Edgar Wallace
Der Doppelgänger
Edgar Wallace

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21

Bobby Selsbury war zum Victoria-Bahnhof gegangen, um seinen Bruder noch in elfter Stunde aus einer gefährlichen Lage zu befreien. Er hatte schon erfolglos den einen Zug, der nach dem Festland fuhr, von Anfang bis zu Ende durchsucht, und war nun dabei, den anderen zu inspizieren, als plötzlich die Pfeife des Fahrdienstleiters ertönte und er vor die Alternative gestellt wurde, den Zug sofort zu verlassen oder mit nach Dover zu fahren. Er entschied sich für das letztere und setzte seine Nachforschungen in den einzelnen Abteilen weiter fort. Er störte zwei jung verheiratete Paare auf der Hochzeitsreise, aber seinen Bruder fand er nicht.

Bei seiner Ankunft in Dover entdeckte er, daß um drei Viertel elf noch ein Vorzug vom Victoria-Bahnhof abgegangen war. Die Passagiere waren bereits auf dem Dampfer. Es war ja möglich, daß Gordon diesen Zug benutzt hatte, und Bobby entschloß sich, rasch zu handeln.

Er telefonierte schnell nach London und hatte glücklicherweise sofort Anschluß. Es waren sehr viele Leute an Bord, und er sah sofort, daß es unmöglich war, in kurzer Zeit festzustellen, ob Gordon hier war. Er blieb also auf der »Prinzessin Juliana«, als sie in See stach, und kam um vier Uhr nachmittags in Ostende an. Gordon und Mrs. van Oynne hatte er nicht gefunden.

In Ostende waren nur noch einige Hotels geöffnet. Bobby besuchte sie alle und ließ sich die Gästebücher vorlegen. Aber er stellte mit einer gewissen Erleichterung fest, daß Gordon nicht in Ostende war. Es war ja möglich, daß er in letzter Minute noch seinen Plan geändert hatte und nach Paris gefahren war, obwohl ihm das nicht ähnlich sah. Bobby glaubte seinem Bruder, obwohl sein Vertrauen auf eine sehr harte Probe gestellt wurde.

Er kehrte mit dem Nachtdampfer nach Dover zurück und erreichte den Hafen beim Morgengrauen. Um zehn Uhr kam er unrasiert, müde und gereizt wieder in der Hauptstadt an. Er fuhr sofort nach Scotland Yard. Er hatte sich überlegt, daß er das eigentlich gleich hätte tun sollen. Er hatte Glück, denn er fand Polizeiinspektor Carslake in seinem Büro, mit dem er während des Krieges in Frankreich zwölf Monate lang in einem Nachrichtenbüro zusammengearbeitet hatte.

Bobby brachte sein Anliegen so kurz wie möglich vor, und der Inspektor hörte ihm mit außerordentlichem Interesse zu.

»Es ist merkwürdig, daß Sie gerade zu mir kommen. Ich führe nämlich die Untersuchung über alle Vergehen des Doppelgängers. Ich muß ohne weiteres zugeben, daß die Sache ganz nach ihm aussieht.«

»Gordon ist nicht leicht zu imitieren«, entgegnete Bobby, »obgleich ich ihm das sagte, um ihn zu warnen.«

»Für den Doppelgänger gibt es in dieser Beziehung keine Schwierigkeiten«, meinte Carslake. »Groß, klein, dünn oder dick, das ist diesem Spezialisten ganz gleich. Er hat bis jetzt noch keinen Nachfolger in diesem Fach gefunden. Haben Sie die Frau gesehen, diese Mrs. van Oynne?«

Bobby schüttelte den Kopf.

»Wissen Sie vielleicht ihre Wohnung?«

»Ich habe nicht die mindeste Ahnung.«

»Vor Montag wird er wohl nichts unternehmen«, sagte Carslake nachdenklich. »Der Doppelgänger arbeitet nur, wenn die Banken geöffnet sind. Aber wenn er tätig ist, dann regt er sich auch ordentlich. Vor der Schlauheit dieses Menschen nehme ich den Hut ab, er kann etwas.«

»Wer ist er denn eigentlich?«

»Er heißt Throgood und war früher Schauspieler. Ich glaube, er wurde den besten Künstlern in Amerika an die Seite gestellt. Er war ein Charakterdarsteller. Er selbst ist wahrscheinlich Engländer, seine Partnerin stammt aus Amerika oder Kanada und war früher eine Statistin am Theater. Vielleicht ist es noch dieselbe – sehr schlank, nicht allzu groß – goldblondes Haar und blaue Augen. Sieht Mrs. van Oynne so aus?«

»Soviel ich weiß, nicht.« Bobby begann wieder zu hoffen. »Vielleicht irre ich mich auch. Sind Sie Ihrer Sache ganz sicher?«

Carslake nickte.

Er werde am Montag nach dem Rechten sehen.

Bobby fuhr nach Hause. Er fühlte sich jetzt wohler als in den letzten vierundzwanzig Stunden.

Sein Diener hatte neue Nachricht für ihn.

»Miss Ford hat heute morgen schon angeläutet, Sir.«

»Was hat sie denn gesagt?« fragte Bobby. Er hielt den Rasierpinsel in der Hand.

»Sie fragte nur, ob Sie zu Hause seien.«

»Um wieviel Uhr hat sie denn angerufen?«

»Etwa um fünf.«

»Um fünf Uhr! Sie alter Ölgötze, warum haben Sie mir denn das nicht sofort gesagt?« Eingeseift wie er war, eilte er zum Telefon und ließ sich mit Diana verbinden.

»Bist du am Apparat, Bobby? Kannst du heute zu mir kommen?«

»Ich werde sofort erscheinen!«

»Das ist nicht nötig. Wenn du gelegentlich vorbeikommst, ist es gut. Aber sei nicht erstaunt, wenn du hier einen Herrn findest, von dem ich dir schon viel erzählt habe.«

»Doch nicht etwa Dempsi?« fragte er verwundert.

»Ja. Er ist für ein oder zwei Tage hier – ich werde dir alles erklären, wenn du kommst.«

Bobby pfiff leise vor sich hin.

Er nahm das Mittagessen in seinem Klub und machte am frühen Nachmittag seinen Besuch in Cheynel Gardens. Die Tür wurde ihm von einem merkwürdigen Hausmeister geöffnet.

Bobby schaute den Mann überrascht an. Dieser Diener mit den Ziehharmonikahosen und dem schlechtsitzenden Anzug hätte aus einer Burleske entsprungen sein können.

»Sie sind wohl der neue Butler?«

Der andere legte die Hand aufs Herz und verneigte sich. »Jawohl, Sir, mein Name ist Smith«, sagte er düster.

Er schielte und legte das Gesicht in Falten.

»Ich werde Sie aber trotzdem Superbus nennen – Sie können auch ruhig wieder natürlich dreinschauen.«

Mr. Superbus gehorchte enttäuscht.

»Woran haben Sie mich denn wiedererkannt? Hat Ihnen Miss Ford etwas erzählt?«

Bobby lächelte ironisch.

»Na, das war doch wirklich nicht schwer, Sie zu erkennen!«

»Das ist merkwürdig. Meine Frau sagt immer, daß sie mich auf der Straße nicht wiedererkennen würde, wenn ich mein Gesicht derartig verstelle.«

»Nun sagen Sie mir, Superbus, was ist denn hier los?«

Julius war unschuldig wie ein neugeborenes Kind. Mit einem Blumenkranz auf dem Kopf hätte er nicht dümmer aussehen können. Aber Bobby ließ sich nicht täuschen.

»Was sollte denn hier los sein?«

»Warum sind Sie denn in dem Haus und haben sich so merkwürdig ausstaffiert. Miss Ford weiß doch, wer Sie sind?«

Mr. Superbus schloß schnell die Tür und legte seinen Zeigefinger an den Mund.

»Pst!« sagte er geheimnisvoll.

Bobby wartete.

Julius ging auf Zehenspitzen in das Studierzimmer und winkte Bobby zu sich.

»Sie hat mich gerufen«, sagte er ernst. »Sie hat mich gebeten, bei ihr zu bleiben. Konnte ich ihr das abschlagen? Wenn die Sache gefährlich wird, dann bin ich dabei – ja, das ist meine Art!«

Bobby glaubte Dianas Gründe zu verstehen. Sie wollte wahrscheinlich einen Mann im Hause haben. Er entnahm daraus, daß nicht nur er Respekt vor dem Doppelgänger hatte.

»Oh, ich begreife. Eine vernünftige junge Dame!«

»Ja, mein Herr, sie ist sehr verständig. Ich wüßte nicht, was sie Besseres hätte tun können. In mir hat sie den rechten Mann gefunden!«

»Miss Ford war allein und hat Sie gebeten, hierherzukommen? Das freut mich.«

»Nun, sie war gerade nicht allein«, erklärte Mr. Superbus, dem es schwerfiel, seine Ehre als alleiniger Beschützer aufzugeben, »Onkel Artur ist natürlich auch noch da.«

Bobby traute seinen Ohren nicht.

»Onkel Artur? Wer ist denn Onkel Artur?«

Julius hatte schon die Absicht gehabt, bei der ersten Gelegenheit diese Frage auch an Bobby zu stellen.

»Ich kenne seinen Familiennamen nicht, er ist aber ein sehr übelgelaunter Herr mit allerhand verrückten Einfällen und . . .« er zeigte mit dem Finger auf die Stirn, aber Bobby verstand den Sinn dieser Geste nicht.

Von Dempsi hatte Bobby ja schon am Telefon erfahren.

»Und dann ist auch noch Tante Lizzie da«, fuhr Julius fort.

Bobby schwankte beinahe und stützte sich auf den Kamin. Er wußte nicht, ob er wache oder träume. Es kam ihm plötzlich alles unwirklich vor. Sicherlich würde Mr. Superbus gleich zwei Hasen und eine Schüssel mit Goldfischen aus seinem Zylinder hervorzaubern, und Diana würde mit einem gezierten Lächeln auf den Lippen als Balletteuse ins Zimmer schweben. Und dann würde er aus seinem Traum aufwachen.

»Geben Sie mir doch etwas zu trinken«, sagte er schwach. »Meine Hand zittert ein wenig.«

Der große Detektiv goß ihm stolz ein Glas ein.

»Sagten Sie nicht eben etwas von Tante Lizzie?« fragte Bobby, der inzwischen alle seine Verwandten im Geist hatte Revue passieren lassen, aber weder einen Onkel Artur noch eine Tante Lizzie unter ihnen entdeckt hatte.

»Jawohl, Sir, sie kam gestern nachmittag mit Onkel Artur. Sie ist eine sehr hübsche Dame. Aber die beiden vertragen sich nicht recht miteinander. Das ist ja weiter auch nicht verwunderlich. Es ist doch merkwürdig, daß sie einen so häßlichen Namen hat. – Lizzie klingt doch so gewöhnlich! Es gibt doch so schöne Namen wie Maud und Agnes. Wenn sie allerdings allein sind, dann nennt er sie Heloise.«

Das Zimmer schien sich plötzlich um Bobby zu drehen.

»Heloise! Heloise!« murmelte er. »Hat sie – hat sie dunkle rabenschwarze Haare?«

»Jawohl, mein Herr.«

»Und Augen, die bis auf den Grund Ihrer Seele blicken?«

Superbus mußte sich das erst überlegen.

»In meine Seele blickt sie nicht, aber es ist schon irgend etwas Besonderes an ihren Augen«, gestand er.

»Hat sie die süßeste Stimme der Welt?«

Mr. Superbus stutzte wieder. Stimmen waren für ihn eben Stimmen.

»Ich habe sie noch nicht singen oder viel sprechen hören. Sie flucht ein wenig auf Onkel Artur, und das ist eigentlich nicht recht das Betragen einer vornehmen Dame.«

Bobby unterbrach ihn. »Wo ist Onkel Artur?«

»Der putzt Silber.«

Bobby fuhr zurück.

»Was, der putzt Silber?« fragte er ganz verwirrt. »Wache oder träume ich? Wo sind denn die anderen Dienstboten?«

»Miss Ford hat sie vorläufig auf Urlaub geschickt. Ich bin hier beruflich tätig. Ich habe die Aufgabe, aufzupassen, daß Onkel Artur das Haus nicht verläßt.«

Bobby begann endlich Licht zu sehen. Wenn Heloise hier und Gordon nicht in Ostende war –! Und wenn Gordon hier war, dann war seine Sehnsucht nach Freiheit nicht nur verzeihlich, sondern auch vollkommen verständlich.

»Onkel Artur will wohl immer fortgehen?«

Julius wunderte sich, daß er überhaupt diese Frage stellte. Bobby mußte doch über seine Familienmitglieder Bescheid wissen. Aber auf der anderen Seite war es ja begreiflich, daß er diese dunklen Punkte gern verleugnen wollte.

»Er ist ein bißchen verdreht – Sie wissen doch, was ich meine? Er hat Wahnvorstellungen, Hallelujahzinationen, um einen hohen medizinischen Ausdruck zu gebrauchen. Er sieht Dinge und denkt, daß er jemand anders ist. Hunderte von solchen Fällen sind mir schon vorgekommen.«

»Aber wer hat ihm denn den Auftrag gegeben, das Silber zu putzen?«

»Miss Ford sagte, dann hätte er wenigstens eine Beschäftigung und käme nicht auf dumme Gedanken.«

In der Diele hörte man schwere Schritte.

»Das ist er. Sie brauchen sich aber nicht vor Onkel Artur zu fürchten, Sir. Er ist harmlos wie ein Kind.«

Im nächsten Augenblick trat Gordon ein, blieb aber sofort erschrocken stehen, als er Bobby sah. Er war in Hemdsärmeln, trug einen Staubwedel in der Hand und hatte eine große, weiße Schürze vorgebunden.

Bobby starrte ihn hilflos an.

»Um Gottes willen – das ist Onkel Artur?«

»Sie kennen ihn doch wieder, mein Herr?«

»Ja, ja, ich kenne ihn.«

Superbus ging auf Gordon zu.

»Brauchen Sie irgend etwas, Onkel Artur?« fragte er freundlich und klopfte ihm auf den Arm.

Mr. Selsbury war schon so gebrochen, daß er sich diese Vertraulichkeit ruhig gefallen ließ.

»Ja – nein«, sagte er heiser.

Julius schüttelte den Kopf.

»Er ist wirklich etwas schwachsinnig – er ist nicht recht klar im Kopf. Ich wundere mich nur, wie er zu einer Frau gekommen ist.«

Gordon besann sich auf sich selbst.

»Wo ist Tante Lizzie?« fragte er.

»In ihrem Zimmer, Onkel Artur. Sie liest Bücher.«

»Nennen Sie mich nicht Onkel – auf keinen Fall bin ich Ihr Onkel.«

»Nein, Sir«, gab Julius zu. »Ich habe überhaupt keinen Onkel, soviel ich weiß.« Plötzlich runzelte er die Stirn und sah Gordon so an, daß sogar Bobby eingeschüchtert wurde. »Mir kommt eben ein Gedanke«, sagte er langsam. »Ich möchte es fast Erleuchtung nennen. Ist denn das in Wirklichkeit Ihr Onkel Artur?«

Bobby horchte auf.

»Kennen Sie Onkel Artur ganz genau?« Mr. Superbus war von seiner neuen Idee ganz besessen. »Wenn nun der Doppelgänger hierhergekommen wäre und sich als Onkel Artur ausgegeben hätte!«

Bobby schaute seinen Bruder an. Gordon gab ihm ein Zeichen und schüttelte den Kopf. Er wollte also aus irgendeinem, Bobby nicht verständlichen Grund seine Rolle als Onkel weiterspielen.

»Aber ja«, sagte Bobby atemlos, »das ist Onkel Artur!« Julius ließ sich aber nicht so leicht überzeugen.

»Sind Sie Ihrer Sache auch ganz sicher?« fragte er noch immer zweifelnd.

»O ja, das ist Onkel Artur, daran ist kein Zweifel. Ich habe ihn sofort wiedererkannt.«

Kein Mann opfert leicht seine genialen Gedanken – und auch Julius war doch nur ein Mensch.

»Nun«, sagte er etwas verletzt. »Der Doppelgänger ist sehr schlau, der könnte Onkel Artur leicht nachahmen!«

»Das ist doch Unsinn«, erwiderte Bobby böse. »Onkel Artur könnte er nicht nachmachen.«

»Da kennen Sie den Mann schlecht!« murmelte Superbus beleidigt.

Bobby dachte schnell nach. Er mußte mit Gordon allein sein.

»Ich möchte meinen Onkel einmal unter vier Augen sprechen. Es handelt sich um eine Familienangelegenheit. Es wäre ganz gut, wenn Sie uns einmal einen Augenblick allein ließen.«

Julius wußte nicht, was er tun sollte.

»Lassen Sie ihn aber bloß nicht entwischen«, warnte er. »Er ist so schlau und hinterlistig wie ein Affe. Sie sollten nur einmal hören, welchen Trick er uns in der vorigen Nacht gespielt hat!«

»Nein, ich lasse ihn nicht entwischen.« Bobby war auch bereit, das Versprechen zu geben, seinen Bruder zum Schafott zu führen.

Mr. Superbus zögerte aber immer noch. Diana war ausgegangen und hatte ihm Instruktionen erteilt, die er bis auf den Buchstaben genau auszuführen hatte. Und Julius war in solchen Dingen ein Kleinigkeitskrämer.

»Lassen Sie ihn auch ja nicht telefonieren!«

Bobby versprach auch das, und Julius ging langsam hinaus.

»Wenn er Ihnen Schwierigkeiten macht, bin ich in der Nähe«, sagte er in der Tür noch. »Also, Onkel Artur, machen Sie keine dummen Streiche!«

Bobby ging leise zur Tür und lauschte. Er wartete erst einige Sekunden, dann riß er sie plötzlich auf. Julius bückte sich nach seinen Schuhriemen. Ein mit wenig Phantasie begabter Mann hätte sicher vermutet, daß er gehorcht hatte.

»Haben Sie mich nötig?« fragte er, ohne im mindesten verblüfft zu sein.

»Nein«, sagte Bobby so eindringlich und nachdrücklich, daß Mr. Superbus ihn nicht mißverstehen konnte. Die Tür wurde wieder geschlossen.

»Aber Gordon, was in aller Welt –?«

Gordon hob verzweifelt die Arme.

»Bobby, ich bin in einer unglaublichen Lage«, stöhnte er ganz verzweifelt.

»Was ist denn geschehen? Was soll das alles bedeuten?« fragte Bobby verwirrt. »Warum hast du dich denn nicht früher mit mir in Verbindung gesetzt?«

Gordon machte eine abwehrende Handbewegung.

»Ich habe ja dauernd versucht, dich anzutelefonieren, aber ich konnte dich nicht bekommen. Und später hat mich dieser verfluchte Teufel bewacht, so daß ich den Apparat nicht mehr anrühren konnte. Bobby, ist es eigentlich ein Verbrechen, wenn man einen Amateurdetektiv totschlägt? Ich habe es vergessen –«

»Aber was ist denn eigentlich passiert?«

Gordon ging erst einige Minuten im Raum auf und ab, um sich zu sammeln. Er war so aufgeregt, daß er seine Stimme nicht beherrschte. Die Erleichterung, die ihm Bobbys Erscheinen brachte, hatte diese unvermeidliche Reaktion hervorgerufen. Aber allmählich wurde er ruhiger.

»Als ich damals zum Bahnhof ging, um – nun du weißt schon – sie zu treffen –«

»Heloise?«

Gordon seufzte schmerzlich auf. Er wollte überhaupt nichts mehr von Heloise hören. Schon die Erwähnung ihres Namens verursachte ihm Pein.

»Ich fand sie in einer schrecklichen Verfassung. Sie war außer sich vor Furcht und Entsetzen. Du kannst dir vielleicht meine Gefühle vorstellen, als sie mir mitteilte, daß ihr Mann draußen vor den Schaltern warte, um mich umzubringen. Sie wollte mich bestimmen, nach Ostende zu fahren und dort auf sie zu warten. Aber ich fuhr nicht ab, sondern ging zu dem Hotel zurück, um meinen Anzug wieder zu wechseln. Der Hausdiener, der meinen Koffer in dem Gepäckraum des Bahnhofs abgegeben hatte, war aber inzwischen abgelöst worden. Dann bin ich nach Hause gefahren – sie muß mir gefolgt sein.«

»Heloise?«

»Sprich, bitte, ihren Namen nicht mehr aus!«

»Dann ist sie also hier im Hause?« fragte Bobby entsetzt. »Ist sie etwa Tante Lizzie?«

»Ja, sie ist Tante Lizzie! O Bobby, konnte überhaupt etwas Schrecklicheres passieren? Was soll ich nun machen? Ich kann nicht einmal das Haus verlassen!«

»Aber warum denn nicht?«

Gordon war zu nervös, er vertrug dieses Kreuzverhör nicht mehr. Er hatte gehofft, daß Bobby, der doch großzügig war, die Situation sofort erfassen würde, ohne viel Fragen zu stellen.

»Das kann ich wirklich nicht verstehen. Du brauchst doch Diana nur zu erklären –«

Gordon lachte bitter auf.

»Ich habe dir ja noch nicht das Schlimmste erzählt. Diana fand mich hier und beschuldigte mich, daß ich der Doppelgänger sei. Ich war wie vom Donner gerührt. Die Idee war so grotesk, daß ich überhaupt nicht mehr antworten konnte. Denke dir, es käme plötzlich jemand auf der Straße auf dich zu und machte dir den Vorwurf, daß du ein Mörder seist. Was würdest du dann sagen? Ich habe nicht die Gabe, mich mit einem Witz über solche Dinge hinwegzusetzen. Ich wäre vielleicht noch aus dieser unglücklichen Lage herausgekommen, wenn nicht dieses verteufelte Frauenzimmer erschienen wäre und sich mir an den Hals geworfen hätte. In einer Beziehung war es ja gerechtfertigt, denn Diana bedrohte sie mit der Pistole. Das kann keine Frau ertragen. Was sollte ich nun machen – ich war in einem furchtbaren Dilemma! Ich stand vor der Alternative, entweder zuzugeben, ich sei der Doppelgänger, oder die Wahrheit zu gestehen. Und das wäre gleichbedeutend mit einem Geständnis gewesen, daß ich mich in eine gewöhnliche Affäre mit Heloise eingelassen habe.«

Dieser Grund schien Bobby sehr zu überzeugen.

»Wer hat sie denn Tante Lizzie genannt?«

»Diana! Dieses Mädchen bringt mich noch vollständig um den Verstand! Warum kam sie denn überhaupt aus Australien, um mir das Leben zu vergiften? Sie ist schrecklich, sie poussiert hier unter meinen Augen mit Dempsi herum! Und das ist erst ein Bursche! Außerdem behauptet sie, daß sie Witwe sei! Ich weiß nicht, wessen Witwe, aber manchmal kommt mir der Gedanke, daß sie tatsächlich meine Witwe ist. Und dann sagt sie Dinge über mich, die allein schon genügten, mich vor Ärger ins Grab zu bringen!«

Bobby war ernst und nachdenklich. Eine so unglaubliche Situation war ihm in seinem ganzen Leben noch nicht vorgekommen.

»Es ist verflucht unangenehm, mein Freund.«

Gordon hatte etwas ganz anderes von seinem Bruder erwartet als ein »verflucht unangenehm«. Er war sehr enttäuscht.

»Du mußt mir helfen, daß ich hier herauskomme«, sagte er ungeduldig. »Und vor allen Dingen müssen wir Dempsi hinauswerfen. Der Kerl wollte heute nachmittag Diana heiraten! Er sagte, daß er eine Kirche wisse, in der besonders am Sonntagnachmittag Trauungen abgehalten werden. Der Geistliche war schon zweimal da! Dempsi, dieser Zigeuner, hat einen besonderen Erlaubnisschein in der Tasche. Ich werde noch zu einer Wahnsinnstat hingerissen! Wenn das so weitergeht, schieße ich die beiden über den Haufen!«

Bobby sah ihn neugierig an. Gordons Hauptärger schien sich gegen Dempsi zu richten, der das Verbrechen begangen hatte, Diana heiraten zu wollen, was Bobby als ein ganz begreiflicher Ehrgeiz erschien.

»Ich würde sie nicht erschießen!« sagte Bobby langsam. »Du würdest dich für dein ganzes Leben damit ruinieren! Nebenbei bemerkt, geht dich das doch gar nichts an. Sie sind doch von früher her alte Freunde, obendrein waren sie ein Liebespaar –«

»Willst du mich auch noch verrückt machen?« brüllte Gordon. »Ein Liebespaar! Das sind sie niemals gewesen! Am allerwenigsten hätte ich von Diana erwartet, daß sie sich so beträgt, daß sie ihn obendrein noch ermutigt! Ich kann es gar nicht anders nennen – Diana, die ich für eine Seele von Zurückhaltung hielt.«

Bobby interessierte sich nicht sehr für Dianas Seele.

»Das muß ja ein Schrecken für dich gewesen sein. Was sagt denn nun eigentlich Tante Lizzie zu der ganzen Sache?«

Gordon war so erbittert, daß er nicht mehr ruhig und höflich sprechen konnte.

»Kommt es überhaupt darauf an, was die sagt? Bobby, weißt du, was Diana zu tun versuchte? Sie wollte uns dasselbe kleine Schlafzimmer geben, irgendeine Dienstbotenkammer unter dem Dach! Sie behauptet, Heloise sei meine Komplicin . . . das ist gar nicht zum Lachen!«

Bobby krümmte sich in seinem Stuhl.

»Diana behandelt mich wie einen Hund!«

Bobby betrachtete seinen Bruder kritisch.

»Na, du siehst auch ein bißchen wie ein Hund aus – in diesem Aufzug! Wo hast du denn den Anzug her? Deswegen hättest du allein fünf Jahre Zuchthaus verdient!«

»Bobby, du mußt mir jetzt helfen. Ich muß hier aus dem Hause fort. Ich kann dann ins Hotel gehen und meinen Koffer wieder holen, oder ich kann auch nach Schottland reisen, dann bin ich gerettet. Aber ich habe kein Geld. Sie hat mir mit erhobener Pistole all meine Sachen abgenommen, die ich in den Taschen hatte. Sie ist die energischste Frau, die ich jemals getroffen habe. Sie behauptete, ich wolle den Geldschrank berauben, und durchsuchte mich nach Nachschlüsseln!«

Bobby nahm seine Brieftasche heraus. Die Reise nach Ostende hatte fast sein ganzes bares Geld verzehrt – und heute war Sonntag.

»Ich fürchte, daß ich nicht genügend Geld bei mir habe. Ich könnte zwar einen Scheck für zehn Pfund in meinem Klub unterbringen –«

»Eine solche Summe hilft mir nicht«, unterbrach ihn Gordon. »Aber du kannst mir einen ganz einfachen Dienst erweisen, der mich aus dieser fürchterlichen Zwangslage befreit. Wenn Diana kommt –«

Bobby dachte auch, es ließe sich dann alles leicht aufklären.

»Gewiß, wenn sie kommt, werde ich ihr natürlich sagen, daß du der richtige Gordon Selsbury bist.«

Gordon sprang erregt auf.

»Willst du mich denn vollständig ruinieren?« rief er wild. »Du willst ihr obendrein noch sagen, daß ich der richtige Gordon Selsbury bin? Das habe ich ihr doch selbst schon oft genug gesagt. Aber schließlich habe ich es aufgegeben, als ich an Heloise dachte. Wie soll ich ihr denn das erklären?«

Das war der Kernpunkt der ganzen Frage und die große Schwierigkeit. Auch Bobby wußte hier keinen Rat. Alles, was ihm einfiel, war so wenig brauchbar, daß er es sofort ohne nähere Prüfung wieder verwarf.

»Ich hatte nicht mehr an Tante Lizzie gedacht«, sagte er.

»Siehst du nicht, daß es unmöglich geht? Aber ich kann einen viel besseren Vorschlag machen als du. Ich kann entkommen, wenn dieser alte herumschnüffelnde Esel nicht auf dem Posten ist, und das ist ja oft genug der Fall. Diana muß morgen sehr früh zu ihrer Bank gehen. Das ist die günstigste Gelegenheit für mich, aber ich muß etwas Geld haben. Ich brauche es, bevor die Banken aufgemacht werden, also kannst du mir wahrscheinlich nicht dabei helfen. Aber du kannst folgendes für mich tun: Überrede Diana, dir den Schlüssel zu dem Geldschrank zu übergeben. Sie hat außer der Buchstabeneinstellung auch das andere Schloß gesichert. Nimm den Schlüssel und gib ihn mir bei der ersten besten Gelegenheit.«

Bobby sah ihn auf einmal scharf an – Bobby pfiff.

»Den Schlüssel zum Geldschrank? Donnerwetter!« Seine Augen traten hervor, und er biß sich auf die Lippen.

»Was hast du denn?« fragte Gordon und wurde plötzlich ganz mutlos.

»Sie Halunke!«

Gordon wich zurück, als ob er einen Schlag bekommen hätte.

»Was meinst du?« fragte er atemlos. Aber die Bedeutung von Bobbys Worten und Blicken war nicht mißzuverstehen.

Bobbys Haltung änderte sich jetzt vollkommen. Die Freundlichkeit verschwand aus seiner Stimme und das Mitgefühl aus seinen Zügen. Seine Augen sprühten nur noch Verachtung und Vernichtung.

»Sie sind der Doppelgänger!« rief er. »Daß ich mich so täuschen lassen konnte! Sie sind geschickt, mein Lieber, verteufelt geschickt! Carslake erzählte mir von Ihrer Schlauheit, und ich Narr glaubte, er übertriebe! Sie sind der Doppelgänger! Mein Bruder trug einen Backenbart! Wo haben Sie denn den gelassen? Ihr Aussehen erschien mir gleich etwas sonderbar, als ich Sie sah. Und wenn ich es jetzt bedenke – diese verrückte Geschichte von Tante Lizzie würden Sie auch erzählt haben, wenn Sie entdeckt worden wären! Bravo, kleine Diana!«

Gordon wurde purpurrot und gestikulierte wild.

»Ich schwöre dir –«

Bobby schüttelte den Kopf.

»Ist gar nicht notwendig, mein Freund. Ich durchschaue den ganzen Plan. Natürlich! Sie und ihre Komplicin holten meinen unglücklichen Bruder aus, der nach Paris oder sonstwohin gefahren ist, wo man ihn nicht erreichen kann. Sie brachten heraus, daß ich von der Ostender Reise wußte, und änderten Ihre Pläne. Gordon ging nach Paris – wie ich fürchte –«

»Allein?«

Gordon übte sich in Selbstbeherrschung. Allein? Das war eine schwierige Frage für Bobby.

»Daran dachte ich nicht. Aber es ist kein Grund, warum Ihre originelle Geschichte nicht wahr sein sollte. Der Ehemann erscheint, die Dame bittet ihr Opfer zu fahren, sie will nachkommen. So ist es!«

»Ich sage dir –«

»Nein, nein, mein Lieber, das nützt alles nichts. Meine Kusine, Miss Ford, die Sie so geschickt gefangen hat, muß einen ganz speziellen Grund haben, Sie nicht der Polizei zu übergeben. Wäre ich an ihrer Stelle gewesen, so hätte ich das zweifellos sofort getan. Aber sie hat sicher die richtige Maßnahme ergriffen, und ich will sie nicht in ihren Plänen stören. Den Schlüssel zum Geldschrank, teurer Freund? Beinahe wäre ich doch in Ihre Falle gegangen, auf mein Wort. Gehen Sie jetzt wieder an Ihre Pflicht, und danken Sie den Göttern, daß Sie noch nicht im Gefängnis sitzen!«

Gordon machte sich an die Arbeit. Aber erst wischte er sich mit dem nicht ganz sauberen Staubtuch den Schweiß von der Stirn. Das Resultat war erschreckend.

»Bobby!« stöhnte er.

Sein Bruder wandte sich um.

»Soll ich Ihnen vielleicht einen kleinen Antrieb geben?«

Gordon wünschte das offenbar nicht, denn er begann gleichgültig die Lehne eines Stuhles abzustauben.

Bobby öffnete die Tür und fand Mr. Superbus auf der obersten Treppenstufe sitzen. Er manikürte sich mit einem Taschenmesser.

»Hat er Ihnen Schwierigkeiten gemacht?« fragte er eifrig und schien sichtlich enttäuscht, als Bobby den Kopf schüttelte.

»Nicht die geringsten.« Er ging in das Zimmer zurück.

»Gehe jetzt fort, Onkel Artur!«

»Versuchte er zu entwischen?« fragte der interessierte Wächter.

Bobby lachte wieder, und Gordon hätte gern gewußt, wo Diana ihre kleine Pistole verwahrte.

»Ob er zu entwischen versuchte? Ich darf wohl sagen, daß er das tat! Sehen Sie nach ihm, Mr. Superbus. Ihren fähigen Händen ist ein besonders schlauer und geschickter Mann anvertraut.«

Mr. Superbus schüttelte besorgt den Kopf und bemerkte vorwurfsvoll:

»Sie sind ein nichtsnutziger alter Onkel Artur, jawohl, ich bin sehr verwundert über Sie.«

Gordon sammelte seine Staubtücher und Wedel und schwankte aus dem Zimmer. Er hatte keine Hoffnung mehr.

»Ja, ich bin ein nichtsnutziger, alter Onkel«, stöhnte er. »Ein nichtsnutziger alter Onkel!«


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