uns richtig führen soll. Mein äthiopischer Freund Ngaljema, das schönste Menschenexemplar, dem ich auf dieser Erde begegnet bin, sagte mir einmal: du . . . gut, du guter Mann. Woher weißt du das, Ngaljema? fragte ich. Und er, mit seinem kindlichen Lächeln und einem Mund voll strahlendweißer Zähne: Ich nicht wissen, meine Augen wissen . . . Schon zu Anfang gab es eine ganze Kette von Vorkommnissen, die mich hätten beunruhigen müssen, wenn ich Zeit gehabt hätte, ihnen genügend Aufmerksamkeit zuzuwenden. Zunächst war es auffällig, mit welchem Aplomb sich Otto der Trauer um den Tod seines Vaters hingab. Er fand kein Ende mit Gedenkfeiern Würdigungen Nachreden und Ansprachen. Kindisches Theater, jeder Mensch wußte, daß das Verhältnis zwischen Vater und Sohn ziemlich kühl gewesen war, er wollte aber der Welt durch das offizielle Pathos Sand in die Augen streuen. Die Leute spotteten auch schon darüber, ich sagte ihm, er möge doch das ärgerliche Wesen lassen. Er schien zuerst betroffen, dann lachte er, dann gestand er mir mit sonderbarem Zynismus, die Rolle des Leidtragenden gebe ihm vorläufig die beste Möglichkeit, zu repräsentieren, da sonst jeder merken müsse, daß ihm der Purpur noch um die Schultern schlottre. Repräsentieren, Purpur: ich muß komisch dreingeschaut haben, denn er brach wieder in sein unwiderstehliches Lachen aus und sagte, ich solle ihn nur gewähren lassen, das sei eben seine Manier mit den neuen Aufgaben und Forderungen fertig zu werden. Etwas in seinem Gesicht gab mir zu denken. Es war wie ein Belag . . . wie ein unsichtbarer Ausschlag . . . ein gewisser Zug, den Gesichter im Fieber haben. So viel war bereits klar, dem jungen Menschen war eine Machtfülle zugefallen, unter der die Stützen seiner Persönlichkeit wankten wie Brückenpfeiler unter dem Druck von Treibeis. Beunruhigender Vorgang. Es passierte folgendes. Eines Tages setzte er den alten Diener Quinke, einen durch und durch anständigen Mann, der achtundzwanzig Jahre im Haus war, Knall und Fall vor die Tür. Der Anlaß war so lächerlich, daß man sich fragte, wie ein vernünftiger Mensch überhaupt davon berührt werden konnte. Im Eifer der Rede hatte sich Quinke vergessen und hatte Otto statt mit gnädiger Herr in zerstreuter Vertraulichkeit mit dem Vornamen angesprochen. Der alte Mann kam zu mir, verzweifelt; er war nahezu mittellos, seine Ersparnisse hatte er bei dem Bankrott einer kleinen Bank verloren. Ich sagte zu Otto: wenn du den Mann nicht wieder aufnimmst, und ich sehe nicht ein, warum nicht, mußt du ihn entschädigen. Er brauste auf; entschädigen? er denke nicht daran, er halte kein Greisenasyl. Dann zwingst du mich dazu, sage ich. Wenn es dir Spaß macht, bitte, antwortete er, es ist immerhin lehrreich, daß dich schwachsinnige alte Männer gegen mich in Harnisch bringen. Ich . . . was erwiderte ich . . . ich weiß es nicht mehr, wahrscheinlich nichts. Als ich gehen wollte, hielt er mich zurück und sagte, dieser Quinke sei ihm zeit seines Lebens verhaßt gewesen. Verhaßt? frag ich erstaunt, warum denn gleich verhaßt, da tust du ihm mehr Ehre an als ich. Begreife doch, sagt er und faßt mich zutraulich unter, er kennt mich zu lang, er hat mich als Kind gekannt. Ich, noch mehr erstaunt: nun, und? Aber ich wünsche nicht, daß mich einer kennt, der mir aufzuwarten hat, ruft er aus, gibt es was Lästigeres als Domestiken mit Gemütsansprüchen? Ich brauche wirkliche Diener, keine gerührten Hausgespenster. Am selben Tag schickte er mir zwölf Flaschen alten Bordeaux in die Wohnung, dazu einen seiner charmanten Briefe; er beschwor mich ihn gegen sich selber zu schützen, er brauche mich, ich sei sein Führer, sein guter Geist, sein Virgil, ich dürfe nie vergessen, daß ich ihn einst glauben gemacht, er sei der geliebteste meiner Freunde. Ja, das war wahr, aber jetzt war ich schon zu sehr irre, um zurückzufinden, das Vertrauen zu einem Menschen ist ein Diamant, den die geringste Verletzung entwertet. Ich befand mich in der Lage eines Schwimmers, der einen See überqueren soll und mittendrin merkt, daß ihm sein Arm lahm ist. Ich hatte mich umgarnen lassen, ich war dieser Seele nicht bis in ihre Wurzeln nachgegangen, das war meine Unterlassung, und Unterlassung ist Schuld. Alles was daraus erfolgte, traf in den Mittelpunkt meiner Angst, Angst um diese unsre Welt, und außerdem ging es in die Tiefe eines Traumas hinein, das war meine Strafe, deswegen endete es im Verhängnis. Um das mit dem Trauma zu erklären, muß ich von einem Menschen sprechen, der in meiner Jugend eine Rolle gespielt hat. Ein etwas bedenklicher Terminus, Trauma, man sollte mit Worten bescheidener sein, unleugbar war es das, was du neulich Seelenwunde genannt hast, aber Wunde stimmt auch nicht ganz, es hat mit etwas Heilsamem zu tun, es war eine gebieterische Warnung, die das Schicksal beizeiten an mich ergehen ließ . . . Du siehst mich so prüfend an. Nein, ich bin nicht müde. Laß nur, es geht noch, ich kann jetzt nicht abbrechen. Hab ich dir nie von Gore erzählt? Helmut Gore war mein Vetter von Vatersseite her. Die Gore von Groothusen sind eine alte hanseatische Familie, weit älter als die Irlen, wir sind erst vor drei Generationen eingewandert, aus dem Cleveschen, Irlen bedeutet natürlich Erlen, die bei den Erlen hausen. Na . . . Gore war Leutnant, als ich noch in der Quarta saß, also für mich ein Mann, und nicht allein das, Inbegriff des Mannes. Er hatte so etwas wie einen Nimbus um sich, war glänzender Reiter Fechter Pistolenschütze, außerdem sagte man ihm eine Menge Abenteuer mit Frauen nach. Jemand hatte ein Couplet über ihn verfaßt, jede Strophe eine Anspielung auf eine seiner tollen Geschichten und schloß, nach der Offenbachschen Melodie gesungen, mit dem Refrain: ich bin der Gore und kenne keine Furcht. Friedliebende Leute gingen ihm gern aus dem Weg, man konnte bei ihm nie wissen . . . Er hatte eine mächtige Figur, breitschultrig, konnte fünfzig Pfund mit dem kleinen Finger heben, Stirn und Nase waren von klassischem Schnitt, mit den untern Partien stand es nicht so gut, die Lippen waren dick und brutal, das Kinn zu feist, das Irlensche und das Groothusensche stieß da feindlich aufeinander. Jedesmal, wenn er zu uns kam und mich sah, packte er mich am Oberarm und preßte ihn mit seiner ganzen Riesenkraft, ich glaubte zu sterben vor Schmerz, aber ich wußte, es kam darauf an, nicht zu schreien, nicht einmal die Miene zu verziehen. War die Probe bestanden, so legte er mir seine gewaltige Tatze auf den Kopf und sagte: Brav, Junge, kannst so bleiben. Meine Mutter erhob eines Tages Einspruch, sie meinte, er könne mir den Knochen zerbrechen. Er antwortete lachend: besser der Knochen hin als keine Courage im Leibe. Was, Kerl, sag daß ich recht habe, wandte er sich zu mir und drückte mich an sich, daß mir der Atem verging. Er hatte große Protektion und machte rasch Karriere, mit dreißig, obschon erst Hauptmann, bekam er das Kommando über ein Bataillon, das irgendwo draußen an der Küste stationiert war, in Heppens oder Bant oder so. Sonderbar, wenn man über einen solchen Lebenslauf nachdenkt . . . da hast du wieder dasselbe Phänomen: ein Mensch von ungewöhnlichen Gaben, eine Natur, wie man zu sagen pflegt, nimmt einen herrlichen Anlauf, plötzlich: Schluß, es geht nicht weiter. Was ist geschehen? Man spricht von einem Knacks, aber was ist es eigentlich? Mißglückter Versuch des großen Chemikers, der mit uns gleichgiltig experimentiert? Von Kameraden Gores erfuhr man bei uns, es stehe nicht gut mit ihm, die Vorgesetzten wüßten sich keinen Rat, beständig müsse man die Übergriffe vertuschen, die er sich zuschulden kommen ließ. Nachrichten von Soldatenmißhandlungen waren in die Zeitungen gedrungen, man konnte darauf gefaßt sein, daß er über kurz oder lang abgesägt wurde. Anfangs 1887 wurde er nach Kugelbake versetzt, einer einsamen Fortifikation, es war wohl das letzte Mittel, ihn zur Vernunft zu bringen, war aber gänzlich erfolglos. Was er dort getrieben, darüber hörte ich erst viel später genaueres. Er war nicht nur der Schrecken seiner Untergebenen, vom Offizier bis zum letzten Rekruten, auch die Zivilbevölkerung zitterte vor ihm, die Kaufleute, die Beamten, die Schifferfamilien, es ist eine abseitige Gegend, noch heute, die Menschen sind wie Inselbewohner auf sich gewiesen und fern von der Welt, bis einer den Mut zur Anzeige und den richtigen Weg zum richtigen Amt findet, fließt viel Wasser ins Meer, da entschließen sie sich lieber zum Ausharren. Deshalb dauerte auch der unerträgliche Zustand ziemlich lang, über ein Jahr. Er soll nachts in die Häuser gedrungen sein und ihm mißliebige Personen einfach verhaftet haben. Sie wurden der Spionage verdächtigt, das war da droben üblich. Auf offener Straße traktierte er Leute mit der Reitpeitsche, und einmal jagte er auf dem Marktplatz sein Pferd in eine Schar spielender Kinder. Die Macht war ihm zu Kopf gestiegen, der lächerliche Fetzen Macht, dessen er habhaft geworden, hatte ihn berauscht, hatte ihn um und um gedreht. Oder schrieb er sich ein Anrecht auf eine ganz andere Macht zu, eine für die Urgewalt seines Temperaments gemäßere, in der er nicht erstickt und verkommen wäre? Möglich. Eines Tages beging er die Verrücktheit und ließ den Redakteur eines kleinen Lokalblattes, den er sozialistischer Umtriebe bezichtigte, an die Mauer stellen. Zum Glück wurde der Mann nur verwundet, aber das schlug dem Faß den Boden aus, der Skandal war enorm, der Regierung gelang es nur mit Mühe, das Verfahren niederzuschlagen, aber Gore erhielt natürlich den blauen Brief. Um diese Zeit starb mein Vater, ich hatte eben das Abitur hinter mir und wollte mathematische Physik studieren. Erst ein Jahr später entschied ich mich für die militärische Laufbahn, hauptsächlich unter dem Einfluß meines Onkels Eckbert Irlen, der Lehrer an der Kriegsakademie war, ein Mann wie Fontanes Stechlin, ein Paladin aus der großen Zeit noch. Aber ich schweife ab, es handelt sich ja um Gore. Was ich dir bisher von ihm erzählt habe, ist nur Vorspiel zu der letzten und entscheidenden Begegnung mit ihm. An einem Sonntag, eine Woche nach Vaters Tod, ich erinnere mich noch genau, es war ein drückend schwüler Augusttag, komm ich nachhause, und Gore sitzt bei meiner Mutter. Das heißt, ich erkannte ihn nicht, Mutter sagte zu mir: das ist Gore. Kondolenzbesuch. Ich sehe einen Menschen brettsteif dasitzen, den Zylinder neben dem Stuhlbein, Gamaschen über den Lackschuhen, schwarze Glacés an den Händen, Gehrock und schwarze Krawatte. Aus dem Kragen quillt ein Fetthals, hinten ein Specknacken, von dem ein eikahler Schädel emporsteigt, vorn das Gesicht . . . das Gesicht! im ersten Augenblick dachte ich, der Mann sei von Wespen zerstochen, so aufgedunsen war die Haut, so amorph die Züge, die Augen kleine fahle Punkte in fahlen Teiggruben, der glattrasierte Mund ein Rüssel, der schnarrende Geräusche ausspie. Ich stehe wie angeschraubt. Er reicht mir die Fingerspitzen und schnarrt etwas. Ich weiß, das ist Gore, man hat es mir gesagt, ich weiß, Gore kann nicht viel älter sein als sechsunddreißig, der Mann da ist ein jahrloses Ungetüm. Ich muß annehmen, daß es derselbe Gore ist, den ich als Zwölf- und Dreizehnjähriger glühend bewundert habe, der einmal ausgesehen hat wie ein junger Eroberer, für den die Herzen von Frauen geschlagen haben, dessen Seele von feurigem Ehrgeiz erfüllt war, der lachende, stolze, stürmische Held Gore . . . und dieses Wrack da? dieser mitleidswürdige gedunsene Fettsack? dieser abgedankte Caligula mit der Miene eines magenkranken Philisters? Nein, ich ertrugs nicht, es zu denken, ich stürzte hinaus, verriegelte mich in meinem Zimmer und heulte wie ein Schloßhund. Ich habe ihn nie wieder gesehen. Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist. Ich war taub, wenn man seinen Namen nannte. Manchmal ist er durch meine Träume gegangen. Ich erblickte dann das Gesicht, ungeheuerlich vergrößert, wie ein Fliegenkopf unterm Mikroskop, es glitt immer näher und näher an mich heran, zuletzt sah ich nur noch den weitaufgerissenen Mund, aus dem mir die Worte entgegenschnarrten: Courage, Junge, Courage . . .«

 

(Zwei Jahre später, als Kerkhoven in Westpreußen Hunderte von Typhusbaracken unter seiner ärztlichen Obsorge hatte, wurde er eines Nachts von einem Soldaten, der vor Erschöpfung fast vom Pferd fiel, gebeten zu einem kranken Offizier zu kommen. Im Schlitten fuhren sie eine Stunde lang über verschneite Äcker und zugefrorene Wasserläufe, bis sie vor einer elenden Kate hielten. Es war finster drinnen, nach ungeduldigem Rufen kam ein altes Weib mit einem brennenden Kienspan, der einen niedrigen ungedielten entsetzlich schmutzigen und stinkenden Raum zur Not erhellte, die Wände waren mit Frostreif bedeckt, von der Decke tropfte das Schmelzwasser auf den von der Ofenwärme aufgeweichten Lehmboden und auf die Lagerstatt, die aus einem quadratischen Kasten bestand. Darin schliefen drei kleine Kinder, und neben ihnen lag der Offizier bereits tot. Ein Mann weit über sechzig. Die Oberlippe glatt. Von der Spitze des Kinns rann ihm ein schütterer fahlgelber Bart auf die Brust. Das Gesicht war nichts als Haut und Knochen. Kerkhoven verlangte von dem Burschen, der ihn geholt, die Papiere des Toten. Er las den Namen: Helmut Gore von Groothusen.)

 


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